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Florian Lettre
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66. Kollege L. kam 1976 an unsere EOS. Ich war seit neun Jahren Schulleiter. Als ich ihn das erste Mal sah, wirkte er auf mich zunächst schüchtern und in sich gekehrt. Er ist groß und schlank und ziemlich blass. Bei rotblonden Menschen ist das wohl üblich. Ich wusste, dass er Deutsch gibt. Ein Deutschlehrer hatte uns verlassen und ich war froh, dass wir Ersatz bekamen. Unsere andere Deutschlehrerin hat psychische Probleme und ist nicht sehr belastbar. Bei unserem ersten Gespräch war er dann doch ganz zugänglich. Er sprach über seine Herkunft und über seinen Studiengang. Er kam von der Universität. Ich wunderte mich, dass er dort nicht geblieben war. Er sagte dann freimütig, dass seine Diplomarbeit nicht so ausgefallen sei, wie er sich das gewünscht hätte. Aus seinen Unterlagen konnte ich entnehmen, dass er „befriedigend“ bekommen hatte. An der Universität gelten eben andere Maßstäbe. So eine Beurteilung sagt sowieso nichts darüber aus, ob einer ein guter Lehrer wird. Kollege L. ist seit einem Jahr Mitglied unserer Partei. Darüber bin ich sehr froh. An unserer Schule haben wir nun fünf Lehrer, die in der Partei sind. Die anderen sind gute Lehrer. Aber unserem Staat stehen sie nicht sehr positiv gegenüber. Anfangs habe ich versucht, diese Kollegen für unsere Partei zu gewinnen. Es war aussichtslos. Es kam nicht einmal zu intensiven Gesprächen. Sie wollten nicht mit mir reden. Natürlich sagen sie mir gegenüber nichts gegen unseren Staat. Das würde ich ihnen auch übel nehmen. Das können sie sich nicht leisten. Aber sie zeigen keine gesellschaftlichen Aktivitäten. Sie sind alle in der deutsch-sowjetischen Freundschaft und bezahlen ihre Beiträge. Das ist alles. Mein Stellvertreter gibt Geschichte. Er hört manchmal etwas von ihren Gesprächen im Lehrerzimmer. Ich bin da nicht dabei. Ich habe mein Büro mit der Sekretärin. Ich bin schließlich der Schulleiter. Mein Stellvertreter erzählt mir, was sie so sagen. Das meiste ist aus dem Fernsehen von drüben. Die sind so raffiniert diese Leute. Und meine Lehrer fallen darauf herein. Und ich kann nichts machen. Natürlich melde ich nichts weiter. Das wäre kein gutes Zeichen für meine Arbeit. Die sitzen in ihrer Zentrale und wissen nicht, was hier los ist. Einmal hat mir ein Parteisekretär, dessen Sohn in unsere Schule geht, etwas erzählt. Da hat doch unser Physiklehrer im Unterricht gesagt, wir würden auf einem Vulkan leben. Unsere sozialistische Gesellschaft ist doch kein Vulkan. Das ist eine glatte Gemeinheit. Ich habe zweimal Herrn L.s Unterricht beigewohnt. Er macht einen interessanten Unterricht. Er sucht immer wieder das Gespräch mit den Schülern. Und die nehmen das auch an. Das hat mich gewundert. Als er zu uns kam, hatte ich Bedenken, ob er sich im Unterricht durchsetzen kann. Ich hatte befürchtet, die Schüler machen mit ihm, was sie wollen. Bisher war das nicht so. Ich gebe nur selten Unterricht. Das mache ich dann anders. Ich halte einen Vortrag über ein bestimmtes Thema, und meine Autorität reicht aus, dass die Schüler Ruhe geben und aufpassen. Sie wissen, dass sie in der nächsten Stunde den Inhalt wiederholen müssen. Als Schulleiter hat man es leichter. Kollege L. möchte das Gefühl der Schüler für literarische Qualität verbessern. Er arbeitet mit Arbeitsbögen, auf denen schlechte und gute Literatur gegenüber gestellt ist. Er hat sogar einen Artikel für eine pädagogische Zeitschrift geschrieben. Ich bin mir nicht ganz sicher, was die Partei dazu sagt. Ich habe es nicht weitergegeben. Seine Kollegen haben die Sache gar nicht mitbekommen. Wenn die von der Zeitschrift das veröffentlicht haben, wird es schon in Ordnung sein. Es wird doch nichts veröffentlicht, was nicht in Ordnung ist. Kollege L. war auch in seiner alten Schule beliebt. Ich kenne den Schulleiter. L. ist mit einer Lehrerin verheiratet, die er dort kennen gelernt hat. Die Kollegin hat auch eine Beziehung mit dem Russischlehrer dieser Schule. Das soll niemand wissen. Meine Frau dürfte sich so etwas nicht leisten. Sie ist ja auch nicht berufstätig. Kollege L. steht zu unserem Staat und zu unserer Partei. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob er mit allem einverstanden ist. Er sagt allerdings nichts, was an seiner Treue zur Partei zweifeln lässt. Er achtet auf die Parteidisziplin. So wie man das von einem Mitglied unserer Partei erwarten kann
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„Sie kennen Dieter R.“, sagte der Mann. „Wie ist ihr Eindruck? Kann sich unser Staat auf Dieter R. verlassen?“ Der Mann hatte das so nebenbei gesagt, ohne Florian anzusehen. Florian sah den Mann direkt an. Es war etwas wie Empörung in ihm. Der Mann wollte ihn aushorchen. Er hatte das bisher nicht versucht. Jetzt versuchte er es
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Impressum
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Florian Lettre
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