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Zweiter Theil
Erstes Capitel.
Der Chevalier San Felice

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Wir glauben in einem unserer früheren Capitel, vielleicht in dem ersten, gesagt zu haben, daß der Chevalier San Felice ein Gelehrter war.

Obschon aber die Gelehrten, eben so wie nach Sterne die Reisenden, in eine Menge Kategorien und Unterkategorien getheilt werden können, so zerfallen sie doch in zwei große Hauptgattungen.

Die erste sind die langweiligen Gelehrten.

Die zweite sind die kurzweiligen Gelehrten.

Die erste Gattung ist die zahlreichste und gilt für die gelehrteste.

Wir haben im Laufe unseres Lebens einige kurzweilige Gelehrte kennen gelernt. Dieselben wurden aber in der Regel von ihren Collegen verleugnet, welche behaupteten, sie verdürben das Handwerk, weil sie den Witz und die Phantasie mit der Wissenschaft vermengten.

Wie sehr es ihm auch in den Augen unserer Leser Eintrag thun möge, so müssen wir doch gestehen, daß der Chevalier San Felice der zweiten Gattung, nämlich der Gattung der kurzweiligen Gelehrten, angehörte.

Wir haben auch schon gesagt – obschon es so lange her ist, daß der Leser es vergessen haben kann – daß der Chevalier San Felice ein Mann von fünfzig- bis fünfundfünfzig Jahren war, daß er sich in seiner äußern Erscheinung einfach, aber elegant trug und daß er, weil er in seinen Studien, die sein ganzes Leben lang dauerten, sich keinem besonderen Fach gewidmet hatte, mehr ein Wissender als ein eigentlicher Gelehrter war.

Selbst der Aristokratie angehörend und da er stets am Hofe oder im Umgange mit vornehmen Personen gelebt, da er übrigens in seiner Jugend große Reisen, besonders in Frankreich, gemacht, so besaß er die liebenswürdigen, unbefangenen Manieren eines Buffon, eines Helvetius und eines Holbach, deren sociale Principien er übrigens theilte. Ja er war beinahe nicht ganz frei von der philosophischen Irreligiosität dieser Herren.

Wie Galilei und Swammerdam hatte er das unendlich Große und das unendlich Kleine studiert. Er war von den im Aether kreisenden Welten herabgestiegen bis zu den in einem Wassertropfen schwimmenden Infusorien. Er hatte gesehen, daß die Gestirne in dem Geiste Gottes denselben Platz einnehmen und an der unermeßlichen Liebe, womit der Schöpfer alle seine Creaturen umfaßt, denselben Antheil haben.

Sein Geist, dieser dem göttlichen Herde entsprungene Funke, hatte sich daher daran gewöhnt, Alles in der Natur zu lieben.

Nur hatten die bescheideneren Gegenstände der Schöpfung bei ihm Anspruch auf zärtlichere Wißbegier als die erhabenen, und wir möchten beinahe behaupten, daß die Umgestaltung der Larve in die Nymphe und der Nymphe in den Käfer ihm wenigstens ebenso interessant erschien, als die langsame Bewegung des Kolosses Saturn, welcher neunhundertmal größer ist als die Erde, und mit seinem monstruösen Zubehör von sieben Monden und dem leuchtenden Ringe beinahe dreißig Jahre braucht, um seinen Kreislauf um die Sonne zu vollenden.

Diese Studien hatten ihn ein wenig über das wirkliche Leben hinausgehoben, um ihn dem contemplativen zuzuwenden.

Wenn er daher aus dem Fenster seines Hauses – des Hauses, welches auch das seines Vaters und seines Großvaters gewesen – in einer jener warmen Sommernächte von Neapel unter dem Ruder des Fischers oder im Kielwasser der Barke desselben sich jenes bläuliche Feuer entzünden sah, welches man für den Wiederschein des Vemustermes halten könnte, oder wenn er eine Stunde lang, oft auch die ganze Nacht hindurch, unbeweglich an dieses Fenster gelehnt, den Golf von Lichtern funkeln sah und wenn der Südwind die Wellen aufwühlte und mit feurigen Guirlanden an einander fesselte, welche sich für sein Auge hinter Capri verloren, ganz gewiß aber bis an die Gestade Afrikas reichten, sagte man:

»Was macht dieser Träumer von San Felice da?«

Dieser Träumer von San Felice versetzte sich ganz einfach aus der materiellen Welt in die unsichtbare, aus dem geräuschvollen Leben in das schweigsame.

Er sagte sich, daß diese unermeßliche Feuerschlange, deren Ringe den Erdball umschließen, nichts weiter sei als eine Anhäufung von unsichtbaren Thierchen, und seine Phantasie bebte entsetzt vor diesem unermeßlichen Reichthume der Natur zurück, welche auf unsere Welt, um unsere Welt herum Welten setzt, von welchen wir keine Ahnung haben, und durch welche die erhabene Unendlichkeit, welche sich unsern Augen in Lichtströmen entzieht, sich ohne Unterbrechung an die tiefe Unendlichkeit knüpft, welche, in den tiefsten der Abgründe hinabtauchend, sich in Nacht verliert.

Dieser Träumer von San Felice sah jenseits dieser doppelten Unendlichkeit Gott nicht wie Ezechiel ihn sah, in Stürmen vorüberbrausend; nicht wie Moses ihn sah, im feurigen Busch, sondern strahlend in der majestätisch heiteren Ruhe der ewigen Liebe, als riesige Jacobsleiter, welche durch die ganze Schöpfung hinauf- und hinabsteigt.

Vielleicht könnte man glauben, diese in gleichen Theilen der ganzen Natur zugewendete Liebe müsse jene andern Gefühle, welche den lateinischen Dichter sagen lassen: »Ich bin ein Mensch und ich erachte nichts, was menschlich ist, mir fremd,« eines Theils ihrer Kraft berauben.

Dies war aber bei dem Chevalier San Felice durchaus nicht der Fall, denn gerade bei ihm konnte man jenen Unterschied zwischen Seele und Herz machen, welche dem Vicekönig der Schöpfung gestattet, bald ruhig zu sein wie Gott, wenn er mit seiner Seele betrachtet, bald freudig oder verzweifelt wie der Mensch, wenn er mit seinem Herzen empfindet.

Von allen Gefühlen aber, welche die Bewohner unseres Planeten über die Thiere erheben, die um ihn herum leben, war die Freundschaft dasjenige, welchem der Chevalier den aufrichtigsten und eifrigsten Cultus widmete, und wir legen hierauf ganz besonders Gewicht, weil es einen gewaltigen und ganz speziellen Einfluß auf sein Leben äußerte.

Der Chevalier San Felice, Zögling des von Carl dem Dritten für junge Edelleute gegründeten Collegs, hatte auf demselben zu seinem Mitschüler einen jungen Mann, dessen Abenteuer, Eleganz und Reichthum gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts in der neapolitanischen Welt großes Aufsehen machten. Dieser junge Mann war der Fürst Giuseppe Caramanico.

Wäre der junge Fürst weiter nichts gewesen als eben Fürst, so hätte der junge San Felice für ihn wahrscheinlich weiter nichts empfunden, als jenes Gefühl von neidischer Eifersucht, welches die Kinder gegen diejenigen ihrer Genossen empfinden, die wegen ihres hohen Ranges von den Lehrern mit mehr Rücksicht behandelt werden als ihre Mitschüler. Giuseppe Caramanico war aber, abgesehen von seinem Fürstentitel, auch ein liebenswürdiger, gemüthlicher und zutraulicher Knabe, ebenso wie er später ein liebenswürdiger, ehrenhafter, rechtschaffener Mann ward.

Dennoch geschah zwischen dem Fürsten Caramanico und dem Chevalier San Felice das, was unvermeidlich bei allen Freundschaften geschieht – es gab einen Orestes und einen Pylades. Der Chevalier San Felice spielte die Rolle, welche in den Augen der Welt die am wenigsten glänzende, vor dem Auge Gottes aber vielleicht die verdienstlichste war – er ward Pylades.

Man kann sich denken, mit welcher Leichtigkeit der künftige Gelehrte mit einem scharfen Verstand und seiner Wißbegierde seine Mitschüler überflügelte und wie sehr im Gegentheile der künftige Minister in Neapel, der künftige Gesandte in London, der künftige Vicekönig in Palermo mit seiner hochadeligen Sorglosigkeit eine Studien vernachlässigte.

Dennoch hielt mit Hilfe des fleißigen Pylades, welcher für Zwei arbeitete, der träge Orestes sich immer in der ersten Reihe. Er erntete ebenso viel Prämien, ebenso viele ehrenvolle Auszeichnungen und ebenso viele Belohnungen als San Felice, und besaß in den Augen seiner Lehrer sogar noch mehr Verdienst als dieser, denn sie kannten das Geheimniß seiner Ueberlegenheit nicht, oder wollten es nicht kennen.

Diese Ueberlegenheit hielt er ebenso aufrecht, wie die seiner geselligen Stellung und ohne daß es schien, als gäbe er sich deswegen auch nur die geringste Mühe.

Orestes selbst aber kannte dieses Geheimniß und wir müssen ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen zu sagen, daß er es so schätzte, wie es geschätzt zu werden verdiente, wie dies auch aus dem weiteren Verlaufe unserer Erzählung hervorgehen wird.

Die jungen Männer verließen das Collegium und jeder folgte der Laufbahn, zu welcher er sich durch die innere Stimme oder durch einen Rang hingezogen fühlte.

Caramanico widmete sich dem Waffenhandwerk, San Felice der Wissenschaft.

Caramanico trat als Capitän in ein Regiment Liparioten, so genannt von der Insel Lipari, von welcher fast sämtliche Soldaten, aus welchen es zusammengesetzt war, herstammten.

Dieses von dem König errichtete Regiment ward auch von diesem commandiert. Er trug den Titel eines Obersten desselben, und in dasselbe als Officier aufgenommen zu werden, war die höchste Gunst, nach welcher ein neapolitanischer Edelmann trachten konnte.

San Felice dagegen ging auf Reisen besuchte Frankreich, Deutschland, England und blieb fünf Jahre fern von Italien.

Als er nach Neapel zurückkam, traf er den Fürsten Caramanico als Premierminister und Geliebten der Königin Caroline wieder.

Die erste Sorge Caramanicos, als er ans Staatsruder gelangte, war gewesen, seinem lieben San Felice eine unabhängige Stellung zu sichern. Er hatte ihn in seiner Abwesenheit mit Dispensation vom Gelübde zum Maltheserritter ernennen lassen, eine Gunst, auf welche übrigens Alle ein Recht hatten, die ihre Probe bestehen konnten. Zugleich hatte er ihm eine Abtei verliehen, welche zweitausend Ducaten jährlich eintrug.

Diese Rente, in Verbindung mit den tausend Ducaten, die ihm sein väterliches Erbtheil abwarf, machte den Chevalier San Felice, dessen Geschmacksrichtungen die eines Gelehrten, das heißt, sehr einfach waren, zu einem verhältnißmäßig eben so reichen Mann, als der erste Millionär von Neapel war.

Die beiden Jünglinge waren zu Männern herangereift und liebten einander immer noch. Der eine jedoch mit der Wissenschaft, der andere mit der Politik beschäftigt, sahen sie einander nur höchst selten.

Gegen das Jahr 1783 begannen einige Gerüchte, welche über den bevorstehenden Sturz des Fürsten von Caramanico in Umlauf kamen, die Stadt zu beschäftigen und San Felice zu beunruhigen.

Man sagte, Caramanico habe, als Premierminister mit Arbeit überladen, und weil er für Neapel, welches er ganz im Gegensatz zu dem König mehr als eine Seemacht denn als eine Landmacht betrachtete, eine respectable Marine zu schaffen wünschte, sich an den Großherzog von Toscana mit der Bitte gewendet, ihm einen Mann, dessen Namen in Folge einer Expedition gegen die Raubtaaten mit großem Lobe genannt ward, zu überlassen, um ihn mit dem Titel eines Admirals an die Spitze der neapolitanischen Marine zu stellen.

Dieser Mann war der Chevalier John oder Jean Acton von irländischer Abstammung, aber in Frankreich geboren.

Kaum aber sah Acton sich durch Caramanico's Gunst bei dem Hofe von Neapel eingeführt und in einer Stellung, welche er selbst in seinen kühnsten Träumen niemals zu hoffen gewagt, so bot er Alles, was in seinen Kräften stand, auf, um seinen Gönner zu verdrängen – sowohl aus der Zuneigung der Königin als von seinem Ministerposten, den er vielleicht mehr dieser Zuneigung als seinem Rang und Verdienst zu verdanken hatte.

Eines Abends sah San Felice den Fürsten von Caramanico wie einen einfachen Privatmann und ohne gestattet zu haben, daß man ihn anmelde, bei sich eintreten.

San Felice war gerade – es war an einem milden Abend des Maimonats – in dem schönen Garten, den wir zu beschreiben gesucht, beschäftigt, Jagd auf Glühwürmer zu machen, an welchen er bei Rückkehr des Morgens die Abstufung des Lichtes studieren wollte.

Als er den Fürsten erblickte, stieß er einen Freudenschrei aus, warf sich ihm in die Arme und drückte ihn an sein Herz.

Der Fürst erwiederte diese Umarmung mit gewohnter Freundlichkeit, welche durch eine gewisse schwermüthige Zerstreutheit einen noch lebhafteren Ausdruck zu erhalten schien.

San Felice wollte sich mit ihm in das Haus hinein begeben, Caramanico aber, der vom Morgen bis zum Abend in seinem Cabinet gesessen, wollte nicht diese Gelegenheit versäumen, die durch den Orangenwald gewürzte Luft zu athmen.

Ein sanfter Wind wehte vom Meere her; der Himmel war rein, der Mond glänzte an demselben und spiegelte sich in dem Golf Caramanico zeigte auf eine am Stamme des Palmbaumes angebrachte Bank und beide nahmen auf derselben Platz.

Caramanico schwieg einen Augenblick, als ob er sich nicht sofort entschließen könnte, das Schweigen dieser ganzen stummen Natur zu stören. Endlich hob er mit einem Seufzer an:

»Mein Freund, ich komme um Dir Lebewohl zu sagen, vielleicht auf immer.«

San Felice erschrak und sah einen Freund an. Er glaubte nicht recht gehört zu haben. Der Fürst schüttelte wehmüthig den Kopf und fuhr mit dem Ausdruck tiefer Entmuthigung fort:

»Ich bin des Kampfes müde. Ich sehe ein, daß ich mit einem Gegner zu thun habe, der stärker ist als ich. Ein noch länger fortgesetzter Kampf würde mich vielleicht meine Ehre, ganz gewiß aber das Leben kosten.«

»Aber die Königin?«, fragte San Felice.

»Die Königin ist ein Weib, mein Freund,« antwortete Caramanico, »und folglich schwach und unbeständig. Sie sieht heute mit den Augen jenes irländischen Intriguanten, welcher, wie ich sehr fürchte, den Staat seinem Ruin entgegenführen wird. Möge der Thron fallen, aber nur ohne mich. Ich will nicht zu seinem Sturze beitragen – ich gehe.«

»Wohin?« fragte San Felice.

»Ich habe den Gesandtschaftsposten in London angenommen; es ist das eine ehrenvolle Verbannung. Ich nehme meine Frau und meine Kinder mit, denn ich will sie nicht den Gefahren aussetzen, welche ihnen hier drohen könnten. Dennoch aber gibt es eine Person, die ich in Neapel zurücklassen muß, und ich rechne auf Dich, daß Du mich bei ihr ersetzen wirst.«

»Bei ihr?« wiederholte der Gelehrte mit einem gewissen Grade von Unruhe.

»Sei unbesorgt, sagte der Fürst, indem er zu lächeln versuchte. »Es ist keine Dame, es ist ein Kind.«

San Felice athmete wieder auf.

»Ja,« fuhr der Fürst fort. »Mitten in meinen vielfachen Beschwerden und Mißlichkeiten tröstete mich eine junge Frau. Engel des Himmels, ist sie wieder in diesen emporgestiegen und hat mir eine lebende Erinnerung zurückgelassen – ein kleines Mädchen, welches so eben das fünfte Lebensjahr zurückgelegt hat.«

»Ich höre, sagte San Felice, »ich höre.«

»Ich kann diese Tochter weder als die meinige anerkennen, noch ihr eine sociale Stellung bereiten, weil sie während meiner Ehe geboren ist. Uebrigens weiß auch die Königin nichts von der Existenz dieses Kindes und darf auch nichts davon erfahren.«

»Wo ist die Kleine?«

»In Portici. Von Zeit zu Zeit laß ich mir sie bringen, zuweilen besuche ich sie. Ich liebe dieses unschuldige Wesen, welches, wie ich sehr fürchte, an einem unheilvollen Tage geboren ist. Ich schwöre Dir, San Felice – denn Du wirst es nicht glauben wollen – daß es mir weniger schwer ankommt, meinen Ministerposten niederzulegen und Neapel und mein Vaterland zu verlassen, als mich von diesem Kinder zu trennen, denn es ist wirklich und in der That das Kind meiner Liebe.«

»Auch ich liebe,« sagte der Chevalier in seiner einfachen, sanften Weise; »auch ich liebe, Caramanico.«

»Um so besser!« hob der Fürst wieder an, »denn ich habe auf Dich gezählt, daß Du meine Stelle bei ihr vertreten sollst. Ich will, daß sie ein unabhängiges Vermögen besitze. Hier ist eine auf deinen Namen ausgestellte Anweisung auf fünfzigtausend Ducaten. Diese Summe wird sich unter deiner Verwaltung in vierzehn bis fünfzehn Jahren schon durch die Anhäufung der Zinsen verdoppeln. Du wirft die Kosten der Erziehung meiner Tochter einstweilen aus deinen Mitteln bestreiten und später einmal, wenn sie mündig wird oder heiratet, Dich von ihrem Vermögen wiederbezahlt machen.

« »Caramanico!«

»Verzeihe, lieber Freund,« sagte der Fürst lächelnd. »Ich verlange einen Dienst von Dir und an mir ist es daher, meine Bedingungen zu stellen.«

San Felice senkte das Haupt.

»Solltest Du mich weniger lieben, als ich glaubte?« murmelte er.

»Nein, mein Freund,« hob Caramanico wieder an, »Du bist nicht blos der Mann, den ich am meisten liebe, sondern auch der, welchen ich am höchsten auf der Welt achte. Der Beweis hiervon ist, daß ich Dir den einzigen Theil meines Herzens lasse, welcher rein und unversehrt geblieben ist.«

»Mein Freund,« sagte der Gelehrte ein wenig zögernd, »ich möchte Dich um eine Gunst bitten, und wenn mein Verlangen Dir nicht unangenehm ist, so würde ich mich glücklich schätzen, wenn Du mir es gewährtest.«

»Worin besteht es?«

»Ich lebe allein, ohne Familie, beinahe ohne Freunde. Ich langweile mich niemals, weil es unmöglich ist, daß der Mensch sich langweile, während das große Buch der Natur aufgeschlagen vor seinen Augen liegt. Ich liebe im Allgemeinen Alles. Ich liebe das Gras, welches sich am Morgen unter der Last der Thautropfen wie unter einer allzuschweren Bürde beugt. Ich liebe diese Glühwürmer, welche ich suchte, als Du eintratest. Ich liebe den Käfer mit dem goldenen Flügel, in welchem sich die Sonne spiegelt, meine Bienen, welche mir eine Stadt bauen, meine Ameisen, welche mir eine Republik gründen, aber ich liebe nicht etwas mehr als das andere und ich werde von nichts zärtlich geliebt. Wenn es mir nun erlaubt wäre, deine Tochter hierher zu mir in mein Haus zu nehmen, so würde ich sie, dies fühle ich, mehr als alles Andere lieben und sie würde, sobald sie einsähe, wie sehr ich sie liebe, mich vielleicht auch ein wenig lieben. Die Luft des Pausilippo ist vortrefflich, die Aussicht, die ich von meinen Fenstern aus habe, ist prachtvoll. Deine Tochter hätte hier einen großen Garten, in welchem sie den Schmetterlingen nachlaufen könnte, Blumen, so viel sie deren zu pflücken wünschte, und Orangen, die sie mit dem Munde erreichen könnte. Sie würde heranwachsen wie diese Palme und zugleich die Anmuth und Kraft derselben besitzen. Sag, willst Du, daß dein Kind bei mir wohne, mein Freund?«

Caramanico betrachtete ihn mit Thränen in den Augen und billigte das, was er sagte, durch eine sanfte Bewegung des Kopfes.

»Und dann,« fuhr San Felice fort, denn er glaubte, sein Freund sei noch nicht hinreichend überzeugt, »und übrigens hat ein Gelehrter ja nichts zu thun. Ich werde mir es daher zum Vergnügen machen, deine Tochter zu unterrichten; ich werde sie Englisch und Französisch lesen und schreiben lehren. Ich weiß Vielerlei und bin weit unterrichteter, als man glaubt. Es macht mir Vergnügen, Wissenschaften zu treiben, aber es ist mir langweilig davon zu sprechen. Alle diese neapolitanischen Bücherwürmer, alle Akademiker von Herculanum, alle Wühler von Pompeji verstehen mich nicht und sagen, ich sei unwissend, weil ich mich nicht hochtrabender Worte bediene, sondern einfach von den Dingen der Natur und Gottes spreche. Es ist dies aber nicht wahr, Caramanico. Ich weiß wenigstens eben so viel und vielleicht noch mehr als diese Leute, darauf gebe ich Dir mein Ehrenwort. Du antwortet mir nicht, mein Freund?«

»Nein, ich höre Dich, San Felice; ich höre Dich und bewundere Dich. Du bist das auserwählte Geschöpf Gottes. Ja, Du wirst meine Tochter zu Dir nehmen. Sie wird Dich lieben lernen. Aber Du wirst ihr alle Tage von mir erzählen und sie lehren, daß nächst Dir ich es bin, dem sie auf Erden die meiste Liebe schuldig ist.«

»O wie gut Du bist!« rief der Chevalier, sich die Thränen trocknend. »Also, nicht wahr, Du sagtest, sie sei in Portici? Wie soll ich das Haus finden? Wie heißt sie? Du hast ihr doch hoffentlich einen hübschen Namen gegeben?«

»Freund,« sagte der Fürst, »hier ist ihr Name und die Adresse der Frau, in deren Obhut und Pflege sie sich befindet, eben so wie der Befehl an diese Frau, Dich in meiner Abwesenheit als den wirklichen Vater des Kindes zu betrachten. Leb wohl, San Felice,« sagte der Fürst, indem er sich erhob; »sei stolz, mein Freund. Du hast mir das einzige Glück, die einzige Freude, den einzigen Trost bereitet, welchen es mir erlaubt ist noch zu hoffen.«

Die beiden Freunde umarmten sich wie Kinder und weinten wie Frauen.

Am nächstfolgenden Tag reiste der Fürst Caramanico nach London ab und die kleine Luisa Molina bezog mit ihrer Wärterin das Haus des Palmbaumes.

La San Felice Band 2

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