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Dritter Theil
Erstes Capitel.
Die Häuslichkeit eines Gelehrten

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Es war neun Uhr Morgens.

Die durch das während der Nacht stattgehabte Gewitter gereinigte Atmosphäre war wundervoll klar. Die Barken der Fischer durchfurchten schweigend den Golf zwischen dem doppelten Azur des Himmels und des Meeres.

Von dem Fenster des Speisezimmers aus hätte der in demselben auf- und abgehende Chevalier die Häuser, welche in einer Entfernung von sieben Meilen den schwarzen Abhang von Ana Capri wie weiße Punkte marmorierten, sehen und zählen können, wenn seine Gedanken in diesem Augenblicke nicht durch etwas Anderes beschäftigt worden wären.

Er dachte nämlich an jene von Buffon in seinen Epochen der Natur aufgestellte, dem Chevalier etwas gewagt erscheinende Hypothese, daß die Erde durch Zusammenstoß mit einem Kometen von der Sonne abgesprengt worden.

Gleichzeitig aber empfand er auch eine unbestimmte Unruhe, welche ihm durch den lang andauernden Schlaf seiner Gattin verursacht ward.

Es war seit seiner Vermählung heute das erste Mal, daß er beim Heraustreten aus seinem Cabinete gegen acht Uhr Morgens Luisa nicht mit Zubereitung der Taffe Kaffee, Brotes, der Butter, der Eier und der Früchte beschäftigt fand, welche das gewöhnliche Frühstück des Gelehrten ausmachten, ein Frühstück, welches dann sie, die es mit der doppelten Aufmerksamkeit einer ehrerbietigen Tochter und einer zärtlichen Gattin bereitet, mit jugendlichem Appetite zu theilen pflegte.

Nach beendetem Frühstücke, das heißt gegen zehn Uhr Morgens, küßte der Chevalier mit der Regelmäßigkeit, die er in allen Dingen beobachtete, wenn ihn nicht irgend eine naturwissenschaftliche oder philosophische Frage ganz vorzugsweise beschäftigte, seine junge Gattin auf die Stirn und machte sich auf den Weg nach der Bibliothek des Prinzen, einen Weg, den er, wenn das Wetter nicht allzu schlecht war, sowohl um des Vergnügens und der Zerstreuung willen als in Folge des ärztlichen Rathes seines Freundes Cirillo, stets zu Fuße machte und der, da er sich von Mergellina bis zum königlichen Palaste erstreckte, ziemlich anderthalb Kilometer oder zwanzig Minuten betrug.

In diesem Palaste wohnte der Kronprinz in der Regel sechs Monate des Jahres hindurch. Während der andern sechs Monate wohnte er in der sogenannten Favorite oder in Capodimonte. Für diese Zeit war dem Chevalier eine Equipage zur Verfügung gestellt.

Wenn der Prinz in dem königlichen Palaste wohnte, so kam er unabänderlich gegen elf Uhr in seine Bibliothek herunter und fand hier seinen Bibliothekar gewöhnlich auf einer Leiter stehend, um ein seltenes oder neues Buch zu suchen.

Sobald San Felice den Prinzen bemerkte, machte er eine Bewegung, um von der Leiter hinabzusteigen; der Prinz gab dies aber nicht zu. Es entspann sich dann eine fast stets literarische oder wissenschaftliche Conversation zwischen dem Gelehrten auf seiner Leiter und dem Schüler auf seinem Sessel.

Zwischen zwölf und halb ein Uhr Mittags, kehrte der Prinz wieder in seine Gemächer zurück.

San Felice stieg dann eiligst von der Leiter herunter, um den Prinzen bis an die Thür zu geleiten, zog die Uhr heraus und legte sie auf einen Schreibtisch, um die Stunde nicht zu vergessen, was ihm sonst bei einer fesselnden Arbeit sehr leicht hätte begegnen können.

Zwanzig Minuten vor zwei Uhr legte der Chevalier seine Arbeit in ein Schubfach, welches er verschloß, steckte die Uhr wieder ein und nahm seinen Hut, welchen er in Folge jener Ehrerbietung, die zu jener Zeit alle wirklich royalistisch Gesinnten gegen Alles, was mit dem Königthume zusammenhing, an den Tag legten, bis zu der auf die Straße hinausführenden Thür in den Händen hielt.

Zuweilen, wenn er gerade eine seiner Anwandlungen von Zerstreutheit hatte, legte er den ganzen Weg von dem Palaste bis zu seiner Wohnung, an deren Thür er allemal beinahe in demselben Augenblicke anpochte, wo es zwei Uhr schlug, mit bloßem Kopfe zurück.

Entweder öffnete Luisa ihm selbst oder sie erwartete ihn auf der Rampe.

Das Diner war stets bereit. Man setzte sich zu Tische und Luisa erzählte, was sie gemacht, was für Besuche sie empfangen und welche kleinen Ereignisse sich in der Nachbarschaft zugetragen hatten.

Der Chevalier seinerseits erzählte, was er unterwegs gesehen, die Neuigkeiten, welche der Prinz ihm mitgetheilt, und die politischen Nachrichten, welche aber ihn sowohl als auch Luisa in nur höchst mittelmäßigem Grade interessierten.

Nach der Mahlzeit setzte Luisa, je nach dem sie gelaunt war, sich an das Clavier oder nahm ihre Guitarre und sang ein heiteres Liedchen von Santa Lucia oder eine schwermüthige sicilianische Melodie.

Zuweilen machten beide Gatten auch einen Spaziergang auf der malerischen Straße des Pausilippo, oder zu Wagen bis nach Bagnoli oder Pozzolo.

Auf diesen Promenaden wußte San Felice stets irgend eine historische Anecdote zu erzählen, oder irgend eine interessante Bemerkung zu machen, denn seine umfassenden Kenntnisse gestatteten ihm, sich nie zu wiederholen und stets zu fesseln.

Gegen Abend kehrte man nach Hause zurück. In der Regel fand sich dann ein Freund von San Felice oder eine Freundin von Luisa ein, um den Abend im Sommer unter dem Palmbaume, im Winter im Salon bei ihnen zuzubringen.

Ein sich an diesen Abenden sehr häufig einfindender Gast war, wenn er nämlich nicht in Petersburg oder Wien weilte, Dominico Cimarosa, der Componist der »Horazier der »heimlichen Ehe«, der »Italienerin in London«, des »Directors in Verlegenheit«.

Dieser berühmte Maestro machte es sich zum Vergnügen, Luisa die noch nicht aufgeführten Piecen seiner Opern singen zu lassen.

Sie besaß außer einer vortrefflichen Schule, welche sie zum Theile ihm verdankte, jene frische, klare, unverkünstelte Stimme, welche man bei Sängerinnen von Profession so selten findet.

Zuweilen kam auch ein junger, talentvoller Maler, der dabei auch ein talentvoller Musiker und namentlich vortrefflicher Guitarrespieler war. Er hieß Vitaliani, wie jener Knabe, welcher mit zwei andern Knaben, Emanuele de Deo und Gagliani, den Schlachtopfern der ersten Reaction, auf dem Blutgerüste starb.

Zuweilen, obschon selten, denn seine zahlreichen Patienten ließen ihm wenig Zeit dazu, fand sich auch der gute Doctor Cirillo ein, welchem wir schon zwei- oder dreimal begegnet sind und dem wir noch öfter begegnen werden.

Fast alle Abende erschien die Herzogin Fusco, wenn sie nämlich in Neapel war.

Oft kam auch eine in jeder Beziehung merkwürdige Dame, eine als Publicistin und Improvisatrice ebenbürtige Nebenbuhlerin der Frau von Staël. Es war dies Eleonore Fonseca Pimentele, eine Schülerin von Metastasio, welcher ihr schon, als sie noch ganz klein war, eine große, glänzende Zukunft verheißen hatte.

Zuweilen kam noch die Gattin eines Gelehrten, eines Collegen von San Felice, die Signora Baffi, welche ebenso wie Luisa kaum halb so alt war als ihr Gatte, und den sie dennoch liebte, wie Luisa den ihrigen.

Diese Abendgesellschaften dauerten gewöhnlich bis elf Uhr, nur selten länger. Man plauderte, man sang, man declamierte, man schlürfte Eis, man aß Kuchen.

Zuweilen, wenn der Abend schön und das Meer ruhig war, wenn der Mond den Golf mit Silberflimmern bestreute, stieg man in eine Gondel und dann schwebten von dem Spiegel des Meeres melodische Klänge empor, welche den guten Cimarosa in Entzücken versetzten.

Zuweilen auch declamierte, stehend wie eine Sibylle des Alterthums, Eleonora Pimentele, während ihr langes schwarzes Haar über einer einfachen griechischen Tunica im Winde flatterte, Strophen, die an Pindar und Alkäos erinnerten.

Den nächstfolgenden Tag begann dieselbe Existenz mit derselben Pünktlichkeit wieder und nie war dieselbe durch etwas gestört oder getrübt worden.

Wie kam es daher, daß Luisa, welche der Chevalier, als er um zwei Uhr Morgens nach Hause gekommen, anscheinend so fest schlafend gefunden und die in der Regel um sieben Uhr aufzustehen pflegte, heute um neun Uhr noch nicht ihr Zimmer verlassen und die Zofe auf alle Fragen des Chevalier geantwortet hatte:

»Signora schläft und hat gebeten, daß man sie nicht wecken möge.«

Eben schlug es aber schon ein Viertel auf zehn und der Chevalier schickte sich, seiner Unruhe nicht mehr Meister, eben an, selbst an Luisa's Thür zu pochen, als seine Gattin plötzlich auf der Schwelle des Speisezimmers erschien.

Ihre Augen schienen ein wenig angegriffen zu sein und ihre Wangen waren etwas bleich, aber eben deswegen vielleicht schöner, als der Chevalier die jemals gesehen.

Er ging auf sie zu, um sie sowohl wegen ihres langen Schlafens als wegen der Unruhe, die sie ihm verursacht, auszuschelten. Als er aber das sanfte Lächeln heiterer Ruhe wie einen Morgensonnenstrahl ihr reizendes Antlitz verklären sah, da konnte er sie blos betrachten, selbst lächeln, ihr blondes Haupt zwischen beide Hände fassen und sie auf die Stirn küssen, indem er zugleich mit jener mythologischen Galanterie, welche zu jener Zeit noch nichts Altväterisches hatte, zu ihr sagte:

»Wenn die Gattin des alten Tithonos sich hat erwarten lassen, so ist es geschehen, um sich als Geliebte des Mars zu verkleiden.«

Eine lebhafte Röthe überzog Luisas Antlitz. Sie lehnte ihr Haupt an die Brust des Chevaliers, als ob sie an seinem Herzen Schutz und Zuflucht suchen wollte.

»Ich habe diese Nacht fürchterliche Träume gehabt, mein Freund,« sagte sie, »und dies hat mich ein wenig krank gemacht.«

»Und haben diese furchtbaren Träume Dir nicht blos den Schlaf, sondern auch den Appetit geraubt?«

»Dies fürchte ich allerdings,« sagte Luisa, indem sie sich an den Tisch setzte.

Sie machte eine Anstrengung, um zu essen, aber es war ihr nicht möglich. Die Kehle schien ihr von einer eisernen Faust zusammengeschnürt zu werden.

Ihr Gatte betrachtete sie mit Erstaunen und sie fühlte, wie sie unter diesem wiewohl mehr unruhigen als fragenden Blick bald roth bald blaß ward, als plötzlich dreimal und gemessen an die Thür des Gartens gepocht ward.

Wer der Einlaßbegehrende auch sein mochte, so war er für Luisa eine willkommene Erscheinung, weil er als Ableiter für die Unruhe des Chevaliers und für ihre eigene Verlegenheit dienen konnte.

Sie erhob sich daher rasch, um zu öffnen.

»Wo ist denn Nina?« fragte San Felice.

»Das weiß ich nicht,« antwortete Luisa. »Vielleicht ist sie ausgegangen.«

»Zur Stunde des Frühstücks? Wenn sie weiß, daß ihre Herrin leidend ist? Unmöglich, mein liebes Kind.«

Es ward zum zweiten Male angepocht.

»Erlaube, daß ich gehe und öffne,« sagte Luisa.

»Nein. An mir ist es, dies zu thun. Du leidest, Du bist angegriffen. Bleib ruhig sitzen. Ich will es!«

Der Chevalier sagte allerdings zuweilen: »Ich will es!« aber in so sanftem Tone und mit so zärtlichem Ausdruck, daß es stets die Bitte eines Vaters an seine Tochter, aber niemals der Befehl eines Mannes an seine Frau war.

Luisa ließ daher den Chevalier die Rampe hinunter und selbst die Thür des Gartens öffnen gehen.

Aengstlich jedoch über jeden neuen Umstand, der in ihrem Gatten Argwohn in Bezug auf das, was während der Nacht hier geschehen, erwecken konnte, eilte sie an das Fenster, steckte rasch den Kopf hinaus und sah, ohne jedoch ermitteln zu können, wer es war, einen Mann, der schon ein gewisses Alter erreicht zu haben schien und, durch seinen breitkrämpigen Hut geschützt, mit einer Aufmerksamkeit, welche sie schaudernd bemerkte, die Thür, an welche Salvato angelehnt gewesen, und die Schwelle besichtigte, auf welche er niedergesunken.

Die Thür öffnete sich und der Mann trat ein, ohne daß Luisa ihn bis diesen Augenblick zu erkennen vermochte.

An dem freudigen Klange der Stimme ihres Gatten, welcher den Besucher aufforderte, ihm zu folgen, errieth Luisa, daß es ein Freund war.

Sehr bleich und sehr aufgeregt nahm sie wieder ihren Platz am Tische ein.

Ihr Gatte trat ein, während er Cirillo vor sich herdrängte.

Sie athmete auf.

Cirillo war ihr sehr gewogen und sie besaß auch ihrerseits große Vorliebe für ihn, weil er, da er früher Arzt des Fürsten Caramanico gewesen, oft mit Liebe und Verehrung von diesem sprach, obschon er die Bande des Blutes, welche den Fürsten an Luisa fesselten, nicht kannte.

Als sie ihn erblickte, erhob sie sich daher und stieß einen Freudenruf aus. Cirillo konnte ihr nichts Schlimmes bringen.

Ach, oft hatte sie während der Nacht, die sie fast gänzlich am Bett des Verwundeten zugebracht, an den guten Doctor gedacht und bei ihrem geringen Vertrauen auf Nanno's Kunst wohl zehnmal im Begriff gestanden, Michele nach ihm zu schicken.

Sie hatte aber nicht gewagt, diesen Wunsch in Ausführung zu bringen. Was hätte Cirillo wohl von dem Geheimniß denken müssen, womit sie ihrem Gemal das furchtbare Ereigniß, welches unter ihren Augen stattgefunden, verschwieg, und wie sollte er die Gründe würdigen, welche sie zu haben glaubte, über dieses Ereigniß absolutes Schweigen zu beobachten?

Aber nichtsdestoweniger erschien es ihr eigenthümlich, daß Cirillo, den man seit mehreren Monaten nicht gesehen, sich einmal einfand und zwar gerade an dem Morgen, der auf die Nacht folgte, wo seine Anwesenheit im Hause so sehr herbeigewünscht worden.

Cirillo ließ, als er eintrat, seinen Blick eine Sekunde lang auf Luisa weilen. Dann rückte er, der Einladung des Chevaliers folgend, seinen Stuhl an den Tisch, woran seine Freunde frühstückten.

Der orientalischen Gewohnheit gemäß, die auch die Neapels, dieser ersten Station des Orients, ist, servierte Luisa ihm eine Taffe schwarzen Kaffee.

»In der That,« sagte San Felice, indem er seine Hand auf Cirillos Knie legte, »es bedurfte eines Besuchs um halb zehn Uhr Morgens, damit wir Ihnen die Vernachlässigung verzeihen, welche Sie uns jetzt so lange bewiesen. Man könnte zwanzigmal sterben, lieber Freund, ehe man erführe, ob Sie nicht selbst gestorben sind.«

Cirillo betrachtete San Felice mit derselben Aufmerksamkeit, womit er dessen Gattin angesehen. So sehr er aber bei letzterer die geheimnißvolle Spur einer aufgeregten, umruhigen Nacht gefunden, eben so sehr fand er bei ersterem die naive, heitere Ruhe der Sorglosigkeit und des Glückes.

»Also,« sagte er zu San Felice, »es macht Ihnen Vergnügen, mich diesen Morgen zu sehen, mein lieber Chevalier?«

Er betonte die beiden Worte: diesen Morgen mit unverkennbarer Absicht.

– »Es macht mir stets Vergnügen, Sie zu sehen, lieber Doctor,« fuhr der Chevalier fort, »Morgens wie Abends, und Abends wie Morgens. Gerade heute Morgen aber freue ich mich mehr als je, Sie zu sehen.«

»Warum? Sagen Sie mir das.«

»Aus zwei Gründen. Trinken Sie doch Ihren Kaffee! Ach, was den Kaffee betrifft, so haben Sie heute allerdings Unglück, denn Luisa hat ihn nicht selbst bereitet. Die Faulenzerin ist – zu welcher Stunde glauben Sie wohl, daß sie aufgestanden ist? Rathen Sie.«

»Fabiano!« rief Luisa erröthend.

»Da sehen Sie, sie schämt sich selbst. Um neun Uhr ist sie aufgestanden.«

Cirillo bemerkte Luisas Erröthen, auf welches eine tödtliche Blässe folgte.

Ohne noch zu wissen, was der Grund dieser Aufregung war, empfand Cirillo Mitleid für die arme Frau.

»Sie wünschten also aus zwei Gründen, mich zu sehen, mein lieber San Felice,« sagte er. »Welche waren die ?«

»Erstens, entgegnete der Chevalier, »denken Sie sich, daß ich gestern die Epochen der Natur von dem Herrn Grafen von Buffon aus der Bibliothek des Palastes mitgebracht habe. Der Prinz hat dieses Buch heimlich kommen lassen, denn es ist von der Censur verboten, vielleicht – etwas Gewisses weiß ich natürlich nicht – vielleicht weil es nicht ganz mit der Bibel übereinstimmt.«

»O, das wäre mir ganz gleich,« antwortete Crillo lachend, »dafern es nur mit dem gesunden Menschenverstand übereinstimmte.«

»Ah,« rief der Chevalier, »dann glauben Sie also wohl nicht wie er, daß die Erde ein durch den Zusammenstoß mit einem Kometen losgesprengtes Stück Sonne ist?«

»Eben so wenig als ich glaube, daß die Erzeugung der lebenden Wesen durch organische Kügelchen geschieht, was ebenfalls eine Theorie dieses Autors, und nach meiner Meinung eine nicht weniger abgeschmackte als die erste ist.«

»Das lasse ich mir gefallen. Ich bin also nicht so unwissend, wie ich fürchtete.«

»Sie, lieber Freund! Sie sind der gelehrteste. kenntnißreichste Mann, den ich kenne.«

»O, o, o! mein lieber Doctor, sprechen Sie leise, damit es Niemand höre. Also die Frage ist entschieden und ich brauche mir nicht weiter den Kopf zu zerbrechen. Die Erde ist nicht ein Stück Sonne. Einer der beiden Punkte wäre somit aufgeklärt und da es der weniger wichtige war, so habe ich denselben vorangestellt. Den zweiten haben Sie vor Augen. Was sagen Sie zu diesem Gesicht?«

Und er zeigte auf Luisa.

»Dieses Gesicht ist reizend wie immer, antwortete Cirillo; nur ein wenig matt und bleich, vielleicht in Folge des Schreckens, welchen Signora in der vergangenen Nacht gehabt haben kann.«

Der Doctor sprach die letzten Worte mit besonderem Nachdruck.

»Was für einen Schrecken?« fragte Felice.

Cirillo sah Luisa an.

»Ist diese Nacht nichts vorgefallen, was Sie erschreckt hätte, Signora?« fragte er dann.

»Nein, nichts, gar nichts, lieber Doctor,« antwortete Luisa, indem sie Cirillo einen bittenden Blick zuwarf.

»Nun dann,« bemerkte Cirillo in leicht hingeworfenem Tone, »dann haben Sie schlecht geschlafen, weiter ist es nichts.«

»Ja,« sagte San Felice lachend, »sie hat böse Träume gehabt und gleichwohl lag sie, als ich aus dem englischen Gesandtschaftshotel nach Hause kam, in so festem Schlafe, daß ich sie küßte, ohne daß sie davon erwacht wäre.«

»Und zu welcher Stunde kamen Sie nach Hause zurück?«

»Gegen halb drei Uhr.«

»Sehr richtig«, sagte Cirillo; »da ist Alles vorüber gewesen.«

»Was ist vorüber gewesen?«

»Nichts,« sagte Cirillo. »Es ist blos in der vergangenen Nacht ein Mensch vor Ihrer Thür ermordet worden, weiter ist es nichts.«

Luisa ward so bleich wie das battistene Negligé, mit welchem sie bekleidet war.

»Aber, fuhr Cirillo fort, »da der Mord um zwölf Uhr stattgefunden, da Signora zu dieser Stunde geschlafen hat und da Sie selbst erst um halb drei Uhr nach Hause gekommen sind, so haben Sie natürlich nichts davon wissen können.«

»Nein und Sie sind der Erste, der mir etwas davon erzählt. Unglücklicherweise ist ein Mord in den Straßen von Neapel nichts Seltenes, ganz besonders nicht in Mergellina, wo die Straßenbeleuchtung so mangelhaft ist und alle Welt um neun Uhr Abends schon im Schlafe liegt. Ach, nun verstehe ich, warum Sie heute so früh gekommen sind.«

»Sehr richtig, mein Freund. Ich wollte wissen, ob jener Mord, welchem etwas ganz Außergewöhnliches zu Grunde zu liegen scheint, nicht, da er unter Ihren Fenstern geschehen, Störung in Ihrem Hause hervorgerufen habe.«

»Nein, durchaus nicht. Sie sehen dies selbst. Auf welche Weise haben aber Sie denn diesen Mord erfahren?«

»Ich ging nur wenige Augenblicke, nachdem er stattgefunden, an Ihrem Hause vorüber. Der Ermordete – es muß ein überaus starker und muthiger Mann gewesen sein – hat zwei Sbirren getödtet und zwei andere verwundet.«

Luisa verschlang jedes Wort, welches aus dem Munde des Doctors kam. Alle jene Einzelheiten, welche man nicht vergißt, waren ihr unbekannt.

»Wie?« fragte San Felice, indem er die Stimme senkte, »die Mörder waren Sbirren?«

»Unter dem Commando Pasquales de Simone, antwortete Cirillo, indem er eben so leise sprach als der Chevalier.

»Glauben Sie denn an alle diese Verleumdungen?« fragte San Felice.

»Ich muß wohl daran glauben.«

Cirillo faßte den Chevalier bei der Hand und führte ihn an das Fenster.

»Sehen Sie,« sagte er, den Finger ausstreckend, »auf der andern Seite des Löwenbrunnens, an der Thür jenes Hauses, welches die Ecke des Platzes und der Straße bildet, sehen Sie dort jene zwischen vier Kerzen ausgestellte Bahre?«

»Ja.«

»Wohlan. Dieselbe enthält die Leiche eines der beiden verwundeten Sbirren. Er starb unter meinen Händen und hat mir, ehe er starb, noch Alles erzählt.«

Cirillo drehte sich rasch um, um sich von der Wirkung zu überzeugen, welche die Worte, die er so eben gesprochen, auf Luisa geäußert hätten.

Sie war aufgestanden und trocknete sich mit ihrem Tuche den Schweiß von der Stirn.

Sie begriff recht wohl, daß diese Worte um ihretwillen gesagt worden. Die Kräfte wurden ihr untreu und sie sank mit gefalteten Händen auf ihren Stuhl nieder.

Cirillo machte ihr durch eine Geberde bemerklich, daß auch er verstand und beruhigte sie durch einen Blick.

»Mein lieber Chevalier, fuhr er fort, »ich freue mich, daß dies Alles in partibus geschehen, das heißt ohne daß Sie oder Signora etwas davon gesehen oder gehört haben. Da Signora aber dennoch ein wenig leidend ist, so erlauben Sie mir wohl, sie zu befragen und ihr ein kleines Recept zu schreiben. Da nun die Aerzte stets sehr indiscrete Fragen thun, da ferner die Damen in Bezug auf ihre Gesundheit gewisse verschämte Geheimnisse haben, über welche sie sich nur unter vier Augen aussprechen können, so werden Sie mir gestatten, Signora, Sie in Ihr Zimmer zu geleiten und Sie dort ganz in aller Ruhe und Bequemlichkeit zu befragen.«

»Es ist nicht nöthig, lieber Doctor. Eben schlägt es zehn Uhr. Ich habe mich um zwanzig Minuten verspätet. Bleiben Sie bei Luisa und nehmen Sie sie in die Beichte, während ich mich nach meiner Bibliothek verfüge. Apropes, Sie wissen wohl, was diese Nacht im Hotel der englischen Gesandtschaft geschehen ist?«

»Ja, wenigstens so ziemlich.«

»Wohlan, ich bin überzeugt, daß dies schon bedeutende Folgen herbeigeführt hat. Der Prinz kommt sicherlich früher herunter als gewöhnlich, ja er erwartet mich vielleicht schon; Sie haben mir heute Morgen Neuigkeiten mitgebracht, vielleicht kann ich Ihnen heute Abend, wenn Sie wieder hier vorbeikommen, auch einige mittheilen. Doch was schwatze ich denn. Man kommt ja hier nicht vorbei; man kommt blos hierher, wenn man sich verirrt. Mergellina ist der Nordpol von Neapel und ich sitze hier zwischen Eisbergen.«

Dann küßte er seine Gattin auf die Stirn und sagte:

»Auf Wiedersehen, theures Kind. Erzähle nur dem Doctor alle deine kleinen Geschichten. Bedenke, daß deine Gesundheit meine Freude und daß dein Leben mein Leben ist. Auf Wiedersehen, lieber Doctor.«

Dann warf er einen Blick auf die Wanduhr.

»Ein Viertel auf elf!« rief er, »ein Viertel auf elf!« Und Hut und Parapluie gen Himmel reckend, eilte er die Stufen der Rampe oder Terrasse hinunter.

Cirillo sah ihn sich entfernen, hatte aber nicht einmal so viel Geduld, daß er gewartet hätte, bis der Chevalier zum Garten hinaus war, sondern drehte sich sofort nach Luisa herum.

»Er ist hier, nicht wahr?« fragte er im Tone der ängstlichsten Theilnahme.

»Ja, ja, ja!«, murmelte Luisa, indem sie vor Cirillo auf die Knie niedersank.

»Todt oder lebendig?«

»Lebendig!«

»Gott sei gepriesen!« rief Cirillo, »und Sie, Luisa?«

Er betrachtete sie mit einem Gemisch von Bewunderung und Zärtlichkeit.

»Und ich?« fragte sie an allen Gliedern zitternd.

»Sie,« sagte Cirillo, indem er sie aufhob und an sein Herz drückte, »Sie sollen gesegnet sein.«

Und Cirillo sank nun einerseits auf einen Stuhl nieder und trocknete sich die Stirn.

La San Felice Band 3

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