Der Pakt der sieben Krieger

Der Pakt der sieben Krieger
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Описание книги

Was würdest du tun, wenn du binnen von Sekunden aus deinem bisherigen Dasein gerissen wirst? Wenn du erfährst, dass die Sicherheit, in der du dich geglaubt hast, nie existiert hat? Sarah Kossin, eine junge, unauffällige Frau, muss sich genau mit diesen Fragen auseinandersetzen. Unterstützung erhält sie von Jonas Glenn, der ihr das Leben rettet und sich gemeinsam mit ihr auf eine gefährliche Reise begibt. Sarah deckt schmerzhafte, bedrohliche Wahrheiten auf und muss bald selbst um ihr Leben kämpfen …

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Andrea Hubrich. Der Pakt der sieben Krieger

Impressum

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Der Pakt der sieben Krieger

Als die Haustür von außen aufgeschlossen wurde und sich gleich darauf öffnete, bahnte sich gleißender Sonnenschein seinen Weg in den Flur. Die junge Frau, die nichts weiter am Leib trug, als eine bis zu den Knien hochgekrempelte, schwarz-weiß karierte Hose, einen dicken, grauen Wollpullover und völlig durchweichte, vor Schlamm und Dreck starrende Turnschuhe, wurde freudig von Tortie, dem alten Hund, begrüßt. Seufzend nahm sie den großen, hellblauen Müllbeutel vom Rücken, stellte ihn neben der Flurgarderobe ab und strich dem Kaukasischen Hütehund beherzt durch das lange, grau-weiße Fell. „Hey, du taube Nuss! Lass mich doch wenigstens die Schuhe ausziehen, ja?“ Tortie war wirklich taub, denn er hörte noch nicht einmal mehr die Sirene auf dem Dach des Feuerwehrdepots auf der anderen Seite des Flusses, als sie vor etwas mehr als fünfzig Stunden zum ersten Mal Alarm geschlagen hatte. Wenn diese Sirene losheulte, hörte man sie nicht nur im gesamten Tal, sondern auch am Skihang hinter Rebecca und Florian Fincks Haus, und noch weit über die zum Teil dicht bewaldeten Bergkämme hinaus. Vor fast fünf Jahren, als Sarah Tortie zum ersten Mal begegnet war und sie das Herz ihrer Vermieterin mit einem einzigen Satz erobert hatte, war es noch anders gewesen. Überhaupt war alles anders gewesen, denn damals besaß Sarah noch eine Zukunft. Vor knapp zehn Stunden wurde sie davongetragen und blieb mit dem Dachfirst unter der Moschner-Brücke am Ende des Tales stecken. Die junge Frau entledigte sich ihrer Schuhe und stand nun barfuß im Flur des über dreihundert Jahre alten Zweifamilienhauses. Um sie herum hatte sich eine Pfütze gebildet. Das Wasser tropfte nur so aus Sarahs spärlicher Kleidung herab, und erst jetzt bemerkte sie, wie sehr sie eigentlich fror. Jetzt, während sie allmählich zur Ruhe kam und nachdenken konnte, erschienen ihr die Ereignisse in den vergangenen beiden Tagen so unwirklich, so absurd und realitätsfern, dass sie sich unmöglich ereignet haben konnten. Die Sonne schien doch, und es wurde am Ende des viel zu kalten Märzes endlich wärmer. Der Schnee, der sich im Laufe des monatelang andauernden Winters stellenweise bis zu einer Höhe von über hundertachtzig Zentimetern getürmt hatte, war hier im Tal fast vollkommen weggeschmolzen, und in der Luft lag ein ganz zarter Hauch von Frühling. Doch in diesem Jahr war es viel zu schnell gegangen. Die schweren Regenwolken waren weitergezogen, aber der Stern des Lebens sandte seine Strahlen über eine verwüstete Landschaft. Sein helles Licht beschien eine schreckliche Vernichtung. Es konnte alles nicht wahr sein. Nichts von dem, was in den letzten vierzig, achtundvierzig Stunden passiert war, sollte jemals geschehen. Niemals. Sarah strich Tortie noch einmal über den Rücken. Dazu musste sie sich wenigstens nicht bücken. Der Kaukasier besaß eine Schulterhöhe von achtundneunzig Zentimetern. Sarah war 1,59 Meter groß. Sie war schlank, um nicht zu sagen, schon ein wenig mager, doch ihre kräftigen Oberarme zeugten von harter, fortwährender Arbeit. Die halblangen, dunkelblonden Haare fielen nass und struppig in ihr Gesicht und in den Nacken. Da Sarah die Ärmel des ihr viel zu großen Wollpullovers ebenfalls hochgekrempelt hatte, konnte man an den gleichermaßen kräftigen Unterarmen und auch auf beiden Handrücken einige dunkelrote, verheilte Striemen erkennen. Sie waren unterschiedlich groß, einige schmal und ein paar Zentimeter lang, andere nur wenige Millimeter klein. Verbrennungen. Sie gehörten zu Sarahs Beruf nun mal dazu. Als sie sich in Bewegung setzte, um die letzte Tür am Ende des Flures zu erreichen, hatte die junge Frau das Gefühl, als würde sie eine tonnenschwere Last hinter sich herziehen. Es war einfach zu viel gewesen. Ihr Weg führte Sarah zwangsläufig an dem großen, schmalen Spiegel vorbei, der neben der Flurgarderobe an der Wand hing. Sie kam nicht umhin, vor ihm stehen zu bleiben und jene erbärmliche Gestalt zu mustern, welche ihr das Spiegelbild bot. „Meine Güte“, murmelte Sarah, während sie dem riesigen Hund über den Kopf strich. „Das Ding ist kaputt, Tortie. Jetzt zeigt es schon fremde Leute.“ Sie erkannte sich selbst nicht mehr wieder. Dunkle Schatten umlagerten Sarahs stahlblaue Augen. An den Wangen, am Kinn und an der Stirn prangerten Schlammspritzer, und ein blutiger Kratzer verlief quer über der linken Augenbraue. Er stammte von herumfliegenden Trümmerteilen, als ein riesiger Baum in das Dach eines leer stehenden Schweinestalls krachte und sich Sarah nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Eine halbe Stunde vorher waren in dem alten Gemäuer noch dreißig Schweine untergebracht gewesen, im angrenzenden Nebengebäude 53 Kühe und noch weiter hinten vier Schafe, elf Ziegen und 25 Hühner. Sarah und ihre beiden Nachbarn konnten alle Tiere ins Freie treiben. Später trotteten ihnen auch noch die beiden leicht verstörten Hofkatzen über den Weg. Somit musste das Leben keiner einzigen Kreatur beklagt werden. Nur das zählte. Kurz, nachdem der Baum in eines der insgesamt fünf Stallgebäude gestürzt war, kam das Wasser. Der Bauernhof, ein mittelständiges Landwirtschaftsunternehmen, stand zu nah am Dorfbach. Dessen Pegel betrug zu normalen Zeiten an seiner tiefsten Stelle keine fünfzig Zentimeter. Jener Dorfbach existierte nicht mehr. Er hatte sich in ein reißendes Ungeheuer verwandelt, welches nicht nur den mehrere Hundert Meter weit entfernten Bauernhof mit sich gerissen hatte, sondern nahezu alles, was ihm im Weg stand. Als das Wasser nahezu zeitgleich auch die Traditionsbäckerei erreichte und binnen einer halben Stunde das gesamte Erdgeschoss überflutete, musste Sarah begreifen, dass sie längst nicht alles retten konnte, was sie retten wollte. Vor zehn Stunden musste sie einmal mehr einsehen, auch verlieren zu können. Es war nicht fair. Diese Bäckerei war ihr Leben gewesen, dort verdiente sie mit unentwegter, ehrlicher Arbeit ihren Lohn. Nun war es vorbei. Sarah stand vor den Trümmern ihrer beruflichen Existenz. Sie löste sich von ihrem schauderhaften Spiegelbild und sah zur hintersten Tür am Flurende. Noch ehe sie den Eingang erreicht hatte, wurde er zaghaft von innen geöffnet. „Hallo, Becky“, rief Sarah ihrer Vermieterin zu. „Wie geht es euch?“ Rebecca, eine wohlbeleibte, dunkelhaarige Frau Anfang Fünfzig, starrte Sarah mit weit aufgerissenen Augen an. Statt auf die Frage ihrer Mieterin zu antworten, rief sie: „Du kommst jetzt erst nach Hause? Nach siebenundvierzig Stunden?“ Sarah zuckte mit den Schultern. Als sie näher trat und sich an die rechte Wandseite quetschte, um Tortie vorbei zu lassen, drang die nächste Frage in ihre Ohren: „Mein Gott, wie siehst du denn aus?“ Becky nahm Sarah in die Arme, drückte sie kurz an sich und strich ihr über die nassen, schmutzigen Haare. „Es war zu viel gewesen, Becky“, rief Sarah leise. „Wir hatten keine Chance.“ „Hast du dich wenigstens ein bisschen ausgeruht?“ Sarah schüttelte mit dem Kopf. „Auch nicht für eine Stunde? Du musst doch wenigstens etwas gegessen haben!“ Die Jüngere der beiden Frauen lächelte matt, während sie antwortete: „Ja, doch. Als unsere Bäckerei noch stand, haben wir uns zwei Schubkarren geschnappt und soviel Brot und Brötchen heraus geschleppt, wie wir tragen konnten. Florian war der Letzte gewesen. Er konnte gerade noch entkommen, bevor das ganze verdammte Haus einfach davon geschwemmt wurde.“ Plötzlich traten Sarah Tränen in die Augen. Sie lächelte immer noch, doch während sie davon sprach, wie knapp sie und ihre Truppe mit dem Leben davon gekommen waren, begann sie zu verstehen, dass niemals wieder irgendjemand auch nur einen einzigen Fuß in die Bäckerei setzen würde. Sicherlich trug auch ihre Erschöpfung dazu bei, dass Sarah weinen musste. Sie war am Ende ihrer Kräfte und bemerkte erst jetzt, wie fertig sie nach knapp zwei Tagen des unermüdlichen Noteinsatzes eigentlich war. Becky umarmte Sarah noch einmal. „Denke nicht darüber nach, Kind. Nicht jetzt. Wenn es dir nichts ausmacht, werde ich dir oben ein heißes Bad einlassen. Es wird dir gut tun. Meine Mutti hat nach dir gefragt. Du weißt ja, wie sie ist. Sie hat die Bilder im Fernsehen gesehen. Es waren meistens Luftaufnahmen gewesen, aber wir haben euch erkennen können, als ihr Florian vom Bäckereigrundstück gezerrt habt und gerade noch das Brot in Sicherheit bringen konntet, bevor das Gebäude in die Fluten stürzte. Unser Dorf ist im ganzen Land berühmt geworden. Die Bilder werden auf fast allen Kanälen ausgestrahlt.“ Becky sprach die letzten Sätze mit fremder Stimme, denn wüsste auch sie es nicht besser, so wollte sie liebend gern glauben, dies alles sei nur ein schlechter Film gewesen. „Ach, Becky“, seufzte Sarah. „Auf diesen Ruhm möchte ich nur zu gern verzichten. Aber nun sag’ schon. Wie geht es Mariechen?“ Sarah hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als sie ihren Namen rufen hörte. Sie öffnete die angelehnte Tür vollends und betrat einen hellen, lichtdurchfluteten Raum. Die linke Wandseite wurde fast vollständig von einer Anbauwand aus dunklem Holz vereinnahmt. Die breite Fensterseite mit der gläsernen Balkontür wurde mit etlichen Zimmerpflanzen begrünt, und an der rechten Wandseite stand Mariechens Bett. Das Fußende des Schlaflagers zeigte zum Fenster. Mariechen lächelte, als sie Sarahs Stimme erkannte. „Oh, mein Schätzchen! Wie schön, dass du da bist! Ich habe dich im Fernsehen gesehen. Dich, Florian und ein paar Leute aus dem Dorf. Ich hatte ja keine Ahnung, wie schlimm es wirklich ist!“ „Ich hoffe, dass wir das Gröbste überstanden haben, Mariechen!“ Sarah setzte sich auf jenen Stuhl, auf dem zuvor Becky gesessen und gemeinsam mit ihrer Mutter die neuesten Ereignisse im Fernsehen verfolgt hatte. Mariechen war weit über achtzig Jahre alt, geistig noch völlig wach und bis auf ein paar kleine Zipperlein kerngesund. Nur ihre Beine gaben vor fast neun Jahren schon ihren Dienst auf. Sarah hatte die Mutter ihrer Vermieterin niemals eigenständig stehen gesehen. „Wie geht es dir?“, wollte Sarah wissen. Sie nahm die knochige Hand der alten Frau und streichelte sie sanft. „Seit der Strom wieder gekommen ist und auch das Telefon funktioniert, geht es mir viel besser.“ Sarah erinnerte sich. Anfangs, noch bevor die Hölle auf Erden über das kleine Dorf hereingebrochen war, kündigte sich das Unheil mit dem Stromausfall an. Im gesamten Ort herrschte völlige Finsternis. Keine zwanzig Minuten später brach auch das Mobilfunknetz zusammen, sodass Hohenhausen vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten war. Wann beides wieder zu funktionieren begann, wusste Sarah nicht. Als sie zu dem Mann in dem schwarzen GMC-Geländewagen hinübersah und sie erkennen konnte, dass er sie immer noch ganz genau beobachtete, während er sein Handy ans Ohr hielt und telefonierte, war es schätzungsweise kurz nach Mittag gewesen. Seit ein paar Tagen klebte der dunkle GMC wie ein zweiter Schatten an Sarahs Fersen, und sie konnte sich nicht erklären, warum. Das erste Mal, als sie den befremdlich wirkenden Wagen erblickte, war am Montagmorgen gewesen, also vor zwei Tagen erst. Der Wetterbericht hatte zum ersten Mal am Freitagnachmittag in der vorangegangenen Woche von einsetzendem Tauwetter in den Bergen gesprochen und vorsichtshalber eine Unwetter- und Lawinenwarnung herausgegeben. Letzteres geschah in einem Mittelgebirge so gut wie nie. Selbst die Dorfältesten, von denen viele schon seit mehr als siebzig Jahren in Hohenhausen wohnten, konnten sich an eine Lawinenwarnung nicht erinnern. Jedoch wurde die Wirklichkeit von den Vorhersagen der Wetterfrösche bei Weitem übertroffen. Keiner konnte am Wochenanfang ahnen, wie schlimm es wirklich werden würde. Doch seit genau diesem Montag wurde Sarah auf Schritt und Tritt beobachtet. In den vergangenen beiden Tagen hatte sie keine Zeit mehr gehabt, um darüber nachzudenken. Erst vorhin, ehe sie die Haustür aufgeschlossen hatte, drehte sie sich noch einmal um und erblickte zwischen den reißenden Fluten des Dorfbachs und der heimischen Auffahrt zur Garage, dieses unheimliche Auto mit dem heruntergelassenen, getönten Fenster auf der Fahrerseite. Irgendetwas stimmte hier nicht, aber Sarah stand nicht der Sinn danach, um sich mit dem Fremden anzulegen. Vielleicht sah sie auch nur Gespenster. Vielleicht war es nur ein verspäteter Winterurlauber gewesen, der den Abschluss der Skisaison fernab des üblichen Trubels feiern wollte und nun in Hohenhausen festsaß. Die einzige, größere Zufahrtsstraße auf der Seite des Skihanges war auf einer Länge von knapp vierzig Metern einfach nicht mehr da. Sie fiel wie so vieles der entfesselten Naturgewalt zum Opfer. In Gedanken an die zerstörte Verbindung zur Außenwelt, lehnte sich Sarah zurück. Sie wollte am liebsten für den Rest ihres Lebens auf diesem Stuhl sitzen bleiben. Es geschah zum ersten Mal seit über zwei Tagen, dass sie länger als eine Minute am Stück in einem warmen, trockenen Zimmer saß, ihre schmerzenden, kalten Füße von sich strecken konnte und die großen Hautfetzen entdecke, die sich von ihren aufgeweichten Fußsohlen gelöst hatten. Dennoch kämpfte sich Sarah wieder hoch. „Sei mir nicht böse, meine Liebe, aber Becky lässt mir gerade ein heißes Bad ein. Ich bin so müde!“ Mariechen lächelte. Ihre grauen Augen musterten die über sechzig Jahre jüngere Frau, während sie sprach: „Du musst dich nicht entschuldigen! Was du, was ihr getan habt, war großartig und heldenhaft! Florian war einmal kurz hier, als er sich trockene Kleidung geholt hat. Er hat uns erzählt, wie mutig und rastlos ihr gearbeitet habt! Unser Dorf ist euch allen zu großem Dank verpflichtet!“ „Aber Mariechen“, entgegnete Sarah ein wenig peinlich berührt. Sie war es einfach nicht gewöhnt, dass sich jemand so überschwänglich und herzlich bei ihr bedankte. „Es hätte doch jeder getan, nicht nur wir Zwölf. Denke nur mal an unsere Feuerwehrleute. Außerdem kommt man in manchen Situationen einfach nicht mehr dazu, großartig nachzudenken. Dann muss man handeln, ohne Fragen zu stellen. Ich bin nur froh, dass keinem von uns etwas Schlimmeres passiert ist. Soweit ich weiß, gab es bisher auch nur Sachschäden. Niemand wurde ernsthaft verletzt, und ich glaube, dafür sollten wir trotz allem, was passiert ist, dankbar sein!“ Sarah begab sich zur Tür, winkte Mariechen zu und verabschiedete sich von ihr. Tortie blieb am Krankenbett sitzen und bewachte die alte Dame. Diese Aufgabe übernahm er oft und gern. Mariechen hatte ihm vor elf Jahren, als er ein sechs Wochen alter Welpe war und sie noch laufen konnte, das Leben gerettet. Ein treues Hundeherz vergisst so etwas nicht.

.....

Am Vormittag des nächsten Tages erhob sich die junge Frau zum ersten Mal seit ihrer Bergung aus dem Bett. Bevor sie überhaupt aufstehen konnte, musste sie sich von drei kuscheligen Decken befreien, ihren angeschlagenen Kreislauf mit leichten Dehnungen in Schwung bringen und ihren schweren, müden Beinen eine Chance geben, nach tagelangem Ruhen halbwegs vernünftige Schritte zu erzeugen. Sarahs Fußsohlen brannten noch immer, und nach einem Griff an ihrem Hinterkopf konnte sie sich auch ihren dumpf pochenden Brummschädel erklären. Langsam wurde ihr mulmig zumute, denn die Tatsache, dass vor ihrem Bett auch ein Paar neue Filzpantoffeln standen und dies neben den Decken, den versorgten Wunden und der heißen Hühnerbrühe ein weiteres Zeichen von beinahe liebevoller Umsorgung darstellte, ließen in Sarah ein erstes Unbehagen an ihrem Tonfall gegenüber dem Fremden aufkommen. Nachdem sie sich eine zurechtgelegte Jeanshose und ein gefüttertes Holzfällerhemd angezogen hatte, schlich sie aus ihrem Zimmer und entdeckte ihren Versorger, wie er an der behelfsmäßig angelegten Küchenzeile stand und eine alte Kaffeemaschine in Betrieb nahm. „Guten Morgen“, rief sie gähnend. Ihr Gruß wurde höflich und freundlich erwidert. „Guten Morgen, Miss Kossin! Heute sehen Sie schon viel besser aus!“ Sarah schmunzelte. „Danke! Aber wäre es nicht besser, wenn Sie mir endlich verraten würden, wie Sie heißen? Ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen, und dabei haben Sie mir wahrscheinlich das Leben gerettet!“ „Jonas“, entgegnete der Mann und reichte ihr seine Hand. „Jonas Glenn!“ „Sehr erfreut!“ Sarah setzte sich an den einzigen Tisch in der gesamten Holzhütte. „Jonas Glenn“, sprach sie nachdenklich. „Dieser Name hört sich nicht gerade nach Deutschland an, Mister. Woher kommen Sie eigentlich?“ „Aus den Staaten. Ich habe ein kleines Haus in der Nähe von New York gemietet.“ Sarah stieß einen leisen Pfiff aus. „Der allseits bekannte Big Apple. Was hat Sie nach Deutschland verschlagen? Wie sind Sie an meinen Vater geraten? Und überhaupt, wie kommt es, dass Sie unsere Sprache so perfekt sprechen? Ich höre keinen Dialekt heraus!“ „Das sind aber ganz schön viele Fragen auf einmal“, rief Jonas grinsend und fuhr fort: „Zunächst einmal können Sie mich ruhig einfach nur Jonas nennen. Bis sich die allgemeine Lage verbessert hat und das Hochwasser im Tal abgeklungen ist, werden wir noch ein paar Tage hier draußen festsitzen. Wir werden uns eine Menge zu erklären haben, und dabei sollten wir die Förmlichkeiten besser ausklammern.“ „Okay, wird gemacht“, versicherte Sarah. „Aber nur, wenn Sie aufhören, mich Miss Kossin zu nennen. Das klingt irgendwie nach total verstaubter Etikette, und die liegt mir überhaupt nicht!“ „Auf du?“, fragte Jonas. „Auf du!“ Er vertiefte sich wieder in seiner Tätigkeit. „Ich habe immer noch Hunger“, rief sie schließlich, als sie den köstlichen Duft des durchlaufenden Kaffees vernahm und vergeblich auf eine Antwort bezüglich ihrer Fragen gewartet hatte. Jonas drehte sich zu ihr herum und sah sie lächelnd an. Dabei blitzte es in seinen Augen vergnügt auf. „Das glaube ich Ihnen ... dir gern. Ich denke, heute verträgst du ein wenig mehr, als nur eine Hühnerbrühe. Wie wäre es, wenn ich uns ein richtig zünftiges Frühstück zubereite, mit allem, was unser Proviant zu bieten hat?“ „Klingt großartig“, ließ Sarah vernehmen. „Dann überrasche mich mal!“ Was folgte, war wirklich eine Überraschung, aber sie zählte zweifellos zu der Besten, die der jungen Frau seit einer Woche begegnet war. Jonas hatte ihr wieder den Rücken zugewandt und werkelte auf der kleinen, hölzernen Arbeitsplatte herum. Schließlich kramte er in seiner Hosentasche, betätigte ein Feuerzeug und wischte sich seine Hände an einem rot-weiß karierten Küchentuch sauber, welches neben ihm auf dem Arbeitsplatz lag. Dann setzte er sich in Bewegung und begab sich zu Sarah hinüber. In seinen Händen hielt er einen Glasteller, auf dem sich ein kleines, mit weißer Schokolade überzogenes Törtchen befand. In dessen Mitte steckte eine rote, brennende Kerze. Sarah wusste im ersten Moment nicht, was dieser Auftritt zu bedeuten hatte. Jonas sah in das verdutzte Gesicht seiner Begleiterin. „Sag’ bloß, du hast deinen eigenen Geburtstag vergessen?“, rief er und bemerkte, wie gerührt Sarah angesichts dieser kleinen Geste war. Sie stand auf und umarmte ihn. „Alles Gute zum Geburtstag!“ „Aber ... aber ...?!“ „Doch, Sarah, auch dein Geburtsdatum ist mir bekannt. Du bist heute 22 Jahre jung geworden, richtig?“ Jonas sprach gleich darauf weiter, ohne ihr die Gelegenheit zu geben, auf seine Frage zu antworten: „Nun, eigentlich sollte man seinen Geburtstag nicht unter solchen Umständen und an so einem Ort feiern, aber eine große Party konnte ich auf die Schnelle nicht mehr organisieren. Tut mir wirklich leid.“ „Ach was! Dass überhaupt jemand an meinen Geburtstag gedacht hat, ist mehr, als ich erwarten kann! Ich habe ihn ja selbst total vergessen!“ Sarah schaute mit leuchtenden Augen auf das kleine Törtchen mit der Kerze. „Nun puste sie schon aus! Du darfst dir etwas wünschen!“ Sie überlegte kurz mit geschlossenen Augen und blies das schmale Kerzenlicht aus. „Ist es etwas Schönes?“, fragte Jonas und begab sich in die provisorische Küche zurück. „Wird nicht verraten“, entgegnete Sarah belustigt, wurde jedoch zunehmend stiller und nachdenklicher. Sie starrte auf das leckere Törtchen, ohne es wahrzunehmen. Jonas bemerkte die geistesabwesende Stimmung seines Schützlings und fragte schließlich, während er ein paar Eier über einer Pfanne aufschlug: „An was kannst du dich eigentlich noch erinnern?“ „Hm? Was?“ „Wie viel weißt du noch über den Lawinenabgang?“ Sarah zuckte mit den Schultern und antwortete: „So ziemlich alles. Ich kann mich daran erinnern, wie du mich am Ärmel gezogen und aus Maries Zimmer gerissen hast. Der Krach wurde immer lauter, und ich hörte, wie die Mauern und die Dachbalken zerbarsten. Ganz zum Schluss habe ich gesehen, wie du zur Haustür hinausgesprungen bist. Von da an habe ich einen kompletten Filmriss.“ Sarah schluckte und fuhr fort: „Mariechen! Ich hätte sie retten können.“ Jonas nahm die Pfanne von der elektrischen Doppelkochplatte, drehte den Strom ab und begab sich zu Sarah an den Tisch. Er setzte sich ihr gegenüber und ergriff ihre ineinander gefalteten, auf der Tischplatte ruhenden Hände. „Jetzt hör’ mir mal zu“, begann er. „Ich habe gehört, was Marie zu dir gesagt hat. Sie hat mit ihrem Leben abgeschlossen und ihren Frieden gefunden, schon lange, bevor das Unwetter aufgezogen war. Du darfst dich nicht mit Selbstvorwürfen quälen, verstehst du? Niemand hätte es rechtzeitig schaffen können, Marie aus dem Haus zu schaffen. Weder du, noch ich, noch sonst jemand. Marie wollte das Haus ganz und gar nicht verlassen, und weißt du auch, warum?“ Sarah sah auf und schüttelte mit dem Kopf. „Ihr lag nicht mehr ihr eigenes, ereignisreiches Leben am Herzen, sondern nur noch deines. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir, und du solltest langsam mal anfangen, es zu genießen.“ „Genießen?“, fragte Sarah kläglich. „Wie soll ich denn noch etwas genießen können, wenn ich alles verloren habe, was mir wichtig war? Mein Arbeitsplatz existiert nicht mehr, meine Wohnung, meine Zukunft, Mariechen ... Ich habe all meine Papiere verloren, sogar meinen Personalausweis und die Geburtsurkunde. Mein ganzes Leben ist binnen weniger Stunden sprichwörtlich den Bach hinuntergegangen, und ich weiß nun nicht mehr, wie es weitergehen soll!“ Sie sah in Jonas’ graublaue Augen. „Du bist am Leben und bis auf einige Kratzer wohlauf“, antwortete er und erhob sich. „Es haut dich im Augenblick vielleicht nicht gerade allzu sehr vom Hocker, aber ich denke, es ist immerhin ein Anfang.“ Sarah beobachtete ihren Retter, wie er die Rühreier auf zwei weiße Porzellanteller verteilte, etwas Toastbrot und ein paar Ecken Butter auflegte und zum Schluss angebratene Schinkenstreifen über das Essen streute. Aus einem Schubfach entnahm er jeweils zwei Messer und zwei Gabeln, schnappte sich die Teller und servierte das traumhaft duftende Frühstück. Sarah wollte aufstehen und Jonas zumindest insofern helfen, das Kaffeegeschirr aufzutragen, doch er gebot ihr nachdrücklich, am Tisch sitzen zu bleiben. „Du trinkst ihn schwarz, richtig?“, wollte er wissen. Sie nickte und sprach: „Ohne Milch und ohne Zucker.“ „Perfekt. Ich ebenfalls.“ Er setzte sich und begann, eine der getoasteten Brotscheiben mit etwas Butter zu bestreichen. „Wie geht es jetzt weiter?“ Jonas sah auf. Er schien Sarahs Frage nicht verstanden zu haben, und so entgegnete er nur: „Also, ich weiß nicht, wonach es sonst noch aussehen soll, aber zurzeit bin ich stark der Meinung, dass wir gerade frühstücken ...!“ Sarah trank einen Schluck Kaffee und setzte ihre Tasse lautstark auf dem Tisch ab. „Du weißt genau, was ich meine“, rief sie verärgert. „Was wirst du jetzt tun? Wirst du mich bei meinem Alten abliefern, deine Kohle einkassieren und nach Hause fliegen? So hat er es dir doch aufgetragen, richtig? Sollte ich bis zum Hals im Schlamassel stecken, dann ziehst du mich raus, lieferst mich bei diesem egoistischen Idioten ab und verschwindest, ohne Fragen zu stellen!“ Jonas überlegte sich genau, was er auf Sarahs Vermutung erwidern sollte. Im Grunde genommen lag sie nicht völlig daneben, um nicht zu sagen, genau richtig. Dennoch verpackte er seine Antwort in umschweifende Sätze: „Ich glaube, wenn ich so mit dir verfahren würde, wäre ich komplett aus dem Schneider. Du hast Recht, wenn du behauptest, dein Vater bezahlt mich dafür, dass ich dich wohlbehalten zu ihm nach Frankfurt bringe. Du liegst auch richtig, wenn du vielleicht an einen ominösen Briefumschlag denken solltest, den er mir in einem sterilen Büro überreichen könnte. Und zu verschwinden, ohne meinen Auftrag zu hinterfragen, gehört für mich zur absoluten Selbstverständlichkeit. Du bist nicht die erste Person, die ich ohne ihr eigenes Wissen beschattet habe. Du wirst auch nicht die Letzte sein.“ „Aber?“, fragte Sarah, nachdem sie ihren Bissen mit einem weiteren Schluck Kaffee heruntergespült hatte. „Aber du bist die erste Person, bei der ich begonnen habe, an meinem Auftrag zu zweifeln“, entgegnete er. „Weshalb?“ Jonas atmete deutlich vernehmbar ein. „Ich glaube, dazu sollte ich dir einiges erklären. Ich habe als Personenschützer gearbeitet, als Leibwächter eben, als Privatdetektiv und zeitweise auch als Kriminalermittler. Als Personenschützer hält man den verschiedensten Leuten die unglaublichsten, verrücktesten Individuen vom Hals, begleitet sie während der glamourösesten Galas und den wichtigsten öffentlichen Auftritten. Man haftet wie ein zweiter Schatten an seinem Schützling, ohne dass man allzu offensichtlich in den Vordergrund tritt. Einer meiner Ausbilder hat mir damals gesagt: Den besten Job hast du erledigt, wenn dich nicht eine einzige Kameralinse eingefangen hat. Dieser Satz hat mich von Anfang an geprägt. Damals steckte ich inmitten meines achtwöchigen Einführungslehrgangs im Federal Law Enforcement Training Center in Glynco, Georgia.“ Sarah verstand nur Bahnhof. Deshalb hakte sie vorsichtshalber noch einmal nach: „Wo hast du gesteckt?“ Nach einer kurzen Pause, in der Jonas überlegte, ob es wirklich sinnvoll ist, darüber zu sprechen, entgegnete er langsam und deutlich: „In einem Ausbildungszentrum des United States-Secret Service. “ Sarah verschluckte sich an ihrer Toastscheibe. Während sie laut hustete und ihr Gesicht schon rot anzulaufen begann, erwiderte sie: „Ja, natürlich. Und ich stand Pate für das Märchen von Frau Holle, nur, dass es in diesem Winter leider kein Märchen gewesen ist und sich diese blöde Kuh auch noch Verstärkung geholt haben muss!“ Jonas sah auf und fragte allen Ernstes: „Wer ist Frau Holle?“ „Wie? Du kennst sie nicht? Hat dir nie jemand etwas vorgelesen, als du noch klein gewesen bist? Du arme Socke ...!“ Jonas schüttelte anfangs noch mit dem Kopf, überhörte Sarahs bedauernden Tonfall und entgegnete stattdessen: „Darum geht es hier auch gar nicht! Was glaubst du denn, wie lange du schon unter meiner Beobachtung stehst? Erst seit Montag dieser Woche? Großer Gott, nein, Sarah! Seit ganzen dreieinhalb Jahren bin ich in jedem Jahr mindestens alle zwei Monate nach Hohenhausen gekommen und habe deinem alten Herrn berichtet, wie es dir geht, was du machst, wer deine Freunde sind und ob du zurechtkommst! Über fast jede einzelne deiner Erkrankungen weiß Herbert Lansink Bescheid, über beide Männer, die dich belogen und betrogen haben, ja selbst über deinen letzten Kontostand verfügt dein von dir so verabscheuter Erzeuger genaue Kenntnisse! Du hast mich nie entdeckt, hast noch nicht einmal geahnt, dass du aufgeflogen bist. Was glaubst du wohl, in welcher Einrichtung man die beste Grundlagenausbildung auf Erden bekommt, um so geschickt zu handeln?“ Jonas beantwortete sich seine Frage gleich selbst: „Sie befindet sich in Georgia, wo man nicht nur beigebracht bekommt, den mächtigsten Staatschef der Welt zu beschützen, sondern auch, sich mit und ohne Waffen zu verteidigen, jemandem medizinische Hilfe zu leisten, oder in einer Krisensituation den berühmten kühlen Kopf zu bewahren! Klingelt da etwas bei dir?“ Diesmal deutete Sarah ein Kopfschütteln an. Sie konnte nicht fassen, was sie eben gehört hatte. Nicht nur, dass ihr Lebensretter ein ausgebildeter Bundesagent der Vereinigten Staaten war, verursachte in ihr ein elendes, flaues Gefühl. Die schlichte Tatsache, dass seit dreieinhalb Jahren ihr Leben kontrolliert wurde und sie nicht den leisesten Verdacht gehegt hatte, ließ sie vor Wut und Abscheu beben. „Die Wahrheit tut weh, nicht wahr?“, fragte Jonas in einem viel ruhigeren Tonfall, als er sah, wie sehr er Sarah verängstigt hatte. „Ich wünschte, ich hätte es dir nie sagen müssen! Ich wünschte, du hättest noch dein altes, einfaches Leben, in dem du zwar nicht immer glücklich gewesen bist, aber für das, was du hattest, aufrichtig und hingebungsvoll gearbeitet hast! Dieses verdammte Unwetter hat all meine Absichten, dich dieses Dasein fortführen zu lassen, zunichtegemacht. Aber ich kann dich nicht einfach so deinem Alten übergeben! Willst du auch wissen, wieso nicht?“ Sarah sagte nichts. Sie schluckte nur an Tränen der maßlosen Enttäuschung und des Zorns. „Du bist es nicht wert, diesem Kotzbrocken ausgeliefert zu werden! Deine Entscheidung, dich von ihm loszusagen, war ein sehr guter Entschluss gewesen, weil du einfach nicht so ein niederträchtiger Lump bist, wie er oder viele von den Leuten, die ich in meinen fast dreißig Berufsjahren observiert oder beschützt habe! Du verdienst etwas ganz anderes, etwas, was deiner Hilfsbereitschaft und deinem selbstlosen Wesen gerecht wird! Wann bist du eigentlich zum letzten Mal im Urlaub gewesen, hm? Kannst du dich noch daran erinnern, wie es ist, barfuß an einem Strand entlang zu gehen und die Wellen eines Meeres an den Füßen zu spüren? Bist du jemals zum Tanzen ausgegangen, hast ein Konzert besucht oder einfach nur mal Spaß gehabt? Es spielte keine Rolle, wann und wie oft ich nach Hohenhausen gekommen bin. Ich habe immer nur gesehen, wie du dich bemüht hast, deiner Umwelt gerecht zu werden, aber niemals dir selbst. Du allein kannst die Welt nicht retten, auch wenn du sie für deine Zeitgenossen um einiges erträglicher gemacht hast. Höre endlich auf, dir an allem die Schuld zu geben!“ Sarah ließ den Tränen freien Lauf. Jonas hatte von Dingen gesprochen, von denen sie zwar keine Ahnung hatte, von denen sie aber wusste, dass sie der bedingungslosen Wahrheit entsprachen. Was sie so erschütterte, war die schlichte Tatsache, dass sie für ausnahmslos jeden ihrer Mitmenschen und wenigen Freunde, die sie hatte, Kopf und Kragen riskieren würde, nur, damit es ihnen gut ging. Ihr hatte es nur noch nie jemand so deutlich vor Augen geführt. Vieles war für Sarah zur Selbstverständlichkeit geworden. Dazu zählte Mariechens Pflege, die massenhaften, unbezahlten Überstunden in der Backstube, der ganze, gottverfluchte Hochwassereinsatz und jener Aspekt, dass sie sich selbst mehrmals mit über vierzig Grad Fieber auf Arbeit geschleppt hatte, nur, um ihren Pflichten als Berufstätige nachzukommen. An sich selbst, an ihren Körper und ihr seelisches Wohl, dachte Sarah immer nur zuletzt. Wenn überhaupt. „Marie hatte Recht“, fuhr Jonas fort. „Sie hat davon gesprochen, dass du ein Engel seist. Sie konnte es nicht treffender beschreiben. Die Menschheit braucht jedoch viel mehr von deiner Sorte. Nun, ich bin zwar nicht Gott, aber ich verspreche dir, dich zu beschützen, solange du dich unter meiner Obhut befindest. Hast du dich denn nie gefragt, was aus diesen Mistkerlen geworden ist, die dir das Herz gebrochen haben?“ Mit tränenerstickter Stimme fauchte Sarah: „Das muss ich auch nicht, weil es mich nicht die Bohne interessiert!“ „Du hast sie nie wieder im Dorf gesehen, und sie werden auch nicht wiederkommen“, sprach Jonas weiter. „Ich habe ihnen nicht ein Haar gekrümmt, aber sie werden wohl ihre Lehren gezogen haben. Mehr sage ich dazu nicht.“ Sarah stand wortlos auf. Sie bewegte sich langsam, so, als würde sie unter der Last der vielen Informationen, die Jonas ihr vermittelt hatte, beinahe zusammenbrechen. Während sie in ihr Zimmer ging und die Tür hinter sich zuzog, starrte Jonas bekümmert vor sich hin. Er hatte nie gewollt, Sarah die ganze, bittere Realität vor Augen führen zu müssen. Dabei war es längst noch nicht alles gewesen, womit er sie nun wohl oder übel konfrontieren musste. Den Hauptteil seiner Informationen hielt Jonas wohlweislich noch hinter dem Berg, denn das, was noch auf Sarah zukommen würde, konnte sich selbst ein Drehbuchschreiber nur schwer ausdenken. So gewährte ihr jene Ruhe, die sie nun brauchte, um über alles nachzudenken.

Über zwei Stunden später erst traute sich Sarah wieder aus ihrem Zimmer heraus. Sie betrat den verlassenen Hauptraum der Waldhütte und setzte sich in einem Wasserkocher Teewasser auf. Sie erinnerte sich, dass vorhin neben der Kaffeemaschine eine Packung Pfefferminztee gelegen hatte. Aus reiner Wissbegier heraus begann sie, in den beiden Schränken und dem kleinen Kühlschrank neben der bescheidenen Kochnische nachzuschauen. Sarah fand alles, was das Herz begehrte: unzählige Konservendosen mit eingewecktem Obst, Gemüse und Fleisch, Suppen, haltbare Milch, Säfte, Mineralwasser, Kartoffeln, Reis, luftgetrocknete Salami, Kartoffeln, Kaffee und sogar zwei Tafeln Schokolade. Es war ihre Lieblingssorte gewesen. Sarah fragte sich zwangsläufig, was und wie viel Jonas noch über sie herausgefunden haben mochte und erschauderte bei dem Gedanken, dass es wahrscheinlich mehr sein könnte, als sie je von sich selbst zu wissen glaubte. Sie schaute in den Kühlschrank und verschloss ihnen nach einem kurzen Blick auf den reichlichen Inhalt gleich wieder. Der Proviant genügte ihrer Meinung nach für mehr als zwei Wochen. Jonas musste vor der Katastrophe einen halben Supermarkt leer gekauft haben. Der Wasserkocher schaltete sich ab. Die junge Frau fand einen weißen, einfachen Porzellanbecher und brühte sich einen Teebeutel auf. Danach begab sie sich zu der alten, abgewetzten Couch, auf der Jonas jede Nacht schlief. Beinahe betroffen stellte sie fest, dass auf dem Sofa nur eine einzige, zusammengefaltete Decke lag, die auf Sarah keinen besonders gemütlichen Eindruck ausübte. Während sich ihr Schutzengel die ganzen Nächte sogar auch ohne Kopfkissen um die Ohren schlug, logierte sie geradezu in einem Himmelbett. Wieder beschlich sie dieses seltsame, beklommene Gefühl, welches schon nach ihrem Aufwachen am Morgen in ihr hochgestiegen war. Jonas kümmerte sich wirklich beeindruckend um sie. Sarah begann sich zu fragen, womit sie diese Fürsorge eigentlich verdient hatte. Immerhin kannte sie ihn bis vor wenigen Tagen noch nicht einmal, war ihm kürzlich erst ziemlich abweisend gegenübergetreten und wurde trotz ihrer abwertenden Haltung so rührend von ihm gepflegt. Sarah verdankte Jonas ihr Leben. Dass er für ihr Wohlbefinden von ihrem Vater bezahlt wurde, konnte nicht der einzige Grund für sein Entgegenkommen sein. Wenn er es wirklich nur auf das Geld abgesehen haben würde, befände sich Sarah schon längst nicht mehr hier. Womöglich wäre sie in einer Privatklinik gelandet, wo sie auf Papas Kosten gesund gepflegt würde. Sie würde Jonas nie mehr wiedersehen, denn seine Tarnung war aufgeflogen und er selbst für eine weitergehende Observierung nutzlos geworden. Zudem legte er ihr vor zwei Stunden erst klar, dass er sie nicht so einfach bei dem alten Lansink abliefern konnte, wie ein schnödes Postpaket. Sarah begriff nicht, was Jonas ihr damit sagen wollte. Immerhin beging er mit dieser Einstellung sozusagen einen klassischen Vertragsbruch. Für Sarah warfen sich immer mehr Fragen auf. Sie stellte ihre Teetasse auf dem abgetreten Holzfußboden ab, denn neben der Couch befand sich keine einzige Ablage. Während sie sich ausstreckte und ihren Kopf auf der zusammengelegten Decke ruhen ließ, drehten sich ihre Gedanken. Ihr Blick fiel auf Jonas’ wenige, persönliche Sachen. Sie bestanden nur aus einem mit schwarzem Nylonstoff gefertigten Reisekoffer, einem grünen und einem blauen Rucksack. Sarah überlegte für einen kurzen Moment, ehe sie sich wieder erhob. Jonas wusste so viele Dinge aus ihrem Leben, aber sie so gut wie gar nichts über ihn. Okay, eine Entschuldigung war dies nicht, doch Sarah begann, den Reißverschluss des schwarzen Koffers aufzuziehen. Neben diversen Kleidungsstücken, Hygieneartikeln und einem vier Jahre alten Autoatlas – sowas gibt’s noch? – befanden sich nur ein abgegriffener Schmöker und eine lederne Brieftasche darin. Sarah schaute hinein und entdeckte nur Bargeld. Alles in allem hielt sie knapp 2500 Euro in den Händen. Dafür hätte sie mehr als drei Monate lang arbeiten gehen müssen. Dieser Betrag stellte für sie eine geradezu irreale Summe dar. Hastig steckte Sarah das Geld in die Brieftasche zurück, legte sie genau so zurecht, wie sie sie gefunden hatte und wollte den Koffer verschließen, als ihr aus dem am Deckel befestigten Innennetz ein Foto auffiel. Sie nahm es heraus und betrachtete die Menschen, die darauf abgebildet waren. Es zeigte Jonas mit einem Jungen und einem Mädchen, sowie einer bezaubernden, strahlend lächelnden Frau. Seine Familie. Die beiden Kinder sahen sich sehr ähnlich und mussten ungefähr gleich alt sein. Auf diesem Bild waren sie um die zwanzig Jahre alt, also etwa in Sarahs Alter. Jonas’ Frau war etwas jünger, als er selbst. Insgeheim gratulierte Sarah ihrem Retter zu seiner Wahl, denn diese Familie stellte für sie den Inbegriff von Glück und Zufriedenheit dar. Jonas’ Kinder schienen genau das zu haben, was Sarah seit Jahren schmerzlich vermisste. Sie löste sich von dem Familienporträt und steckte es behutsam an seinen Platz zurück, bevor sie den Koffer endgültig verschloss und ihre Inspektion fortsetzte. In dem grünen Rucksack fand Sarah nichts weiter, als ein ganzes Sammelsurium an Medikamenten, Verbandszeug und steril verpackten Spritzen. ,Und dieser Kerl will nur ein Bodyguard sein?’, fragte sich Sarah, als sie auch diese Tasche wieder verschloss. Zum Schluss nahm sie sich den blauen Rucksack vor. Er schien schwerer zu sein, als der Beutel mit dem medizinischen Krimskrams. Die junge Frau öffnete die Tasche und förderte zunächst ein Paar Kniestrümpfe zutage. Es waren dieselben, die sie an ihren Füßen trug. Selbst die angegebene Größe stimmte. Damit konnten sie keineswegs Jonas gehören, denn für ihn waren die Strümpfe viel zu klein. Sarah kramte weiter und holte unzählige, nutzlose Dinge hervor, zum Beispiel Kaugummi, ein Handyladegerät, einen leeren Notizblock und zwei Schachteln Zigaretten. Dabei hatte sie Jonas noch nie rauchen gesehen. Sie wusste nicht, wonach sie eigentlich gesucht hatte, doch als sie es fand, war sie wie vom Donner gerührt und auch total verunsichert. In ihren Händen hielt sie zum ersten Mal überhaupt eine geladene, in einem braunen Lederpolster steckende Schusswaffe. Sarah hockte immer noch wie versteinert vor dem geöffneten Rucksack und starrte auf die Pistole, als die Eingangstür geöffnet wurde und Jonas hereintrat. „Ich hoffe inständig, du hast dafür eine einleuchtende Erklärung“, rief er und nahm ihr die Waffe aus der Hand. Sarah hielt sie nicht fest, umklammerte sie nicht einmal, sondern hatte sie einfach nur auf ihren Händen liegen gehabt. Sie ließ ein paar Sekunden verstreichen und beobachtet Jonas, wie er ihr die Pistole aus den Händen nahm, sie in den blauen Rucksack zurücklegte und den Reißverschluss zuzog. Sie stand auf und ergriff den Arm ihres Gegenübers, sah ihm in die Augen und bat: „Sag’ du es mir. Wer bist du wirklich, Jonas Glenn? Wie kommst du dazu, für meinen Vater zu arbeiten? Warum schickt er jemanden, der auf mich aufpassen soll? Der mir das Leben rettet und sich mehr um mich kümmert, als es mein eigener Erzeuger seit dem Tod meiner Mutter vor dreizehn Jahren je getan hat? Und wozu brauchst du eine Waffe? Um alles und jeden niederzuschießen, der mir zu nahe treten könnte? Warum? Du jagst mir langsam Angst ein!“ Jonas wandte sich ab und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. „Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten“, antwortete er leise. „Dazu besteht kein Grund. Aber ich glaube, wir sollten ein wenig spazieren gehen. Nicht weit von hier gibt es eine Sitzgruppe für Wanderer, damit du dich ausruhen kannst ...“ Sarah wurde sauer. „Siehst du, genau deswegen könnte ich ausrasten“, rief sie aufgebracht dazwischen. „Damit ich mich ausruhen kann! Verdammt, Jonas! Ich habe in der vergangenen Woche siebenundvierzig Stunden am Stück gerammelt, wie die letzte Hafenhure, während du in deinem scheiß Ami-Schlitten gesessen und jeden meiner Handgriffe penibel genau beobachtet hast! Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du währenddessen auch nur einmal auf mich zugekommen bist und mich gefragt haben könntest, wie es mir dabei ergangen ist!“ „Dein Vater hat es mir verboten.“ „Oh, mein Vater, na klar! Willst du mich verarschen? Er konnte dich doch bis zum Mittwochmittag überhaupt nicht erreichen, weil sämtliche Verbindungen zur Außenwelt unterbrochen waren!“ Jonas deutete ein schiefes Grinsen an und entgegnete beinahe mürrisch: „Glaubst du denn ernsthaft, in den Hubschraubern über eurem Dorf saßen wirklich nur Kamerateams und Journalisten?“ Er ergriff Sarahs Arm und bedeutete ihr, ihm zu dem kleinen Tisch zu folgen, an dem sie vor zwei Stunden gesessen und gefrühstückt hatten. Nun lag nur eine kleine Pappschachtel auf ihm, aus der Jonas einen Pflasterstreifen und einen Wattebausch entnahm. „Setz’ dich“, sprach er. „Ich möchte die Injektionsnadel entfernen, bevor wir gehen.“ Sarah ließ sich nieder und krempelte den linken Ärmel ihres karierten Hemdes hoch. „Was hast du mir überhaupt gespritzt?“, wollte sie wissen und bemühte sich, ihre stetig wachsende Wut zu unterdrücken. „Alles, was dein Körper gebraucht hat, um sich zu regenerieren. Dazu zählen neben Kochsalzlösungen auch Vitamine, Nährstoffe, Schmerzmittel und ein leichtes Betäubungsmittel.“ Sarah stutzte. „Ein Schlafmittel? Wozu?“ Jonas entfernte die dünne Mullbinde, presste die Watte auf die Einstichstelle und zog die Kanüle aus Sarahs Armwinkel. Sie drückte auf den Wattepfropfen, während Jonas das Pflaster anlegte. „Um deinem Körper die Gelegenheit zu geben, sich zu erholen und um deine Platzwunde am Hinterkopf zu nähen.“ Sarah griff sich an den Hinterkopf und strich sich über die abgedeckte Wunde. „Woher hast du eigentlich all die medizinischen Kenntnisse?“, fragte sie und krempelte sich den Hemdsärmel wieder herunter. „Du könntest glattweg als Arzt durchgehen.“ „Ich belegte einen Extrakurs beim Secret Service, als ich noch in der Ausbildung gewesen bin. Seitdem besuche ich in jedem Jahr eine Auffrischung. Ich habe mir gedacht, dass sowas nie schaden kann.“ Die beiden standen auf. Jonas warf die Abfälle in einen Mülleimer, nahm eine nagelneue Winterjacke von einem Kleiderhaken, der sich neben der Eingangstür befand, und warf sie Sarah entgegen. Sie fing sie geschickt auf, zog sich die ebenfalls neuen Winterschuhe an und kämpfte immer aussichtsloser gegen ihren unaufhörlich wachsenden Zorn an. Jonas’ ruhiges, gelassenes Wesen brachte Sarah nur noch mehr in Fahrt. Sie verstand einfach nicht, warum er ihr nicht endlich all das erklärte, was er ihr bisher verschwiegen hatte. So rauschte sie wortlos an ihm vorbei und trat in die milde, feuchte Waldluft hinaus.

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