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Die Trommeln der Freiheit

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„Regen, nichts als Regen. Ich wandle unter freiem Himmel, sehe kein Licht in der stockfinsteren Nacht. Die Straße liegt vor mir, über mir greifen die Äste der Bäume nach meinen Gedanken. Endlos scheint die Fahrbahn, und ich bin frei wie der laue Wind, der sanft mein Gesicht umspielt. Die Zeit fließt wie zäher Gummi dahin, vorbei an mir, wie das Haus auf der linken Seite meinem Blick entschwindet. Kein Licht schimmert hinter den Fenstern hervor, alles ist still. Ich höre nur das Rauschen von Abermillionen Wassertropfen, welche sich ihren Weg vom Himmel bahnen, auf das dichte Blätterdach der Bäume fallen und schließlich auf die Erde niederstürzen. Dazwischen bewege ich mich, werde getroffen, werde nass. Ich spüre es nicht. Mein Bett steht heute Nacht verlassen, denn ich denke nicht an Schlaf. Vor mir liegt die Landstraße wie ein schwarzes Band in der Dunkelheit, umsäumt und beschützt von Bäumen links und rechts. Ein pfeilschneller Schatten bewegt sich neben mir, und ich schrecke aus meinen Gedanken empor. Doch es war nur ein weit entfernter Blitz, der meinen ständigen Begleiter für einen Sekundenbruchteil auf den nassen Asphalt geworfen hat. Sonst umhüllt mich Stille, nichts als Stille, die kein Licht mir spendet, in der stockfinsteren Nacht.“

Der Mond leuchtete wie eine silberne Scheibe am Himmel und tauchte die schlafende Erde in ein geheimnisvolles Licht. Ein sanfter Wind strich durch die Bäume und Sträucher. Das Rauschen der Wipfel übertönte die allgegenwärtigen Geräusche des nächtlichen Waldes im Süden der Stadt Little Rock in Arkansas. Von einer Siedlung her drang das Bellen eines Hundes durch die klare Luft und vermischte sich mit dem Rascheln von bunten und abgestorbenen Blättern auf der Erde. Der Sommer ging zu Ende, und der herannahende Herbst schickte seit ein paar Wochen schon seine Vorboten ins Land. Aus einer nahegelegenen Flussniederung stieg Bodennebel empor. Er hüllte das kleine, verwitterte Ziegelhäuschen am Rande eines stillgelegten Bahndamms ein. Die alte Hütte trotzte seit unzähligen Jahren den unberechenbaren Gewalten der Natur. Obwohl das helle Licht des Mondes direkt durch ein schmutziges, von feinen Spinnweben benetztes Fenster schien, brannten Dutzende von Teelichtern in der aus einem einzigen Raum bestehenden Kate und verdrängten die dunklen Schatten der Finsternis. Die kleinen Lichter standen überall, auf dem maroden Dielenfußboden, dem schiefen Tisch und einem ebenfalls grob gezimmerten Schemel, welcher eher einer etwas zu groß geratenen Fußbank, als einem Stuhl glich. Der Schlafplatz verdiente in keiner Weise die Bezeichnung Bett. Da in dem Häuschen schon seit Jahrzehnten niemand mehr wohnte, stand die spartanische, von unzähligen Holzwürmern zerfressene Einrichtung noch immer so an ihrem Platz, wie sie einst zurückgelassen wurde. An der hinteren Seite der Behausung, dort, wo es kein Fenster gab, lagen insgesamt acht uralte, staubige Strohballen in einer Zweierreihe nebeneinander geschichtet. Über dem improvisierten Schlafplatz lag eine ausgebreitete Plüschdecke, auf der ein junges Pärchen in enger, vertrauter Umarmung ruhte. Der eigentliche Zauber der Nacht war erloschen, doch die beiden lagen stumm nebeneinander und genossen die Erinnerungen an ihr gemeinsames Wiedersehen. Keiner der beiden traute sich, die Magie des Augenblicks durch Worte zu zerstören, denn viel zu selten war es ihnen vergönnt, sich ungestört und ohne zeitlichen Druck ihren Gefühlen zueinander hinzugeben. Der junge Mann lag an der weiß getünchten Wand und umklammerte das Mädchen in beinahe verzweifelter Ohnmacht. Er suchte die Hand seiner Geliebten. Als er sie fand, hielt er sie fest umklammert. Das junge Paar war beinahe nackt. Nur eine weitere Decke schützte es vor der Kühle der Septembernacht. „Ich frage mich seit Wochen, wie es mit uns weitergehen soll“, rief das zierliche Mädchen und löste sich nun sanft, aber bestimmt, aus den starken Armen ihres Freundes. Sie spürte, dass die Nacht vorbei war, sobald sie diese Worte ausgesprochen hatte, ebenso wie sie wusste, dass dieses Thema wie ein Damoklesschwert über ihre Verbindung schwebte. Dennoch wollte sie klare Verhältnisse, und so richtete sie sich auf, zog sich die Decke über ihre Brust und sah ihren Liebhaber in die Augen. „Ich möchte bei dir bleiben, Hank“, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort, als er seine Hände hinter dem Kopf verschränkte, schweigend die nach Holz und muffigem Stroh riechende Luft einatmete und zum spitz zulaufenden Dach des morschen Ziegelbaus hinaufblickte. „Ich liebe dich, seit wir uns vor zwei Jahren zum ersten Mal begegnet sind! Ich will dich nicht immer wieder neu entdecken müssen, nur, weil wir uns manchmal monatelang nicht sehen!“ „Du weißt, dass es nicht geht“, erwiderte Hank ein wenig schroff. „Wir haben doch schon tausend Mal darüber gesprochen!“ „Aber deine Begründungen kann ich nicht akzeptieren! Warum trennst du dich nicht endgültig von ihr? Wir könnten ganz neu anfangen! Lass und ein Haus kaufen, irgendwo dort, wo uns keiner kennt! Nur du und ich! Nur wir beide!“ Nun richtete sich auch Hank auf. Er strich dem Mädchen eine dunkle Haarsträhne hinter das Ohr und küsste sie sanft auf den rechten Oberarm. „Wir haben kein Geld“, erwiderte er. „Ich kann geradeso die Miete für unsere Wohnung in Chicago bezahlen! Liz kümmert sich um die Kinder, und kleine Mädchen kosten nun mal eine Menge Geld!“ In Pipers Augen blitzte es wütend auf. „Natürlich kosten sie Geld“, zischte sie verächtlich. „Geld, das ganz allein du verdienst, während dein Püppchen viel lieber um die Häuser zieht und jede Woche eine andere Macke heraushängen lässt! Auf welchem Trip ist sie denn diesmal, Hank? Ein neuer Club in der Stadt? Ein neuer Busen? Ein anderes Make-up? Das Fitnessstudio? Elisabeth sollte sich lieber um einen anständigen Job kümmern, anstatt deine Kohle für Dinge zu verpulvern, von denen du überhaupt nichts hast!” Piper redete sich richtig in Stimmung. Sie stand auf, verhüllte ihre Blöße mit der Decke und ließ Hank, der nur mit Boxershorts bekleidet war, auf dem Lager zurück. Die junge Frau balancierte barfuß zwischen den Teelichtern und achtete darauf, dass kein Zipfel der Decke mit den kleinen Flämmchen in Berührung kam. Sie suchte nach ihren Kleidern, die in einem wilden Knäuel auf dem morschen Bretterfußboden verstreut lagen, und begann, sich hastig anzuziehen. „Du gehst rund um die Uhr schuften und kommst trotzdem einfach nicht mehr über die Runden! Wohlgemerkt hast du keine Ahnung, wie lange du deine Stelle im Supermarkt noch haben wirst, weil der Discounter vor etwas mehr als drei Wochen haarscharf an einer Pleite vorbei gerasselt ist und drastische Stellenkürzungen vorgesehen sind! Du regst dich pausenlos über deine derzeitige Lebenssituation auf, bist mit der Erziehung der Kinder nicht einverstanden und ziehst viel lieber allein von Party zu Party, anstatt irgendetwas an eurer Beziehung zu retten, was noch zu retten ist! Hab ich was vergessen? Oh ja, natürlich! Wie konnte ich nur? Weil du doch ein so überaus rücksichtsvoller Mensch bist, willst du meiner späteren Karriere in Vancouver keinesfalls im Wege stehen! Weißt du, als du noch mit deinem 40-Tonner unterwegs gewesen bist, warst du ein anderer Mensch, Hank! Du hast dich verändert, aber damit tust du niemanden einen Gefallen! Am Allerwenigsten dir selbst!“ Piper hatte sich fertig angezogen. Sie schlüpfte gerade in ihre Turnschuhe und band sich das lange Haar zu einem einfachen Zopf zusammen, als nun auch ihr Liebhaber aufstand und seine Sachen aufsammelte. Er fühlte sich in seiner Ehre als gestandener Mann gekränkt und baute sich vor dem Mädchen auf. Obwohl er Piper lange genug kannte und sehr schnell von ihrer impulsiven Art in den Bann gezogen wurde, kam er nicht umhin, ihre Argumente mit großer Überzeugung zu widerlegen: „Du stellst dir immer noch alles so einfach vor, Speedy! Du bist einundzwanzig Jahre alt, ich bin sieben Jahre älter! Die alte Mrs. Wayans ist wie eine Mutter zu dir, nur leider besitzt sie nicht die gleiche Meinung über mich! Ich kann dir mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass sie dich nicht im Entferntesten mit mir fortgehen lassen würde! Würden meine Eltern von unserer Sache Wind bekommen, dann sähe es auch nicht besser aus! Sie sind einfache Farmer, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben und noch sehr an den alten Traditionen hängen! Hast du vergessen, wie Mrs. Wayans Mann mit einer Schrotflinte auf mich losgegangen ist, als wir zwei uns zufällig auf der Straße vor eurem Haus begegnet sind? Also, ich nicht! Verzeihe mir meine Offenheit, aber ich bin nicht gerade traurig darüber, dass der senile Opa im Frühjahr ins Gras gebissen hat! Dein großes Ziel ist ein Job in den Studios von Vancouver? Ja, glaubst du denn ernsthaft, so eine Stelle fällt dir einfach vor die Füße? Du wirst hart an deinem Traumberuf arbeiten müssen, und ich will nicht, dass ich in dieser Zeit womöglich die zweite Geige in deinem Leben spielen muss, weil sich alles nur noch um das Thema Filmstudium dreht! Du sagst, du hast kaum Erspartes, und ich verdiene auch nicht die Welt, wie du weißt!“ „Ja, Hank! Aber du würdest anders dastehen, wenn du deinen Arsch in den Wind gehalten und dich nach einem Fahrerjob im Nahverkehr umgesehen hättest! Leider hast du diesbezüglich jämmerlich versagt! Ich kann sehr gut nachvollziehen, warum dein Boss rechtzeitig die Reißleine gezogen hat! Du konntest nicht genug bekommen und wurdest vor die Tür gesetzt, damit er sich dieses verrückte Pokerspiel nicht noch länger mit ansehen musste! Nur mal so nebenbei: An seiner Stelle hätte ich dich auch rausgeworfen!“ Hank und Piper bliesen die Teelichter aus. Alle, bis auf drei Flammen waren erloschen, als Piper entschieden ruhiger und sachlicher fragte: „Und? Wie lange beehrst du deine alten Leute diesmal?“ Hank zuckte mit den Schultern. „Ich habe zwei Wochen Urlaub“, sprach er. „In zwei Tagen muss mein Auto in die Werkstatt. Die Ölwanne ist kaputt. Wir werden sehen, wie es weitergeht.“ Hank blies die restlichen drei Lichter aus und folgte Piper in die klare Nachtluft hinaus. Er sah die bittere Verzweiflung nicht, die ihr zartes, blasses Gesicht bedeckte.

Piper begann ihren Dienst in einem privaten 4-Sterne-Hotel an einem regnerischen Nachmittag. Das Gästehaus mit einem exklusiven Restaurant befand sich nur zwei Straßenzüge weiter in derselben Vorstadtsiedlung, in der auch sie zu Hause war. Die junge Frau arbeitete dort als Köchin, absolvierte vor etwas mehr als zwei Jahren ein mehrwöchiges Praktikum und beschloss, den ihr angebotenen Arbeitsvertrag doch noch zu unterschreiben. Eigentlich wollte sie die Stelle nicht annehmen, denn ihr schwebten ganz andere Pläne vor. Zuerst wollte sie nach New York, in den zahlreichen Clubs von Manhattan das Leben kennenlernen und ein Stück ihrer neu gewonnenen Freiheit während einer Reise quer durch die Vereinigten Staaten auskosten. Sie wünschte sich ein eigenes Haus, um ihr Leben nach so vielen Jahren des Leides und des Zurücksteckens vollends ordnen zu können, wollte neue Leute kennenlernen und weiter an ihrem Manuskript, einem Archäologie-Thriller, schreiben. Er sollte die Eintrittskarte in die Produktionshallen im Norden der Hauptstadt von British Columbia in Kanada sein. Verbunden mit einem Kontakt aus Pipers früherem Leben würde dieser Schritt keine Hürde darstellen, und so mancher ihrer neuen Freunde würde sich wundern, wie reibungslos und glatt der Zugang zu einer Produktionsfirma über die Bühne ginge. Sie wohnte jedoch noch immer bei der netten, ein bisschen verschrobenen Mrs. Wayans, die sie in einem Motel in der Nähe des Flughafens von Little Rock kennengelernt hatte. Die alte Frau, welche die siebzig schon weit überschritten hatte, arbeitete dort stundenweise als Zimmermädchen. Als sich die beiden näher kamen und Mrs. Wayans herausfand, dass Piper auf der Suche nach einer längerfristigen Bleibe war, redete sie so lange auf die junge Frau ein, bis diese schließlich mit Sack und Pack in eines der ehemaligen Kinderzimmer ihrer beiden längst erwachsenen Töchter einzog. Das Haus war zwar über hundert Jahre alt, aber es wurde von seinen Besitzern gut in Schuss gehalten. Mrs. Wayans war es auch, die ihre Untermieterin mit einem langjährigen, heute selbstständigen Arbeitskollegen bekannt machte, einem gewissen Albert Chipson. Er war mindestens zwanzig Jahre jünger als Pipers mittlerweile mütterliche Freundin, doch er sah genauso alt aus. Sehr schnell fand sie heraus, warum das so war. Mit Chipsons Sohn Hugh, dem Erben des Hotels seines Vaters, verband Piper ein mehr als kollegiales Verhältnis. Während ihres Praktikums kam es manchmal vor, dass sie nach Dienstschluss zusammen mit anderen Kollegen bis mitten in die Nacht hinein bei einem Glas Bier saß und Hughs Geschichten über die Anfänge des Gastbetriebes lauschte. Demnach stampfte Albert Chipson wahrlich aus nur einer abbruchreifen, leer stehenden Scheune eine kleine Pension aus dem Boden, die immer weiter erweitert und vergrößert wurde. Irgendwann stand eben das 4-Sterne-Hotel so da, wie Piper es zu jenem Zeitpunkt kannte, nämlich als ein edles, bis über die Grenzen von Arkansas hinaus bekanntes Haus. Doch sie hatte keine Ahnung, wie viel Schweiß und Arbeit in jedem Quadratmeter steckte, und welche Entbehrungen der Bau eines so gehobenen Hotels mit sich gebracht hatte. Die junge Frau konnte bestenfalls nur erahnen, welche Mühen und wie viel Geld die acht hauseigenen Bowlingbahnen, das Fitnessstudio, die Sauna, die Konferenzräume und die Schwimmhalle gekostet hatten. Hinzu kamen im Laufe der Jahre ein Beautysalon und ein hausinternes Kino. Dass Hugh mitsamt seinen beiden jüngeren Schwestern seine Jugend quasi auf einer immerwährenden Baustelle verbracht hatte, wusste Piper nicht. Er hatte ihr nur einmal von seinem großen Hobby erzählt und geriet allein schon bei dem Gedanken an seine Modellflugzeuge ins Schwärmen. Ungeachtet ihrer eigentlichen Zukunftspläne, unterschrieb Piper schließlich doch den Arbeitsvertrag. Irgendwann begann sie, diese Entscheidung zu bereuen, wenngleich ihre Besorgnis nicht ihren zurückgestellten Träumen galt, sondern vielmehr dem Verhältnis zwischen ihr und ihrem Vorgesetzten. Sie fand sehr schnell heraus, dass die Psyche des alten Chipson aufgrund der vielen Jahre auf dem Bau und der unzähligen, inbegriffenen schlaflosen Nächte, ziemlich gelitten hatte. Sie wusste demzufolge auch bald, dass Mr. Big Boss niemals darüber nachdachte, wie sehr seine ordinäre, herablassende Art und Weise die Mitarbeiter des Hotels verletzte und sich jene Menschen einzig und allein nur aus Angst um ihren Arbeitsplatz gegen die Tyrannei des Oberhauptes nicht zur Wehr setzten. Dennoch war Piper naiv genug, um zu glauben, daran würde sich irgendwann einmal etwas ändern. Sie kannte Albert Chipson wohl nicht gut genug, denn es geschah überhaupt nichts in diese Richtung. Tagein, tagaus nahm sie still und geduldig seine Spitzen in Kauf, wohl wissend, dass aus ihr schon längst nur ein weiteres Mitglied im Kreise ihrer bemerkenswert nachsichtigen Kollegen geworden war. Hier bekam jeder einmal sein Fett weg, egal, ob er nun etwas ausgefressen hatte oder sich wunderte, warum er eigentlich schon wieder als Buhmann des Tages herhalten musste. Eines Tages riefen Vater und Sohn eine kurzfristig anberaumte Personalbesprechung ein. Als Juniorchef des Hotels war Hugh Chipson zwar nicht das genaue Gegenteil seines immer seltsamer werdenden Vaters, aber Millionen Mal offener und verständnisvoller. Piper hatte inzwischen genug Chancen bekommen, um dies bestätigen zu können, denn es geschah oft genug, dass sich Chipson Junior vor seine Mitarbeiter stellte und sie so vor den Eskapaden seines Vaters beschützte. Jeder Angestellte des Hauses verstand sich mit ihm und seiner Frau Gloria prima. Sicherlich lag es zum größten Teil auch daran, dass er in mancherlei Hinsicht eine komplett andere Ansicht als sein alter Herr besaß. Piper schaute in die gelösten Mienen der Chefs und in die angespannten Gesichter ihrer Kollegen, als Hugh das Gespräch in Gang setzte: „Ich möchte euch zunächst einmal zu unserem Meeting begrüßen und danke euch für eure Aufmerksamkeit. Wir sind heute zusammengekommen, um eventuell aufkeimende Gerüchte zu beseitigen und euch über den gegenwärtigen Sachverhalt zu informieren. In letzter Zeit kam es immer öfter vor, dass ich meinen Vater in seinen Pflichten als Geschäftsführer vertreten habe, da er in Springfield, Missouri, geschäftliche Dinge zu regeln hatte. Diese Phase ist nun abgeschlossen. Mit sofortiger Wirkung zieht sich mein Vater aus der Position als Leiter unseres Hauses zurück und widmet sich verstärkt seinen neuen Aufgaben als Inhaber eines Fitness- und Beautystudios in Springfield. Im Klartext heißt das, dass ich zusammen mit Gloria den Posten meines Vaters übernehme und ihr eure betriebsinternen Probleme, Ideen und Wünsche an meine Frau und mich weiterreichen könnt. Alles in allem geschah dieser Wechsel trotz relativ langer Vorbereitungszeit für mich ziemlich schnell und unerwartet. Ich weiß jedoch, dass wir ein gutes Team sind und uns schnell mit den neuen Gegebenheiten vertraut machen werden!“ Piper ließ ihren Blick in die versammelte Menge ihrer Kollegen und Freunde schweifen und las in ausnahmslos allen Augen Erleichterung und frischen Mut. Endlich würde eine neue Ära beginnen, welcher jeder ihrer Kollegen mit neuer Zuversicht entgegentrat. Da sich das gesamte Personal bis auf wenige Ausnahmen aus Menschen zusammensetzte, die entweder Albert, oder seinen Sohn schon jahrelang kannten, wirkte der weitere Verlauf der Versammlung ziemlich familiär. Die Sitzung löste sich nach einer reichlichen halben Stunde auf, und nicht nur Piper ging mit neuer, aufgepeppter Moral an ihre Arbeit. Das alles lag nun schon sieben Monate zurück. Doch obwohl ihr Job als Köchin in einem Sport- und Naturhotel hart und anstrengend war, ging ihr so manches in der entspannteren, wohl gestimmten Atmosphäre leichter von der Hand. So geschah es auch an jenem Nachmittag, wenngleich sie bereits wusste, dass sich der alte Chipson als Urlaubsvertretung für einen Masseur sozusagen in heimischen Gefilden aufhielt. Piper nahm sich vor, ihrem ehemaligen Boss den nötigen Respekt entgegenzubringen, den er als Erbauer dieses Objektes und als Schöpfer vieler, gewinnbringender Verkaufsstrategien schließlich auch verdiente. Knapp vier Stunden lang lief alles bestens, doch dann begab sich Chipson auf eine folgenschwere Stippvisite in die Küche. Zu seinen Angewohnheiten gehörte es seit Jahr und Tag, mit den unmöglichsten Klamotten dort aufzutauchen. Dabei schien es keine Rolle zu spielen, ob er gerade in vor Dreck starrenden Bauoveralls, ölverschmierten Massageoutfits oder seiner heiß geliebten Motorradkluft steckte. Piper missfiel Chipsons Auftritt in verschwitzten, nach ätherischen Ölen riechenden Sachen gewaltig, doch sie ließ sich nichts anmerken. Sie wollte einen Zwist unbedingt vermeiden und nervenaufreibenden Streitereien aus dem Wege gehen. Der obligatorische Rundgang des Seniorchefs setzte ein. Er schnappte sich einen Löffel, schaute in sämtliche Töpfe und Pfannen, die gerade auf dem Herd standen, und probierte von jeder der kochenden und bratenden Speisen, ohne den benutzten Löffel auch nur ein einziges Mal zu wechseln. Piper schickte daraufhin ein stummes Stoßgebet gen Himmel, denn sie würde die widerlichen Manieren dieses Flegels womöglich nicht mehr allzu lange so geduldig ertragen können, ohne gehörig auszurasten. Sie verrichtete ihre Arbeit, immer in der Erwartung eines Kommentars, welches früher oder später über Chipsons Lippen kommen würde. An diesem späten Nachmittag geschah das Unvermeidliche eben früher. Piper war mit dem Anrichten von pochierten Seezungenröllchen auf einem Lauchbett beschäftigt, als unter lautem Schmatzen die erste Frage ertönte: „Für wen kochst ’n das, Speedy?“ In Piper erwachte in Bezug auf diese vollkommen überflüssige Frage lange unterdrückte, zynische Frechheit. „Keine Ahnung, Boss“, antwortete sie gleichgültig. „Ich kann selbstverständlich auch ins Restaurant gehen und die Leute fragen, wie sie heißen, wo sie herkommen, und vor allem, warum sie das tun! Aber ich verlasse mich mal auf meine Fähigkeiten als Hellseherin und tippe ganz stark auf den Hashimoto aus Tokio, nebst Gemahlin!“ Chipsons Blick verriet Piper, dass er sie auf der Stelle fressen könnte, am liebsten gleich roh und ohne Senf. Aber er beherrschte sich, richtete sich vor den Augen der angeekelten Köchin mit einem geübten Griff in den Schritt seine Männlichkeit und stellte stattdessen weitere überflüssige, nervende Fragen: „Sind die Röllchen durch gegart? Ist der Mandelreis gewürzt?“ Seine absolute Lieblingsfrage lautete allerdings seit eh und je: „Sind die Teller richtig heiß?“ Piper konnte die Speisekarte des Restaurants im Schlaf kochen und hatte schon am Nachmittag das Wärmerechaud für das Geschirr auf die höchste Stufe gestellt, sodass sie sich ganz beruhigt ihrer Tätigkeit widmen konnte. Sie beantwortete stets mit einem ruhigen, einsilbigen Ja, obwohl sie innerlich kurz vorm Platzen stand. Gerade, als sie die Glocke auf der Wärmebrücke betätigte, um einen Kellner zu rufen, betatschte Chipson einen der beiden Teller und brauste in glühendem Zorn auf: „Die Dinger sind doch pisswarm! Wie blöd bist denn du?“ Zuerst war Piper einfach nur erschrocken, weil dieser Angriff völlig ungerechtfertigt war. Schließlich glühte das weiße Porzellan beinahe. Doch gleich darauf sammelte sie sich wieder und schrie nicht minder leise: „Wahrscheinlich nicht viel blöder als Sie, Sie arroganter Kotzbrocken!“ Sie schleuderte ihr Touchaut, den sogenannten Anfasser, auf eine freie Arbeitsfläche und fuhr selbst dann noch in wilder Rage fort, als Hugh, durch den Krach in der Küche aufgeschreckt, den hohen, sauberen Raum betrat. „Sie kommen hier rein, kratzen sich am Sack und gackern in einer Tour herum! Wenn Sie schon so dermaßen überzeugt sind, Sie bringen alles besser, wissen alles und können alles, dann will ich Sie um Gottes Willen bloß nicht aufhalten!“ Sie band ihren Vorbinder ab und riss sich die Kochmütze mit einem Ruck vom Kopf, obwohl sie das Kleidungsstück mit zwei Haarnadeln fixiert hatte. „Suchen Sie sich jemanden, der es sich gefallen lässt, wenn ständig an seinen Kompetenzen herumgenörgelt wird, aber ich habe den Kanal voll! Mir reicht’s!“ Pipers Blick wanderte zu Hugh hinüber, der neben seinem Vater stand und so verdutzt über den Ausraster seiner Angestellten war, dass er sie nur mit großen Augen anstarren konnte. So aufgebracht hatte er sie noch nie erlebt. „Und du glotzt mich gefälligst nicht so dämlich an“, fuhr sie ihn an. „Ich bin enttäuscht von dir, Hugh! Ich habe gerade von dir erwartet, dass sich unter deiner Führung etwas ändern würde, aber immer, wenn dein Alter in diesem Scheißhaus auftaucht, schleichst du mit eingezogenem Schwanz durch die Prärie! Es scheint, als würde die Aufgabe eines Geschäftsführers dein Limit um ein Vielfaches überschreiten, und zwar nach allen Seiten! Einen wunderschönen, guten Tag, den Herrschaften!“ Piper stapfte erhobenen Hauptes in Richtung des Lieferanteneingangs, als ihr etwas einfiel, was sie unbedingt noch loswerden wollte: „Ach übrigens! Ich wünsche euch noch viel Spaß! Ich möchte nur nicht wissen, welche Pampe ihr Zwei noch zusammenschustern werdet! Mir tun nur die nächsten Gäste leid, die euren Kleister zum Fraß vorgesetzt bekommen! Was mich betrifft, so verlasse ich vorher noch fluchtartig die Lokalitäten! Ich will mich ja nicht schämen müssen!“ „Speedy ...“, rief Hugh, doch es war bereits zu spät. Die Hintertür krachte mit solcher Wucht zu, dass die massiven Wände erzitterten. Kaum war Piper gegangen, erwachten Albert und Hugh Chipson aus ihrer Lähmung und verloren sich in einem heftigen, bitterbösen Streit, den sich nicht nur das Personal anhören musste, sondern auch die Gäste im Restaurant. Piper scherte sich nicht darum. Sie würde dieses Haus nie wieder betreten.

Unterwegs zu den Umkleidekabinen für das Personal begegnete der noch immer rasenden, jungen Frau eine der diensthabenden Kellnerinnen. Die hochgewachsene, schlanke Angestellte klopfte ihrer wütenden Ex-Kollegin anerkennend auf die Schulter. „Hey! Das war vielleicht krass, Speedy“, rief sie begeistert. „Hätte nicht gedacht, dass du so aus dem Korsett springen kannst!“ Piper sah Cheryl nur einen Moment lang an. Sie war an ihrem Spind angelangt, griff in aller Hast nach den Ersatzgarnituren ihrer Arbeitskleidung und stopfte sie in einen olivgrünen Baumwollrucksack. Dabei fiel ihr Blick auf ein Foto, welches mit Klebeband an der Innenseite der grauen Metallbox festgeheftet worden war. Es zeigte eine Gruppe von Personen, unter denen sich auch Cheryl und Piper befanden. Die beiden jungen Frauen standen in der Mitte und wurden von einer ganzen Meute strahlender Menschen umzingelt. Sie alle standen vor Mrs. Wayans Haus, über dessen Eingang ein weißes Banner mit aufgedruckten, bunten Buchstaben hing. „Happy Birthday, Speedy“, war darauf zu lesen. Piper erzählte Cheryl einmal, dass sie an jedem Morgen zwischen sechs und sieben Uhr zum Joggen ging und handelte sich daraufhin ihren liebevoll ausgedachten Spitznamen ein. Inzwischen haftete Speedy wie ein zweiter Name an ihr. Selbst die Nachbarn in der Siedlung, all ihre Kollegen und manchmal auch Hank nannten sie so. Doch das war nun vorbei, zumindest, was die Chipsons betraf. „Frag mich bloß nicht, ob mir irgendetwas davon leidtut, Kleine“, entgegnete Piper, obwohl sie selbst um einiges kleiner als ihre Kollegin war. Die Inbrunst, mit der sie ihre Freundin beglückte, ließ diese nicht an der Intensität der Worte zweifeln. „Oh, keine Bange! Ich fand es doch voll okay! So was musste doch mal gesagt werden! Wir haben es nämlich satt, uns die Finger an den brütend heißen Tellern zu verbrennen.“ Piper zischte: „Ihr erzählt es mir jeden Tag aufs Neue! Aber nachdem ich nun so grandios die Kurve gekratzt habe, bin ich froh, dass ich es endlich nicht mehr hören muss! Und weißt du was? Mir geht es absolut prächtig, ganz im Gegensatz von vor zehn Minuten!“ „Du bist ganz schön mutig! Was wirst du jetzt tun?“ Piper riss das Foto von der Tür des Spindes und steckte es ein. Sie zog ihre Arbeitskleidung aus und schlüpfte in eine leichte Baumwollhose, die sie mit einem hellen T-Shirt kombinierte. „Du kennst ja meine Pläne, Cheryl! Lass uns bei einem Martini darüber reden, okay? Was allerdings den Rest dieses wundervollen Abends betrifft, so werde ich meine Bestzeiten im Lauftraining um Minuten unterbieten! Danach freue ich mich auf einen Scotch on the Rocks und eine riesige Schinkenpizza mit einer doppelten Portion Käse, schön knusprig gebacken, aber nicht zu kross! Die habe ich mir auf der ganzen Linie verdient, oder was meinst du? Und mit Mut hat dieser Ausraster bestimmt nichts zu tun! So etwas nennt man wohl Befreiungsschlag!“ Piper schulterte ihren prall vollen Rucksack und umarmte Cheryl zum Abschied, so fest sie nur konnte. „Hau rein, Speedy“, waren für lange Jahre die letzten Worte, welche die junge Frau von ihrer Freundin hören sollte. Ihr Entschluss, dieses Gebäude niemals wieder zu betreten, stand fest, wenngleich sich Piper nur zu gern gewünscht hätte, sich von all den ihr lieb gewonnenen Kollegen verabschieden zu können. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, für ausreichenden Gesprächsstoff für mindestens vier Wochen gesorgt zu haben. Es funktionierte bis weit darüber hinaus. Nicht die Kündigung selbst hinterließ dabei einen bleibenden Eindruck bei dem verbliebenen Personal, sondern die Art und Weise, wie sie vonstatten ging. Niemand der über vierzig Angestellten äußerte sich jemals missbilligend über Piper Buchanons Entscheidung.

Piper saß noch keine zehn Sekunden in ihrem feuerroten Landrover, als das Smartphone piepste. Sie wollte nach Dienstschluss eigentlich noch ins Kino fahren, aber die Lust auf einen spannenden Actionfilm war ihr gehörig vergangen. Am Klang des Signaltons erkannte sie, dass es sich um eine Textmitteilung handelte. Sie nahm das Mobiltelefon vom Beifahrersitz, rief das Nachrichtenmenü auf und las die Worte auf dem hell leuchtenden Display: „Mach's gut, Speedy! Ich fahre morgen wieder nach Chicago zurück! Halte die Ohren steif! Hank!“ Sie lehnte sich zurück, ließ das Handy in ihren Schoß fallen, als hätte es sie gerade gebissen, und schlug mit zu Fäusten geballten Händen mehrmals auf das schwarze Lederlenkrad ein. Manchmal dauert das Begreifen einer Sache ziemlich lange, doch diesmal konnte sich Piper nicht mehr um die Wahrheit drücken. Endlich kapierte sie, dass ihre Unerfahrenheit und ihre Sehnsucht nach der Liebe eines Mannes unbarmherzig ausgenutzt wurden. Sie fühlte sich betrogen und verletzt. In ihren Augen spiegelte sich Niedergeschlagenheit, Wut, Fassungslosigkeit und Trotz wider, alles auf einmal. Doch auch ein anderes Gefühl breitete sich in ihr aus – Entschlossenheit nämlich, die immer größer wurde und alles andere zu verdrängen schien. Piper Buchanon startete den Motor ihres Landrovers, legte den Gang ein und fuhr mit durchdrehenden Rädern vom Parkplatz ihrer gerade verlorenen Arbeitsstelle zu Mrs. Wayans Haus. Als sie zwanzig Minuten später wieder in ihrem Auto saß, stand für sie fest, dass sie die Vorstadtsiedlung von Little Rock zum letzten Mal verlassen würde. Wohin ihr Weg sie führen würde, stand völlig in den Sternen.

Drei Jahre später.

Pembroke lag im Westen des Bundesstaates Virginia und war genau das, was man meint, wenn man vom viel zitierten „Arsch der Welt“ spricht. Der Ort in den Appalachen zählte noch nicht einmal eintausend Einwohner, die nächste, größere Stadt lag knapp zehn Meilen entfernt, und die einzige, wirklich beständige Touristenattraktion stellte Samuel Delisle dar, wenn er mit seinen achtundneunzig Jahren beinahe an jedem Abend hackedicht aus der Kneipe torkelte, um mitten auf der Straße einen bühnenreifen Tango aufs Parkett zu legen. Die Bürgermeisterin, Hannah Moore, setzte sich in der Nachbarstadt Blacksburg vehement dafür ein, dass in Pembroke endlich das lange versprochene, geplante Freibad gebaut würde, doch trotz ihrer Hartnäckigkeit blieb die Genehmigung für ihre Finanzierungspläne bislang aus. Dieses kleine Nest, in dem es weder ein Kino, noch ein anständiges Einkaufszentrum gab, konnte dennoch auf eine fast 270-jährige Geschichte zurückblicken, worauf jeder einzelne Einwohner mächtig stolz war. Es war mitten in der Woche gewesen, noch sehr früh am Morgen. Die Eltern schickten ihre Kinder zum Schulbus, der laut hupend an den Auffahrten der Einfamilienhäuser wartete und typisch gelb lackiert war. An den Seiten stand in schwarzer Schrift Blacksburg Highschool, ein weiteres Thema, bei dem Hannah Moores Kampfeslust erwachte. Sie wusste zwar, das Pembroke nicht den Hauch einer Chance haben konnte, um neben der Junior High eine weiterführende Schule anzugliedern, doch sie setzte alles daran, bei den Stadträten im Nachbarort und in Roanoke nicht in Vergessenheit zu geraten. Nur so erreichte sie neben der alljährlichen Finanzspritze aus dem Spendentopf des Bundesstaates Virginia auch einige Zuschüsse, um eben nicht nur das jährliche Stadtfest auszurichten und Reparatur- und Instandhaltungsmaßnahmen für öffentliche Gebäude und Straßen zu bezahlen, sondern auch Zuschüsse, um den Liftbetrieb außerhalb des Ortes in der Wintersaison aufrecht zu erhalten. Zwar gab es bis vor knapp zwei Jahren noch einen privaten Betreiber, doch ein einziger, milder Winter, der gerade einmal insgesamt drei Wochen ausreichenden Pulverschnee und kalte Temperaturen mit sich brachte, reichte aus, um den Pächter der Skianlage in die Flucht zu schlagen. Da sich nach mehreren erfolglosen Ausschreibungen niemand fand, der das Risiko eines weiteren einnahmeschwachen Winters auf sich nehmen wollte, beschloss Mrs. Moore schließlich, den Liftbetrieb in die Hände des Ortes selbst zu legen. Dieser Entscheidung gingen zähe Absprachen mit den Gemeinderatsmitgliedern voraus, denn nicht jeder konnte sich vom Erfolg des vorgelegten Konzepts überzeugen. Unter den Versammlungsteilnehmern befanden sich nämlich auch die drei führenden Gastronomen Pembrokes, deren einflussreiches Handeln und rednerisches Geschick erst nach insgesamt fünf über Stunden andauernde Gespräche schließlich auch die letzten Zweifler umstimmen konnten. Schließlich lockte eine gut präparierte Piste eine Menge Gäste an, auf deren Geld das Pembroke Inn Hotel, sowie zahlreiche weitere Pensionen und Gaststätten eben angewiesen waren. In einer guten Saison konnte man als gewiefter Geschäftsmann eine Menge Kohle absahnen, doch jeder einzelne Gastronom und Souvenirverkäufer musste damit ein ganzes Jahr über die Runden kommen. Jetzt war gerade einmal Halbzeit angesagt, denn es war Mitte Juni. In dieser Zeit hielten sich nur eine Handvoll Gäste in Pembroke auf und genossen die himmlische Ruhe in der verträumten Stadt. Die Sonne schien und versprach einen warmen, wunderschönen Frühsommertag. Auf den Treppenstufen vor dem Haus an der Pembroke Park Avenue 117 standen zwei volle Milchflaschen. Als Buzz, der Zeitungsjunge, die Tagespresse in einem hohen Bogen über den Gartenzaun warf und ausgerechnet die Milchflaschen traf, gerieten sie bedrohlich ins Wanken. Sie klirrten nur kurz, als sie aneinander trafen, dann war es wieder still. Es wiederholte sich an fast jedem Morgen, Tag für Tag, Woche für Woche. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen, der Wind strich sanft durch die Äste und über das kniehohe, mit Tau bedeckte Gras. Ansonsten schien die Zeit über dem Grundstück stillzustehen. Alles war so ruhig, so unglaublich friedlich. Doch plötzlich öffnete sich langsam und zögerlich die einstmals weiße Haustür. Die nach Öl lechzenden Scharniere quietschten jämmerlich und anhaltend, je weiter die Tür geöffnet wurde. Es schien, als würde sämtliche Dunkelheit der Erde in diesem heruntergekommenen, verschlafenen Haus wohnen, denn hinter der nun offenstehenden Tür gab es nichts, außer alles verschlingende, schier unendlich tiefe Finsternis. Minutenlang bewegte sich absolut nichts in dieser unheimlichen Schwärze, bis endlich eine Gestalt aus dem Schatten des Hauses hervor wankte. Es gab nichts, was an diesem ausgemergelten, dünnen Frauenkörper normal war, außer vielleicht das Tattoo auf ihrem linken Oberarm. Es zeigte das Haupt eines Wolfes und wurde irgendwann einmal in die zarte Haut dieses Geschöpfes eingebrannt, als es noch fähig war, irgendetwas zu fühlen. Der Körper dessen, was im Grunde genommen nur ansatzweise wie der einer Frau aussah, glich einer einzigen, blutigen Schramme. Das fettige, ungepflegte Haar fiel in langen Strähnen in das Gesicht des Wesens und verdeckte eine klaffende Platzwunde über dem linken Auge. Das herabtropfende Blut hatte sich mit dem aus der Nase, der Lippen und dem rechten Mundwinkel vermischt und war schon längst verkrustet. Überall, an den Armen, den Beinen und selbst auf dem Dekolleté, prangten blaue Flecken und rote Striemen, ein Zeichen von grauenhafter, roher Gewalt. Das hellblaue, ärmellose Trägertop und die kurze Jeanshose waren blutverschmiert und zerrissen. Die blassen, dünnen Arme trugen lange Narben. Die wenigsten von ihnen waren verheilt, die meisten anderen durch neue Schnitte aufgeschlitzt. Blut rann auch an den fast weißen, dünnen Oberschenkeln hinab, doch diese Flüssigkeit war noch nicht eingetrocknet. Die Gestalt torkelte die Treppenstufen des Hauses hinunter, stolperte und fiel der Länge nach auf den asphaltierten Weg. Ein unmenschlicher Laut entrann ihrer Kehle, als ihr Körper aufschlug und sie den Druck und die Schmerzen des Aufpralls spürte. Als sie sich aufrappelte, reichte ihre Kraft nur noch, um auf allen Vieren vorwärts zu kriechen. Dass sie sich dabei auf den aufgeschürften Handflächen und den ebenfalls verletzten Knien fortschleppte, wusste sie nicht. Sie konnte es nicht fühlen. Ihr Blick richtete sich auf das Gartentor an der Straße, doch das rechte, noch nicht blutunterlaufene und geschwollene Auge schaute in eine andere Welt. Am Ende des Weges brach sie zusammen.

Connor Reilly fühlte sich großartig. Er hatte noch vor dem Morgengrauen seine Harley Davidson gesattelt, sodass zu dieser frühen Stunde bereits beinahe sechzig Meilen hinter ihm lagen. Nachdem er aus dem kleinen Motel in Roanoke ausgecheckt war, fuhr er zu einer Tankstelle, um seine Maschine für die anstehende Tagesstrecke zu rüsten und um mit seiner Frau Renée in Falconfort zu telefonieren. Nun genoss er den lauen Fahrtwind in seinem braunen, von wenigen grauen Strähnen durchzogenen Haar und atmete tief die klare Luft der Appalachen ein. Seit vier Jahren schon hatte der über einem Meter neunzig große Hüne diesen Ausflug geplant und sorgfältig vorbereitet, doch erst in diesem Jahr kam er dazu, ihn in die Tat umzusetzen. Die Geschäfte in seiner eigenen Filmproduktionsfirma in Los Angeles, sowie die Expansion und die ständig steigende Rentabilität der White Denning Farm in Arizona, verlangten nach Connors Anwesenheit und ließen ihm nur selten ein paar freie Tage im Jahr. Doch es lag nicht nur am beruflichen Erfolg, der ein Lächeln in das milde, leicht faltige Gesicht des Bikers zauberte. Sein ganzer Stolz galt Renée und den vier Kindern. Der älteste Sohn, Jason, war gerade fünf geworden, die Zwillinge Jordan und Catherine zählten dreieinhalb Lenze, und der Jüngste des flotten Quartetts hieß Jerry. Er war noch nicht einmal acht Monate alt. Zusammen mit seiner Frau und zwölf Festangestellten betrieb Connor neben dem Farmbetrieb auch eine kleine Pension, die er auf seinem Hof eröffnet hatte und ein gutes Zusatzeinkommen abwarf. Nicht zuletzt lag es wohl daran, dass sich schon zahlreiche seiner Schauspielkollegen auf der White Denning einquartiert hatten, um für einige Tage im Jahr dem Trubel und dem ständigen Blitzlichtgewitter zu entkommen. Schon vor Jahren, zu Beginn seiner sehr erfolgreichen Karriere in Hollywood, ließ er über seinem Cousin und damaligen Agenten Clifford Norton eine Pressemitteilung herausgeben, die besagte, dass jedem Fotografen, Reporter oder Paparazzi, der heimlich Aufnahmen aus seinem Leben schoss und der Öffentlichkeit zugängig machte, eine saftige Geldstrafe drohte. Natürlich beinhaltete dies auch sein familiäres Umfeld. Besaß dennoch jemand die Dreistigkeit, gegen Connor Reillys Kodex zu verstoßen, standen dem Weltstar die richtigen Anwälte zur Verfügung, die das berufliche Leben des Störenfrieds ein für alle Mal ruinierten. Inmitten seiner Gedanken passierte der Biker die Stadtgrenze von Pimbroke, oder so ähnlich. Connor drosselte das Tempo und nahm sich vor, nach einer geeigneten Stelle am Straßenrand zu suchen, an der es vielleicht eine Bank gab. Noch mehr würde er allerdings eine Tankstelle begrüßen, denn dann konnte er sein 200 PS starkes Baby volltanken, um an diesem Tag noch bis nach Washington, D.C. zu gelangen. Anschließend wollte er etwas essen und trinken. Ein Becher Kaffee wäre wunderbar, schön heiß und so schwarz wie die Nacht, aus der Reilly vor weit über einer Stunde getaucht war. Das Chrom seiner Maschine blitzte im Morgenlicht, während er in die Idylle einer typischen, amerikanischen Kleinstadt eindrang. Sicher mochte es schön sein, in solch einem abgelegenen Kaff seinen Lebensabend zu verbringen, hier zum Beispiel, in Plumsbroke, oder wie auch immer dieses Nest im Tal der Vergessenen auch heißen mochte. Aber momentan sah es sehr danach aus, als würde es hier noch nicht mal eine einzige Zapfsäule geben, geschweige denn ein Diner, welches zu dieser frühen Stunde geöffnet hatte. Außerdem meldete sich der kleine Connor, der mit aller Macht den Duft der großen, weiten Welt schnuppern wollte. Im Klartext hieß das: Connor musste mal pinkeln, und zwar ziemlich dolle. Wenn er also nicht bald ein Lokal fand, in dem ihn sein erster Weg aufs Klo führen würde, dann würde er wahrscheinlich arge Probleme bekommen. An einem Baum am Straßenrand wollte er sich nicht stellen – das hätte zwar bei den Schulkindern im Bus für Lacher gesorgt, wäre aber bei deren Eltern nicht sonderlich gut angekommen. Und bis zum Ortsausgang würde Connor es bestimmt nicht mehr schaffen. In Gedanken bei einem stillen Örtchen, bog er in die Park Avenue ein. Du lieber Himmel, so was Spießiges konnte es seiner Meinung nach eigentlich nur in diesen bescheuerten Seifenopern geben, die es tagtäglich im Fernsehen zu sehen gab. Connor betrachtete während der Fahrt mit einer beinahe abschätzigen Miene die Reihenhäuser. Meist waren es Einfamilienhäuser, die allesamt weiß angestrichen waren und einen Vorgarten besaßen, dessen Rasen in sattem Grün gehalten und kurz geschnitten war. Ein jedes Grundstück wurde durch Hecken und Sträucher, teilweise aber auch mit Zäunen voneinander getrennt. Vor manchen Garagen parkten Autos, hier und da lag ein Ball oder sonstiges Spielzeug herum, und fast überall hing über dem Garagentor ein Basketballkorb. Der ganze Straßenzug wurde beiderseitig von Laubbäumen umsäumt. Genau in dem Moment, als Connor das auffiel, taumelte hinter einer der Platanen eine völlig orientierungslose Gestalt hervor. Sie steuerte direkt auf die Straße zu und schien sich nicht darum zu kümmern, ob jemand mit seinem Motorrad angesaust käme, oder nicht. Connor trat auf die Klötzer, sobald er die elendige Kreatur erblickte. Das Hinterrad seiner Harley scherte aus. Mit erheblicher Mühe hielt er die Maschine unter seiner Gewalt. Aber Connor übersah, dass links und rechts am Straßenrand auch Autos parkten, denn er steuerte geradewegs auf einen schwarzen Ford Mondeo zu. Reflexartig riss er den Lenker herum, trat erneut auf die Bremsen und brachte seine heiß geliebte Maschine mit knapper Not zum Stillstand. Connor fiel eine Zentnerlast von der Seele, denn viel fehlte nicht mehr, und Easy Rider hätte das Auto geknutscht. „Hey, Mann“, fluchte er, nachdem er mit schlotternden Beinen abgestiegen war und sich nach der klapperdürren Frau umsah. „Können Sie nicht aufpassen? Wissen Sie eigentlich, wie knapp das war? Verdammt!“ Die Frau befand sich immer noch dort, wo sie stehen geblieben war, als Connor ihr in letzter Sekunde ausweichen konnte. Sie stand zitternd auf dem Asphalt, hielt sich die linke, dünne Hand an die Stirn und starrte in seine Richtung, ohne überhaupt zu registrieren, dass jemand mit ihr sprach. Connor hatte sie inzwischen schon fast erreicht und vernahm leises Wimmern und Glucksen. „Kommen Sie schon, Lady! Schauen Sie mich an!“ Obwohl er sich ziemlich zusammenreißen musste, um nicht noch weiter zu fluchen, klang seine Stimme ganz schön wütend. Eigentlich wollte er nicht aufs Geradewohl losdonnern, aber für Miss Dornröschen musste sich seine Aufforderung ziemlich rüde angehört haben. Jedenfalls bewegte sie sich plötzlich im Kreis, so, als suche sie nach der Person, die sie angesprochen hatte. Ihren Kopf hielt sie dabei seltsam schief. Sie murmelte unablässig ein Wort. Es klang monoton und kam fortwährend über ihre aufgeplatzten, blutenden Lippen. „Neinneinnein!“ Sie nahm von der Welt um sich herum in keiner Weise Notiz, sondern stammelte immer nur dieses ausdruckslose „Neinneinnein!“ „Auch das noch“, rief Connor mehr zu sich selbst und blieb ruckartig stehen, als er endlich erkannte, wie schlimm sein potenzielles Unfallopfer zugerichtet war. Obwohl es die gegenwärtige Situation eigentlich nicht zuließ, kam dem großen Mann ein äußerst unangebrachter Gedanke: Deine Nacht war eindeutig schlimmer gewesen, als meine! Er musste es laut ausgesprochen haben, denn zum ersten Mal in der kurzen Zeit seit ihrer Begegnung, verirrte sich ihr glasiger Blick nicht in eine Welt jenseits des gesunden Menschenverstandes, sondern blieb an ihm haften. Connor verwettete seinen gesamten Zigarettenvorrat darauf, dass sie unter Drogen stand und unter einem gehörigen Schock litt. Irgendetwas an diesem erbärmlichen Geschöpf jagte ihm einen eiskalten Schauer nach dem anderen über den Rücken. Es war jedoch nicht das miserable Erscheinungsbild, welches ihm seine neue Bekanntschaft bot, und ganz bestimmt auch nicht – so redete es sich Connor jedenfalls ein – die Tränen, die plötzlich in ihren Augen standen. Sie streckte ihren zerschundenen Arm aus und deutete mit bebender Hand auf ihn, wobei ihr unablässiges Gejammer plötzlich verstummte. Connor atmete erleichtert aus und glaubte schon, sie würde ihren Schock überwinden, doch das, was dem scheinbar endlosen „Neinneinnein!“ folgte, war schier wahnsinniges, kindliches Gelächter. Die blutenden Lippen verzogen sich zu einer grässlichen Fratze, als die verwirrte Frau zu kichern begann. Ihre Tränen rannen inzwischen in Sturzbächen über das angeschwollene, unförmige Gesicht und weichten die bereits eingetrocknete, rostbraune Kruste aus Blut und Schmutz wieder auf. Connor stand noch nicht einmal einen halben Meter vor ihr. Er konnte die tiefen Fleischwunden und die entzündeten Venen erkennen, sah Einstiche von Spritzen und erkannte in dem nicht zugeschwollenen, rechten Auge das verzweifelte Aufflammen einer menschlichen Seele. Es dauerte nur einen Bruchteil einer Sekunde, doch der zunehmend überforderte Mann sah ganz deutlich, dass in dem misshandelten Körper dieser Frau noch eine Winzigkeit von dem steckte, was früher womöglich einmal ein gesunder, stabiler Geist gewesen sein mochte. Zeit zum Nachdenken blieb ihm nicht mehr, denn noch während er den in sich zusammensackenden Körper auffing, beschloss er, diesen sterbenden Fetzen Hoffnung irgendwie zurückzuholen. Was ihn zu diesem Vorhaben antrieb, konnte er nicht sagen. Es war, als würde sich in diesen Minuten ein unsichtbarer Bann über den Amerikaner legen und sein Denken und Handeln leiten. Connor trug die bewusstlose, federleichte Gestalt von der Straße herunter, betrat das Grundstück durch das offenstehende Gartentor und legte die verletzte Frau in das weiche, hohe Gras. Dann zog er sein Smartphone aus der Tasche, wählte den Notruf und überlegte sich, während die Leitung aufgebaut wurde, wie viel Pfund das junge Ding wohl auf die Waage bringen mochte. Er war bei einer Schätzung von vielleicht hundert, höchstens hundertzehn Pfund angelangt, als es in der Leitung knackte und sich eine weibliche Stimme meldete: „Notrufeinsatzzentrale Blacksburg, was kann ich für Sie tun?“ Connor räusperte sich und würgte seine plötzlich aufkommende Übelkeit herunter. „Reilly mein Name! Ich klappte sein bin hier in – verdammt noch eins – Procksbroke ..., äh Pembroke, an der Park Avenue ... 117!“ Er entdeckte die Hausnummer an einem Stützpfeiler, der die überdachte Treppe abschloss. „Es gibt eine schwerverletzte, weibliche Person! Sie ist allem Anschein nach mit Drogen vollgepumpt und stark alkoholisiert! Sie lebt noch, aber sie ist bewusstlos! Ich weiß nicht, wie sie heißt und wie alt sie ist! Sie hat am gesamten Körper blaue Flecken, Schnittwunden und Abschürfungen!“ Connor sprach noch weiter, tastete am linken Handgelenk der Frau nach einem Puls und beantwortete die Fragen des Dispatchers immer einsilbiger werdend, entweder mit Ja, Nein, oder Ich weiß es nicht. Inzwischen war er es, der seine Umgebung nicht mehr wahrzunehmen schien, denn er betrachtete mit zunehmender Neugier das verunstaltete Gesicht der Verletzten. Die Bestätigung seines Anrufs, verbunden mit der Bitte, am Unfallort auf die Rettungskräfte zu warten, hörte er nur noch aus unendlich weiter Entfernung. Connor unterbrach die Verbindung, steckte das Mobiltelefon in die Hosentasche zurück und hockte sich vor dem Kopf der Frau nieder. Ihre blutverkrusteten, fettigen Haare bedeckten die Hälfte ihres Gesichtes, doch als er sie beiseite strich, durchfuhr ihn ein fürchterlicher Schock. Ein animalisch anmutender Schrei entrann seiner Kehle. Er stammelte ein entsetztes Nein und fiel rücklings auf den Hintern. Connor kroch hastig eins, zwei Meter rückwärts und schüttelte heftig mit dem Kopf, wie, um seine neu gewonnene Erkenntnis mit Kräften abzuschütteln. Die Gedanken des Bikers schlugen Purzelbäume. Er starrte aus seiner Entfernung wie paralysiert zu der besinnungslosen Kreatur hinüber und war plötzlich unfähig, auch nur einen Finger zu krümmen. „Nein“, stammelte er noch einmal. „Das kann nicht sein! Mein Gott, das ist nicht möglich!“ Connor schluckte den sauren Geschmack in seinem Mund herunter, stieß sich mit einer Hand von der Wiese ab und watschelte in geduckter Haltung erneut zu ihr vor. Er streckte vorsichtig seinen linken Arm aus und berührte mit den Fingerspitzen sanft ihr rechtes, blutendes Knie. Sie löste sich nicht vor seinen Augen auf, so, wie er es sich in seinem Innersten gewünscht hatte. Er bettete den Oberkörper der ohnmächtigen Frau in seinen Armen und wiegte sie sanft hin und her, während er nicht fassen konnte, wen er eigentlich vor wenigen Minuten beinahe überfahren hätte. Erst die Sirene des Rettungswagens ließ Connor aus seiner Trance erwachen. Er legte die Verletzte behutsam ins Gras zurück und stürzte auf die Straße. Während er den sich nähernden Einsatzwagen, den nachfolgenden Notarzt und ein Polizeiauto heranwinkte, war er sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er vor zwei Stunden nicht doch in dem Motel geblieben war und noch immer in dem sauberen, mit einfachen Möbeln ausgestatteten Zimmer weilte und in dem durchgelegenen Bett ruhte. Reilly wusste nicht, ob er wach war oder noch schlief, doch er hoffte aus tiefstem Herzen, dies alles würde nur der schlimmste Albtraum seines Lebens sein.

Seinen Motorradausflug konnte er getrost vergessen, denn nachdem er diese Entdeckung gemacht hatte, fühlte er sich nicht mehr dazu in der Lage, seine Harley auch nur einen Meter weit über den Asphalt zu lenken. Jetzt befand sich Connor in einem Krankenhaus, dem Blacksburg Memorial Hospital, saß auf einem der Stühle vor dem Operationsbereich und wartete seit mehr als zweieinhalb Stunden auf einen Arzt, der ihm sagen konnte, wie es um das mehr tote, als lebendige Wesen stand, um dessen klägliches Dasein die Chirurgen in diesen Minuten kämpften. Noch während die junge Frau hierher gebracht wurde, klickten in der Park Avenue 117 in Pembroke die Handschellen. Man fand einen völlig zugedröhnten Mann mit dem Namen Hank Sullivan auf einer Couch im Wohnzimmer. Er lag genau dort, wo er sich niedergelassen hatte und sturzbetrunken eingeschlafen war. Leute aus der unmittelbaren Nachbarschaft wurden befragt und berichteten von Schreien und lautem Krach, doch niemand konnte oder wollte nähere Auskünfte geben. Auch Connor Reilly wurde vernommen. Er erzählte dem jungen, schlaksigen Officer alles, was er wusste, angefangen von seiner Tour mit dem Bike, bis hin zu den Einzelheiten des Auffindens der Person, die laut dem Türschild und dem bei einer Hausdurchsuchung gefundenen Führerschein als Piper Buchanon identifiziert wurde. Connor verschwieg, dass er es besser wusste, denn allein schon der Zustand der misshandelten Person beschäftigte ihn ununterbrochen. Er konnte nicht sagen, ob ihn seine Entdeckung ebenfalls so berührt hätte, wenn die junge Frau eine x-beliebige Person gewesen wäre. Er durfte nicht so denken, und das wusste er. Doch diese Frage drängte sich gerade jetzt, wo er allmählich zur Ruhe kam und nachdenken konnte, immer wieder auf. Dabei brachte es den Schauspieler schon immer zur Weißglut, wenn Frauen oder Kinder zu den wehrlosen Opfern eines Verbrechens zählten. Als der frisch von der Polizeischule entlassene Officer seine Konsultation beendet hatte, fragte Connor ihn das, was ihm die ganze Zeit über schon auf der Zunge gelegen hatte: „Was hat man ihr angetan? Wurde sie ... ist sie ... Sie wissen schon ...!“ Der Officer wurde sehr ernst, als er antwortete: „Sir, ich darf Ihnen darauf keine Antwort geben! Ich sage nur soviel: Wir bekommen leider viel zu oft solche Bilder zu sehen, doch so was haben selbst meine Kollegen noch nicht erlebt!“ Er rückte ganz nah an Connor heran und flüsterte: „Sir, im Vergleich zu ihr erging es den meisten anderen Opfern wie Alice im Wunderland!“ Er wandte sich ab, widmete sich seinen weiteren Aufgaben und ließ den großen Mann allein zurück. Als Reilly sich der gesamten Bedeutung dieser Worte bewusst wurde, schwankte er davon und kotzte solange in ein Gebüsch, bis ihm die Galle hochkam. Der Krankenwagen raste mit Blaulicht und Martinshorn davon, als Connor käseweiß und völlig niedergeschlagen endlich seine Harley von der Straße holte und die Gaffer aus der Nachbarschaft sehen konnte, die ständig zwischen ihm und den Einsatzkräften der Polizei hin- und herschauten. Ihm ging spätestens jetzt auf, dass er doch nicht träumte. Er wusste nicht mehr, was er denken sollte, ob er überhaupt dazu in der Lage war, irgendetwas zu denken. Das, was er seit dem Befahren der Stadtgrenze an diesem Morgen erleben musste, ließ sich mit einfachen Worten nicht beschreiben. Nur zu gern wäre Connor diesem Hank Sullivan solange in den Arsch getreten, bis er oben wieder rauskam, denn inzwischen, so fand er heraus, deutete alles darauf hin, dass der Verhaftete für Piper Buchanons Zustand verantwortlich war. Stattdessen besann sich Reilly eines Besseren und bat seinen Befrager, ihn in das Blacksburg Memorial zu fahren. Nun saß er hier und grübelte darüber nach, warum dieser elende Bastard eine halb so schwere, schutzlose Frau fast tot prügeln musste und ihr Dinge angetan hatte, bei deren bloßen Gedanken Connor schmerzerfüllt zusammenzuckte. In ihm stieg ein altbekanntes Gefühl auf. Es war lange her, seit er es zum letzten Mal gespürt hatte. Beinahe sechs verdammte, beschissene Jahre, und plötzlich, so kam es ihm vor, wollte diese lange verschollene Empfindung mit aller Gewalt zurückkehren, ihn einnehmen und seine Sinne benebeln. Connor wollte es für keine Macht der Welt zulassen, aber er konnte nichts dagegen unternehmen. Dieser Umstand machte ihn hilflos, doch in diese Willenslähmung mischte sich noch etwas anderes. Es war Wut gewesen, starke, unbeherrschbare Wut, denn jene gewisse Piper Buchanon, die in diesen Minuten mit dem Tod rang und nur schwer gewinnen würde, war Schuld daran, dass Connors Leben innerhalb eines einzigen Moments gründlich aus den Fugen geraten war. Dieses Gefühl war nicht nur mal ein so vorhergesagtes Omen. Es war eine Feststellung. Gott, es war nicht fair vom Schicksal gewesen, ihn hierher zu führen! Verflucht noch mal, das war es nicht! Connor griff sich geistesabwesend an seine Brust. Diese unscheinbare Bewegung reichte aus, um ihn knallhart in die Gegenwart zu katapultieren. Vergangenheitsbewältigung und aufbegehrende Empörung hin oder her, hinter den verschlossenen Türen zu den Operationsräumen lag jemand, der sehr viel Beistand und Hilfe brauchte, egal, wie sehr sich Connor Reilly mit sich selbst im Aufruhr befand.

Es dauerte eine weitere, unendlich lange Stunde, bis sich die Tür zum OP-Bereich öffnete. Eine große, schlanke Chirurgin trat heraus und strich sich die Stoffmütze vom Kopf. Sie entfernte den Mundschutz vom Gesicht und atmete tief ein. Eingetrocknete, große Blutflecken auf nahezu der gesamten Vorderseite des blauen Kittels verrieten Connor, dass es sich bei der Ärztin um ein Mitglied jenes Teams handelte, dessen Mediziner die eingelieferte Miss Buchanon nach allen Regeln der Heilkunst zusammengeflickt hatten. Der ernste Gesichtsausdruck ließ Reillys Hoffnungen auf gute Nachrichten rapide sinken. Er stand auf und begrüßte die Ärztin mit belegter Stimme: „Ich bin Connor Reilly! Wie geht es Miss Buchanon?“ „Guten Tag! Mein Name ist Dr. Miranda Finn! Sind Sie mit der Patientin verwandt?“ „Nein, das bin ich nicht! Aber ich habe sie gefunden, und ich glaube, ich bin im Moment so ziemlich der Einzige, den sie jetzt noch hat! Ich weiß, es klingt verrückt, aber ...!“ Die Chirurgin musterte Connor tiefgründig aus ihren grauen Augen. „Sie haben Recht“, räumte sie trocken ein. „Es klingt verrückt!“ „Sie brauchen sich keine Mühe zu geben“, platzte es aus Connor hervor. „Ich bin mit Ihren Vorschriften sehr gut vertraut! Ein Freund von mir leitet eine Klinik in Österreich! Außerdem kenne ich Miss Buchanon seit über zehn Jahren besser, als jeder andere Mensch auf diesem Planeten, Dr. Finn! Ich werde hier stehen bleiben und verlange von Ihnen, dass Sie mich über ihren Zustand aufklären! Sie würden mir glauben, wenn ich Ihnen einen anderen Namen nenne und Sie Nachforschungen anstellen würden!“ Dr. Finn stand nach einem harten Tag absolut nicht der Sinn nach einer Diskussion. Sie nahm Reillys Aussage verärgert zur Kenntnis, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sich tatsächlich kein weiterer Verwandter, sondern nur dieser aufgebrachte Bekannte im Wartebereich befand. „Nun, ich glaube nicht an Wunder oder Schutzengel, Mr. Reilly“, begann sie. „Aber ich bin der Meinung, dass Miss Buchanon eine ganze Heerschar von unglaublich aktiven Beschützern zur Seite gestanden haben muss. Sie kam mit zahlreichen Prellungen, Quetschungen und einer Gehirnerschütterung davon. Das rechte Handgelenk ist angebrochen, auch ergaben Röntgenaufnahmen zwei gebrochene Rippen und ebenso viele verschobene Halswirbel. Wir mussten ihren Magen auspumpen und einige tiefe Schnittwunden an beiden Unterarmen nähen. Es gibt jedoch keine Hinweise auf Verletzungen der inneren Organe, und der Kreislauf konnte weitestgehend stabilisiert werden. Ich würde sagen, dass sie sehr großes Glück hatte!“ In Connor flammte heftiger Groll auf. „Glück nennen Sie das?“, rief er erzürnt. „Es reicht wohl noch nicht, dass sie aussieht, wie durch einen Fleischwolf gedreht! Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was sie durchgemacht haben muss?“ „Mr. Reilly! Ich muss doch sehr bitten“, entgegnete Dr. Finn nicht weniger streng. „Sie sollten bedenken, dass die Menge der Tabletten und der Alkohol in Verbindung mit dem injizierten Heroin – was übrigens ganz beachtlich hoch dosiert war – ausgereicht hätte, um einen ausgewachsenen Elefanten schachmatt zu setzen! Sie können wirklich froh sein, dass ihre Bekannte überhaupt mit dem Leben davongekommen ist! Das ärztliche Gutachten liest sich wie ein erstklassiges, medizinisches Lehrbuch! Ich hoffe inständig, dass derjenige, der für Miss Buchanons Wunden verantwortlich ist, nach seiner Verurteilung nie wieder freikommt! Sollte dies dennoch der Fall sein, sollten mein Team und ich davon nichts erfahren! Wir Ärzte stehen mit den besten Anwälten unseres Landes in Verbindung!“ Die Augen der Chirurgin funkelten ihn böse an. Plötzlich kam die Wucht der gesamten Tragweite der Geschehnisse in den letzten vier, fünf Stunden zurück. Die Einsicht, dass entsetzliche Dinge mit der jungen Frau geschehen waren, traf Connor so unerwartet und vor allem dermaßen mit Nachdruck, dass er sich auf seinen Stuhl zurücksetzen musste. Er stützte seine starken Arme auf den Oberschenkeln ab, sah auf seine ineinander geschlungenen Hände und schüttelte mit dem Kopf. „Wann ... wann wird man sie entlassen können?“, fragte Connor und lenkte seinen Blick auf das schmale, von Erschöpfung gezeichnete Gesicht von Dr. Finn. Ihm fiel auf, dass sie unter Augenringen litt. Irgendwie schien dies ein Markenzeichen von Ärzten zu sein. Sie dämpfte die Lautstärke ihrer Stimme, als sie an Connor herantrat und in die Hocke ging, um sich mit ihm in einer Augenhöhe zu befinden. „ Das kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen, Sir. Doch es gibt noch etwas, was Sie wissen sollten“, entgegnete sie und fügte hinzu, ohne den Besucher zu Wort kommen zu lassen: „Wir können uns nicht sicher sein, solange sich Miss Buchanon noch im Koma befindet, doch es besteht die Gefahr einer zeitlich begrenzten Amnesie!“ Connors Kinnlade klappte herunter. Er sah die Chirurgin abschätzig und wütend zugleich an. „Und Sie erzählen mir allen Ernstes etwas von Glück?“, entfuhr es ihm aufgebracht. „Sie erzählen mir in aller Seelenruhe, dass sie als ein völlig anderer Mensch aufwachen könnte, und fühlen sich womöglich auch noch wohl dabei? Hören Sie, sollte es Ihnen nicht gelingen, Miss Buchanon völlig und ausnahmslos heilen zu können, dann Gnade Ihnen Gott! Ich muss Sie nicht über Ihre Pflichten als Medizinerin aufklären, Dr. Finn! Sie brauchen mir auch nicht erst mit irgendwelchen Ausflüchten zu kommen! Das Einzige, was ich von Ihnen verlange, ist die Wiederherstellung ihres alten Gesundheitszustands!“ Wider jeglichen Erwartungen blieb Dr. Finn die Ruhe in Person. Connor tippte auf ihre Berufserfahrung und die unglaubliche Begabung, sich in unzähligen Dienstjahren ein exzellentes Pokerface antrainiert zu haben. Jedenfalls antwortete sie mit klarer, verständlicher Stimme, die frei von jeglicher Gereiztheit war: „Sie wird wieder gesund, Mr. Reilly, auch wenn es eine Zeit lang dauern wird! Ich sprach von der Möglichkeit eines zeitlich begrenzten Gedächtnisverlustes! Es ist also noch nicht einmal sicher, ob Miss Buchanon überhaupt damit Probleme bekommen wird!“ „Und falls doch? Wie lange kann so was dauern?“ „Nun, die Gehirnerschütterung ist ziemlich heftig. Ich schätze, sie ist infolge eines Sturzes entstanden, womöglich aus großer Höhe, einer Treppe, zum Beispiel. Dafür würden neben den ausgerenkten Halswirbeln auch zahlreiche Hämatome und Prellungen sprechen, die nicht von den Schlägen ihres Peinigers herrühren können. Sollten sich unsere Befürchtungen bewahrheiten, dann kann es durchaus schon zwei bis drei Wochen dauern, bis sich der Nebel um Miss Buchanons Erinnerungen lichtet. Es besteht jedoch kein Grund zur Sorge, denn bleibende Schäden, davon gehen wir zum momentanen Zeitpunkt aus, sind nicht zu erwarten!“ Connor stieß ein missfälliges Zischen aus und rief: „Gibt es eine hundertprozentige Garantie?“ „Nein, Sir, aber Sie sollten sich nicht mit ungelegten Eiern befassen! Viel wichtiger ist, dass Sie sich um Miss Buchanon kümmern! Sie braucht jeden Beistand, den sie bekommen kann, denn ich bin der Auffassung, dass es gerade in den ersten beiden Monaten ausschlaggebend für den seelischen Heilungsprozess ist, wenn sie moralische Unterstützung bekommt!“ Connor stand wieder auf und begann, wie ein nervöser Tiger in seinem Käfig, auf dem Flur hin- und herzulaufen. Er versteckte seine kalten, schweißnassen Hände in den Taschen seiner Lederhose und ballte sie so fest zu Fäusten zusammen, dass es schmerzte. „Wie soll ich ihr moralische Unterstützung bieten, wenn ich selbst nicht weiß, wie ich mit ihrem Missbrauch umgehen soll?“, fragte er tonlos und sah Dr. Finn deprimiert an. Sie hatte sich gleichfalls erhoben, stand jedoch noch immer vor den Stühlen auf der linken Seite des Flures. „Eine Vergewaltigung ist sowohl für die Opfer, als auch für deren Angehörige und Freunde eine schlimme Erfahrung, Mr. Reilly! Sie selbst müssen stark sein, um mit der seelischen Belastung fertig zu werden! Nur so können Sie Miss Buchanon helfen! Sie müssen zu ihr halten, ganz gleich, wie schwierig Ihnen diese Aufgabe auch erscheinen mag! Vielleicht kennen Sie jemanden, der Ihnen in diesem Vorhaben beisteht, wenn möglich, eine weibliche Person, die Miss Buchanon schon kennt! Weiterhin stehen Ihnen in jeder Klinik, das Blacksburg Memorial mit eingeschlossen, Seelsorger und Psychologen zur Verfügung, auf deren Unterstützung Sie sich verlassen können!“ Connor sprach noch eine weitere Viertelstunde mit der Ärztin. Je länger er ihr zuhörte und je mehr er dadurch über die Folgen von Missbrauch erfuhr, desto bekümmerter wurde er. Er bezweifelte, dass er die Aufgabe des seelischen Beistandes bewältigen konnte, denn er dachte in Bezug auf Halt und Unterstützung unweigerlich an früher. Die Erinnerungen an die Vergangenheit ließen ihn frösteln und zittern. Connor glaubte beinahe, diese eine Lücke von knapp sechs Jahren würde gar nicht mehr existieren. Wie sehr er sich diesbezüglich täuschen sollte, konnte er nicht ahnen, doch er befand sich auf dem besten Wege, es herauszufinden.

Connor wurde im Beisein einer Krankenschwester ein Besuch von fünf Minuten gestattet. Miss Piper Buchanon lag auf der Intensivstation, wurde künstlich beatmet und von zahlreichen, piepsenden Maschinen überwacht. Überall waren Schläuche, und es gab nur sehr wenige Hautstellen, die nicht von Verbänden, Kanülen oder Pflastern verdeckt wurden. Doch für Connor gab es keinen Zweifel mehr. Er erkannte sie wieder. Alles, was er sah, wies ihn auf damals hin. Er hielt den Anblick der tief Bewusstlosen nur wenige Sekunden aus, bevor er krampfhaft versuchte, bloß nicht durchzudrehen. Es war alles zu viel für ihn gewesen. Connor fragte sich mittlerweile schon ernsthaft, worüber er wütender war. Darüber, was man Piper angetan hatte? Dass ihn seine von langer Hand geplante Route ausgerechnet mitten durch die Pampa von Virginia führen musste? Oder war das Furchtbarste von allem nicht doch die Kleinigkeit, dass auf dem Bett vor ihm gar nicht wirklich Piper Buchanon lag, deren Herzschlag er durch eine Maschine hören konnte und welche für die nächsten Tage nach ihrem Aufwachen wahrscheinlich auch derselben Meinung sein würde, wie er? Wäre er sich nicht dem bitteren Ernst der Lage bewusst gewesen, so wäre Connor Reilly augenblicklich in lautes, übergeschnapptes Gelächter ausgebrochen. Er wollte das komatöse Geschöpf anschnauzen, ihr sagen, wie einfallslos sie sich doch verhalten hatte, als sie den Namen Piper Soundso angenommen hatte! Er wollte toben und grölen, bis er nicht mehr Herr seiner Sinne wurde, doch alles, was er zustande brachte, war fassungsloses Kopfschütteln und Tränen der Wut, die sich langsam in seinen Augen füllten. Mit enormer Mühe konnte er sie jedoch zurückhalten, denn die Krankenschwester, eine junge, unerfahrene Frau in der Ausbildung, hätte ihn gewiss nicht verstanden. Sie würde Connors Gemütsverfassung einfach nicht nachvollziehen können. Er zweifelte ja selbst an seinem Verstand, denn es erschien ihm noch niemals so deutlich wie in diesen Sekunden, dass es Mächte und Gewalten im Universum geben musste, die Connor und dieses jämmerliche Häufchen Leben vor ihm auch über Jahre und Tausende von Meilen hinweg nicht voneinander trennen wollten. Es war wie verhext, doch er musste sich wohl doch langsam eingestehen, dass die gegenwärtige Sachlage der bedingungslosen Realität entsprach. Schluss, Ende und Aus. Oh Reilly! In welche Scheiße hast du dich bloß wieder reingeritten? Er erhielt keine Antwort. Wozu denn auch? Demnach, was er heute mit eigenen Augen sehen musste, befand sich Connor inmitten eines wahr gewordenen Albtraums. Bedauerlicherweise zählte das Geben einer Erklärung nicht gerade zu dessen guten Eigenschaften. Wirklich schade!

Connor nahm sich ein Taxi und fuhr am frühen Nachmittag nach Pembroke zurück. Als er vor der Park Avenue 117 stand und seinen Blick über das niedergetrampelte Gras vor dem Haus schweifen ließ, fragte er sich zum hundertsten Male, was in aller Welt er eigentlich hier tat. Die Spuren des Rettungseinsatzes waren noch immer vorhanden. Rechts des Auffahrtsweges, unweit des Gartentores, lagen benutzte Latexhandschuhe, Einmalspritzen, blutgetränktes Verbandsmaterial und anderer Müll herum. Wie ein roter Faden bahnte sich zudem eine Spur aus Bonbonpapier und den bunten Verpackungen von Schokoladenriegeln zum Haus. Connor verzog das Gesicht. Obwohl ihm bekannt war, dass einige Polizeibeamte dank ihrer langen Dienstzeit ein dickes Fell besaßen, war es ihm ein absolutes Rätsel, wie man am Tatort eines solch widerlichen Verbrechens Süßes naschen konnte. Dabei fiel ihm ein, dass er seit dem letzten Tankstopp vor nahezu elf Stunden nichts mehr gegessen hatte, doch sein Appetit war ihm gründlich vergangen. Auf seinem Weg zum Haus entdeckte Connor eine grün angestrichene Gartenbank. Sie stand unter dem Treppenaufgang. Er beschloss, sich vor dem Eintreten in das fremde Haus ein paar Minuten Ruhe zu gönnen, und so steuerte er die Bank zielstrebig an. Gerade, als sich Reilly setzen wollte, vernahm er leise Schritte auf dem Asphaltweg und hörte gedämpft murmelnde Stimmen. Er sah auf und entdeckte eine Frau und einen Mann. Die beiden schienen sich nicht sicher zu sein, ob es wirklich eine gute Idee war, hierher zu kommen. Connor betrachtete das Pärchen. Keiner von ihnen war älter als 35 Jahre. Sie sahen genauso aus, wie man sich ein typisches Yuppie-Ehepaar aus der Kleinstadt vorstellte. Die Frau trug ein blassrosa Sommerkleid, welches mit dezenten Querstreifen verziert war. Es betonte ihre tolle Figur und stand ihr wirklich gut. Dazu trug sie eine weiße Perlenkette und Sandalen. Sie war recht klein, höchstens einen Meter siebzig groß. Ihr Mann trug graue Bermudashorts, ein quittegelbes T-Shirt und eine dicke Hornbrille, die seine Augen unnatürlich groß wirken ließen. Er war nur wenige Zentimeter größer als seine Frau. Im Gegensatz zu ihr, schob er einen ganz ansehnlichen Wohlstandsbauch vor sich her, der über den Bund seiner Hose quoll. Schon auf halbem Wege zum Haus setzte sich die Frau ein unsicheres, gekünsteltes Lächeln auf und rief: „Hi, ich bin Sidney Long, und das ist mein Mann Stephen! Wir wohnen auf der anderen Straßenseite direkt gegenüber ...! Wir ... wir waren heute Morgen nicht zuhause, aber wir haben gehört, was passiert ist!“ Alles, was Connor heute noch gefehlt hatte, waren allzu neugierige Nachbarn, die ihn jetzt noch nerven mussten. Er ahnte bereits, dass ihn die Longs nur aufsuchten, um den neuesten Klatsch und Tratsch, den es im gesamten Viertel zu verbreiten gab, aus erster Hand zu erfahren. Dementsprechend kühl fiel seine Begrüßung aus: „Hi! Connor Reilly! Bevor Sie anfangen, mich über jede verdammte Einzelheit auszuquetschen, sage ich Ihnen lieber gleich, dass Sie nichts von mir erfahren werden!” Die Longs sahen sich verwirrt an. Sidney wollte etwas sagen, doch Stephen ergriff das Wort zuerst und entgegnete: „Wir sind nicht auf die Einzelheiten scharf, Mr. Reilly! Es ist nur so, dass meine Frau und ich zu Piper ein ziemlich enges Verhältnis pflegen, seit sie hierher gezogen ist! Uns steht nicht der Sinn danach, Genaueres zu hören, weil wir wussten, dass es eines Tages soweit kommen würde!“ Connor erstarrte. Sidney und Stephen setzten sich zum ihm auf die Bank, ohne vorher zu fragen. Mrs. Long musterte den Fremden und meinte: „Obwohl Sie mir sehr bekannt vorkommen, habe ich Sie noch nie hier gesehen! Kennen Sie Piper?“ Connor fühlte sich irgendwie nicht sehr wohl, doch er antwortete mit bewundernswert gelassener Stimme: „Ja, Ma’am. Seit über zehn Jahren.“ „Komisch, dass sie nie ein Wort von Ihnen erwähnt hat!“ „Wir haben uns seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Es geschah aus purem Zufall, dass ich sie gefunden habe.“ Sidneys Mann lenkte das Gespräch wieder in die andere Richtung. „Nun, sollten Sie Piper wirklich schon so lange kennen, dann sind Sie wahrscheinlich der einzige Mensch, der ihr überhaupt noch helfen kann. Sid und ich haben unser Möglichstes versucht, um ihr diesen Hank Sullivan auszureden. Er war ein paar Nummern zu groß für sie, doch sie wollte nichts davon wissen. Hank sei nicht so, wie die anderen Leute immer behaupten, beteuerte Piper immer wieder in unserer Gegenwart. Er sei witzig und nett, und er würde ihr kein Haar krümmen. Selbst, als man sie immer öfter mit blauen Flecken und kleineren Blessuren antraf, erzählte sie uns, sie sei die Treppe heruntergefallen, sie hätte Kreislaufprobleme und könne daher manchmal ihr Gleichgewicht nicht halten. Solche Dinge eben. Sid hat ihr von Anfang an nicht geglaubt, ich war da weniger skeptisch. Eines Tages hat uns Piper besucht, um auf unsere Kinder Jim und Sally aufzupassen. Sie sprang manchmal als Babysitterin ein, wissen Sie. Nun, bis zu diesem Tag konnte ich Sidneys Glauben an eine Gewaltanwendung nicht in der Art und Weise nachvollziehen, wie sie es tat. Aber als sie unter unserer Haustür stand und Sally und Jim lärmend auf sie zustürmten, bekam Piper diesen panischen Gesichtsausdruck. Sie schaute auf die Kinder, als würden sie eben keine kleinen Racker sein, sondern als würde eine Dampfwalze auf sie zurollen. Jim erreichte Piper als Erster. Er umschlang ihren Hals und berührte mit seinem Knie aus Versehen ihre Rippen. Piper schrie auf und ließ Jim wieder fallen. Er landete auf seiner Schwester und sah seine Spielgefährtin verblüfft an. So etwas hatte sie noch nie getan. Wissen Sie, Jim und Sally sind sieben und vier Jahre alt, viel zu klein also, um zu wissen, wie weh gebrochene Rippen tun können. Sid zog Piper in das Badezimmer und zwang sie, sich den Pullover und das T-Shirt auszuziehen ...!“ Stephen verstummte und sah seine Frau an. Dankbar nahm er zur Kenntnis, dass sie mit dem Bericht fortfahren wollte. „Da war nicht nur der blaue Fleck über den beiden gebrochenen Rippen, Mr. Reilly“, begann sie. „Pipers ganzer Körper war bedeckt von ihnen. Am schlimmsten sahen ihre Arme aus. Da gab es nichts mehr, was man als gesund bezeichnen konnte. Ich sah die Einstiche und die roten Blutbahnen unter ihrer blassen Haut, und ich musste auch keine Hellseherin sein, um zu wissen, was das zu bedeuten hatte. Piper und ich gerieten in Streit. Ich sagte ihr, dass die Kinder unter keinen Umständen von einer Drogenabhängigen betreut würden und versuchte ihr klarzumachen, dass sie dringend Hilfe bräuchte. Aber sie blockte ab, sagte, die Einstiche seien von Diabetes-Spritzen, und wir sollten uns gefälligst um unseren eigenen Kram kümmern. Mr. Reilly, das waren nie im Leben Einstiche von Diabetes-Spritzen! Mein Bruder muss sich seit seiner Kindheit Insulin verabreichen, daher weiß ich, dass Ihre Bekannte gelogen hat. Sie zog sich wieder an und verließ wütend das Badezimmer. Stephen schickte Sally und Jim auf ihre Zimmer und wollte Piper aufhalten. Wir glaubten, dass der richtige Zeitpunkt gekommen sei, um ihr unmissverständlich klar zu machen, dass wir keine andere Lösung sahen, als die Polizei zu informieren. Mein Mann hat nicht gesehen, was ich gesehen habe, und so packte er sie etwas zu grob an den Armen. Piper schrie erneut auf, denn die entzündeten Venen und die blauen Flecken mussten ihr furchtbare Schmerzen bereitet haben. Sie riss sich los und stürzte zur Tür. Nachdem sie auf die Straße gerannt war, haben wir sie nicht wieder gesehen.“ Connor hörte den Longs schweigend zu. Er versuchte, den Worten der beiden Bilder zu verpassen. Er wollte sich vorstellen, wie es um die Nachbarin des Ehepaares stand, bevor sie halb tot geprügelt wurde. „Sie haben gewusst, wie es um Piper stand, und haben dennoch nichts unternommen?“, fragte er gequält, denn das, was wie ein kleiner Film in seinem Kopf ablief, konnte gut und gerne der Ideenschmiede Wes Cravens entsprungen sein. „Oh, wir haben etwas unternommen, Mr. Reilly“, widersprach Stephen Long, und rief: „Gleich, nachdem Piper unser Haus verlassen hatte, riefen wir tatsächlich die Polizei an. Wir schilderten alles, was wir wussten. Daraufhin sagte man uns, dass ein Streifenwagen vorbeikäme und ein Officer nach Piper schauen würde. Uns reichte das nicht. Unserer Meinung nach gehörte Hank Sullivan hinter Schloss und Riegel, doch am Telefon sagten sie uns, dass sie nichts unternehmen könnten, bevor nichts Verdächtiges geschieht! Ich fragte den Cop, ob Piper denn erst mit dem Kopf unter dem Arm auf dem Revier erscheinen müsste, damit man uns Glauben schenkte. Daraufhin antwortete er nicht, verabschiedete sich und beendete das Gespräch, nachdem er erneut versprach, einen Wagen vorbeizuschicken.“ „Wie lange ist das jetzt her?“, fragte Connor. Er gab sich äußerlich ruhig, doch innerlich kämpfte er gegen aufwallende Wut an. Sidney entgegnete ihm: „Vor etwas mehr als zwei Wochen wurden die Anzeichen so deutlich, dass man sie nicht mehr übersehen konnte, Mr. Reilly.“ „Zwei Wochen. Mrs. Long, Sie hatten zwei Wochen lang Zeit gehabt, um zu verhindern, was man Piper in der letzten Nacht angetan hat!“ „Wir haben es doch versucht“, verteidigte sich Stephen energisch. „Glauben Sie denn, wir lassen eine Freundin im Stich? Wir haben immer wieder die Polizei gerufen, weil wir Pipers Schreie bis auf die Straße gehört haben! Aber für die Bullen war Piper Buchanon nur ein ganz typischer Fall einer Frau, die ihrem Lebenspartner zur Hörigkeit verfallen war! Gestern noch bin ich zu ihr rüber gegangen und klopfte über zehn Minuten lang vergeblich an ihre Haustür. Als mir endlich geöffnet wurde, stand Sullivan vor mir. Er stank nach Alkohol, war so high, dass er kaum noch geradestehen konnte, und fuchtelte mit einer abgebrochenen Glasflasche vor meinem Gesicht herum! Glauben Sie denn ernsthaft, mir liegt etwas daran, mich in sauber zerlegten Einzelteilen um meine Familie zu kümmern?“ Stephen Long war sichtlich erregt. Ihm standen Schweißperlen auf der Stirn, und um seine Mundwinkel zuckte es nervös. Sidney hielt seine Hand und versuchte so, ihn beruhigen zu können. „Aber Sie hatten eine Chance gehabt“, rief Connor leise und erhob sich. „Eine Chance? Ja, vielleicht. Aber auch Piper haben sich oft genug welche geboten! Was gestern passiert ist, trägt nicht unbedingt zu meiner Ermutigung bei, ihr auch weiterhin bedingungslos helfen zu wollen!“ „Wie lange, sagten Sie, kennen Sie Piper Buchanon?“ „In diesem Monat werden es drei Jahre“, antwortete Stephen ein wenig irritiert. „Ich verstehe nicht, was das mit ...!“ „Drei Jahre müssten ausreichen, um ihr Wesen in den gröbsten Zügen zu kennen“, wurde er von Connor unterbrochen. Stephen erwiderte: „Oh, nicht nur Sid und ich haben zeitig genug mitbekommen, dass sie einen willensstarken Charakter besitzt, falls Sie darauf hinauswollen! Dennoch kamen wir anfangs gut damit zurecht! Das änderte sich allerdings, als ein paar Monate später dieser Halunke Hank Sullivan hier aufkreuzte. Die beiden mussten sich schon von früher kennen, aber Piper hat uns nie verraten, wie das zusammenhing. Überhaupt hat sie keinem von uns je aus ihrem früheren Leben erzählt. Wir haben bis heute keine Ahnung, woher sie eigentlich kommt, wie und wo sie Sullivan kennengelernt hat und ob sie überhaupt eine Familie besitzt, Eltern, Geschwister oder sonstige Verwandte. Sie tauchte wie aus dem Nichts in Pembroke auf, kaufte sich dieses Haus und suchte sich einen Job. Aber egal. Jedenfalls war sie nun nicht einfach bloß willensstark, sondern wurde zudem auch verdammt zynisch. Gut, meine Frau und ich akzeptierten auch das, wussten wir doch, dass Piper eigentlich ein ganz anderer Mensch war. Sie war in der Gemeinde gut angesehen und schaffte es innerhalb von ein paar Wochen, sich einen ziemlich beachtlichen Freundeskreis aufzubauen. Piper trat in den Country Dance Club ein, organisierte die Kuchenbasare für das jährliche Stadtfest und ihr Wort fand bei vielen von uns Anklang, gerade weil sie mit gut überlegten Argumenten ihre Standpunkte vertrat und auf Gedeih und Verderb an ihnen festhielt. Sie mischte mit ihren hervorragenden Zeiten im Lauftraining unseren Sportverein ordentlich auf! Ich könnte Ihnen noch viele andere Begebenheiten nennen! Aber dann kam Sullivan, und alles wurde anders.“ „Piper hat das nicht verdient“, stellte Connor lapidar fest, wobei sich ihm schon bei dem bloßen Gedanken an diesen Namen seine Nackenhaare sträubten. „Hören Sie, es tut mir leid, wenn ich Sie so einfach vor die Tür setze, aber ich möchte jetzt gern allein sein!“ Sidney und Stephen erhoben sich fast gleichzeitig. Mrs. Long rief: „Natürlich! Wir möchten Sie nicht länger stören. Aber sollten Sie irgendetwas brauchen, dann wissen Sie ja, wo wir wohnen!“ Dabei deutete sie mit dem Daumen ihrer rechten Hand über ihre Schulter hinweg und zeigte auf die andere Straßenseite, auf der ein ähnliches Häuschen wie auf dem Grundstück mit der Nummer 117 stand. „Danke, das ist wirklich nett von Ihnen! Ich werde darauf zurückkommen! Auf Wiedersehen!“ Die Drei reichten sich die Hände. Connor sah den Longs auf ihrem Weg zum Gartentor hinterher, wobei sich sein anfängliches Misstrauen zunehmend in Wohlwollen auflöste. Durch die beiden kam wenigstens etwas Licht ins Dunkel der Unwissenheit. Das, was sie ihm eben mitgeteilt hatten, war die vorbildliche Karriere einer am Leben gescheiterten Person. Was Connor jedoch die größten Sorgen bereitete, war, dass die vermeintliche Miss Buchanon mit ihrem eigentlichen Namen auch ihre Erinnerungen an die so geliebte und hart umkämpfte Freiheit auslöschen wollte. Er verstand die Welt nicht mehr und hoffte, in dem kleinen Einfamilienhaus an der Pembroke Park Avenue eine Antwort auf die Frage zu finden, ob es ihr gelungen war, vor Hank Sullivan zumindest ein bisschen von jener Unabhängigkeit gefunden zu haben, die sie sich zeit ihres Lebens so sehr gewünscht hatte.

Die Unordnung des Gartens setzte sich auch im Haus fort, wobei die Bonbonverpackungen noch das geringste Übel darboten. Die nachfolgenden Ermittler der Polizei hatten sich auf Spurensuche begeben, Fingerabdrücke entnommen und waren wieder verschwunden, nachdem man genug Beweismittel gesammelt hatte, um Hank Sullivan festzunehmen. Der Fall wurde als geklärt betrachtet und man verschwand alsbald aus diesem dunklen Gemäuer. Beim Anblick des Chaos im Erdgeschoss wünschte sich Connor zum unzähligen Male, diesem brutalen Schwein persönlich den Garaus zu machen. Der Blick des erschöpften Bikers blieb an all dem Müll und den kaputten Sachen haften. Der sandfarbene Euklid-Fußboden war von Brandflecken ruiniert und mit benutzten Heroinspritzen übersät. Sämtliche Fenster waren mit schweren Vorhängen verhangen. Überall, im gesamten Erdgeschoss des Hauses, lagen neben schmutzigen, zerrissenen Klamotten, auch zertrümmerte oder beschädigte Einrichtungsgegenstände herum. Sie schienen in den Vordergrund zu treten und schrien den Betrachter förmlich an. Connor hätte schwören können, die Klagerufe der ramponierten Möbel zu hören, doch das war natürlich ausgemachter Blödsinn. Einmal mehr bestätigte sich seine ureigene Vermutung, Mr. Immerjung würde langsam zu alt für solche Abenteuer werden. Renée würde ihn anlächeln und ihn für den Rest des Tages mit lustigen Scherzen necken. Apropos Renée. Reillys Frau ahnte ja noch nicht einmal, wo ihr ehrenwerter Herr Ehemann abgestorben war und welche Gründe es gab, die ihm seinen weiteren Trip durch die Vereinigten Staaten nach Strich und Faden verdorben hatten. Connor nahm sich vor, sie so bald wie möglich anzurufen. Doch zuvor brauchte er dringend etwas Essbares zwischen seinen Kauleisten, sonst würde er vermutlich noch aus dem Fleisch fallen. Er begab sich in die Küche, vernahm das nervtötende Tropfen des Wasserhahns über der Spüle und öffnete zuerst die Kühlschranktür. Entgegen aller Erwartungen war er recht gut gefüllt, wenn auch nicht mit Lebensmitteln, sondern ausschließlich mit Bierbüchsen und angerissenen Dosen voller vergammeltem Katzenfutter. Es stank erbärmlich. Der strenge Geruch kündete vom Defekt des Kühlschranks. Aus mehreren, unverschlossenen Dosen quoll graugrüner Schimmel hervor. Connor kämpfte gegen seine Übelkeit an und schlug die Kühlschranktür zu. Würgend, seine Gesichtsfarbe hatte inzwischen einen leichten, grünlichen Schimmer bekommen, suchte er in sämtlichen Küchenschränken nach Nahrungsmitteln, doch alles, was er fand, waren Töpfe und Pfannen, Geschirr, eine angerissene Tüte mit uraltem Mehl, ein paar Gewürzspender, Instandsuppen und Reinigungsmittel. Mit dieser Ausbeute würde Connor weder satt, noch froh werden. Er beschloss, sich in Pembroke nach einem Imbisslokal oder einem Restaurant umzusehen, sobald er seine Inspektion in diesem Angst einflößenden Haus beendet hatte. Er betrat die ersten Treppenstufen, die hinauf ins Obergeschoss führten. Dort angekommen, hatte er insgesamt achtzehn von ihnen gezählt und fragte sich zwangsläufig, wie weh ein Sturz aus dieser Höhe wohl tun musste. Sollte Piper tatsächlich die Treppen heruntergefallen sein, was Dr. Finn im Blacksburg Memorial nicht ausschließen wollte, war das für Connor noch ein Grund mehr, Hank Sullivan gnadenlos zu hassen. Hinter der ersten Tür auf der rechten Seite des Korridors befand sich das Badezimmer. Als Connor eintrat, schlug ihm der stechende Gestank von Erbrochenem entgegen. Er zog ein Taschentuch aus seiner Lederweste hervor und presste es vor sein Gesicht. Er hastete zum Fenster und riss es so weit auf, wie es nur ging, bevor er sich in dem Bad umsah. Auch hier tropfte ununterbrochen der Wasserhahn über dem verkeimten Waschbecken und spülte langsam, aber stetig, die Reste eines ursprünglich viel größeren Blutfleckes weg. Ein mit roter Flüssigkeit getränkter Waschlappen hing über dem Rand des verschmutzten Keramikbeckens. Die Duschkabine sah ja noch ganz anständig aus, und abgesehen davon, dass die Badewanne schon seit ewigen Zeiten keine intensive Reinigung mehr genossen hatte, war auch sie soweit in Ordnung. Doch der Ursprung des abscheulichen Gestanks, die Toilette, lud Connor direkt dazu ein, sich ebenfalls seinem wütenden Magen zu ergeben. Dass dies nicht geschah, verdankte er nur seinem Reflex, Hals über Kopf aus dem Badezimmer zu stolpern. Er ließ die Tür ins Schloss fallen und lehnte sich an sie an. Kopfschüttelnd und völlig geschockt sank er in die Knie, um seinem Körper jene Erholung zu gönnen, die er nach dem Gesehenen und Erlebten so dringend brauchte. Minutenlang harrte der große Mann in dieser Art und Weise, bis er mit dem ersten klaren Gedanken, den er fassen konnte, einen matten Schimmer auf dem sonst dunklen Flur wahrnahm. Connors Blick folgte der Quelle des Lichts und entdeckte sie in der nur angelehnten Tür zu einem weiteren Zimmer am Ende des kurzen Ganges. Noch immer schaudernd, kämpfte er sich hoch, erreichte den einen Spaltbreit geöffneten Zugang und stieß ihn sachte mit seiner linken Hand vollends auf. Voller böser Vorahnungen machte sich Connor auf weitere Scheußlichkeiten gefasst, doch was sich ihm diesmal bot, war zweifellos die angenehmste Überraschung, welche ihm seit dem Betreten dieses Hauses widerfahren war. Was Reilly sah, umschloss sein Herz mit Wärme und versetzte ihn gleichzeitig in tiefe Beklommenheit. Er betrat ihr Zimmer und wusste nun mit absoluter, vollständiger Sicherheit, seine frühere Gefährtin wiedergefunden zu haben. Es konnte gar nicht anders sein. Auf dem Schreibtisch an der linken Wandseite entdeckte er drei eingerahmte Fotografien. Eines zeigte sie mit ihren Eltern, auf einem weiteren Bild erkannte er sich selbst, zusammen mit ihr und ihrer früheren, gemeinsamen Clique. Auf dem letzten Foto, einem schwarz-weißen Porträt, blickte ein junger Mann ernst in die Kamera, wenngleich ihn die schelmisch funkelnden Augen und der freche Igelschnitt seinem Gesichtsausdruck gehörig Lügen straften. Connor kannte ihn persönlich, genau wie jeden einzelnen anderen Menschen auf diesen drei Bildern auch. Er würde alles geben, um jene Epoche, in welcher die Fotos entstanden waren, wieder auferstehen zu lassen. Reilly vermisste das kesse, junge Mädchen, welches seine Kameradin einmal gewesen war, und er verfluchte sich für seine eigene Blindheit, die es ihm damals verwehrt hatte, ihr zu helfen. Connor stellte die Bilder wieder an ihren alten Platz zurück. Er sah sich um und erspähte in einem Regal neben unzähligen Romanen und Sachbüchern auch einen riesigen Pokal. Am Sockel war ein vergoldetes Schild befestigt, auf dem man lesen konnte: 25. Grazer Stadtmarathon – 1. Platz – Catherine Roppert. Dieser Name war es, den Connor so verzweifelt gesucht hatte. Catherine Joanna Roppert. Bisher hatte er nur dieses junge, gequälte Wesen gefunden, dessen Namen völlig unnötigerweise Piper Buchanon lautete. Sie verleugnete ihr wahres Ich, doch dass ihr das Vergraben ihrer Vergangenheit nicht ganz so leicht gefallen sein musste, wie er zunächst angenommen hatte, ließen die drei alten Fotografien erkennen. Was ging nur in ihr vor? Und warum, verflucht noch mal, beschäftigte ihn ihr Schicksal, obwohl es ihn normalerweise nichts mehr anging? Connor wusste darauf keine Antwort. Er sah sich weiter um. An der Wand, über dem Bett hing, ein vergrößertes Gruppenfoto. Über der darauf abgebildeten Gruppe hing wiederum ein weißes Banner mit einem Geburtstagsgruß und einem weiteren fremden Namen. Speedy. Connor erkannte Catherine sofort wieder. Ihr strahlendes Lächeln schien alle anderen Leute auf dem Bild angesteckt zu haben, denn sie grinsten mit der jungen Frau um die Wette. Speedy. Sie hatte Geburtstag. Im Hintergrund lag Schnee. Der 19. November. Speedy war Piper. Piper war Catherine. Catherine war nicht tot. Connor löste sich unter größtem Zwang von dem Foto und setzte seine Entdeckungstour fort. Am Fußende des Bettes lag ein Stapel frisch gewaschener, gebügelter und zusammengelegter Poloshirts. Die einheitliche Farbe, nämlich weinrot mit schwarzem Kragen, ließ daraus schließen, dass es sich um Arbeitskleidung handeln musste. Connor trat näher und las die gelben, aufgestickten Buchstaben über der linken Brustseite: Bistro Venezia. Neben den Shirts lagen jeweils zwei schwarze, ebenfalls makellos gebügelte Baumwollhosen, sowie zwei gelbrot gestreifte Seidentücher. Connor versuchte, sich seine Gefährtin in dieser Montur vorzustellen und bemerkte dabei nicht, wie schwer er angesichts von diesem Stück Normalität, derer er sich gegenübersah, schlucken musste. ,Sie hatte einen Job beim Italiener’, durchfuhr es ihn. ,Sie verdiente ihr eigenes Geld, war angesehen und freute sich wahrscheinlich wie jeder andere Einwohner Pembrokes auch, auf das bevorstehende Stadtfest!’ Trotzdem gab es noch etwas, was Connor beunruhigte. Irgendetwas passte nicht in das Bild der ganzen Geschichte. Irgendein wichtiges Teil des Puzzles fehlte noch. Connor stand kurz davor, das Rätsel zu knacken, doch seine aufgewühlte Seele raubte ihm jeglichen Funken rationalen Verstandes. Sobald er versuchte, nach diesem bedeutsamen Gedanken zu fassen, entglitt er ihm und verschwand in den Tiefen seines Bewusstseins. Reilly sah ein, dass sich sein Hunger keinesfalls mehr mit aller Macht dieser Erde zurückdrängen ließ, und er jetzt, am Nachmittag, wirklich gut beraten wäre, endlich etwas zu essen. Er wollte sich gerade umdrehen und aus dem Zimmer gehen, als etwas hervorstach, was ihm während seines Aufenthalts in diesem Raum bisher völlig entgangen war. Es wirkte zwischen dem Schreibtisch, dem Fernseher und dem Computer irgendwie fehl am Platze. Unter dem Computertisch, der neben einer kleinen, drei Schubladen zählenden Kommode stand, lugte der Grund von Connors verdutztem Innehalten hervor. Er besaß grau getigertes Fell, weiße Schnurrhaare und zwei starre Augen, die im Halbdunkel zwischen dem Fußboden und der untersten Ablage des Arbeitsplatzes gelb funkelten. Connor kniete sich nieder und streckte eine Hand nach der Katze aus, die bestimmt schon die ganze Zeit über in ihrem Versteck ausgeharrt und jeden Schritt des unbekannten Eindringlings präzise genau beobachtet hatte. Aber das possierliche Tierchen war schneller. Reilly konnte gerade noch erkennen, wie das wandelnde Pelzknäuel an ihm vorbeihuschte, bevor es knurrend und fauchend durch die offene Tür aus dem Zimmer entschwand. Er folgte dem verschreckten Stubentiger, jedoch nicht, weil er ihn etwa fangen wollte, sondern weil sein Rundgang durch das Haus sein vorläufiges Ende gefunden hatte.

Als Connor an die frische Luft trat, traf ihn die drückende Hitze des Nachmittags wie ein Faustschlag. Ein Gewitter kündigte sich an. Spätestens am Abend würde es blitzen und donnern. Auf dem Weg von der Park Avenue hinunter zur Main Street begegneten Connor Einheimische, die ihn teils neugierig, teils verbissen und abweisend beäugten. In Pembroke schien inzwischen jeder zu wissen, wer er war, woher er kam und warum er sich hier aufhielt. Er ahnte bereits, dass jeder der vorbei hastenden Menschen über die wahren Umstände Bescheid wusste, die Piper Buchanon mit dem keinesfalls so Fremden verband. Sicher, auch das nagende, schlechte Gewissen spielte bei den meisten Einwohnern der Kleinstadt eine gewichtige Rolle. Doch keiner würde in Connors Gegenwart auch nur den kleinsten Funken Mut aufbringen, den über die Grenzen der USA bekannten Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur auf den Vorfall anzusprechen. So schlenderte er über den Bürgersteig der Main Street, vorbei an Geschäften, Lokalen und einer Tischlerei. In der Ortsmitte befand sich hinter einem großen, freien Platz das Rathaus, daneben standen das Feuerwehrdepot und eine Bücherei. Die Spitze des Kirchturms überragte sämtliche Gebäude der Stadt. Der erste Eindruck, den Connor schon beim Befahren der Stadtgrenze am Morgen verspürt hatte, bestätigte sich auch hier. Alles war sauber, den Menschen stand der Stolz über ihre Heimat regelrecht in Großbuchstaben ins Gesicht geschrieben. Aber all das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich gleich in der Frühe verraten und verkauft gefühlt hatte. Es gab hier wirklich keine Tankstelle, noch nicht einmal eine Highschool, und die Stille, die trotz des alltäglichen Treibens in den Straßen Pembrokes herrschte, wirkte unheimlich und bedrückend auf ihn. Neben der Bücherei fand Connor endlich das, wonach er eigentlich die ganze Zeit über auf der Suche gewesen war. Das Bistro Venezia konnte sich an diesem schwülen Nachmittag keineswegs über mangelnde Kundschaft beklagen. Schon auf der Terrasse vor dem Restaurant saßen Einheimische sowie Urlauber und genossen ausgesuchte Kaffeespezialitäten und echtes, nach einer italienischen Rezeptur zubereitetes Eis. Als Connor in den hellen, freundlichen Gastraum eintrat, erblickte er neben den Gästen insgesamt sieben Mitarbeiter, die alle mit der gleichen Arbeitskluft eingekleidet waren, wie er sie in der Park Avenue 117 schon gesehen hatte. Er setzte sich an einen der hinteren Tische und musste keine Minute warten, bis einer der Kellner auf ihn zuhielt. Zu seiner Überraschung erkannte Connor Sidney Long, die in der rot-schwarzen Kleidung wie ein Klon ihrer Kollegen aussah. „Wie klein die Welt doch ist, Conny“, seufzte er kaum hörbar und zwang sich zu einem Lächeln, um seine neue Bekanntschaft zu begrüßen. „Hallo, Mrs. Long!” „Mr. Reilly! Welch eine Überraschung”, säuselte sie und reichte dem Gast die Karte. „Sie haben mir nicht gesagt, dass sich Miss Buchanon einer Fastenkur unterzieht“, rief er trocken und fuhr fort: „Außerdem gibt es noch ein paar Dinge, über die ich gern ein wenig mehr erfahren würde!“ Mrs. Longs Miene verdüsterte sich, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Dann umspielte ein zaghaftes Lächeln ihren Mund, während sie entgegnete: „Nun, ich habe gleich eine Pause. Geben Sie Ihre Bestellung auf, und falls es Ihnen nichts ausmacht, werde ich Ihnen ein wenig Gesellschaft leisten!“ Connor nahm Sidneys Angebot an, bestellte sich einen Latte Macchiato, eine Salatschüssel Caprese als Vorspeise und wählte eine Lasagne aus Seebarsch und Blattspinat zum Hauptgang. Es dauerte nicht lange, bis Sidney den Café Latte und die Caprese servierte. Sie brachte sich selbst eine Tasse Kaffee mit, verschwand jedoch noch einmal, um kurz darauf mit einem Stück Fruchtsahnetorte zurückzukehren. „Mein Mann würde mir sofort eine mehrwöchige Diät verpassen“, bemerkte sie, als ihr Connors fragender Blick auffiel. „Ich dachte immer, Frauen mit ihrer Figur tun alles Mögliche, um ihr Gewicht zu halten?“ „Eigentlich schon. Deshalb gibt es bei uns zuhause oft Salat. Ich kann dieses Grünfutter manchmal nicht mehr ersehen, und außerdem liebe ich Kirschen!“ Mrs. Long stopfte sich zufrieden ein Stück Torte in den Mund und spülte es mit einem Schluck Kaffee hinunter. „Nun, was möchten Sie wissen, Mr. Reilly?“ Connor, der die ganze Zeit über seinen Tomaten-Mozzarella-Salat aß und nach einem geeigneten Anfang für das Gespräch suchte, legte die Gabel beiseite und wischte sich mit der Serviette über den Mund. „Beschreiben Sie mir Piper“, bat er. „Wie bitte?“ „Wie war sie so? War sie offen, unternahm sie viel mit anderen? Ich weiß, Sie haben mir schon viel erzählt, aber ... es ist wichtig für mich ...!“ „Ich verstehe. Ja, Mr. Reilly, sie suchte den regelmäßigen Kontakt zu ihren Nachbarn und Freunden. Piper traf sich einmal in der Woche mit den Frauen aus dem Country-Club zum Kaffeetrinken. Sie scheute sich nicht, jedem zu helfen, der in irgendeiner Weise Probleme hatte. So kümmerte sie sich zum Beispiel um den alten Sam Delisle. Er ist fast hundert Jahre alt und hat nicht mehr alle Latten am Zaun, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Falls sich Connor über Sidneys Ausdrucksweise wunderte, so ließ er es sich nicht anmerken, sondern konzentrierte sich auf die weiteren Informationen, die ihm Mrs. Long gab: „Piper kaufte für ihn ein, wusch seine Wäsche und mähte den Rasen vor seinem Haus. Sie betreute unsere Kinder genauso, wie auch andere. Und man konnte sich auf sie verlassen, wenn es hart auf hart kam. Sie war in Ordnung, Sir, aber das wissen Sie bestimmt auch selbst.“ Connor nickte. Während Sidney fortfuhr, nahm er seine Tätigkeit wieder auf und aß von seinem vorzüglichen Salat. „Wann fiel Ihnen zum ersten Mal auf, dass sie sich zu verändern begann?“, fragte er. „Als sich Piper immer mehr zurückzog, sich weder bei Sam, noch bei irgendjemand anderes meldete und in zunehmender Weise die Öffentlichkeit mied, um ihre blauen Flecken nicht zeigen zu müssen. Als Stephen und ich Hank Sullivan dabei beobachteten, wie er einmal das Haus verließ, regte sich bei uns der erste Verdacht.“ Sidney trank einen weiteren Schluck Kaffee, bevor sie hinzusetzte: „Ich war oft in ihrem Haus gewesen, wegen der Frauennachmittage, wissen Sie? Dort sah es immer sauber und ordentlich aus. Piper legte großen Wert auf einen gepflegten Garten, ein blitzblank geputztes Haus und versicherte uns bei jedem Treffen, ihr würde es gut gehen!“ Sie hielt inne und musterte Connor. „Darf ich Sie etwas fragen, Mr. Reilly?“, rief sie leise und sah sich verstohlen nach allen Seiten um. „Sicher“, wurde sie von Connor ermutigt. „Was möchten Sie wissen?“ „Sie sagten heute Mittag, dass Sie Piper schon sehr viel länger kennen! Erzählen Sie mir bitte von ihr, denn ... nun, Sie wissen ja, nachdem sie sich so verändert hat, fällt es mir ehrlich gesagt sehr schwer, zu glauben, Sie beide seien befreundet. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber meiner Meinung nach sind Sie ein ruhiger Typ, im Gegensatz zu Piper ...!“ Connor lächelte. „Ich weiß, was Sie sagen wollen, Mrs. Long. Oberflächlich betrachtet sind wir zu verschieden, was das meiste von uns beiden angeht. Aber das war nicht immer so.“ Connor erzählte von sich und seiner Kameradin, durchlebte, während er sprach, zum millionsten Male jene Zeit und bemerkte gar nicht, wie einer von Sidneys Kollegen die Vorspeise abräumte und bald darauf den Hauptgang servierte. Gelegentlich schmunzelte Mrs. Long, doch sie zeigte sich auch tief betroffen und sehr erschüttert. „Ich wollte mit allen Mitteln verhindern, dass sie Joshua Plewsky ins Herz schließt, aber gegen ihre Liebe zu ihm war ich machtlos.“ Er verstummte und dachte an all das, was er Sidney verschwiegen hatte. Dabei handelte es sich um die meisten Dinge, die einem Außenstehenden tieferes Verständnis für die ungewöhnliche Freundschaft entgegenbringen würde. Er schaute auf Sidney nun leeren Kuchenteller, als würden dort drauf all jene Antworten liegen, die er sich schon immer auf seine Fragen gewünscht hatte. Doch Connor sah nur trockene Krümel, und die waren weiß Gott nicht sehr gesprächig. „Sie ist das Mädchen, nicht wahr?“ Connor zuckte unmerklich zusammen, obwohl er selbst nach seinem sehr grob zusammengefassten Bericht eigentlich damit rechnen musste, enttarnt zu werden. Dennoch gab er sich naiv und fragte: „Welches Mädchen?“ „Ach, kommen Sie schon, Mr. Reilly! Dieses Thema beherrschte wochenlang die gesamte Medienwelt von der Ostküste bis zum Pazifik!“ Mrs. Long sprach nicht etwa aufgeregt oder gar laut, sondern legte eine Gelassenheit an den Tag, die Connor sehr beeindruckte. „Sie heißt nicht Piper Buchanon, sondern Catherine Roppert, nicht wahr? Und sie soll, laut Medienberichten, gestorben sein, was den Stein doch erst so richtig ins Rollen gebracht hat!“ „Dann können Sie sich hoffentlich denken, warum mir so viel daran liegt, sie nicht noch einmal im Stich zu lassen!“ Sidney nickte nur. „Mein Mann und ich haben diesen Film im Kino gesehen, Mr. Reilly. Sollte die Geschichte der weitestgehenden Wahrheit entsprechen, dann müssen Sie alles daran setzen, Ihre gemeinsame Verbundenheit zueinander wieder herzustellen. Wollen Sie meine ehrliche Meinung hören, Sir?“ „Bitte, Mrs. Long“, forderte Connor sie auf und stocherte lustlos in der Lasagne herum. „Sie haben beide sehr viel füreinander getan. Ihre Freundschaft war etwas ganz Besonderes. Es liegt nun an Ihnen, den Grund für Catherines vorgetäuschten Tod herauszufinden. Man darf nicht alles glauben, was in der Presse geschrieben steht, aber die Umstände ihres Todes sollen ziemlich dramatisch gewesen sein!“ „Sie besaß schon immer eine Ader für groß angelegte Inszenierungen“, warf Connor sarkastisch ein, doch Sidney beachtete ihn nicht. „Denken Sie wie ein Paparazzo, Mr. Reilly! Würden Sie sich denn nicht auch fragen, wie es Ihrer Freundin gelingen konnte, alles so reibungslos durchzusetzen? Gab es eventuell jemanden, der ihr dabei geholfen hat? Doch das Wichtigste ist und bleibt die Frage, warum sie Sie belogen hat!“ „Mich belogen ...?“, rief Connor geistesabwesend. „Ja, Sir, Catherine hat Sie belogen, auch wenn Sie sich womöglich einreden wollen, es würde nicht stimmen. Doch ich sehe im Moment nicht viel, was gegen die Möglichkeit eines Betruges spräche.“ Je länger Sidney sprach, desto deutlicher ging Connor auf, dass sie womöglich Recht hatte. Irgendetwas musste Catherine damals dazu bewogen haben, diesen drastischen, ihr Leben komplett verändernden Schritt zu gehen. Laut ihrer Nachbarin war er der Einzige, der wusste, warum sie ihn überhaupt angesetzt hatte. „Entschuldigen Sie mich, Mr. Reilly, aber meine Pause ist gleich zu Ende. Bitte denken Sie nach. Sie besitzen den Schlüssel zu allen Antworten, dessen bin ich mir ziemlich sicher. Doch es ist auch gut möglich, dass ich auf das falsche Pferd setzte. Vielleicht wollte Catherine damals gar nicht so weit gehen. Vielleicht wollte Sie sogar mit Ihnen reden, aber der rasante Ablauf der Ereignisse ließ ihr letztendlich keine andere Wahl mehr, als in ihre eigene Falle zu tappen und alle Register zu ziehen. Wie auch immer. Um herauszufinden, was in Ihrer Freundin vorgegangen ist, müssen Sie einen Zugang zu ihr finden. Es ist nur so, dass es Catherines Vergewaltigungen nicht gerade einfacher für Sie machen!“ Sidney erhob sich und sammelte das schmutzige Geschirr ein. Sie wollte gerade in Richtung des Tresens gehen, als Connor sie zurückhielt. „Eine Sache noch, Mrs. Long!“ Sie blieb stehen und sah ihn fragend an. „Ich muss darauf bestehen, dass alles, was wir heute besprochen haben, unter keinen Umständen nach außen gelangen darf! Ich muss auf Sie zählen können, denn Cat würde es in ihrer jetzigen Verfassung nicht verkraften, wenn sie erfährt, dass sich ihr gesamter Plan in Schall und Rauch aufgelöst hat und sich womöglich auch noch die Öffentlichkeit an ihrem Schiffbruch ergötzt!“ Sidney grinste verschwörerisch. Sie schaute sich zuerst nach allen Seiten nach eventuellen Mithörern um und beugte sich zu ihm hinab. „Natürlich, Mr. Reilly. Wissen Sie, Catherine und Sie gehören ganz einfach zusammen. Sie durften eigentlich nie getrennte Wege gehen, egal, wer von Ihnen gerade eine dieser Phasen durchgemacht hat, in denen einer den anderen nicht mehr ersehen konnte!“ Plötzlich strahlte Connor von einem Ohr zum anderen. „Das gefällt mir, Mrs. Long! Dieser Satz war der Beste, den ich heute gehört habe!“ „So gefallen Sie mir gleich besser! Und seien Sie unbesorgt. Von mir erfährt niemand ein Wort. Versprochen!“ Sidney eilte zum Tresen, lud das Geschirr ab und verschwand in der Küche. Als sie wenige Minuten später wiederkam, war Connor Reilly nicht mehr da. Stattdessen klemmten unter dem Teller der halb aufgegessenen Lasagne 20 Dollar, und auf einem umgedrehten Bierdeckel stand folgende Nachricht gekritzelt: „Ich glaube, ich weiß jetzt, was damals passiert ist! Vielen Dank, Mrs. Long! C.R.” Sidney schaute zur Eingangstür des Restaurants und erhaschte gerade noch einen Blick auf Connor, der mit dem Handy am linken Ohr über den Marktplatz eilte.

Je näher ihn das Taxi an das Blacksburg Memorial heranbrachte, desto stärker drängte sich in die anfängliche Euphorie die Angst vor dem Unbekannten und das erneute Gefühl, er würde in näherer Zukunft schneller, als es ihm eigentlich behagte, sein blaues Wunder erleben. Die Bestätigung dieser Vorahnung ließ selbstverständlich nicht lange auf sich warten. Ein Hoch auf die wunderbaren Fähigkeiten der heutigen Medizin, denn das, was bis heute Vormittag noch Piper Buchanon hieß, wachte knapp zwölf Stunden nach dem verhängnisvollen Zusammentreffen im Beisein von Connor ein zweites Mal auf. Es lebe der Irrsinn, es lebe der Schock. Oh, du fabelhafte Welt des Wahnsinns, wie schön, dass es dich gibt! Amen! Noch während Connor im Restaurant saß und Mrs. Longs Worte verdaute, klingelte sein Mobiltelefon und jemand aus dem Krankenhaus war dran. Da er Dr. Finn gebeten hatte, ihn über sämtliche Veränderungen zu informieren, fiel ihm eine große Last von den Schultern, als ihm die gute Nachricht des unerwartet schnellen Erwachens der Patientin übermittelt wurde. Während Connor im Taxi saß, schlief Catherine wieder ein, doch es schien, als würde es in ihrem Unterbewusstsein etwas geben, was sie zu einem erneuten Aufwachen antrieb, sobald er das Zimmer auf der Intensivstation betreten hatte. Zuerst war sich der große Mann nicht sicher, wie es überhaupt um die geistige Verfassung der von dem Beatmungsgerät befreiten Verletzten stand. Aber dann sah er in ihre überraschend klaren Augen – eigentlich nur in das rechte, nicht zugeschwollene. Als sich die Blicke der beiden trafen, wusste Connor sofort Bescheid. Trotz ihres vorangegangenen Drogenkonsums, der Gehirnerschütterung und den Nachwirkungen der Narkose, hatte sie ihn erkannt, und zwar eindeutig und zweifelsfrei. Sobald ihn diese Erkenntnis traf, wurde ihm grottenschlecht zumute. Einzig und allein der Drang nach Wissen verhinderte, dass Connor ins angrenzende Badezimmer stürzte und ein längeres Gespräch mit der Kloschüssel abhalten musste. Einfach großartig …! Er setzte sich auf einen Stuhl, der neben dem Bett stand, und hielt stumm dem Blick der Erwachten stand. Connor schwieg, doch das Zucken um seine Mundwinkel ließ erkennen, dass ihm Tausende und Abertausende von Fragen über die Lippen springen wollten. Die Einfachste von allen, nämlich die Frage nach ihrem Wohlergehen, befand sich augenscheinlich jedoch nicht darunter, jedenfalls dem Ausdruck in seinen Augen nach zu urteilen. „Wasser!“ Das Krächzen der jungen Frau hörte sich schauerlich an. Connor nahm eine Flasche Mineralwasser vom Nachttisch, füllte damit die bereitgestellte Schnabeltasse und half Catherine beim Trinken. Die prickelnde Flüssigkeit war das Köstlichste, was sie jemals in ihrem Leben zu sich genommen hatte. In ihrem Mund herrschte eine Trockenheit, die so schlimm wie in der Wüste Sahara war. Sie schloss die Augen, schluckte ein paar Mal, um das Wasser bis zum letzten Tropfen genießen zu können, und flüsterte schließlich: „Verschwinden Sie von hier, oder ich rufe einen Arzt!“ Ein kurzes Lachen von Connor erklang, doch es hörte sich in keiner Weise belustigt an. „Danke, ich brauche keinen! Aber deine Gastfreundlichkeit war auch schon mal umwerfender, Piper Buchanon! Oder soll ich dich lieber doch Catherine Roppert nennen, weil mir dein richtiger Name entschieden besser gefällt? Wie hättest du es denn gern, hm?“ Sie antwortete überraschend deutlich: „Bewegen Sie Ihren irischen Arsch aus diesem Zimmer!“ Der große Mann beugte sich zu ihr vor. Je näher er kam, desto mehr begann sie plötzlich zu zittern. Doch es war keine Angst, die ihren Körper erfüllte. Es war pure Überraschung, gepaart mit einer mächtigen Portion jäher Wut, die sich rasend schnell im Bauch der jungen Frau auszubreiten begann. „Später, Cat“, erwiderte Connor und setzte sich ein beinahe desinteressiertes Grinsen auf. „Ich habe dir damals geglaubt“, fuhr er fort. „Weißt du, ich habe dir wirklich diese Show abgenommen. Das hätte mich beinahe umgebracht!“ „Ich habe Sie ja nicht dazu ermutigt, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu besaufen und mit den Drogen einen Freundschaftspakt zu schließen! Selbst Ihr Cousin konnte die Schnüffler von der Presse nicht aufhalten! Was wollen Sie hier, Connor?“ Er stand auf, stützte sich mit beiden Armen auf der Bettkante ab und sah sie durchdringend an. „Falsche Frage, Cat“, stellte er lapidar fest. „Was willst du hier? Eigentlich müsstest du tot sein, und wenn ich mich nicht irre, dann nicht erst, seitdem du das letzte Mal zu high gewesen bist, um auch nur ein anständiges Wort mit mir zu wechseln!“ Er verschränkte seine Arme vor der Brust, dachte kurz nach und fügte nachfolgend hinzu: „Ich bin ein Kind, ein Deppertes. In meinem Hirn, da scheppert es. Wo früher einst die Leber war, ist heute eine Minibar. Passt irgendwie hervorragend zu deiner jetzigen Lage, findest du nicht?“ „Hören Sie auf damit, sonst schreie ich um Hilfe! Innerhalb von zehn Sekunden steht die gesamte diensthabende Belegschaft Gewehr bei Fuß in diesem Zimmer! Ich glaube nicht, dass Sie das wollen!“ „Was denn? Ich soll wirklich schon wieder gehen? Gerade jetzt, wo ich dich nach deinem erbärmlichen Flugversuch so mühevoll von der Straße kratzen durfte? Ich bitte dich!“ Connors Stimme war voller Sarkasmus und Bitterkeit. Sein aufgeputschter Adrenalinspiegel trieb ihn mit geradezu verbissenem Eifer dazu an, dieses unfaire Spielchen fortzusetzen: „Ich habe eigentlich erwartet, dass du mich mit lautem Hallo und Trallala empfängst, aber ich habe mich wohl ein wenig zu früh gefreut. Wie schade! Nach sechs Jahren sollte man sich eigentlich eine Menge zu erzählen haben, meinst du nicht auch? Zum Beispiel, welcher Teufel einen geritten haben muss, um so perfekt zu schauspielern, dass es die gesamte Menschheit glaubt? Ich habe ziemlich viel nachgedacht und konnte auch ein paar Dinge über dich in Erfahrung bringen. Das meiste davon passt zeitlich hervorragend, abgesehen von den zweieinhalb, drei Jahren, die du nicht in Pembroke vertreten warst. Mir ist aber immer noch nicht ganz klar, ob dir damals in Beverly Hills nicht doch jemand hilfreich zur Seite gestanden hat, denn bei aller Selbstverständlichkeit, die du offensichtlich noch vor deinem Sinn für Humor stellst, kaufe ich dir einen Alleingang in dieser Sache nicht mehr ab!“ Erfreut darüber, Catherines erzürntes Gesicht zu sehen, setzte er beinahe fröhlichen Herzens noch eins drauf: „Übrigens, das Sie kannst du stecken lassen. Ich denke, wir haben genug Probleme, als dass wir uns auch noch an irgendwelchen albernen Förmlichkeiten anhalten müssen. Ich habe dieses blöde Gesieze sowieso noch nie gemocht!“ Der jungen Frau war jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Plötzlich breitete sich eine dicke Gänsehaut auf ihrem Rücken und den bandagierten Armen aus. Dabei war es nicht etwa so kalt, dass sie frieren müsste. Nein, diese Kälte kam aus ihrem Inneren, und dort drinnen herrschte pures, entsetzliches Chaos. Dementsprechend einfach fiel auch ihre Antwort aus: „Du widerst mich an, du Waldesel!“ Obwohl sie keinerlei Regung zeigte, als Connor ihr nach zehn Jahren endlich das Du angeboten hatte, nutzte sie die einmalige Gelegenheit, dieses Privileg ohne sonderliche Probleme auszunutzen. Respekt vor der Person Connor Reilly konnte sich Catherine sowieso noch nie in genügendem Maße abringen, aus welchen Gründen auch immer. Für sie war er niemals der berühmte, weltweit erfolgreiche Schauspieler gewesen, sondern immer nur ein Mensch, wie jeder andere auch. Ein jeder, der das unschlagbare Duo Roppert/Reilly kennengelernt hatte, fragte sich zwangsläufig, was die beiden wohl zusammengebracht hatte und wie sie, trotz der vielen Unterschiede, eine so dicke Freundschaft aufbauen konnten. Catherine war um die dreißig Zentimeter kürzer, dementsprechend zierlich, und konnte einen Altersunterschied von ebenfalls dreißig Jahren zu ihrem Kameraden vorweisen. Soviel zu den äußerlichen Differenzen. Obwohl zwischen den beiden eine Art Seelenverwandtschaft existierte, unterschieden sich deren Gemüter, wie das Feuer vom Wasser. Zweifelsohne hatten sowohl Catherine, als auch Connor lange Zeit gebraucht, um mit dem Verlust ihrer Familien klarzukommen. Während der Teenager schon damals mithilfe von Spott und Sarkasmus dem Leben die Stirn bot, versank Connor regelmäßig in Selbstmitleid und Trauer. Dass er immer wieder aufgestanden war, verdankte er seiner jugendlichen Gefährtin, deren Freunden aus Kornbach in Österreich und ihren zynischen Kommentaren und frechen Sprüchen, die Connor mehr als einmal in dröhnendes Gelächter ausbrechen ließen. Funktionierte auch die nette Art nicht, so musste er es sich gefallen lassen, ordentlich verbale Prügel, verbunden mit den unmöglichsten Schimpfwörtern a la Catherine Roppert, einzustecken. So auch heute. Insofern hatte sich wohl nichts geändert. Connor schnalzte derweil mit der Zunge und schüttelte dabei andächtig mit dem Kopf. Auf einmal hellten sich seine Gesichtszüge unübersehbar auf. „Das klingt ja wunderbar“, rief er aufgeräumt, wobei er den streitlustigen Unterton in seiner Stimme gar nicht erst versteckt hielt. „Dann lass uns gleich noch etwas klären, ja? Ich habe gesehen, wie du ermordet wurdest, Cat! Ich habe dich in meinen Armen gehalten, bis du deinen letzten Atemzug gehaucht hast! Und ich habe dich in Österreich begraben müssen, nur, um dir über fünfeinhalb, sechs Jahre später unter äußerst bedauerlichen Umständen über den Weg zu laufen! Dabei erfahre ich, dass ich mich inmitten einer famos gesponnenen Lügengeschichte wiederfinde! Du solltest dir also ernsthaft überlegen, wer von uns beiden der wirkliche Clown in diesem Märchen ist!“ „Kommt ganz darauf an, aus welcher Perspektive man es betrachtet! Und jetzt lass mich gefälligst allein! Ich habe etwas anderes zu tun, als mich von dir dämlich voll quatschen zu lassen!“ Natürlich kam Connor Catherines Aufforderung nicht nach und setzte sich wieder hin. Er lehnte sich zurück, verschränkte seine starken Arme vor der Brust und schaute niederträchtig auf die schmale Gestalt herab. „Meinst du nicht auch, dass du mir vorher noch einiges zu erklären hast? Dabei geht es bei Weitem nicht nur um mich, junges Fräulein, sondern auch um unsere gemeinsamen Freunde! Mindestens einen von ihnen hast du mit deiner Scheiß Aktion zum Einsiedler gemacht!“ Mehr spöttelnd, als wirklich Ernst gemeint, fügte er hinzu: „Du solltest dich schämen!“ „Mach ich“, versprach Catherine halbernst, bevor sie hinzufügte: „Wenn ich Zeit dafür habe.“ Sie hob ihre rechte, eingebundene Hand und legte sie auf die Decke über ihren Bauch. „Aber seit wann zählst du denn Josh zu deinen Freunden?“, wollte sie nun wissen. „Seit es dir gelungen ist, ihn hinter Schloss und Riegel zu bringen? Oder seit dir die Hitze Arizonas das Hirn verbraten hat?“ Die junge Frau fand ihre Antwort reichlich komisch. Sie lachte plötzlich laut auf. Da ihr Gesicht zugeschwollen war und sie weiterhin von heftigem Durst geplagt wurde, klang ihr Gelächter wie das Wiehern einer alten Schindmähre. „Deinen Humor hast du jedenfalls behalten“, rief sie prustend, als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. „Sonst noch was?“, zischte Connor wütend. „Nö! Nicht, das ich wüsste! Oder warte mal! Du willst wissen, wie es mir in Pembroke so ergangen ist? Keine Sorge! Diesbezüglich darf ich dir höchstpersönlich ausrichten, dass es dort gar nicht mal so übel ist! Nur die Winter sind echt unter aller Sau! Ich bekomme spätestens Anfang November meine erste, alljährliche Rüsselseuche, die mir einmal sogar meinen Geburtstag komplett vermasselt hat! Aber sonst läuft alles bestens! Auf Wiedersehen, du Brathahn!“ Catherine schenkte Connor keine weitere Beachtung mehr, sondern drehte sich schwerfällig und unter großen Schmerzen von ihm weg. Er sah ihr einige Augenblicke lang zu, bevor er sich erhob und auf die andere Seite des Bettes hastete. Er wollte Catherine zwingen, ihn anzusehen. Seine aufsteigende Rage konnte er dabei nur schwer verbergen. „Wenn du geglaubt hast, du könntest dieses Theater für den Rest deines Lebens weiterspielen, dann irrst du dich gewaltig, Fräulein“, rief er böse. Catherines gleichgültige Art trieb ihn schon wieder hart an den Rand seiner guten Manieren, und er musste sich ziemlich zusammenreißen, um nicht laut loszupoltern. „Du wirst es nicht durchhalten“, sprach er weiter. „Das schaffst du nicht!“ „Ich habe es bis hierhin geschafft, und ich werde es auch weiterhin anpacken!“ „Ja, klar! Man sieht ja, wo du gelandet bist“, motzte Connor erregt. „Lass mich wenigstens ausreden, okay?“ Catherines Blick und ihr ebenfalls aufbrausender Tonfall verrieten ihre völlig aus dem Gleichgewicht geratene Gemütsverfassung. „Ich habe in den letzten zehn Jahren viele Schlachten gewonnen, Connor, bin reifer und erwachsener geworden! Gerade dich hat es doch schon damals am Allerwenigsten interessiert, ob ich dazu in der Lage war, etwas aufzubauen, was nur ich ganz allein zustande gebracht habe! Du hast immer auf mich aufgepasst, wie ein Schießhund! Selbst, wenn wir uns gezofft hatten, dauerte es weiß Gott nicht lange, bis einer von uns beiden auf den anderen zu gekrochen kam! Worauf die ganze Angelegenheit hinausgelaufen ist, muss ich dir wohl bestimmt nicht näher erläutern! Es war ein ewiger Kreislauf, den wir aus eigener Kraft nicht mehr unterbrechen konnten! Wir steckten viel zu tief in der Scheiße, und was mich betraf, so fehlte mir damals die Energie dafür, immer und immer wieder aufstehen zu müssen! Ich hatte keine Lust mehr, ewig weiter Krieg und Frieden zu spielen, aus Angst, du oder ich könnten es eines Tages nicht mehr verkraften! Das, was du dir vor meinem Untertauchen geleistet hast, hat mich zu tief getroffen, Connor! Ich wusste nicht mehr, wie ich dir Joshs Verhaftung jemals verzeihen könnte!“ Catherine versuchte, sich trotz der Nackenstütze aus Kunststoff und den gebrochenen, bandagierten Rippen aufzurichten. Doch allein schon ihr Kopf, sowie der gesamte Rest ihres gebeutelten Körpers, protestierten empört auf. Mit einem schmerzerfüllten Seufzer sank sie in ihr Kissen zurück und wünschte sich, gar nicht erst aufgewacht zu sein. Aber dann dachte sie daran, dass Connor einfach nicht das Recht besaß, ihr nach so vielen Jahren eins aufs Auge zu drücken. Für Catherine stand noch längst nicht fest, wer als Sieger aus diesem Schlagabtausch hervorgehen würde, wobei sie gerade ihrem damaligen Kumpel einen Erfolg keineswegs gönnte. Sie beschloss daher, sich dem unangenehmen Wachsein zu stellen, so schwer es für sie auch werden mochte. „Du hast es dir anders vorgestellt, nicht wahr?“, rief Connor leise. Abrupt sah sie auf. Sie war auf alles Mögliche gefasst, auf eine weitere Standpauke vielleicht, auf die sie gut und gerne verzichten konnte, oder auf ein endloses Weiterführen dieses unnötigen Gesprächs. Aber auf diese eine Frage war Catherine nicht vorbereitet. Sie schluckte nervös und versuchte erneut, ihren Oberkörper wenigstens ein bisschen anzuheben. Connor bemerkte ihr Bemühen und betätigte beinahe beiläufig einen Hebel unter dem Bett, der den oberen Teil der Liege automatisch nach oben fahren ließ. So konnten die Patienten in einer wesentlich angenehmeren Haltung mit ihren Besuchern sprechen. „Du hattest keine Ahnung, an welches miese Drecksstück du geraten bist, aber du brachtest es selbst dann nicht über dich, mit uns zu reden, nachdem er dir das Schlimmste angetan hat, was einer Frau widerfahren kann!“ Connor ließ seine Worte wirken, indem er einen Moment lang schwieg. Dann fügte er betroffen hinzu: „Dein Stolz hat dich fast dein ganzes Leben lang treu begleitet, Cat, aber er wird auch einmal dein Ende sein!“ Sehr langsam sah sie von der Zimmerdecke weg und zu Connor hinüber. Es war ein langer Weg bis in sein Gesicht, er dauerte fast eine kleine Ewigkeit. Als sie ihm direkt in die Augen blickte, verschleierten ihr plötzlich Tränen der maßlosen Wut die Sicht. Connor hatte sie genau da getroffen, wo es für sie am schmerzlichsten war. Diese Tat konnte sie ihm nicht verzeihen. „Macht es dir Spaß, du Sadist?“ Sie richtete sich auf und rief lauter, als sie es sich eigentlich jetzt noch zugetraut hatte: „Gibt es dir den gewissen Kick, mich damit zu quälen? Welcher Mensch ist nur aus dir geworden, Connor?“ Er schwieg beträchtlich lange, denn er suchte nach den richtigen Worten, um sich mit sehr bedachtsam ausgewählten Worten die endgültige Gewissheit seiner schockierenden Vermutung zu holen. Als er endlich antwortete, sprach er mit fremder, sogar verbitterter Stimme: „Vielleicht gebe ich deinem toten Kind eine Chance, die es niemals haben durfte! Ich will, dass du an das Leben glaubst, das du dir immer gewünscht hast! Auch, wenn es dir nicht vergönnt ist, eine liebevolle Mutter zu sein.“ Über Catherines Wange kullerte eine Träne. Sie bahnte sich ihren Weg über das verunstaltete Gesicht und blieb über dem geschwollenen Mundwinkel hängen. Die junge Frau beachtete sie nicht, und so tropfte die Träne schließlich herab und wurde von ihrem Baumwollhemd aufgesogen. Mit leiser, gebrochener Stimme ermahnte sie ihren Retter: „Wenn du dich wirklich um mich ängstigst, Connor, wenn du wirklich glaubst, du müsstest mir nach so langer Zeit immer noch beistehen, dann verliere nie wieder ein Wort über meine Fehlgeburt! Ich will dich niemals mehr darüber sprechen hören! Hast du mich verstanden?“ Connor nickte kaum merklich, doch Catherine nahm seine Gestik zur Kenntnis und deutete sie als unumstößliches Versprechen. Der große Mann ließ von ihr ab. Er wandte sich um und starrte, mit den Händen in den Hosentaschen, auf einen imaginären Punkt, der sich irgendwo zwischen ihm und der Wand befand. Doch dort kam er gar nicht an. „Ich habe nachgedacht“, bekräftigte er noch einmal. „Ich werde dich nicht im Stich lassen. Das kann ich nicht. Ich werde mit Renée sprechen, und bevor du dir wieder irgendeine nette Bemerkung einfallen lässt, um mich davon abzuhalten, sage ich dir lieber gleich, dass deine Mühe vergeblich sein wird. Ich werde mich von nichts und niemanden abhalten lassen, auch diesmal für dich da zu sein, weil es etwas gibt, was ich dir damals nicht ein einziges Mal gesagt habe.“ „Und? Was soll das sein?“ „Ich habe dich immer für deinen Mut bewundert, Cat. Weißt du, trotz allem, was wir beide durchgestanden haben, ob wir uns nun gerade gestritten oder versöhnt hatten, habe ich nie aufgehört, stolz auf dich zu sein. Du hast mich beeindruckt, Kleine. Nicht, weil du letztendlich doch den Krebs besiegen konntest. Auch nicht, weil es scheinbar nichts auf der Welt gegeben hat, was dich wirklich ein für alle Mal unterbuttern konnte. Nein, Cat, das, was dich immer wieder ausgezeichnet hat, war der Mut, wieder aufzustehen. Ich habe es in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal fertiggebracht, aber ich denke, der Zeitpunkt ist gekommen, um dir zu sagen, dass ich dafür immer geachtet, ja, sogar geliebt habe. Du wirst mich vielleicht noch nicht verstehen, doch dieses Handeln war zweifellos das, was auf meiner Seele die tiefsten Spuren hinterlassen hat. Es war nicht der Unfalltod von Susan und den Kindern oder etwa unser gesamtes Kennenlernen. Das, was aus mir geworden ist, verdanke ich auch dir, Catherine. Es ... du musst mir nicht gleich auf Anhieb glauben, aber bitte denke wenigstens darüber nach. Versuche es.“ Connors Geständnis berührte Catherine tief. Es stimmte, was er sagte. Nicht ein einziges Mal hatte er ihr gegenüber davon gesprochen, sie zu lieben. Umgekehrt verhielt es sich nicht anders, doch das brauchte es auch nicht. Was beiden in der Zeit ihrer ungewöhnlichen Freundschaft das Gefühl ihrer wirklichen Zuneigung zueinander vermittelt hatte, waren die zahllosen Gesten ihrer Verbundenheit gewesen – eine Umarmung vielleicht, oder der ständige Wille, nach Stunden verloren gegangener Vertrautheit eben diese Risse wieder zu schließen. Die langen Gespräche, die sie damals während ihrer Ausflüge in die wunderschöne Bergwelt Österreichs geführt hatten, wirkten sich nachhaltig auf die beiden Freunde aus, ebenso wie Connors Bekanntschaft mit Menschen, die ihn nicht als Star, sondern als eine völlig normale Persönlichkeit wahrnahmen. Die kostbare Zeit, welche Connor in der Geborgenheit seiner neuen Freunde verbringen konnte, entschleunigte ihn von dem immerwährenden Stress, dem er sich als weltbekannter Schauspieler in Los Angeles ausgesetzt sah. Catherine und ihr Umfeld halfen ihm in höchstem Maße, nach dem traumatischen Verlust seiner jungen Familie wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Als der verwaiste Teenager an Blutkrebs erkrankte, lag es an Connor, seine Kameradin zu unterstützen, ihr Kraft zu spenden und Lebensmut zuzusprechen. Wie sehr sie einander brauchten, blieb damals niemandem, der mit Catherine oder Connor in Verbindung stand, verborgen. Ihre Freundschaft wurde auf gleich zwei Kontinenten mit Wohlwollen und Respekt bedacht. Obwohl sich die Wege der beiden Freunde später trennten, obwohl sie zwei völlig unterschiedliche Leben geführt hatten, befanden sich Catherine und Connor nun nach nahezu sechs Jahren wieder gemeinsam in einem Zimmer. Ihr Aufeinandertreffen ließ die Vergangenheit aufleben und die beiden, völlig unabhängig voneinander, an alte, verloren gegangene Zeiten zurückdenken. Catherine blickte auf die große Gestalt neben ihrem Bett. Richtig erkennen konnte sie ihn nicht mehr, denn zum einen verschleierten ihr weitere Tränen die Sicht, und zum anderen wurde sie plötzlich so müde, dass sie auf der Stelle einschlafen wollte. Aber sie kämpfte tapfer gegen die aufkommende Schläfrigkeit an. „Was verbirgt sich deiner Meinung nach hinter dem Wort Mut, Connor?“, fragte sie schließlich, nachdem sie mit den Gedanken wieder in die Gegenwart zurückgekehrt war. Er sah sie verwundert an. „Bitte?“ „Was meinst du, wenn du von Mut sprichst?“ Er gluckste zunächst etwas unbeholfen herum, weil er nicht mit dieser Frage gerechnet hatte. „Mut?! Nun ja, Mut ist für mich, wenn man für etwas mit allem, was in seiner Macht steht, kämpft, es letztendlich verliert, aber immer wieder den Trotz an den Tag legt und den Problemen die Stirn bietet! Mut ist für mich, was du bist, ganz gleich, welches Leid du in deinem jungen Leben bisher ertragen musstest. Und Mut bedeutet für mich, dass du mit mir sprichst, jetzt, in diesen Sekunden, weil du mich daran erinnerst, wie tapfer und stark du bist!“ „Dann bist du mit deiner poetischen Einstellung nur bis zum heutigen Tage gekommen“, erwiderte Catherine ausdruckslos, worauf Connor fragte: „Was meinst du damit?“ „Ich glaube nicht, dass Renée dir nicht weiterhelfen kann. Sie kann ebenso wenig rückgängig machen, was geschehen ist, wie sie verhindern kann, dass ich sie vielleicht abblitzen lassen werde“, rief sie streng, um ihre große Betroffenheit über Connors Worte zu überspielen. Er hatte mit ihnen ihr Herz berührt, ohne dass sie gegenwärtig dazu in der Lage war, es ihm zu zeigen. „Nein, Cat, das kann sie nicht. Aber sie wird mich trotzdem nicht hängen lassen und dir helfen, darüber hinwegzukommen. Gott, was würde ich geben, um dir jedes einzelne Mal zu ersparen ...!“ Connors Stimme brach. Er konnte immer noch nicht begreifen, was man seiner früheren Gefährtin angetan hatte. Wieder und wieder fragte er sich, ob nicht letztendlich er die Schuld an Catherines jetzigem Zustand trug. Die Antwort darauf war fast immer dieselbe. Connor erschauderte, wenn er daran dachte. Er hielt es plötzlich nicht mehr in diesem Zimmer aus, doch er konnte auch nicht gehen. Seine Seele schrie geradezu nach Flucht, aber seine Füße wollten ihm nicht gehorchen. Catherine erkannte, wie sehr ihr Besucher mit sich rang. Auch sie ertrug den jetzigen Zustand keine Sekunde länger, und so rief sie: „Hey!“ Connor kostete es eine Menge Kraft, Catherine anzuschauen. Sie sollte seinen Gram nicht sehen, doch es hatte keinen Zweck, sie vor ihr zu verstellen. Nicht, wenn man sich weit über vier Jahre lang Seite an Seite durchs Leben geschlagen hatte und seinen Kameraden kannte, wie es kein anderer jemals tun würde. Catherine streckte mühevoll ihren Arm nach dem großen Mann aus. Sie forderte ihn auf, ihre Hand zu nehmen, auch wenn sie es nicht aussprach. Connor zog eine Hand aus der Hosentasche und umschloss die schmalen Finger. Er trat erneut an die Liege heran, setzte sich wieder auf seinen Stuhl und stützte seine Arme auf das kühle Metall des Bettgestells ab. Schließlich sah er auf die Hand seiner Gefährtin, welche in seiner riesigen Pranke fast völlig verschwand. So konnte er sich für wenige Sekunden ablenken, denn Catherines geschundenen Anblick konnte er keine Sekunde länger ertragen. Scheinbar festgefroren erstarrte sein Blick während dieser rührenden Geste der Freundschaft, bevor er wieder aufsehen konnte und leise fragte: „Bist du sicher, du schaffst das?“ Ebenso leise flüsterte sie: „Ich weiß es nicht, Großer. Aber du weißt ja nun, dass ich nicht so leicht totzukriegen bin!“ Beide wussten, weshalb Catherine ausgerechnet diese Worte gewählt hatte. „Wir werden dir helfen, Cat“, versprach Connor erneut. „Renée und ich. Wir sind für dich da, und ich hoffe, das ist dir bewusst. Du weißt doch: Solche Sechs, wie wir Fünf sind, gibt’s nur viermal, denn wir Drei sind die zwei Einzigen!“ Catherine lächelte gequält, um Connor die Sicherheit zu geben, seine Äußerung verstanden zu haben. Nachdem er jedoch wenige Minuten später gegangen war, verfiel sie in dumpfe Lethargie. Etwas verstehen und etwas akzeptieren, das waren zwei völlig verschiedene Dinge. Der jungen Frau wurde bewusst, dass Connor zwar da war, rein geistig aber immer noch in der Vergangenheit festsaß. Dabei übersah er schlichtweg, dass es niemals mehr so werden konnte, wie früher. Niemals wieder.

Connor Reilly hatte Menschen sterben sehen. Es waren über ein Dutzend gewesen. Viele von ihnen gehörten zu seinen Freunden, ein paar auch zu seiner Familie. Gemeinsam kämpften sie in den Straßen von Derry für Recht und Freiheit, bis zu jenem Tag, der als „Bloody Sunday“ in die Geschichte Irlands eingehen sollte. Man schrieb den 30. Januar 1972. Connor war damals um die zwanzig Jahre alt gewesen und arbeitete als Gabelstaplerfahrer bei einer ortsansässigen Brauerei, um Geld für ein später geplantes Studium zu verdienen. Er hatte viele Freunde, spielte ab und zu in seiner Stammkneipe in einer Liveband Gitarre und fühlte sich von je her mit seiner Heimat verbunden. Die ganze Leidenschaft des jungen Reilly galt der Jahrtausende alten Vergangenheit eines wunderschönen, geschichtsträchtigen Landes – und dem Kampf für die Freiheit. Connor gehörte einer Widerstandsgruppe an, deren Handeln mit der Zeit immer hitziger, immer aggressiver wurde. Und immer unvorsichtiger. Zahlreiche Mitglieder kamen durch feige Anschläge ums Leben, andere, die sich bisher eher im Hintergrund gehalten hatten, krochen unter dem Mantel der Anonymität in den Vordergrund hervor und riskierten in leidenschaftlichen, ungestümen Debatten in den zahlreichen Pubs von Derry immer öfter Kopf und Kragen. Reilly hatte sich schon als Jugendlicher geschworen, aus Rücksicht auf seine Familie eine klare Grenze zu ziehen, die ihm zeigte, wie weit er gehen konnte und welche Unternehmen seiner Gruppe diese Linie überschritten. Er war eher der kreative Kopf gewesen, organisierte Demonstrationen oder schrieb an Reden, anstatt sich an den zunehmend gewalttätigen Kundgebungen zu beteiligen. Connor verabscheute die Brutalität und hatte bis dato noch nie einen Menschen getötet. Der Griff zum Gewehr, um seine Treffsicherheit an Blechbüchsen, Flaschen oder Kürbissen zu erproben, stand in krassem Widerspruch zum eigentlichen Grundsatz, den sich die Widerstandsgruppe zum Leitthema ausgewählt hatte: Verändern durch Reden. Die Stürmung des als Hinterhofjugendklub getarnten Hauptquartiers zwang Connor und seine Freunde, einem neuen Credo Folge zu leisten: Anlegen, Zielen, Schießen. Reilly hatte die Gesichter der von ihm getöteten Menschen nie vergessen. Es waren vier sehr junge Polizisten gewesen, die allesamt in seinem Alter waren, jedoch auf der gegnerischen Seite agierten. Jeden Einzelnen von ihnen kannte er aus der gemeinsamen Schulzeit. Irgendwie gelang es Connor, dieser Hölle mit einem sprichwörtlichen blauen Auge zu entkommen. Der Schlupfwinkel der Freiheitskämpfer stand zu diesem Zeitpunkt schon lichterloh in Flammen und brannte schließlich bis auf die Grundmauern nieder. An diesem Tag veränderte sich Connor Reillys Leben. Er schaffte es, mit heiler Haut bis nach Hause vorzudringen, stürmte wortlos an seiner Mutter vorbei und kramte in seinen Sachen die Telefonnummer seines Cousins Clifford Norton heraus. Cliff war zwei Jahre zuvor in die USA ausgewandert und hatte mit Gelegenheitsjobs inzwischen soviel Geld verdient, dass er studieren konnte. Das Telefongespräch zwischen ihm und Reilly dauerte noch nicht einmal zehn Minuten, die Besprechung zwischen Connor und seiner Mutter jedoch umso länger. Er packte seine Sachen, drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Stirn und versprach ihr, sobald es nur irgendwie ging, das Geld für ein Flugticket zu schicken, mit dem sie nachkommen konnte. Mehr Familienmitglieder, zumindest engere, gab es in seiner geliebten Heimat nicht mehr. Connors Schwester Margret studierte seit vier Jahren in New York, seine zwei Brüder und sein Vater waren, wie viele andere auch, einen sinnlosen Tod gestorben. In Los Angeles angekommen, begann Connor zu leben. Zusammen mit Cliff, bei dem er in einer engen, baufälligen Zweizimmerwohnung in einem ziemlich schlimmen Viertel hauste, zog er um die Häuser, kam zum ersten Mal mit Drogen in Kontakt und frönte einmal mehr seiner Leidenschaft für hübsche Frauen, anstatt sich um einen Job zu kümmern. Eines Abends vergriffen sich Connor und Cliff jedoch an die falschen Bräute, baggerten zwei aufgedonnerte Girlies an, ohne auch nur zu ahnen, dass sie die Mädchen zweier stadtbekannter Bandenbosse waren. Die Erkenntnis traf die beiden Cousins hart, schmerzhaft und leider auch zu spät. Wieder schlug Connor eine andere Richtung ein. Endlich raffte er sich auf, jobbte als Kellner, Imbissbudenkoch, Kartenverkäufer an einer Kinokasse und als Automechaniker, bis er das Geld für das versprochene Flugticket zusammenhatte. Connors Mutter wohnte einige Monate in L.A. und zog später zu Margret nach New York, wo sie noch sehr viele Jahre lang glücklich und zufrieden lebte. Cliff konnte Connor schließlich zu einem Studium überreden. Der Jüngere der Vettern entschied sich für Dramaturgie und Schauspielkunst, während Cliff an seiner Ausbildung zum Medienwissenschaftler feilte. Das gesamte Studium finanzierten sich Connor und Cliff ausschließlich mit selbst verdientem Geld. Später absolvierte Reilly ein zusätzliches Regie-Studium, ergatterte seine ersten Rollen und begann, an professionellen Drehbüchern zu arbeiten. Der Weg zu jenem Weltstar, der er heute war, war lang, kurvenreich und äußerst hart, doch er lehrte dem stolzen, gebürtigen Iren Connor Reilly auch auf bittere Art und Weise, wie unersetzbar und kostbar ein Menschenleben war.

Die Trommeln der Freiheit

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