Szenen aus der frühen Corona-Periode
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Arno Widmann. Szenen aus der frühen Corona-Periode
SZENEN AUS DER FRÜHEN
CORONA-PERIODE
Отрывок из книги
Arno Widmann
2Thomas sitzt in einem Sessel am Fenster. Er ist eingeschlafen. Er wacht auf mit dem Gedanken: In dieser sich hinziehenden Gegenwart, in der die Menschen einander belauern, jeder darauf achtet, niemandem zu nahe zu kommen und gerade dadurch das Verlangen nach Nähe in jedem von uns immer wieder aufsteigt, entstehen neue Formen der Nähe. Auch wer wie Thomas in der Liebe bisher ganz darauf angewiesen war, zu berühren und berührt zu werden, versucht es jetzt mit der Sprache. Die Menschen finden Zeit für Zärtlichkeiten, die sie sonst nicht einmal als solche betrachtet hätten. Corona ist die Auferstehung der Sprache.
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13Anja ist Ärztin. Sie erzählt einer Patientin, der sie gerade mitgeteilt hat, dass sie nicht infiziert ist: „Es ist eine fürchterliche Erkrankung. Nehmen Sie sich in Acht. Sowie Sie etwas spüren, kommen Sie zu mir. Viele Corona-Patienten liegen eine Woche oder länger zu Hause im Fieber. Dann erst kommen sie zu mir, weil sie keine Luft mehr bekommen. Lassen Sie sich, sowie sie Fieber haben, untersuchen. Wenn Sie schon wochenlang Fieber haben, ist es womöglich zu spät. Manche kommen ja erst, wenn sie das Gefühl haben, sie werden sterben. Das ist schrecklich. Sie sind bei klarem Verstand. Alles funktioniert. Nur atmen können sie nicht. Es ist, als würden sie ertrinken, aber es dauert viel länger. Es ist immer dieselbe Diagnose. Beidseitige Lungenentzündung.“
14Gennaro ruft Anja an. Er erzählt ihr, in Neapel sängen die Nachbarn von ihren Balkonen aus einander zu. „Typisch Neapel“, freut sie sich. „In Siena, ja sogar in Bozen machen sie es auch“, erwidert Gennaro. „Ganz Italien singt?“ „Glücklicherweise nicht“, meint er. Sie sieht ihn grinsen. „Manchmal trommeln sie auch oder deklamieren Sätze aus Serien.“ „Du hast einen schönen Bariton“, sagt Anja. „Im Land der Tenöre nicht unbedingt eine Empfehlung“, meint er. Dann erzählt er von seinem Ururgroßvater, der neapolitanische Lieder schrieb, von denen manche zu Volksliedern wurden. „Keiner ist mehr Neapolitaner als ich“, meint Gennaro, „aber ich finde es super, dass sie jetzt auch in Siena singen.“ Er sagt „super“! denkt Anja. Er spricht weiter: „Das Coronavirus eint Italien. Dass es sich Mailand unterwirft, das sich doch den Süden unterworfen hatte, wirkt Wunder. Der Süden kann endlich einmal Mitleid haben mit Italien“. Gennaro genießt seine neue Rolle und als echter Neapolitaner, als intelligenter Zeitgenosse, weiß er das und macht sich lustig darüber.
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