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1 ~ 1893
ОглавлениеLord Mere setzte sich mit herzhaftem Appetit an den Frühstückstisch. Wenn er in London weilte, ritt er gern in aller Frühe aus, ehe der Park überfüllt war.
An diesem Morgen hatte er ein neues Pferd trainiert, das er erst kürzlich bei Tattersalls gekauft hatte. Es war ein feuriger Hengst, der zahllose Schwierigkeiten machte, ehe er begriff, daß er seinen Herrn gefunden hatte und sich anständig benehmen mußte. Lord Mere, ein ausgezeichneter Reiter, war mit diesem Erfolg sehr zufrieden. Und dies hatte auch den Kater nach einer besonders flotten Nacht in St. James's vertrieben. Dort war in einem Vergnügungslokal der sensationelle Sieg eines reichen Peers beim Grand National gefeiert worden. Lord Mere leugnete nicht, daß er sich wie ein Kind benommen hatte, dem man in einem Süßwarengeschäft freie Hand ließ.
In der Regel genoß er das Leben in vollen Zügen, aber es gab auch eine ernste Seite seines Charakters, die jedoch nur wenige Menschen kannten. Er war tief in geheime Verhandlungen zwischen Frankreich und England verstrickt. Inoffiziell hatte er im Auftrag der Regierung mehrere Länder in Europa besucht.
Nur das Außenministerium wußte, daß Lord Mere außer dem, was oberflächlich gesehen wie eine endlose Suche nach Vergnügungen erschien, noch andere Interessen verfolgte, wenn er das Ausland besuchte.
Er sah außerordentlich gut aus, war wohlhabend und der Titelträger einer Familie, die häufig in Geschichtsbüchern rühmlich erwähnt wurde. Mit einigem Geschick hatte er es fertiggebracht, das Alter von neunundzwanzig Jahren zu erreichen, ohne in eine Ehe gedrängt worden zu sein.
Es gab jedoch hoffnungsvolle Mütter, die ihn verfolgten, seitdem er Eton verlassen hatte. Nur durch seine Konzentration auf die Reize verheirateter Frauen war er bis jetzt verschont geblieben.
Sein Haus in der Park Lane, von seinem Großvater gebaut und eingerichtet, wurde als Junggesellenhaushalt geführt, und dies mit einer Perfektion und Erfahrung, die er erlangt hatte, indem er jahrelang auf seinen eigenen Komfort und infolgedessen auch auf den anderer Leute bedacht gewesen war.
»Ich sage immer wieder, daß Sie der beste Gastgeber Englands sind«, hatte der Prince of Wales erst vor einer Woche bei einem Abendessen in Lord Meres Haus erklärt. »Ich weiß nicht, weshalb mein Küchenchef kein Dinner zubereiten kann, das dem Ihren gleichkommt.«
Lord Mere hatte das Kompliment beifällig aufgenommen, sich aber nicht über den Grund der Perfektion geäußert, die sein Personal auszeichnete.
Teilweise war sie zweifellos der Tüchtigkeit seines Sekretärs zuzuschreiben. Aber wie Lord Mere in der Armee gelernt hatte, sollten Reformen an der Spitze beginnen, und er interessierte sich persönlich für das kleinste Detail, sofern es ihn selbst betraf. Das galt auch für die Verwaltung seiner Güter, mit dem Ergebnis, daß sein Familiensitz in Buckinghamshire ein Musterbetrieb war. Um seinen Stall in Newmarket beneideten ihn seine Konkurrenten, und zu ihrem Verdruß gewann er alle klassischen Rennen.
Als Lord Mere das ausgezeichnete Mahl beendete - Lammkoteletts mit Pilzen, die tags zuvor von seinem Besitztum auf dem Land eingetroffen waren -, deutete er mit einer knappen Geste an, daß er noch eine Tasse Kaffee trinken wollte.
Der Diener, der hinter dem Stuhl strammgestanden hatte, beeilte sich, den Wunsch seines Herrn zu erfüllen.
In diesem Augenblick ging die Tür auf, und der Butler verkündete würdevoll: »Die Marquise of Kirkham, Mylord!«
Lord Mere blickte erstaunt auf und erhob sich, als seine Schwester in das Speisezimmer kam. Sie sah in einem modisch grünen Frühlingsensemble außergewöhnlich attraktiv aus.
»Das ist wahrhaftig eine Überraschung, Jennie!« rief Lord Mere. »Ich habe dich noch nie zu so früher Stunde wach gesehen, geschweige denn außer Haus!«
»Ich muß unbedingt mit dir reden, Ingram!« sagte die Marquise eindringlich.
Ihr Tonfall und die Erregung, die sich in ihren blauen Augen zeigte, verrieten ihm, daß sie allein mit ihm sprechen wollte.
»Willst du eine Tasse Kaffee oder etwas essen?« fragte er.
»Nein, danke«, erwiderte die Marquise.
Lord Mere brauchte seinen Diener nur anzusehen, und dieser wußte, wie der Befehl lautete. Er verließ rasch das Speisezimmer und schloß leise die Tür zur Anrichte.
Lord Mere lehnte sich im Stuhl zurück, der mit einer geschnitzten Krone, flankiert von Engeln, geschmückt war und ihn wirklich gebieterisch erscheinen ließ.
»Was ist geschehen?«
Zu seiner Verblüffung schluchzte seine Schwester plötzlich.
»Oh Ingram, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll...«
Ihre Stimme klang so verzweifelt, daß Lord Mere ihre Hand ergriff und sie tröstend festhielt.
»Was regt dich so auf? Du bist doch sonst nicht aus der Ruhe zu bringen, Jennie.«
Sie umklammerte verzweifelt die Hand ihres Bruders.
»Oh Ingram, wenn du mir nicht hilfst, bin ich völlig verloren.«
»Erzähle mir, worum es geht«, antwortete er ruhig.
»Du wirst schockiert sein!«
»Das glaube ich nicht.«
»Du bist der einzige Mensch, an den ich mich wenden kann. Ich habe eine große Dummheit gemacht.«
»Das tun wir alle manchmal«, sagte er tröstend. »Was hast du getan?«
Sie entzog ihm ihre Hand und betupfte sich mit einem spitzengesäumten Taschentuch die Augen.
»Er war so ungeheuer überwältigend attraktiv. Und ich bezweifle, daß irgendeine Frau ihm hätte widerstehen können.«
»Wem?« fragte Lord Mere.
Die Marquise holte tief Luft.
»Dem Prinzen Antonio di Sogino.«
Er erwiderte nichts, aber seine Augen drückten Neugier aus. Es lag ein Schimmer darin, den diejenigen, die mit ihm an gefährlichen Missionen beteiligt gewesen waren, erkannt hätten.
Da er den Eindruck gewann, seine Schwester wäre im Augenblick unfähig, fortzufahren, sagte er: »Ich weiß, von wem du sprichst. Aber was hattest du mit dem Prinzen zu tun?«
Einen Augenblick lang dachte er, sie würde Ausflüchte machen und ihm nicht die ganze Wahrheit gestehen.
Doch dann erwiderte sie leise: »Du weißt, daß Arthur im Augenblick in Paris ist?«
Das wußte er sehr wohl. Die Königin hatte seinen Schwager in einer kleinen Angelegenheit, die ihr Mißfallen erregt hatte, nach Paris geschickt, damit er den britischen Botschafter zurechtwies.
Lord Mere dachte allerdings, daß Ihre Majestät aus einer Mücke einen Elefanten machte. Es wäre wesentlich einfacher gewesen, einen Brief zu schreiben, als den Marquis of Kirkham, der bald sechzig Jahre alt wurde und nicht bei bester Gesundheit war, deswegen nach Paris reisen zu lassen. Die Königin war jedoch so sehr daran gewöhnt, ihn für Missionen zu benützen, von denen sie glaubte, sie beträfen sie persönlich, daß der Marquis sich verpflichtet fühlte, ihren Bitten nachzukommen.
»Ja, ich weiß, daß er in Paris ist«, bestätigte Lord Mere.
Es entstand eine kleine Pause, ehe seine Schwester fortfuhr: »Ich lernte Prinz Antonio vor ungefähr zehn Tagen im Marlborough House kennen. Da er so göttlich tanzte, fiel es mir schwer, die nächsten zwei oder drei Tänze abzulehnen, die er von mir erbat.«
Rückblickend erinnerte sich Lord Mere an seine Befürchtung, Jennie hätte etwas zu freizügig mit dem jungen Italiener geflirtet, zumal das stattliche Paar auf der Tanzfläche nicht unbemerkt geblieben war.
»Er bat mich darum, ihn am nächsten Tag zu empfangen«, fügte sie hinzu. »Und ich muß gestehen, als er mir sagte, wie sehr er mich liebe, war ich von ihm hingerissen.«
Sie sprach sehr leise und sah ihren Bruder dabei nicht an. Stattdessen blickte sie auf den Tisch, als würde sie dort das, was geschehen war, wie in einem Bild vor sich sehen.
»Ich fuhr im Park aus, ich ging auf Gesellschaften. Und wo immer ich auch hinkam, war auch er da.«
Wenn seine Schwester von Prinz Antonio fasziniert gewesen war, dann konnte Lord Mere verstehen, daß auch er Jennie unwiderstehlich gefunden haben mußte. Sie war blond, blauäugig und besaß einen makellosen Teint - der Traum eines jeden Künstlers von der »vollendeten englischen Rose«.
Er hatte oft bedauert, daß sie in jungen Jahren mit einem fünfundzwanzig Jahre älteren Mann verheiratet worden war.
Vom gesellschaftlichen Standpunkt aus gesehen, konnte man die Verbindung als glänzend bezeichnen. Der Marquis of Kirkham war persona grata im Windsor Castle und bald nach der Hochzeit zur Position des Master of the Horse aufgestiegen. Seine erste Frau hatte im Kindbett den Tod gefunden. Danach war eifrig darüber spekuliert worden, wer die nächste Marquise des vornehmen Witwers werden würde.
Bei der ersten Begegnung mit Jennie, einem achtzehnjährigen Mädchen, hatte er sein Herz verloren. Vor der überstürzten Hochzeit hatte sie kaum Zeit gefunden, sich zu fragen, ob es klug war, einen um so viele Jahre älteren Mann zu heiraten.
Damals schien dies keine große Rolle gespielt zu haben. Nun aber, da Jennie vierunddreißig Jahre zählte und ihr Gatte bald sechzig wurde, war er trotz aller guten Vorsätze ein älterer Herr.
Obwohl Lord Mere das Ende der Geschichte erraten konnte, bat er: »Erzähl weiter, Jennie.«
»Gestern abend gab ich Antonios Flehen nach«, sagte Jennie mit kaum hörbarer Stimme. »Wir hatten schon am Abend zuvor zusammen gespeist. Irgendwie, ich weiß nicht wieso, konnte ich ihm widerstehen. Ich dachte immer wieder daran, daß ich schließlich Arthurs Frau bin, wie schwierig er auch ist, und daß ich mich so verhalten muß, wie er es von mir erwartet.«
»Natürlich«, stimmte ihr Bruder zu.
»Gestern abend aßen Antonio und ich wieder zusammen. Wir waren allein, und danach...« Die Marquise hielt inne, und die Farbe stieg ihr in die Wangen, ehe sie hinzufügte: »Du kannst nun erraten, was geschah.«
»Das kann ich, und ich verstehe dich nur zu gut.«
Im Stillen wunderte er sich darüber, daß dies nicht schon viel früher geschehen war. Der Marquis war mit den Jahren nicht nur anmaßend geworden, sondern er behandelte seine Umgebung unduldsam und diktatorisch, besonders aber seine Frau.
Gleichzeitig war er ein außerordentlich stolzer Mann. Wenn er die leiseste Ahnung von Jennies Untreue hätte, wären die Folgen äußerst unangenehm.
»Ich schäme mich jetzt, daß ich einen solchen Fehltritt begangen habe«, sagte Jennie. »Aber es ist nicht nur das!«
»Was ist noch geschehen?« fragte ihr Bruder.
»Gestern abend trug ich das florentinische Halsband, weil ich wußte, daß es Antonio interessieren würde.«
Vor zwei Jahren hatte sie dem Marquis nach der Geburt zweier Töchter einen Sohn und Erben geschenkt und vom stolzen Vater ein außergewöhnlich kostbares Halsband erhalten, zum Zeichen seiner Dankbarkeit. Es war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts angefertigt und mit jener Feinheit und Pracht gestaltet worden, die den Ruhm der florentinischen Juweliere begründet hatte. Blüten aus fünf Diamanten mit Blättern aus Smaragden bedeckten ein brillantenbesetztes Band. Ein kunstvoller Anhänger in Form einer Blume hing in der Mitte herab, und an diesem wiederum befanden sich zwei kleinere Anhänger aus rosaroten Diamanten. Wie alle Schmuckstücke jener Zeit war das Halsband in Silber eingefaßt, und jeder Stein steckte in einer gewölbten Fassung, durch die das Licht stärker reflektiert wurde.
Beim Anblick dieses schönen, ungewöhnlichen Geschenks war Jennie überwältigt gewesen. Der Marquis hatte erklärt, daß es ihm von einer alten florentinischen Familie angeboten worden war, mit der Erklärung, wenn sie es schon verkaufen müßten, dann sähen sie es lieber in seinen Händen als in anderen.
Geschmeichelt über dieses Kompliment, hatte der Marquis, wie Lord Mere vermutete, mehr als den tatsächlichen Wert für den Schmuck bezahlt. Aber dies war wohl ein gewisser Ausgleich dafür, daß er seine Frau aus altersbedingten Gründen nicht mehr als glühender Liebhaber verwöhnen konnte.
Es hatte Lord Mere sogar überrascht, daß Jennie im Gegensatz zu den schönen Frauen vom Marlborough House-Clan dem Marquis so lange treu geblieben war. Da der Prince of Wales die Mode der Freizügigkeit förderte, nahm man keinen Anstoß daran, wenn sich die berühmten Schönheiten auf heimliche Liebesaffären einließen, sobald sie ihren Gatten einen Erben geschenkt hatten und mindestens zehn Jahre verheiratet waren. Es galt auch als normal, daß ihre Gatten dabei großzügig ein Auge zudrückten.
Lord Mere nahm an, daß der Marquis nichts dergleichen tun würde, wenn seine Schwester in diese Situation käme. Sein Schwager würde sich vielmehr kleinlich zeigen. Und wenn er seiner Frau das nicht geben konnte, wonach sie sich sehnte, würde sie ohne dies auskommen müssen.
Doch da Lord Mere seine Schwester liebte, wollte er sie glücklich sehen. Er mutmaßte schon seit einiger Zeit, daß Jennie unzufrieden und frustriert war, obwohl sie nie darüber gesprochen hatte. Offenbar war der Seitensprung unvermeidlich gewesen.
Nur schade, daß Jennie einen Ausländer zum Liebhaber gewählt hatte. Nicht, daß Lord Mere etwas gegen Ausländer im allgemeinen gehabt hätte, abgesehen davon, daß sie oft unberechenbar waren und einer Frau in der Regel nicht die unerschütterliche, standhafte Treue schenkten, die er sich für seine Schwester wünschte.
Als er nun ihr ängstliches Gesicht sah, sagte er sich, daß etwas schiefgegangen war, und er fragte sich, was es sein mochte.
Jennie sagte leise: »Antonio verließ mich in der Morgendämmerung. Ich machte mir Sorgen, daß die Dienstboten schon wach sein und ihn sehen könnten.«
»Und was geschah dann?« fragte Lord Mere.
Er war sicher, daß der Marquis zu so früher Stunde nicht zurückgekehrt sein konnte und daß das Personal seine Schwester nicht der Untreue bezichtigen würde.
»Als Antonio gegangen war«, flüsterte Jennie, »war mein Halsband verschwunden, obwohl ich es zuerst gar nicht glauben konnte.«
Ein langes Schweigen entstand. Lord Mere starrte seine Schwester erstaunt an.
»Du willst doch damit nicht etwa sagen...«, begann er schließlich. »Du nimmst doch nicht an, daß der Prinz es gestohlen hat?«
»Es ist wie vom Erdboden verschwunden. Ich habe es in das Etui auf meinem Ankleidetisch gelegt. Nachdem mein Mädchen mir das Frühstück gebracht hatte, fragte es: ,Soll ich Ihren Schmuck in den Tresor legen, Mylady?' Und ich antwortete: ,Ja, natürlich, Rose. Aber geh mit dem Halsband vorsichtig um.' Rose öffnete das Etui, um zu sehen, ob das Halsband ordentlich darin lag, und rief: ,Aber es ist nicht da, Mylady!'«
Als Jennie nun ihren Bruder ansah, waren ihre Augen dunkel vor Furcht.
»Es ist weg! Ich habe es überall gesucht! Ich erinnere mich ganz deutlich daran, wie ich es vorsichtig in das Etui legte und dabei dachte, wie schön es auf dem schwarzen Samtfutter aussieht.«
»Du mußt dich irren.«
»Nein! Ich erinnerte mich später, daß ich es auch am ersten Abend trug, als ich Antonio kennenlernte. Er bewunderte es und machte mir Komplimente. Zum Beispiel sagte er, von allen Hälsen, die es seit 1725, dem Jahr der Anfertigung, geziert habe, sei meiner der schönste.«
Lord Mere erwiderte nichts darauf, und Jennie fuhr fort: »Heute früh dachte ich wieder an das Gespräch und hielt es nun für sehr merkwürdig, daß Antonio das genaue Herstellungsjahr kannte, während Arthur in dieser Hinsicht nicht sicher war.«
»Der Prinz kann es erraten haben«, wandte Lord Mere ein. »Was ist noch geschehen?«
»Als ich das Halsband einmal nicht trug, fragte Antonio: ,Wo ist Ihr florentinisches Juwel? Ich bewundere Sie, und nichts anderes ist kostbar genug, um Ihre Haut zu berühren.'«
»Und deshalb hast du es gestern abend bei diesem Dinner zu zweit getragen.«
»Ja, natürlich«, bestätigte Jennie. »Als er den Salon betrat, sagte er, noch ehe er mich küßte: ,So möchte ich Sie sehen!' Ich war ein wenig gekränkt; weil seine Blicke mehr dem Halsband galten als mir selbst.«
Lord Mere machte eine ungeduldige Geste. »Das beweist nicht, daß er es dir gestohlen hat.«
»Er nahm es mir ab. Dabei küßte er meinen Hals und flüsterte: ,Du bist zu lieblich. Du brauchst keinen Schmuck, auch nichts so Vollkommenes wie dieses Halsband aus meinem Land.'« Jennie seufzte leise. »Ich achtete kaum auf seine Worte, sondern nahm ihm das Halsband aus der Hand und legte es in das Etui. Ich wollte, daß er nur an mich denkt.«
»Bist du ganz sicher, daß du es in das Etui gelegt hast?«
»Absolut sicher. Wie ich schon sagte, legte ich es vorsichtig hinein, weil es so kostbar und wertvoll ist und ich immer fürchte, es könnte zerbrechen. Dann würde Arthur sehr zornig.« Bei diesem Gedanken schrie sie leise auf. »Was soll ich nur tun? Arthur wird außer sich sein! Wie soll ich ihm erklären, daß Antonio es aus meinem Schlafzimmer entwendet hat?« Sie schluchzte. »Ingram, Ingram, bitte hilf mir! Wenn Arthur das erfährt, bringt er mich um.«
»Dann darf er es eben nicht erfahren«, erwiderte Lord Mere. »Als Erstes muß man den Prinzen um eine Erklärung dafür bitten, was heute nacht geschehen ist.«
»Glaubst du, ich hatte nicht selbst schon daran gedacht? Ich war vor einer halben Stunde in der italienischen Botschaft, wo er wohnte. Das schickte sich nicht, ich weiß, aber ich war so verzweifelt, daß ich sofort mit ihm sprechen wollte.«
»Und was ist geschehen?«
Lord Mere glaubte die Antwort bereits zu kennen.
»Ein Diener teilte mir mit, Prinz Antonio di Sogino sei um acht Uhr früh nach Italien abgereist.«
Jennie schlug beide Hände vors Gesicht, um ihre Tränen zu verbergen.
Lord Mere saß reglos da.
Nach einer kurzen Pause bat er: »Weine nicht, Jennie. Ich werde einen Ausweg aus diesem Schlamassel finden, sofern du mir auf die Bibel schwörst, daß wirklich niemand außer ihm das Halsband an sich genommen haben kann. Glaubst du nicht, daß zum Beispiel ein Einbrecher in dein Schlafzimmer gelangt sein könnte, nachdem der Prinz dich verlassen hat?«
»Er müßte Flügel besessen haben. Ich begleitete Antonio zur Gartentür, aber ehe wir die Seitentreppe hinabgingen, schloß ich meine Schlafzimmertür ab und nahm den Schlüssel mit.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht fürchtete ich, mein Mädchen konnte in meine Zimmer gehen, ehe ich Zeit hatte, die Kleidungsstücke aufzuräumen, die zerstreut herumlagen, natürlich auch auf dem Bett.« Jennie errötete wieder und senkte den Blick. »Du siehst, es kann niemand das Zimmer betreten haben, weil ich den Schlüssel bei mir trug. Nachdem ich Antonio in den Garten begleitet hatte, ging ich sofort wieder in mein Zimmer, räumte die Kleider auf und vergewisserte mich, daß alles an seinem Platz war, ehe ich mich schlafen legte.«
»Aber wann kann der Prinz das Halsband an sich genommen haben, ohne daß du es bemerkt hast?«
»Ehe er mich verließ, weckte er mich. Er war schon angekleidet und erklärte, er müsse nun gehen.«
»Aha. Vorher könnte er das Halsband unbemerkt in die Tasche gesteckt haben.«
»Natürlich. Ich dachte nicht an das Halsband, bis Rose das Etui öffnete, ehe sie es in den Tresor bringen wollte.« Wieder schrie Jennie leise auf. »Oh Ingram, stell dir vor, ich hätte geglaubt, das Halsband sei noch da, wenn Arthur mich vielleicht in zwei Wochen gebeten hätte, es zu tragen.«
»Ich nehme an, genau das hat der Prinz gehofft. Und deshalb ist es nun sein Pech, daß du den Verlust so rasch entdeckt hast.«
»Du weißt, wie stolz Arthur war, weil er mir etwas so Kostbares schenken konnte. Das Halsband war sehr, sehr teuer.«
»Da bin ich sicher.«
»Wie kann ich Arthur erklären, es seien Einbrecher gewesen, wenn nichts anderes fehlt?«
Lord Mere fragte eindringlich: »Ist das wahr? Hast du dich vergewissert, daß sonst nichts fehlt?«
»Nein, nichts! Das Diamantarmband, der Ring, die Ohrringe alles lag auf dem Toilettentisch.«
»Nur die Halskette war verschwunden«, sagte Lord Mere nachdenklich.
»Nur das Halsband fehlt«, bestätigte Jennie. »Das Halsband, das Arthur niemals vergessen wird. Oh Ingram, stell dir den Skandal vor, wenn er sich von mir scheiden läßt! Und selbst wenn er das nicht täte, würde er sicher nie wieder mit mir sprechen, so verletzt wäre er.«
Nun liefen die Tränen an ihren Wangen herab, und sie konnte sie nicht zurückhalten.
Lord Mere stand auf.
»Jetzt kann ich nur eines tun.«
»Was?« fragte Jennie unglücklich.
»Nach Florenz fahren und herausfinden, was geschehen ist. Wenn dieser verdammte Italiener dein Halsband tatsächlich gestohlen hat, werde ich es ihm abnehmen, oder ihn auf irgendeine Weise dazu bringen, es zurückzugeben.«
»Willst du das wirklich tun?« Jennie sprang auf und schlang die Arme um den Hals ihres Bruders. »Nur du kannst mich retten, Ingram! Wenn irgendjemand auf der Welt mein Halsband wiederbeschaffen kann, dann bist du es!«
Lord Mere küßte ihre Wange.
»Hör zu, Jennie. Ich nehme an, du kannst Rose vertrauen?«
»Rose verehrt mich, das hat sie immer getan. Sie ist seit zehn Jahren bei mir.«
»Gut, dann mußt du sie zum Schweigen verpflichten.«
»Das habe ich bereits getan. Sie weiß, wie zornig Arthur würde, wenn er den Verlust entdeckte. Sie wird alles tun, um mir zu helfen.«
»Also gut, das ist ein Pluspunkt für uns«, meinte Lord Mere. »Wenn Arthur nach Hause kommt, darfst du keinen Augenblick lang den Verdacht erwecken, du wärst aus irgendeinem Grund besorgt oder würdest dich vor etwas fürchten.« Er runzelte die Stirn und konzentrierte sich auf seine Überlegungen. Dann fuhr er fort: »Ehegatten haben einen sechsten Sinn füreinander. Beinahe kann der eine die Gedanken des anderen lesen. Was du auch tust, du darfst dir nichts anmerken lassen.«
Erschrocken hielt Jennie den Atem an.
»Nein, natürlich nicht.«
»Also gut. Benimm dich einfach so, wie es jede liebende Frau tun würde - erfreut, weil der Gatte wohlbehalten und gesund wieder aus Paris zurückgekehrt ist. Zeig ihm, wie einsam und verlassen du dich ohne ihn gefühlt hast.« Lord Mere hielt inne. Dann fügte er hinzu: »Alle Frauen können schauspielern, wenn sie wollen. Und wenn dir dein guter Ruf etwas wert ist, Jennie, dann wirst du schauspielern müssen, wie noch nie zuvor in deinem Leben.«
»Ich will es versuchen. Wirklich! Aber es wird schwierig sein, weil ich mich so sehr fürchte.«
»Vergiß deine Ängste! Und wenn es zum Schlimmsten kommt, müssen wir vielleicht selbst den Tresor aufbrechen und erklären, jemand sei unbemerkt ins Haus gekommen und habe deine Juwelen auf so geschickte Art gestohlen, daß die Polizei keine Ahnung hat, wer der Täter sein könnte.«
»Die Polizei...«, stammelte Jennie.
Sie wurde blaß, und ihr Bruder sagte rasch: »Wir werden sie nur im äußersten Notfall rufen. Denn du würdest doch nicht gern gestehen, daß du das Halsband zum letzten Mal gesehen hast, als du mit dem Prinzen zusammen warst. Du müßtest dann behaupten, du hättest es bei einer späteren Gelegenheit auf einer großen Gesellschaft getragen.«
»Oh Ingram, würde uns das überhaupt jemand glauben? Du weißt, dieses Halsband ist so außergewöhnlich, daß überall, wo ich auch hingehe, die Leute sagen, es sei das Schönste, was sie je gesehen haben.«
»Ich weiß«, erwiderte Lord Mere gereizt. »Aber wir müssen eine Ausrede bereit haben, falls ich das Halsband nicht zurückbekomme.«
»Aber es muß dir gelingen, und du schaffst es auch!« rief Jennie. »Ich weiß, wie klug und geschickt du bist, obwohl du niemals über deine Arbeit sprichst. Meine Freundin Eileen, deren Mann im Außenministerium tätig ist, sagte mir, wie sehr dich alle schätzen. Sie trauen dir zu, Wunder zu vollbringen, wenn die Botschafter versagt haben.«
»Deine Freundin sollte nicht so indiskret sein«, bemerkte Lord Mere.
»Aber es ist wahr. Und deshalb, liebster Ingram, wirst du mich auch retten. Ich bin viel wichtiger als deine Könige und Königinnen, denen du schon geholfen hast.«
»Ich bezweifle, daß sie dir zustimmen würden«, entgegnete Lord Mere. »Aber ich werde mein Bestes tun, Jennie. Und während ich nach Florenz reise, wirst du für meinen Erfolg beten.«
»Ich werde inständig beten!« versprach Jennie. »Und wenn du mir das Halsband tatsächlich zurückbringst, werde ich dem heiligen Antonius, oder wer immer auch der Heilige für gestohlene Güter ist, ein riesiges Dankopfer darbringen.«
Lord Mere lachte.
»Wir brauchen wahrlich den Schutz aller Heiligen. Denn wenn der Prinz dein Halsband gestohlen hat, muß er einen triftigen Grund dafür gehabt haben. Ich bin sicher, er wird mir diesen nur unter äußerstem Druck verraten.«
Nachdem seine Schwester ihm überschwenglich gedankt und beteuert hatte, ihr ganzes künftiges Glück hänge von ihm ab, verabschiedete sie sich, und Lord Mere ließ seinen Sekretär kommen.
Er befahl Mr. Barrington, die Reisevorbereitungen zu treffen und alle Termine abzusagen, die er für die nächsten Tage vereinbart hatte. Dann ging er in sein Schlafzimmer hinauf, um mit seinem Kammerdiener zu sprechen.
Als er die Schublade seiner Kommode aufzog, mußte er unwillkürlich an die Worte denken, die er zu seiner Schwester gesagt hatte. ,Nur unter äußerstem Druck!'
Er nahm den kleinen Revolver, den er eigens hatte anfertigen lassen, aus einem Etui. Die Waffe war kleiner als das übliche Modell und so neu, daß nur wenige Menschen eine solche besaßen.
Lord Mere legte den Revolver bereit, damit er zusammen mit einem Vorrat dazu passender Patronen in seinen Koffer gepackt wurde.
Dann suchte er weiter in der Schublade und fand einen scharfen Dolch, nicht unähnlich einem Stilett, dessen glänzende Klinge in einer Scheide steckte. Er konnte ihn an seiner Taille oder notfalls sogar in einem Strumpf verstecken.
Lord Mere dachte daran, wie nützlich und was für ein wertvoller Schutz dieser Dolch bei anderen Gelegenheiten gewesen war. Er hoffte jedoch, die Waffen nicht benützen zu müssen, obwohl er das Gefühl hatte, daß er sich wieder einmal auf ein gewagtes Abenteuer einließ. Der Himmel wußte, was ihn in Florenz erwartete.
Sein Sekretär traf alle Vorbereitungen für ihn, damit er rechtzeitig den Zug erreichte, der London um die Mittagszeit verließ und Anschluß zum Dampfer nach Calais hatte. Bis dahin blieb nur kurze Zeit, aber Mr. Barrington war es gewöhnt, rasch zu handeln, wenn es um seinen Herrn ging.
Lord Mere wußte, daß wie durch Zauberhand ein Abteil im Zug nach Dover für ihn reserviert war. Auf dem Schiff würde ihm die beste Kabine zur Verfügung stehen, und ein Reisebegleiter würde für ihn jeweils ein Coupé in den Expreßzügen nach Florenz besorgen.
Lord Mere verließ sein Haus jedoch früher, als es notwendig gewesen wäre, um seinen Zug im Viktoria-Bahnhof zu erreichen.
Seine Londoner Kutsche, die von zwei herrlichen Pferden gezogen wurde, brachte ihn rasch zum Auswärtigen Amt, wo er darum bat, den Außenminister sprechen zu dürfen.
Er wurde sofort in das Büro des Earl of Rosebery geführt, der sich freute, ihn zu sehen.
»Mein lieber Mere, das ist eine Überraschung!« rief er. »Sie lassen sich gewöhnlich nicht herab, mich zu besuchen. Normalerweise bin ich es, der flehentliche Nachrichten an Sie schickt und um Ihr Erscheinen bittet.«
»Sie sind sarkastisch, Mylord. Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Meine Hilfe?« rief der Außenminister. »Das ist wirklich einmal etwas anderes, da ich sonst um die Ihre bitte.«
»Sie haben recht, und ich hoffe, Sie lassen mich nicht im Stich.«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Erzählen Sie mir, was Sie über den Fürsten di Sogino wissen.«
Der Außenminister sah ihn überrascht an.
»Ist das alles?«
»Für den Augenblick, ja.«
»Es würde mich interessieren, weshalb Sie das wissen wollen.«
»Verzeihen Sie mir, wenn ich es verschweige, aber ich brauche Ihre Information.«
Der Außenminister läutete eine Glocke, und als ein Sekretär erschien, befahl er: »Bringen Sie mir die florentinische Akte.«
Es dauerte nur wenige Minuten, bis ein großer Aktenordner vor den Außenminister auf den Tisch gelegt wurde. Er blätterte einige Seiten um, bis er fand, was er suchte.
»Die Soginos sind, wie Sie sicher wissen, eines der bedeutendsten Geschlechter von Florenz. Der Fürst, das Oberhaupt der Familie, kann seine Ahnen bis ins elfte Jahrhundert zurückverfolgen. Er legt großen Wert darauf, daß man dies nicht vergißt.«
Lord Mere lächelte, und der Earl fuhr fort: »Ich habe hier einen Bericht, der Sie aber höchstwahrscheinlich nicht interessieren wird. Er betrifft eine Fehde, die seit Jahren, man könnte fast sagen, seit Jahrhunderten, zwischen den Soginos und ihren erbittertsten Feinden, den Gorizias, herrscht.« Er blätterte ein paar Seiten weiter. Dann sagte er: »In letzter Zeit gerieten die Soginos in große finanzielle Bedrängnis und mußten einen Teil ihrer Ländereien außerhalb von Florenz verkaufen. Dies hat den Fürsten sehr verbittert, und aus irgendeinem Grund, den ich nicht kenne, hat es die Fehde zwischen seiner Familie und den Gorizias geschürt.«
Es war eine für große italienische Geschlechter so typische Geschichte, daß Lord Mere dachte, sie stamme aus einem Roman. Sie schien ihm aber nicht bedeutsam zu sein, abgesehen davon, daß sich die Soginos in finanziellen Schwierigkeiten befanden. Aber auch das war nicht außergewöhnlich, deshalb fragte er: »Kennen Sie den ältesten Sohn, Prinz Antonio?«
»Ja, ich habe ihn mehrmals auf Empfängen getroffen. Und ich weiß, daß er immer, wenn er in London, Paris oder einer anderen Hauptstadt ist, eine ganze Reihe gebrochener Herzen zurückläßt.«
»Ist er verheiratet?«
»Er hat sehr jung geheiratet. Es war eine arrangierte Ehe, aber ich weiß nicht, ob seine Frau noch lebt. Es gibt in meinen Unterlagen keine Aufzeichnungen über ihren Tod, aber das besagt nichts.« Der Earl of Rosebery lehnte sich in seinem Sessel zurück und fragte: »Sagen Sie mir, Mere, warum interessieren Sie sich dafür?«
Lord Mere lächelte, und der Außenminister rief: »Zum Teufel mit Ihrer Geheimniskrämerei! Aber wenn Sie auf eigene Faust Nachforschungen über die Soginos anstellen, können Sie auch etwas für mich tun.«
Fragend sah Lord Mere den Earl an, und dieser erklärte: »Ich habe das Gefühl, daß Fürst di Sogino und seine Familie irgendwie in subversive Tätigkeiten gegen die italienische Monarchie verwickelt sind. Ich kann mich täuschen, aber ich habe ein paar Dinge gehört, die nicht zusammenpassen, mir aber im Gedächtnis geblieben sind wie eine unvollendete Symphonie.«
»Vielen Dank für Ihre Auskunft.« Lord Mere stand auf. »Sie wissen, wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein kann, werde ich mein Bestes tun.«
»Um nichts anderes bitte ich Sie. Ihr Bestes ist wesentlich mehr als die Höchstleistungen irgendwelcher anderer Leute.«
Lord Mere lachte.
»Sie schmeicheln mir.«
»Ich bereite Sie nur auf die italienische Art der Schmeichelei vor, die ebenso überzeugend sein kann wie die irische und viel gefährlicher als das, was wir Engländer ,frei heraus reden' nennen.« Der Außenminister schüttelte Lord Mere die Hand. »Geben Sie auf sich acht! Sie wissen, wie wertvoll Sie für uns sind, und wir können es uns nicht erlauben, Sie zu verlieren.«
Beide lachten, als sie zusammen zur Tür gingen. Der Earl legte eine Hand auf Lord Meres Schulter. »Ich glaube, ich sollte Ihnen die Warnung mitgeben, die ich jedem erteile, den ich nach Italien schicke. Hüten Sie sich vor ausdrucksvollen dunklen Augen und vor einem Stilett!«
Lord Mere grinste.
»Ich verspreche Ihnen, daß ich daran denken werde.«
Er ging rasch die Korridore des Außenministeriums entlang zu dem Ausgang, vor dem seine Kutsche wartete.