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1 ~ 1894
ОглавлениеDer Marquis von Oakenshaw gähnte, denn die Luft in St. James’ Palace war stickig, und das Levee zog sich länger als gewöhnlich hin.
Der Prinz von Wales war in gelöster Stimmung und sprach daher nahezu mit jedem ein paar Worte, der ihm vorgestellt wurde. Immer wieder hallte sein Lachen durch das Empfangszimmer mit der niedrigen Decke.
Der Marquis, der das alles schon oft erlebt hatte, war nicht sonderlich beeindruckt von dem Pomp und dem prachtvollen Aussehen der anwesenden Soldaten, Marinesoldaten, Diplomaten und Minister.
Da sich der Tag für die Jahreszeit, es war Januar, ungewöhnlich sonnig zeigte, dachte er daran, wie viel lieber er jetzt auf dem Lande mit einem seiner feurigen Pferde durch den Park reiten oder auf seiner privaten Rennstrecke mit einigen seiner engsten Freunde ein Pferderennen veranstalten würde.
Er war so tief in seine Gedanken versunken, daß er auffuhr, als das Levee beendet war und der Prinz von Wales auf die Tür zuging.
Der Marquis eilte an seine Seite und stellte dabei beiläufig fest, der Prinz werde jedes Jahr beleibter; zweifellos würden die von ihm so genannten »Phantasiekleider« in Kürze ersetzt oder weiter gemacht werden müssen.
Der Marquis war hingegen ganz anders.
Da er gern flott ritt und auf seinen eigenen Tieren dem Pferdesport huldigte, so oft er konnte, achtete er auf sein Gewicht.
Das bedeutete Zurückhaltung bei den üppigen Mahlzeiten, die in Marlborough House und von jeder Gastgeberin serviert wurden, die den Prinzen von Wales mit seinem Gefolge bewirten wollte.
Während der Marquis erneut ein Gähnen unterdrückte, dachte er, daß ihn Mahlzeiten, die sich in die Länge zogen, genauso langweilten wie ausgedehnte Levees und andere Verpflichtungen bei Hofe.
Es fiel ihm daher schwer, Begeisterung zu heucheln, als der Prinz sich an ihn wandte: »Ich hoffe, Vivien, daß Sie heute abend mit mir dinieren werden. Die Prinzessin ist auf Reisen, und ich freue mich nicht nur auf ein Dinner unter alten Freunden, sondern auch darauf, daß wir uns später bei glitzerndem Licht amüsieren werden.«
Der Marquis wußte, was das bedeutete. Sie würden zu irgendeinem dieser Theaterfeste gehen, die der Prinz so sehr liebte, und der Abend würde zweifellos in einem der Freudenhäuser enden, wo man sie mit offenen Armen empfing.
Fast verdrießlich mußte er sich eingestehen, daß er für solche Frivolitäten zu alt sei - und der Prinz ebenfalls.
Doch Seine Königliche Hoheit genoß noch immer mit der Begeisterung eines jungen Leutnants den Glanz und Flitter der Bühne und den sogenannten Zauber der »Damen der Stadt«.
»Das hört sich prächtig an, Sire«, antwortete der Marquis dennoch.
Der Prinz lachte stillvergnügt vor sich hin, während sie die alte Eichentreppe des Palastes hinunter gingen, die seit mehr als vier Jahrhunderten von königlichen Hoheiten ausgetreten wurde.
Eine Kutsche wartete im Hof, um den Prinzen zum ganz in der Nähe gelegenen Marlborough House zu bringen.
Bei der Abfahrt verneigten sich der Marquis und die anderen Höflinge, Staatsmänner und Oberstallmeister, die ihn begleitet hatten, wie es einer Königlichen Hoheit zukommt; die Spannung wich erst von ihnen, als der Thronfolger außer Sicht war.
»So, das hätten wir«, sagte einer der Kämmerer zum Marquis. »Jetzt kann ich Gott sei Dank diese unbequeme Uniform ausziehen.«
»Dasselbe habe ich auch vor«, antwortete ihm der Marquis.
Er wandte sich ab und ging auf seine eigene Kutsche zu, die ihn erwartete, als der Kämmerer noch sagte: »Ach, übrigens, Oakenshaw, das hätte ich beinahe vergessen. Der Außenminister läßt fragen, ob Sie ihn vor dem Lunch im Außenministerium aufsuchen können.«
»In welcher Angelegenheit?« fragte der Marquis in wenig freundlichem Ton.
»Ich habe keine Ahnung«, war die Antwort, »doch da ich Seine Lordschaft kenne, nehme ich an, er möchte etwas von Ihnen erledigt haben - am liebsten gestern.«
Der Marquis lachte kurz auf, doch es klang nicht sehr heiter.
Er war sich durchaus darüber im Klaren, daß Lord Rosebery mit seinen Fähigkeiten, seinem Rang und seinem Reichtum auch ohne den Elan und den regen Verstand, die ihn in vieler Hinsicht bemerkenswert machten, ein mächtiger Mann geworden wäre.
Mr. Gladstone hatte ihn einmal als »Mann der Zukunft« bezeichnet.
Als er auf den Posten des Außenministers befördert wurde, hatte seine Redegabe ihm viele Bewunderer und große Popularität im Lande eingetragen.
Noch beliebter machte ihn zudem die Tatsache, daß er einen fabelhaften Rennstall besaß und seine Pferde ständig gewannen.
Der wesentlich jüngere Marquis von Oakenshaw zählte zu seinen engen Freunden; das war nicht überraschend, denn sie hatten beide einen Sinn für Humor, der sie befähigte, nicht nur über ihre Zeitgenossen, sondern auch über sich selbst zu lachen.
Während zwei herrliche Pferde seine Kutsche rasch und mühelos zum Außenministerium brachten, fragte sich der Marquis, warum wohl Lord Rosebery, mit dem er doch erst vor wenigen Tagen diniert hatte, ihn in solcher Eile schon wieder sehen wollte.
Er wäre nur zu gern zuerst in sein Haus am Grosvenor Square gefahren, um sich umzukleiden. Wenn Lord Rosebery ihm jedoch ausrichten ließ, er brauche ihn dringend, konnte er ihn natürlich nicht warten lassen.
Als die Kutsche vor dem Außenministerium vorfuhr, eilte einer der Privatsekretäre von Lord Rosebery die Stufen hinab, um den Marquis zu begrüßen.
»Guten Morgen, Mylord. Der Außenminister wird sehr dankbar sein, daß Sie so schnell kommen konnten.«
»Guten Morgen, Cunningham«, sagte der Marquis, der den jungen Mann schon vorher einmal kennengelernt hatte. »Warum eine solche Aufregung?«
»Ich glaube, das möchte Seine Lordschaft Ihnen selbst mitteilen«, erwiderte Mr. Cunningham.
Er führte den Marquis durch die hohen Gänge, öffnete beinahe errötend die Tür zum Büro seines Chefs und meldete: »Der Marquis von Oakenshaw, Mylord.«
Mit einem freudigen Ausruf stand Lord Rosebery auf, als der Marquis eintrat.
»Danke, daß Sie gleich gekommen sind, Vivien«, sagte er. »Ich muß sagen, Sie sehen prachtvoll aus. Wie war das Levee?«
»Eher noch langweiliger als gewöhnlich«, antwortete der Marquis.
Er nahm gemäß der Etikette in einem Sessel gegenüber dem Schreibtisch Platz; Lord Rosebery setzte sich ebenfalls und begann: »Danke, daß Sie gekommen sind. Stanhope hat Ihnen sicher gesagt, daß die Sache dringend ist.«
»Was ist denn passiert?« fragte der Marquis. »Ist in Europa der Krieg ausgebrochen, oder sind die Russen in Indien eingedrungen?«
»So schlimm steht es zwar nicht«, erwiderte Lord Rosebery lächelnd, »aber ich brauche Ihre Hilfe in Siam.«
»Siam?« rief der Marquis verwundert. »Ich dachte, die Schwierigkeiten dort seien beigelegt.«
»Sie sind es ja auch - oder sollten es bald sein«, gab Lord Rosebery zurück. »Aber ich brauche Sie für einen Besuch in Bangkok im Rahmen eines Gefälligkeitsbesuches in unserem Interesse.«
Der Marquis warf den Kopf zurück und lachte.
»Eines muß man Ihnen lassen, Archibald, Sie sind immer voller Überraschungen. Ich hätte eher erwartet, daß Sie mich nach Paris oder Kairo schicken wollen, aber doch nicht nach Siam.«
Lord Rosebery setzte sich bequemer in seinem Sessel hinter dem Schreibtisch zurecht, und seine Augen zwinkerten, als er sagte: »Ich will Ihnen keine unnötigen Ungelegenheiten bereiten. Ich dachte mir, Ihre Yacht, die zweifellos mangels Seefahrt schon Muscheln ansetzt, wäre vielleicht ein bequemes Reisegefährt, und Sie könnten im Fluß ankern, wie es die Franzosen voriges Jahr mit ihren Kanonenbooten ja auch getan haben.«
»Davon habe ich wohl gehört«, antwortete der Marquis, »und sie haben auch ein schönes Durcheinander damit angerichtet. Soviel ich weiß, beruhigte sich die Lage erst, nachdem wir unsererseits ein paar Kriegsschiffe in die Nähe geschickt hatten.«
»Stimmt«, bestätigte Lord Rosebery. »Ich hätte mir denken können, daß Sie wie stets gut informiert sind.«
Er schwieg für einen Augenblick und sah nachdenklich den gutaussehenden jungen Mann an, der ihm gegenübersaß. Ohne merklichen Übergang fragte er plötzlich: »Warum spielen Sie mit Ihrem Verstand und Ihrer Weltkenntnis keine größere Rolle in der Politik? Wir brauchen Leute wie Sie.«
Der Marquis lächelte, so daß der gelangweilte Ausdruck von seinem Gesicht verschwand.
»Die Ursache dafür liegt vermutlich darin, daß die hochtrabenden Reden im Oberhaus ebenso langweilig sind wie die Leute, von denen sie gehalten werden.«
Lord Rosebery lachte über den Scherz.
»Nun gut, ich will Sie nicht zu irgendeiner Tätigkeit im Parlament treiben, wenn Sie mir, wie früher schon, auch außerhalb des Parlaments zu helfen verstehen.«
»Wollen Sie wirklich, daß ich gerade jetzt nach Siam reise?«
»Wenn Ihnen eine solche Fahrt so ungelegen kommt«, erwiderte Lord Rosebery, »kann ich mir bestens vorstellen, weshalb dieses Unternehmen Ihnen widerstrebt. - Ist sie sehr verführerisch?«
»Ja, durchaus.«
Dabei dachte er daran, daß Lady Bradwell, die gerade in sein Leben getreten war, anders war als alle Frauen, die er vor ihr gekannt hatte - zumindest glaubte und hoffte er das.
Die zahlreichen Liebesaffären des Marquis, allesamt feurig und leidenschaftlich, dauerten indes nie lange, weil ihn ihre Gleichartigkeit unweigerlich langweilte.
Mit seinen 33 Jahren war er noch immer unverheiratet, und zwar aus dem einfachen Grund, daß er noch nie eine Frau getroffen hatte, die immer um sich zu haben er ernstlich hätte in Erwägung ziehen wollen.
Bei den meisten seiner affaires de coeur war deshalb von Heirat keine Rede.
Er hatte festgestellt, daß sogar die verlockenden, geistreichen und gefeierten Schönheiten, die mit schmeichelhafter Bereitwilligkeit in sein Leben traten, bereits nach kurzer Weile einander in ihren Ansichten und ihrer Konversation ihm so ähnlich schienen, daß sie ihn nur zu bald zum Gähnen brachten.
»Großer Gott, Vivien«, hatte sein engster Freund Harry Prestwood erst vor einer Woche zu ihm gesagt, »was zum Teufel erwartest du eigentlich vom Leben? Wonach suchst du? Und, da wir gerade dabei sind, was hat dir eigentlich Daisy getan?«
Er sprach von einer Dame, die man einhellig als größte Schönheit des Jahrhunderts bezeichnete und die, wie so viele Frauen vor ihr, an den Marquis zuerst ihr Herz und dann auch all ihr Denken verloren hatte.
Die Gräfin besaß einen langmütigen Gatten, der das Leben auf dem Lande dem Aufenthalt in der Stadt London vorzog und nach zehnjähriger Ehe die privaten Vergnügungen seiner Frau geflissentlich übersah, solange sie in der Öffentlichkeit die Würde seines Namens nicht verletzte.
Der Marquis hatte bereits einen Ruf der Liederlichkeit, der besser in die Regierungszeit Georgs IV. gepaßt hätte als in die der Königin Viktoria; daher begann der Klatsch schon, wenn eine Frau auch nur mit ihm gesehen wurde.
Er hatte sich jedoch sehr bemüht, in Bezug auf Daisy umsichtig zu sein, und zwar aus dem einfachen Grunde, daß sie beide bekannte Persönlichkeiten waren und ihre Verbindung daher bei Bekanntwerden auf jeden Fall Sensation machen mußte.
Doch Daisy verliebte sich immer offenbarer in ihn, und man begann schon, über sie beide zu tuscheln. Weil dem Marquis aber die Anspielungen seiner Freunde und die abfälligen Bemerkungen der Klatschkolumnisten mißfielen, machte er der Affäre kurz entschlossen ein Ende.
Wenn er wollte, konnte er sehr rücksichtslos und verletzend sein: Hatte er einmal eine Entscheidung getroffen, so konnten ihn keine Tränen und keine Vorwürfe mehr davon abbringen.
»Wie kannst du mir das antun?« hatte Daisy geweint, als er ihr sagte, er halte es für besser, daß sie einander nicht mehr so oft sähen.
»Ich fürchte, es gibt keine andere Möglichkeit«, antwortete der Marquis.
»Ich liebe dich aber«, sagte Daisy, »ich bete dich sogar an. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß ich jemals einen Mann so lieben könnte, wie ich dich liebe.«
»Das ist zwar überaus schmeichelhaft«, antwortete der Marquis, »aber du kannst es dir nicht leisten, deinen Ruf zu schädigen, weder in der Öffentlichkeit noch in Marlborough House.«
Daisy erstarrte für einen Augenblick, und ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen; sie sah den Marquis so ungläubig an, als ob sie bezweifelte, daß er die Wahrheit sage.
»Was hat Marlborough House damit zu tun?« fragte sie. »Der Kronprinz würde nie etwas gegen mich sagen, das weißt du sehr gut.«
»Gestern abend beim Dinner fragte mich die Prinzessin recht spitz, wann dein Mann denn wohl nach London zurückkehre«, antwortete der Marquis.
Daisy verstummte darauf.
Sie wußte genau, daß es gesellschaftlich verheerend wäre, sich die Prinzessin zur Feindin zu machen; sie hielt es zwar für unwahrscheinlich, daß die schöne Alexandra ihre erklärte Feindin werden würde, doch sie war auch nie so freundlich zu ihr gewesen, wie Daisy sich das gewünscht hätte.
Als wüßte er, daß er in einem wichtigen Punkt gesiegt habe, sagte der Marquis ruhig: »Ich möchte dir danken, Daisy, für das Glück, das du mir geschenkt hast; ich hoffe daher, wir werden immer Freunde bleiben.«
Noch während er sprach, spürte er, daß sich seine Worte übertrieben anhörten, doch er konnte nicht anders.
In Wahrheit ging es ihm nicht so sehr um Daisys Ruf wie vielmehr um die Tatsache, daß sie ihn nicht mehr so fesselte wie am Anfang.
Er konnte nicht verstehen, warum sich bereits nach sehr kurzer Zeit jede Frau, für die er sich interessierte, in ihren Reden nur noch zu wiederholen schien, bis er jedes Wort, das über ihre Lippen kommen würde, schon vorher kannte.
Er wünschte sich keine allzu gescheite Frau - Gott behüte -, denn nichts brachte ihn mehr auf als Blaustrümpfe.
Daisy konnte zwar seinen Körper in Flammen setzen, doch gleichzeitig ärgerte seinen Verstand die Banalität dessen, was sie sagte, auch wenn diese Worte aus einem Mund mit zwei üppig geschwungenen Lippen kamen.
»Hol’s der Teufel«, hatte er zu Harry gesagt, und zwar nicht nur einmal, sondern viele Male, »ich werde eben nie heiraten!«
»Natürlich wirst du es einmal müssen«, antwortete Harry. »Du mußt schließlich einen Erben haben, und, offen gesagt, würde es der Gastfreundschaft auf deinem Schloß guttun, wenn am Ende der Tafel eine Hausherrin säße.«
Der Marquis hätte nicht aufgebrachter sein können, wenn Harry eine Bombe unter seinen Füßen gezündet hätte.
»Willst du damit etwa sagen«, fragte er, »daß ich kein guter Gastgeber bin?«
»Niemand könnte ein besserer sein«, antwortete Harry, »aber bei deinen Einladungen - und die könnten bei niemandem wohl großzügiger sein - wirkt es irgendwie unausgewogen, daß nicht am anderen Ende der Tafel eine schöne Frau sitzt und die Oakenshaw-Diamanten trägt, die sie auch bei der Zeremonie zur Parlamentseröffnung tragen würde.«
Der Marquis lachte aus vollem Hals.
»Du redest genau wie meine Mutter«, sagte er.
Gleichzeitig wußte er aber, daß Harry recht hatte.
Es wurde von ihm erwartet und war unvermeidlich, daß er schließlich eine Frau nähme, die als Herrin im Schloß, in London und in seinen anderen Häusern in verschiedenen Teilen des Landes auftreten und außerdem bei Hofe den ihr zustehenden Platz neben ihm einnehmen würde.
Dann dachte er an die Langeweile, die er zu ertragen hätte, wenn er sich das Geschwätz irgendeines jungen Mädchens beim Frühstück, beim Mittagessen und auch noch beim abendlichen Dinner anhören müßte, und zwar in dem entsetzlichen Bewußtsein, dies würde unverändert für den Rest seines Lebens so bleiben.
»Ich kann und werde es nicht tun«, sagte er sich.
Nachdem er sich Daisy erfolgreich vom Halse geschafft und ihr in seiner üblichen Großzügigkeit diese Kränkung mit einem außerordentlich teuren Geschenk in Form eines Diamanten versüßt hatte, sah er sich nach einer neuen Augenweide um.
Er hatte noch niemanden diesbezüglich gefunden, bis er letzte Woche bei der Dinnerparty eines Abgeordneten, den er gewöhnlich ignorierte, Tischnachbar einer Dame gewesen war, die er nie zuvor gesehen hatte: Es war Lady Bradwell.
Sie war schön, aber das verstand sich von selbst; er wußte genau, daß man sie sonst nicht neben ihn gesetzt hätte.
Doch sie war insofern ungewöhnlich, als ihre Schönheit von dem Zirkel in Marlborough House nie zuvor erblickt oder sonst wie gewürdigt worden war.
»Wo haben Sie sich bisher versteckt?« erkundigte sich der Marquis.
»Ich war in Paris«, antwortete sie, »und ein Jahr lang in Trauer.«
»Das erklärt alles.«
Er meinte, das erkläre nicht nur, daß er sie noch nicht kennengelernt hatte, sondern auch ihre außerordentlich elegante Kleidung und die Art, wie sie sprach und seine kühneren Avancen mit einer Gewandtheit parierte,, die den meisten englischen Damen fehlte.
Nach Beendigung des Dinners war der Marquis sichtlich fasziniert.
Zwei Tage später machte er sich auf eine Verfolgung, die, wie er aus Erfahrung wußte, nicht lange dauern würde und deren Ausgang unzweifelhaft war.
Der Marquis war nicht übermäßig eitel, er hätte sich jedoch als extrem stumpf erwiesen, wenn es ihm nicht aufgefallen wäre, daß jede Frau, auf die er einen Blick warf, stets und sofort bereit war, sich seinen Wünschen zu fügen, und ihm jenen, zur Rettung ihres Stolzes nur gespielten Widerstand entgegensetzte.
Lady Bradwell jedoch hatte ihn nicht nur fasziniert, sondern es auch fertiggebracht, ihn mit einer Klugheit, auf die er nicht gefaßt war, im Ungewissen zu lassen.
Mit anderen Worten: Der Marquis hatte sein Ziel noch nicht erreicht, so daß er, obwohl der Ausgang der Angelegenheit unzweifelhaft war, gleichwohl keineswegs den Wunsch hegte, gerade jetzt ins Ausland zu fahren.
Plötzlich fiel ihm ein, daß Lady Bradwell ja keinen Gatten hatte und es daher nicht schwer wäre, sie vielleicht zu überreden - natürlich mit einer angemessenen Anstandsdame -, ihn auf die Reise zu begleiten.
Deshalb stellte er an den Außenminister die Frage: »Wann soll ich mich zu dem aufmachen, was Sie als Gefälligkeitsbesuch bezeichnen, Archibald? Was genau wird von mir erwartet?«
Am Lächeln auf dem Gesicht des Außenministers und seinem Augenzwinkern sah er, daß Lord Rosebery nicht nur über seine Zusage entzückt war, sondern auch den Grund dafür mehr oder weniger erriet.
»Die Antwort auf Ihre erste Frage lautet: so bald wie möglich«, teilte er ihm mit. »Und was die zweite Frage betrifft - da Sie ja wissen, was in Siam geschehen ist, brauche ich Ihnen nicht zu erklären, daß Sie das Unbehagen des Königs wegen der englisch-französischen Übereinkunft vom vorigen Jahr beschwichtigen sollen.«
Er lächelte, als er fortfuhr: »Sie müssen Seine Majestät davon überzeugen, daß es seinem Land nicht schaden, sondern im Gegenteil seine Unabhängigkeit vielmehr sichern wird.«
»Das soll heißen«, bemerkte der Marquis, »daß die Kolonialmächte, die Briten in Burma und die Franzosen in Laos, Siam als Pufferstaat entwickeln möchten.«
»Genau«, stimmte der Außenminister zu. »Aber nach all den Unannehmlichkeiten der letzten Zeit - insbesondere durch die Franzosen —, zeigt sich König Chulalongkorn natürlich nervös und hegt gewisse Befürchtungen für die Zukunft.«
»Ich hoffe, daß er nicht allzu sehr seinen Zweifeln freien Lauf läßt«, bemerkte der Marquis. »Ich war schließlich immer mit Ihnen der Meinung, daß Chulalongkorn einer der großen Könige unseres Zeitalters ist und sicherlich in die Geschichte eingehen wird.«
Der Außenminister nickte.
Beide Männer erinnerten sich daran, wie der König seine Herrschaft mit der Erklärung begonnen hatte, die Kinder von Sklaven sollten zu freien Menschen werden, und seither seine Untertanen allmählich von der Sklaverei befreit hatte.
Er hatte ein modernes Postsystem eingeführt, Eisenbahnlinien gebaut und regionale Feudalherren, die viel zu sehr ihre Macht genossen, durch zentral eingesetzte Gouverneure ersetzt, die nur direkt dem Thron verantwortlich waren.
Als der Marquis einige Jahre zuvor Siam besucht hatte, war er damals überaus beeindruckt vom König und dessen Reformen gewesen, vor allem, als Seine Majestät ihm persönlich gesagt hatte: »Alle Kinder, von meinen eigenen bis zu den ärmsten, werden die gleichen Bildungschancen haben.«
König Chulalongkorn war entschlossen, Siam nicht einfach zu einer westlich orientierten Kolonie zu machen; eines der Mittel, das zu vermeiden, bestand darin, den Weg zum Fortschritt selbst und ohne fremde Hilfe einzuschlagen.
Da Großbritannien zur gleichen Zeit die gesamte Kontrolle über Burma hatte, beunruhigten ihn berechtigterweise der Machtzuwachs und der Einfluß der Franzosen in Indochina.
Im vorigen Jahr hatte es ärgerliche Zwischenfälle gegeben, als zwei französische Kanonenboote auf dem Weg nach Bangkok bei der Einfahrt in den Chiapana-Fluß die Thai-Festungen beschossen hatten.
Beide Seiten hatten Verluste erlitten, inzwischen sollten sich aber alle Feindseligkeiten gelegt haben.
»Sie«, sagte der Außenminister, »sollen dem König klarmachen, daß Großbritannien wirkliche Anstrengungen zur Freundschaft macht, und ich kenne niemanden, Vivien, der dafür besser geeignet wäre als Sie.«
»Sie schmeicheln mir«, sagte der Marquis, »aber ich weiß genau, daß Sie das nur tun, um Ihren Willen durchzusetzen.«
Er seufzte unüberhörbar.
»Nun gut, ich werde reisen, aber nur, wenn Sie mir zusichern, daß ich unterhaltsame Gesellschaft mitnehmen kann.«
»Was Sie mir zu verstehen geben wollen«, bemerkte Lord Rosebery, »bedeutet nichts anderes, als daß Ihre Mission davon abhängt, ob der augenblickliche Gegenstand Ihrer unbeständigen Herzensneigung Ihre Einladung annimmt.« Er machte eine Pause, ehe er hinzufügte: »Ich kenne Sie schon lange, Vivien, und habe noch nie erlebt, daß irgendeine Frau Sie abgewiesen hätte.«
»Es gibt für jeden ein erstes Mal.«
»Sorgen Sie dafür, daß es nicht bei dieser Gelegenheit ist.«
Lord Rosebery fuhr beim Aufstehen fort.
»Ich werde zu einem Treffen erwartet. Können Sie morgen mit mir zu Mittag essen? Dann kann ich Ihnen mehr über die Lage in Siam berichten und Ihnen auch Briefe an den König und an unseren Gesandten und Generalkonsul in Bangkok geben, Captain Henry Michael Jones, der zudem Träger des Victoria Cross ist.«
»Ich habe das seltsam unbehagliche Gefühl, daß Sie mich in dieser Sache unter Druck gesetzt haben«, antwortete der Marquis. »Wenn irgendetwas schief geht, Archibald, schwöre ich, daß dies das letzte Mal ist, daß ich mich einem Ihrer Vorschläge beuge; als Sie früher Außenminister waren, hat mich das in Teile der Welt geführt, deren Kennenlernen mich nicht besonders begeistert hat.«
»Unsinn!« antwortete Lord Rosebery. »Sie wissen genauso gut wie ich, daß Sie sich freuen werden, von den Intrigen in Marlborough House und den endlosen Essen wegzukommen, derer Sie oft schon allzu überdrüssig waren. Und wer weiß - in neuen Weidegründen finden Sie vielleicht die seltene Orchidee, oder war es ein Stern - das Ziel Ihrer geheimen Suche und Wünsche?«
Der Marquis starrte ihn ungläubig an.
»Wer sagt, daß ich nach irgendetwas suche?«
»Natürlich tun Sie das«, antwortete Lord Rosebery. »Mit Ihrem Aussehen, Vivien, Ihrer Position und Ihrem Reichtum haben Sie alles, außer dem, was für einen Mann das Wichtigste ist.«
»Und was ist das?« fragte der Marquis mit gereizter Stimme, da er die Antwort schon im voraus kannte.
»Liebe«, antwortete Lord Rosebery.
Der Marquis wollte gerade einwenden, das sei das letzte, was er sich wünsche, und er komme sehr gut ohne zurecht, da fiel ihm ein, daß Lord Rosebery erst vor vier Jahren seine Frau verloren hatte; alle seine Freunde wußten, was für ein einsamer und unglücklicher Mann er seither gewesen war.
Er besann sich daher anders und bemerkte nur leichthin: »Mir hat man immer gesagt, daß der am schnellsten reist, der allein reist.«
»Eine etwas abgedroschene Bemerkung für Sie, Vivien«, sagte Lord Rosebery trocken, »obwohl es natürlich darauf ankommt, auf welcher Art von Reise Sie sich befinden.«
Der Marquis würdigte die feinsinnige Anspielung der Bemerkung, da der Außenminister ihn oft genug gebeten hatte, seine ungewöhnlichen und glänzenden Gaben auf seriösere Weise zu benutzen als in seinen augenblicklichen Amouren.
Nach einem kurzen Schweigen griff der Außenminister das vorige Thema auf: »Wenn Sie zurückkommen, habe ich einen ernsthafteren Vorschlag mit Ihnen zu besprechen.«
Der Marquis hob fragend die Brauen: »Was kann das sein?«
»Das werde ich Ihnen jetzt nicht erläutern«, antwortete Lord Rosebery, »aber ich habe es bereits Seiner Majestät gegenüber erwähnt, und ihm gefällt der Vorschlag sehr.«
»Ich vermute«, sagte der Marquis langsam, »daß Sie an einen Gouverneurs Posten denken?«
»Vielleicht etwas Höheres. Kommen Sie auf jeden Fall rasch zurück - ich möchte nicht, daß Sie zu lange draußen in der Wildnis sind.«
Der Marquis erhob sich.
»Ich werde morgen mit Ihnen zu Mittag essen, Archibald«, sagte er, »und Sie täten gut daran, mich zu überzeugen, daß meine Reise wirklich notwendig ist, sonst bin ich durchaus imstande, noch im letzten Moment abzusagen.«
»Sie haben mich noch nie im Stich gelassen«, antwortete der Außenminister, »und ich wünschte mir wirklich, ich hätte die Zeit, Sie zu begleiten. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich nicht zögern, auf eine Entdeckungsreise zu gehen, die mich vielleicht zu meinem Goldenen Vlies führen könnte.«
Beim Durchqueren des Arbeitszimmers legte Lord Rosebery die Hand auf die Schulter des jüngeren Mannes.
»Ich bin ganz sicher, Vivien, sie wird Ihre Einladung begierig annehmen - tatsächlich nur zu begierig! Hoffen wir nur, daß sie Sie zumindest so lange zu unterhalten versteht, bis Sie zurückkommen.«
»Ihre Unverfrorenheit verblüfft mich!« rief der Marquis aus.
Beide Männer lachten, als sie aus dem Büro des Außenministers in den Flur traten.
Tarina Worthington läutete die Glocke am Haus von Belgrave Square und wartete etwas nervös, bis die Tür von einem Lakaien in Livree geöffnet wurde.
Ein Butler trat vom hinteren Ende der Eingangshalle heran, als sie sagte: »Ich bin gekommen, um Lady Bradwell zu besuchen.«
»Haben Sie eine Verabredung mit ihr, Madam?«
»Leider nicht«, antwortete Tarina, »aber würden Sie ihr ausrichten, daß ihre Kusine, Miss Tarina Worthington, sie sehen möchte?«
»Natürlich, Miss.«
Das beinahe feindselige Verhalten des Butlers änderte sich, als Tarina das Wort »Kusine« aussprach; er schritt langsam auf das Morgenzimmer zu, öffnete die Tür und ließ sie eintreten.
»Ich werde meiner Herrin mitteilen, daß Sie hier sind, Miss«, sagte er.
Tarina sah sich in dem rechteckigen, hohen Raum um, der auf eine Art ausgestattet war, die mehr Wohlstand als guten Geschmack verriet, und erblickte ihre eigene Erscheinung in einem großen Spiegel.
Dabei wurde ihr bewußt, warum der Butler sie zuerst hatte abweisen wollen, statt sie einzulassen.
Das schwarze Kleid, das sie anläßlich des Todes ihres Vaters gekauft hatte, war damals schon sehr billig gewesen und sah jetzt in der Wintersonne schäbig aus.
Ihr Mantel, leider unentbehrlich bei einer Temperatur nur wenig über null Grad, war bereits fadenscheinig und hatte viele Jahre lang ihrer Mutter gehört.
Mit einem traurigen Lächeln gestand sie sich ein, daß ihre Erscheinung völlig heruntergekommen sei.
Sie hatte einfach nicht gewagt, viel Geld für Trauerkleidung auszugeben, weil all der Besitz, der über das nackte Überleben hinausging, aus der sehr kleinen Summe bestand, die nach der Beerdigung ihres Vaters auf der Bank noch übrigblieb.
»Wie hätte Papa auch überhaupt je etwas sparen können?« fragte Tarina sich verzweifelt.
Schon bevor sie alles verkaufte, was im Pfarrhaus ihr gehörte, hatte sie geahnt, daß sie nicht mehr als ein paar Pfund dafür bekommen würde.
Sie war nervös wegen des Besuchs bei ihrer Kusine, die sie seit zwei Jahren nicht gesehen hatte, und versuchte, ihren Hut zur besseren Wirkung in etwas anderer Weise aufzusetzen.
Weil sie während der ganzen Woche nicht die Zeit gehabt hatte, es zu waschen, hatte ihr Haar etwas von dem roten Glanz verloren, der, wie ihre Mutter zu sagen pflegte, von einer österreichischen Vorfahrin stammte.
»Es ist merkwürdig, Tarina«, hatte sie oftmals geäußert, »doch das rote Haar der Wienerin, das immer so sehr bewundert wurde, scheint in meiner Familie zwei Generationen zu überspringen und erst bei dir wieder aufzutauchen.«
»War meine Urgroßmutter sehr schön?« hatte Tarina gefragt.
»Das hat man immer erzählt«, antwortete ihre Mutter. »Und sie war außerordentlich begabt. Sie hatte eine herrliche Stimme; ihre Tagebücher verraten, daß sie bei Festen in Wien sehr gefragt war. Zweimal hat sie im Palast von Schönbrunn vor dem Kaiser Franz Joseph und der Kaiserin Elisabeth gesungen, die ebenfalls rotblondes Haar hatte.«
»Glaubst du, ich bekäme eine gute Stimme - wenn sie ausgebildet wäre?« fragte Tarina.
Ihre Mutter lächelte.
»Ich habe keine Ahnung, mein Liebling«, sagte sie. »In der Kirche singst du zwar zauberhaft, aber wir beide wissen, daß das nicht dasselbe ist wie die Fähigkeit, ein Publikum zu faszinieren.« Sie hielt inne, ehe sie fortfuhr: »Aber einer Sache kannst du ganz sicher sein: Papa und ich müssen uns einschränken und sparen, um die Stunden zu bezahlen, die du im Augenblick bekommst; weitere können wir uns gewiß nicht leisten.«
Tarina wußte, daß ihr rotes Haar, wenn sie glücklich war, zu strahlen schien; wenn sie sich dagegen unwohl oder bekümmert fühlte, verblaßte das Rot, und der Glanz sah stumpf aus, als spiegele er die Gefühle ihres Herzens wieder.
Im Augenblick sah man nur einen Hauch von Rot, aber ihre Haut war so schneeweiß wie immer, und im Sonnenlicht hatte sie fast etwas Durchscheinendes.
Ihre Augen in einer Tönung von Grün und Grau wirkten im Augenblick nur dunkel vor Angst und Sorge.
»Und falls Kusine Betty ... mich nicht empfängt?« flüsterte sie zu sich selbst. »Was . .. soll ich . .. tun? Wohin ... soll ich ... mich wenden?«
Die Tür öffnete sich.
»Die Lady wird Sie empfangen, Miss«, verkündete der Butler.
»Danke«, antwortete Tarina.
Sie folgte ihm durch die Halle und die Treppe hinauf zu einem geräumigen Treppenabsatz.
Dort konnte sie durch eine offene Tür ein riesiges Empfangszimmer mit Stühlen und Sofas als Imitation der Mode zur Zeit des Sonnenkönigs, einen dunkelfarbigen Teppich und mehrere ziemlich formstrenge Leuchter erblicken.
Sie hatte indes nur Zeit für einen raschen Blick, ehe der Butler weiterging.
Am Ende des Korridors öffnete er die Tür zu dem, was, wie Tarina wußte, ein Boudoir war.
Ein Boudoir stellte etwas dar, das ihre Mutter ihr beschrieben hatte und das sie immer gern hatte sehen wollen. Es gab keinen Zweifel, daß dies hier eines war mit seinen blaßblauen Vorhängen und einer Chaiselongue in der gleichen Farbgebung des Brokats.
Es machte den Eindruck auserlesener Weiblichkeit, noch gesteigert durch die großen Vasen mit Malmaison-Nelken, deren Duft den Raum erfüllte und deren Schönheit sich in den goldgerahmten Spiegeln an den Wänden vielfach wiederfand.
Niemand befand sich in dem Zimmer; als Tarina sich umsah, kam gerade jemand durch eine weitere Tür am anderen Ende.
Zögernd trat Tarina vor, als die eben erschienene Frau auch schon rief: »Tarina! Ich konnte kaum glauben, daß du es seist! Was machst du denn in London?«
Tarina stand vor ihr.
»O Betty ... wie freundlich von dir, mich zu empfangen.«
»Aber natürlich empfange ich dich«, antwortete Lady Bradwell.
Dann hielt sie erstaunt inne.
»Aber du bist in Schwarz! Warum?«
»Papa starb vor einem Monat.«
»Oh, das tut mir leid! Das wußte ich nicht, Liebste. Er wird dir gewiß fehlen.«
»Mehr, als ich dir sagen kann. Aber jetzt, da er tot ist, wirst du verstehen, daß ich mir selbst meinen Lebensunterhalt verdienen muß.«
»Du armes Kind!« rief Lady Bradwell aus. »Komm, setz dich zu mir und erzähl mir alles.«
Sie ließ sich in der Ecke des Sofas nieder, und Tarina nahm daneben Platz.
Dabei dachte sie, daß wohl niemand reizvoller aussehen könne als ihre Kusine Betty.
Mit ihrem blonden Haar und ihren veilchenblauen Augen war sie wie ein Gemälde von Fragonard; Tarina konnte sie nur fassungslos anstarren.
»Du bist so schön, Betty! Viel schöner als früher! Und etwas an dir hat sich verändert.«
Lady Bradwell lächelte wissend.
»Das sagen alle, und es liegt wohl daran, daß ich in Paris war. Oh, Tarina, ich habe solches Glück! Nachdem mein Mann starb, lud mich eine seiner Verwandten, mit der ich immer freundschaftlich verbunden war, zu einem Aufenthalt bei ihr ein.«
»Es tat mir damals sehr leid, von dem Tod deines Mannes zu hören«, sagte Tarina. »Ich weiß, daß Papa dir zu jener Zeit geschrieben hat.«
»Er schrieb mir einen wunderschönen Brief«, antwortete Lady Bradwell, »aber da ich offen zu dir sein kann - ich war gar nicht unglücklich, Witwe zu werden.«
Tarina entfuhr ein überraschter Ausruf.
»Oh, Betty! Warum denn nicht?«
Lady Bradwell seufzte leise.
»Mein Mann war das ganze letzte Jahr unserer Ehe über krank, und es war sehr, sehr eintönig, sich um ihn zu kümmern. Und schon vorher hatte er eine sehr verschrobene Art. Schließlich war er vierzig Jahre älter als ich.«
»Ich weiß wohl«, sagte Tarina. »Aber alle sagten, es sei eine so glänzende Heirat und er sei ein sehr bedeutender Mann.«
»Vermutlich war er auf seine Art nett«, antwortete Betty. »Ich genoß zwar die Dinnerpartys und Bälle, aber wir luden stets nur Arthurs Freunde ein, und die waren ebenfalls alt. Ich hatte bis zu seinem Tode wirklich nicht viel Freude.« Sie stieß einen leisen Jubelschrei aus und rief: »Ich kann dir gar nicht sagen, wie wunderbar es ist, hier in London zu sein! Allein zu sein, mir leisten zu können, in diesem Haus zu leben, und die herrlichsten Kleider zu haben!«
»Und Unmengen von Freunden, die dich bewundern«, fügte Tarina hinzu.
»Aber natürlich«, antwortete Betty. »Ich werde als Schönheit gefeiert, und Tarina, was meinst du wohl...«
Es war wie in alten Tagen, als Betty, da sie die Ältere war, gesprochen und Tarina bloß zugehört hatte.
Jetzt, da Tarina dasaß und die Augen in offensichtlicher Bewunderung nicht von ihrer Kusine wandte, sprach Betty so, wie sie gesprochen hatte, als sie siebzehn war und sich erwachsen fühlte, während Tarina mit fünfzehn in gewisser Weise noch ein Kind war.
»Was hat sich zugetragen?« fragte Tarina, als Betty innehielt.
»Ich bin eingeladen worden«, sagte Betty langsam, »auf eine Kreuzfahrt zu gehen - auf einer Yacht mit dem Marquis von Oakenshaw.«
»Auf einer Yacht?« rief Tarina. »Wirst du nicht seekrank?«
»Das ist belanglos«, sagte Betty rasch. »Er ist der gefeiertste, bestaussehende, am schwersten einzufangende Mann in ganz London, und ich habe das Gefühl, er bemüht sich um mich.«
»Wie phantastisch! Wie aufregend!« rief Tarina aus. »Wird er um deine Hand anhalten?«
Betty lachte leise.
»Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich, denn er ist ein eingeschworener Junggeselle - wie alle Frauen sich beeilt haben, mir zu erzählen.«
Tarina sah verwirrt drein.
»Ich verstehe nicht...«
Betty sah sie an und sagte dann schnell: »Natürlich könnte ich ihn vielleicht dazu bringen, seine Meinung zu ändern, aber inzwischen werde ich sein Gast sein, und alle anderen Frauen die ihn je gekannt haben werden vor Neid platzen!«
Tarina fragte sich, was daran so befriedigend sein mochte, doch gleichzeitig beteuerte sie, aus Liebe zu ihrer Kusine: »Ich freue mich so für dich. Wann wirst du abreisen?«
»Beinahe sofort - in zwei Tagen. Tarina, ich bezweifle, ob ich bis dahin mit allem fertig werde!«
Tarina lächelte.
»Ich bin sicher, du hast zahllose Freunde, die dir helfen.«
»Ich müßte zwar neue Kleider haben, aber das ist in der kurzen Zeit wohl nicht möglich. Gott sei Dank habe ich ein paar fabelhafte Kleider aus Paris mitgebracht. Ich habe ein Vermögen dafür ausgegeben!«
Tarina betrachtete das Kleid, das Betty trug und beim Anblick der reichen Seide und der echten Spitzen, mit denen es besetzt war, erkannte sie, daß sie von dem, was es gekostet hatte, mindestens ein Jahr hätte behaglich leben können.
Sie verdrängte solche Gedanken und sagte: »Ich bin hergekommen, Betty, nicht um dir lästig zu fallen, sondern nur, um dich zu bitten... ob du mir helfen könntest, indem du mir eine... Empfehlung gibst.«
»Eine Empfehlung?«
Das Erstaunen in Bettys Augen ließ Tarina lächeln.
»Liebste, du mußt wissen, daß Papa zu seinen Lebzeiten kein eigenes Geld besaß außer seinem kleinen Gehalt. Jetzt ist er gestorben, und ich muß meinen Lebensunterhalt selbst verdienen.«
»Oh, Tarina, es tut mir so leid!« rief Betty. »Wie schrecklich für dich! Was wirst du nun anfangen?«
»Ich werde als Gouvernante arbeiten«, sagte Tarina ruhig. »Es gibt nichts anderes, für das ich qualifiziert wäre. Vermutlich muß ich anfangs Gouvernante für Kleinkinder sein, da ich selber noch so jung bin.«
»Du beabsichtigst, dein Hirn, von dem dein Vater immer sagte, es sei so fähig wie das eines Jungen, an eine Menge plärrender Kinder zu verschwenden?« fragte Betty. »Tarina, das kannst du nicht wollen!«
»Ich werde schon zurechtkommen«, antwortete Tarina. »Aber wie du weißt, Betty, finde ich nie eine anständige Stellung, wenn ich nicht eine wirklich ausgezeichnete Empfehlung vorweisen kann, und ich habe außer dir niemanden, den ich darum bitten könnte.«
»Meine Liebe, ich werde dir eine Lobrede schreiben, die in jedem den Wunsch erweckt, dich sofort zu engagieren!«
»Vielen Dank!« sagte Tarina erleichtert.
»Aber zuerst möchte ich dir meine Kleider zeigen«, fuhr Betty fort, »die unverkennbar aus Paris stammen, und auch den neuen Kleiderschrank, den ich extra für sie gekauft habe.«
Bei diesen Worten stand sie auf, und Tarina folgte ihr in das angrenzende Schlafzimmer, das noch eindrucksvoller war als das Boudoir.
Das große Bett war mit Seidenvorhängen drapiert, die seitlich von geschnitzten goldenen Engeln gehalten wurden.
Am Fußende des Bettes lag über einer Decke aus echten Spitzen eine Hermelindecke. Die Kissen hatten Rüschen der gleichen Machart, Spitzen von blauen Satinbändern durchzogen, in der Mitte war ein großes Monogramm eingestickt.
Tarina sah sich erstaunt um. Oft hatte sie versucht, sich die Schlafzimmer eleganter Damen in ihren großen Häusern vorzustellen, doch an etwas so Hübsches oder Luxuriöses hatte sie nie gedacht.
»Ich habe dieses Zimmer und das Boudoir neu dekoriert«, sagte Betty. »Jetzt habe ich im Salon angefangen; er ist von bedrückender Schwüle, wie es der Stimmung meines Mannes entsprach.«
Unter ihren Wimpern hervor sah sie dabei ihre Kusine schelmisch an, so daß Tarina in der Ahnung, daß Betty nur versuchte, sie zu verunsichern, ausrief: »Betty, du solltest so etwas nicht sagen!«
»Es stimmt aber. Oh, Tarina, es ist eine solche Erleichterung, von ihm befreit zu sein! Er sprach immer mit mir, als sei ich schwachsinnig, und nach unserer Hochzeitsreise, die ziemlich fürchterlich war, machte er mir nicht einmal ein Kompliment.«
Der Schmerz klang in ihrer Stimme so offenkundig heraus, daß Tarina sie impulsiv umarmte und sagte: »Mach dir nichts draus, Liebste! Du bist so schön, daß der Marquis dich gewiß wird heiraten wollen. Oder vielleicht lernst du einen verführerischen Prinzen und Herrscher über eines dieser entzückenden kleinen Länder in Europa kennen, von denen ich immer in den Zeitungen lese.«
Betty lachte.
»Das hört sich ja wie ein Märchen an!«
»Das sollte es auch sein: Du - eine Märchenprinzessin«, sagte Tarina. »Du hast gewiß das Aussehen dazu.«
»Nur, weil meine gute Fee — oder vielmehr die Comtesse - mir geholfen hat, genau die Garderobe zu kaufen, die Aschenbrödel tragen würde. Einige meiner Kleider sind hier im Schrank, und nebenan habe ich noch ein ganzes Zimmer voll.«
Sie ging auf den Kleiderschrank zu, der passend zu den Zimmerwänden blau und weiß gestrichen war, und dessen Spiegel die Möbel und den Sonnenschein, der durch die Fenster drang, reflektierten.
Sie legte die Hand bereits auf den Griff des Schrankes, als es an der Tür zum Korridor klopfte.
»Wer ist da?« fragte sie.
»Ich bin es, Mylady.«
»Kommen Sie herein, Bates.«
Der Butler, der Tarina unten empfangen hatte, stand in der Tür.
»Verzeihen Sie, Mylady, aber ich habe schlechte Nachrichten.«
»Schlechte Nachrichten?« fragte Betty. »Was ist passiert?«
»Jones, Mylady. Sie hatte einen Unfall.«
»Wie ... wie konnte sie? Was ist geschehen?«
»Sie holte etwas aus dem großen Schrank auf dem obersten Treppenabsatz, Mylady«, erklärte Bates, »und durch das Gewicht von dem, was sie herauszunehmen versuchte, verlor sie das Gleichgewicht und fiel die Stufen hinunter.«
»Großer Gott!« rief Betty aus. »Ist sie verletzt?«
»Ich befürchte, Mylady, sie hat sich ein Bein gebrochen.«
»Ein Bein gebrochen? Wie ist das nur möglich? Oh, meine arme Jones, sie tut mir so leid!«
Sie hielt inne und fügte fast atemlos hinzu: »Wie in aller Welt soll ich ohne sie verreisen?«