Читать книгу Drache und Diamant - Barbara Cartland - Страница 1
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Оглавление»Ich kann Ihre Besorgnis nicht verstehen, Major Ware«, sagte Sir Claude Macdonald.
»Dem Premierminister sind Gerüchte von beträchtlichen Unruhen in den Provinzen zu Ohren gekommen.«
»In China gibt es immer irgendwelche Unruhen, und ich kann Ihnen versichern, daß ich sehr wohl in der Lage bin, mit jeder möglichen Situation fertig zu werden.«
Sir Claude sprach in beinahe scharfem Ton, als fürchte er, seine Autorität könne in Frage gestellt sein.
Stanton Ware, der ihn nachdenklich betrachtete, pflichtete insgeheim dem Premierminister bei, der ihm gegenüber einmal angedeutet hatte, daß Sir Claude nicht der richtige Mann am richtigen Platz sei.
Der Marquis von Salisbury war zu taktvoll gewesen, um deutlicher zu werden. Seine Berater im Außenministerium hingegen hatten kein Blatt vor den Mund genommen, noch weniger die Presse.
So hatte der Korrespondent der »Times« geschrieben:
Jedermann mißbilligte seine Ernennung. Man warf ihm mangelnde Bildung vor... Schwäche, Geschwätzigkeit, Leichtfertigkeit. Der Typ eines Militärbeamten der zunächst mit großen Worten herausgebracht wird und sich dann als Seifenblase entpuppt.
Stanton Ware hatte gelacht, als er den Artikel gelesen hatte. Jetzt jedoch betrachtete er Sir Claude Macdonald voller Zweifel; er spürte, daß er nicht in der Lage sein würde, die Situation zu beherrschen, wenn ihm die Dinge aus der Hand glitten. Und das war zu erwarten.
Es war wirklich eine Tragödie, daß England gerade jetzt von einem Gesandten repräsentiert werden sollte, der über keinerlei Erfahrungen mit dem chinesischen Volk verfügte, wenn man von seiner Zeit als Militärberater in Hongkong absah.
Einer seiner Kritiker hatte Sir Claude einmal als eine »große, einfältige Bohnenstange mit übertrieben langem Schnurrbart« bezeichnet.
Das letztere stand außer Zweifel, und Sir Claude zwirbelte ihn selbstgefällig.
»Sie können dem Premierminister mitteilen, Major Ware, daß wir alles unter Kontrolle haben und die wenigen Zwischenfälle, die sich zugetragen haben, wirklich kaum von Bedeutung sind.«
Stanton Ware antwortete nicht sofort.
»Ich meine, daß der Mord an Brooks schon von Bedeutung ist, insbesondere für ihn selbst«, sagte er schließlich.
»Brooks war ein Missionar«, erwiderte Sir Claude, »und die Missionare haben in China schon immer für Ärger gesorgt, seit man ihnen im Jahre 1860 die Einreise erlaubte. Die Chinesen machen ihnen zum Vorwurf, daß sie ihren Ahnenkult, der für sie von tiefer Bedeutung ist, untergraben.«
»Ich weiß das sehr genau«, entgegnete Stanton Ware, »doch leider kümmern sich die chinesischen Christen häufig nicht um die Gefühle ihrer Mitbürger.«
Er dachte daran, wie die Missionare chinesische Tempel beschlagnahmt hatten mit der Rechtfertigung, daß sie früher Eigentum der Kirche gewesen seien und die Chinesen lediglich die Erlaubnis erhalten hätten, ihre heiligen Stätten zu errichten. Die Franziskaner versuchten sogar, Mietrückstände für die letzten dreihundert Jahre einzutreiben.
»Ich wiederhole, daß ich solchen Vorkommnissen nur geringe Bedeutung beimesse«, erklärte Sir Claude. »Von viel größerer Bedeutung für uns sind die Machtverhältnisse in China, die vor vier Jahren aus dem Gleichgewicht gebracht wurden, als russische Kriegsschiffe in Port Arthur einliefen.«
In diesem Punkt mußte Stanton Ware ihm zustimmen.
Die fünf Großmächte umkämpften ihre Positionen in China und teilten es auf - wie ein Karikaturist es zutreffend darstellte - wie eine Melone.
Und so verhinderten tatsächlich nur ihre Mißgunst und die ständige Rivalität zwischen den westlichen Großmächten, daß sie sich noch mehr von China einverleibten, als bereits geschehen war.
Stanton Ware jedoch wußte, daß die Mandschus in Peking, der nördlichen Hauptstadt des Reichs des Himmels, sich selbst etwas vormachten, wenn sie glaubten, stark zu sein und daß China die fremden Einflüsse würde überwinden können.
Ein Angehöriger des Außenministeriums beschrieb diese Situation sehr treffend: »Die Mandschus sind arrogant und schwach, die Europäer arrogant und schwach. Das Resultat wird Krieg sein.«
Als wüßte er, daß Stanton Ware nicht davon überzeugt war, daß es keine Krise gab, fuhr Sir Claude fort: »Wir können hundertprozentig darauf vertrauen, daß die Witwe des Kaisers innere Schwierigkeiten im Lande erfolgreich bewältigen wird.«
»Der Witwe des Kaisers vertrauen?« wiederholte Stanton Ware erstaunt. »Das kann nicht Ihr Ernst sein! Die in London eintreffenden Berichte zeigen deutlich, daß die Kaiserin - auch wenn sie es nicht zugibt - sehr fremdenfeindlich eingestellt ist.«
Sir Claude lachte und zwirbelte erneut die Enden seines Schnurrbarts.
»Mein lieber Major, die Witwe des Kaisers lud meine Frau und die anderen Damen der Gesandtschaft in die Verbotene Stadt zum Tee ein, um ihren Geburtstag zu feiern und die guten Beziehungen zwischen Ost und West zu untermauern.«
Er nahm an, daß Stanton Ware nichts davon wußte, und fuhr lächelnd fort: »Die Kaiserin - oder der alte Buddha, wie wir sie gewöhnlich nennen - schenkte jedem ihrer Gäste einen großen, in Gold gefaßten und mit Perlen besetzten Ring und bot ihnen eigenhändig Tee aus einem kostbaren Jadebecher an.«
»Sehr großzügig«, murmelte Stanton Ware ironisch.
»Es war eine symbolische Geste«, erklärte Sir Claude. »Die Kaiserin trank zuerst und reichte den Becher mit den Worten ,Wir sind alle eine Familie' weiter.«
»Und Sie glauben ihr?«
Sir Claude zuckte die Achseln.
»Ich sehe keinen Grund, es nicht zu tun.«
»Trotz der Tatsache, daß der I Ho Ch’uan von Tag zu Tag größer wird?«
Sir Claude lachte.
»Der Bund der ,Fäuste der gerechten Harmonie', die wir kurz die Boxer nennen, besteht hauptsächlich aus Jugendlichen, von denen nur wenige älter als neunzehn Jahre sind. Sie konzentrieren sich auf die nördlichen Provinzen, insbesondere an den Grenzen von Shantung und Chihli.«
»Es heißt, daß ihr Einfluß sich weiter ausdehnt.«
»Wohin?« fragte Sir Claude mit einer weit ausholenden Bewegung seiner Hand. »Nur leichtgläubige Chinesen schließen sich den Boxern an, weil diese vorgeben, magische Kräfte zu besitzen. Doch für jeden, der auch nur ein bißchen Verstand besitzt, sind sie nicht mehr als ein Witz.«
»Ich glaube, daß wir diesen Witz überhaupt nicht lustig finden werden«, erwiderte Stanton Ware ernst. »Sie sollten unbedingt Schutztruppen anfordern, Herr Minister, wenigstens für das Gesandtschaftsviertel. «
Sir Claude lachte.
»Schutztruppen? Unsere Truppen hier haben ohnehin zu wenig zu tun. Ich kann dazu nur sagen, Major Ware, Sie machen aus einer Mücke einen Elefanten. Sie sehen Drachen, wo es nur Papierdrachen gibt.«
Er lachte über seinen eigenen Witz.
Stanton Ware erhob sich.
»Danke, daß Sie mir so viel Ihrer Zeit gewidmet haben, Herr Minister. Ich werde dem Premierminister berichten, was Sie mir gesagt haben. Ich bin sicher, es wird ihn sehr interessieren.«
»Sie fahren nach Hause?« fragte Sir Claude.
»Nicht sofort«, antwortete Stanton Ware ausweichend. »Ich habe hier ein paar Freunde, die ich besuchen möchte. Vielleicht gehe ich danach nach Tientsin und nehme ein Schiff nach Hongkong.«
»Dann gute Reise!« sagte Sir Claude. »Es war schön, Sie kennenzulernen, Major Ware. Ich hoffe, Ihr Aufenthalt in Peking gefällt Ihnen.«
Stanton Ware verbeugte sich und verließ das Gesandtschaftsgebäude.
Er hatte gewußt, daß der britische Minister ein bornierter, halsstarriger, dümmlicher Mann war, doch er hatte nicht erwartet, daß er ein solcher Narr war, als der er sich während ihrer kurzen Unterhaltung erwiesen hatte.
An jenem Abend wurde ein verschlüsseltes Telegramm an das Außenministerium aufgegeben, in dem die dringende Lieferung »neuer Teile für die Maschine« angefordert wurde.
Stanton Ware ging zu seiner Unterkunft zurück und ließ sich in einen Sessel sinken, um in Ruhe über das, was er soeben erfahren, und das, was er bereits vor seiner Ankunft über die Lage in China gewußt hatte, nachzudenken.
Er war ein Experte in allen Dingen, die den Fernen Osten betrafen. So war es unvermeidlich, daß man dem Premierminister, dem Marquis von Salisbury, raten würde, als er über die Nachrichten aus China beunruhigt war: »Holen Sie Stanton Ware!«
Stanton Ware war nicht sehr erfreut darüber gewesen und war der Aufforderung nur widerstrebend gefolgt.
Doch als der Premierminister ganz offen mit ihm sprach und er die Berichte der britischen Agenten aus ganz China las, erkannte er, daß es genau die Art Aufgabe war, die ihn interessierte.
Und er erkannte auch, welche Auszeichnung dieser Auftrag für ihn bedeutete.
Im Alter von dreiunddreißig Jahren hatte er sich bereits umfassende Kenntnisse über den Fernen Osten angeeignet und beherrschte fließend eine Reihe seiner Sprachen und Dialekte.
Er hatte viele Expeditionen in unbekannte Gegenden voller Gefahren unternommen und so manche gefährliche Situation unbeschadet überstanden, die mancher andere Mann zweifellos nicht überlebt hätte, so daß sein sprichwörtliches Glück schon zu einer Legende unter seinen Zeitgenossen geworden war.
»Wir sind Ihnen sehr zu Dank verpflichtet für das, was Sie in Afghanistan geleistet haben, Major Ware«, erklärte der Premierminister Stanton Ware zum Abschied. »Und ich hoffe, man wird mir vergeben, daß ich Ihnen schon heute unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraue, daß man Sie auf die neue Liste der hohen Staatsorden setzen wird.«
Aus Stanton Wares Miene war nicht zu erkennen, ob er sich über diese Auszeichnung freute oder nicht.
Er verbeugte sich knapp, murmelte ein paar Worte des Dankes und verließ den Premierminister, ehe dieser noch etwas hinzufügen konnte.
»Seltsamer Bursche«, dachte der Marquis von Salisbury. »Doch zweifellos ein ungeheuer fähiger Mann!«
Stanton Ware war ein bedachtsamer Mensch, und so pflegte er stets, wenn er mit einem Problem konfrontiert wurde, dessen Tragweite nur er erkannte, erst in Ruhe nachzudenken, ehe er etwas unternahm.
Nur sehr wenige Leute wußten, daß er zwei Jahre lang Yoga erlernt hatte und sich von einem Lama in einem der großen Lamaklöster des Fernen Osten in die Geheimnisse der orientalischen Meditation hatte einführen lassen.
Dieses Training kam nicht nur seiner körperlichen Leistungsfähigkeit zugute, sondern verlieh ihm auch jenen Scharfsinn und Weitblick, den die Chinesen als die »Fähigkeit, die Welt hinter der Welt zu sehen« beschreiben.
Stanton Ware glaubte nicht an magische, oder übersinnliche Kräfte, doch er wandte zweifellos das an, was die Tibetaner als »das dritte Auge« bezeichnen.
Dieser Sinn war allen menschlichen Wesen gegeben, doch sie verloren ihn, sobald sie materiellen Dingen nachjagten und die körperlichen vor die geistigen Kräfte setzten.
Wie ein Mann, der eines der in Elfenbein geschnitzten chinesischen Puzzles betrachtet, deren Lösung ein ganzes Leben beanspruchen kann, saß Stanton Ware tief in Gedanken versunken und durchdachte die augenblickliche Lage in China und deren mögliche weitere Entwicklung.
Und er kam zu dem Schluß, daß die Situation weitaus beunruhigender war, als er geglaubt hatte, weil die offiziellen Stellen - insbesondere der britische Gesandte - blind für die möglichen, zukünftigen Gefahren waren.
Bei Einbruch der Dunkelheit wurde eine Sänfte durch die Straßen der Stadt getragen.
Weniger als hundert Meilen südlich der Großen Mauer, die das nördliche China von West nach Ost durchzieht, erhob sich zwischen unzähligen Pinienhainen auf einer flachen Ebene die Stadt Peking.
Hinter der Stadt erstreckte sich eine grüne Hügelkette, die nach Norden und Westen hin wellenförmig anstieg; Tempel und Paläste schmiegten sich in die fruchtbaren, im Dunst verschwimmenden Talmulden.
Reisende, die Peking durch das Südtor der Äußeren oder Chinesen-Stadt betraten, stellten mit Erstaunen fest, wie sehr sie sich von der Schönheit der Außenwelt unterschied.
Entlang der breiten Straße, die zur Kaiserstadt führte, drängten sich dicht hinter- und nebeneinander kleine Hütten, Buden und Läden. Fahnen, auf denen die verschiedensten Waren angepriesen wurden, flatterten im Wind, organisierte Bettlerbanden bedrängten die Passanten.
Durch die Gardinen der Fenster seiner Sänfte konnte Stanton Ware die Tempeltänzer beobachten, die vor einer staunenden Menschenmenge herumwirbelten, während Taschendiebe unbemerkt ihrem Handwerk nachgingen.
Da gab es Hellseher, die »Jahrbücher der glücklichen Tage« verkauften, und Hausierer, die in ihren Bauchläden Süßigkeiten, Nadeln, Spielzeug, Tee, Reiskuchen und Fächer anboten.
Fußpfleger und Friseure verrichteten ihre Arbeit neben Schreibern, Quacksalbern und den von den Chinesen so heiß geliebten Akrobaten und Jongleuren mit ihren Bären und Affen.
Für Stanton Ware war diese Atmosphäre sehr vertraut und übte eine ganz besondere Anziehungskraft auf ihn aus.
Und ihm wurde bewußt, daß er diesen unnachahmlichen Geruch von gebratenem Fleisch und Wild, von Ginseng, Sojabohnenöl, Knoblauch und Tabak, der über den Straßen zu hängen schien, beinahe vergessen hatte.
Die Sänfte tauchte unter in dem Gewühl von Handwagen und Schubkarren, von unter ihrer turmhohen Last strauchelnden Eseln und Kamelen aus der Mongolei.
Das war das echte China, wie die Chinesen es liebten, mit seinen barfüßigen Bettlern und den Wachmännern mit ihren Laternen und Klöppeln.
Nach kurzer Zeit wurde die Sänfte von der belebten Hauptstraße fort in einen Teil der Stadt getragen, wo die Häuser weniger ärmlich wirkten. Schließlich wurde sie vor dem »Haus der tausend Freuden« abgesetzt.
Wie überall gab es auch hier kein äußeres Zeichen dafür, was das Haus enthielt.
Das Äußere des Hauses wirkte trist und beinahe schäbig. Als Stanton Ware jedoch aus der Sänfte gestiegen war, den Kuli entlohnt hatte und durch die Eingangstür trat, bot sich ihm ein völlig anderes Bild.
Hinter der Eingangstür befand sich eine zweite, purpurrote, mit fünf Knäufen versehene Tür.
Das Innere entsprach dem üblichen Bild eines chinesischen Hauses: Es bestand aus neun oder zehn über eine weite Fläche verteilten Höfen, die jeweils von drei oder vier einstöckigen Pavillons umgeben waren.
Das Außergewöhnliche an dem »Haus der tausend Freuden« war, daß jeder der kleinen Pavillons mit seinen erlesenen Gitterfenstern, seinen winzigen Höfen und dem Goldfischteich einer schönen Frau zugewiesen war.
Der Diener, der ihn einließ, starrte Stanton Ware neugierig an, denn dieser trug einen langen Mantel mit einer Kapuze, der nicht nur seinen Körper, sondern auch den größten Teil seines Gesichts verdeckte.
»Ich möchte zu Mannigfaltige Freude.«
»Wenn Sie mir bitte folgen wollen, verehrter Herr, werde ich nachsehen, ob Mannigfaltige Freude Sie empfangen kann.«
Der Diener führte Stanton Ware in einen erlesen eingerichteten Raum mit niedrigen Tischen, Kissen auf dem Boden und alten, kostbaren Gemälden an den Wänden.
Eines dieser Gemälde liebte Stanton Ware besonders; es stammte aus dem siebzehnten Jahrhundert und zeigte eine im Nebel liegende, mit Tinte und zarten Pastellfarben gemalte Berglandschaft.
Er wußte, daß jeder Pinselstrich eine besondere Bedeutung hatte und die unterschiedlichsten Reaktionen bei den Betrachtern des Bildes hervorrief.
Vor langer Zeit einmal hatte man ihn gelehrt, daß kleine Objekte in einem Bild wie ein Vogel, eine Blume oder ein Fisch nur gemalt waren, um ihr Wachsen und Gedeihen und die enge Verknüpfung allen irdischen Lebens zu betonen.
Stanton Ware versuchte gerade herauszufinden, welche Wirkung das Bild von Hung Hsien auf ihn ausübte, als der Diener zurückkehrte.
»Mannigfaltige Freude will Sie empfangen, verehrter Herr«, sagte er und verbeugte sich.
Durch ein Labyrinth von Gängen und Wegen, vorbei an Pavillons von Frauen mit verwirrenden Namen, folgte er dem Diener.
Dieser führte ihn beinahe durch das ganze Haus, ehe er Stanton Ware in einen sparsam möblierten, sehr edel wirkenden Raum geleitete.
Vor den Fenstern hingen Vorhänge aus kostbarer Seide, bestickt mit Adlern und Drachen, auf dem Boden standen Bonsaibäumchen in Porzellantöpfen.
Doch Stanton Ware hatte nur Augen für die Frau, die soeben eintrat. Ein forschender Zug lag auf ihrem geschminkten Gesicht, der jedoch sofort einem erfreuten Lächeln wich.
Sie verbeugte sich tief und sagte lächelnd: »Ich hoffte, daß Sie es sein würden, ehrenwerter Herr, doch nach der Beschreibung des Dieners konnte ich nicht ganz sicher sein. Sie, den ich so lange vermißt habe.«
Stanton Ware warf die Kapuze zurück und löste den Verschluß am Hals.
Der Diener, der ihm den Mantel abnahm, bewegte sich so geräuschlos, daß Stanton Ware das Gefühl hatte, von Geisterhänden berührt zu werden.
Dann setzte er sich auf eines der flachen Sitzkissen, vor dem ein Glas Samshu stand.
»Sie waren lange fort«, begann Mannigfaltige Freude.
In ihrer Stimme lag kein Vorwurf, nur Bedauern.
»Ich bin gekommen, weil ich spüre, daß es Schwierigkeiten geben wird.«
»Ich ahnte, daß Sie deswegen zu mir kommen.«
»Ich wäre ohnehin gekommen«, entgegnete er wahrheitsgemäß, »doch jetzt brauche ich Ihre Hilfe.«
»Was möchten Sie wissen?«
»Müssen Sie das fragen? Was geht in China vor? Was bedeuten all diese Unruhen, die von Monat zu Monat bedrohlicher werden?«
»Sie haben recht. Sie sind tatsächlich bedrohlich. Ich hätte wissen sollen, daß Sie früher oder später kommen würden, um etwas zu unternehmen.«
»Und was kann ich tun?«
»Wir alle wissen, daß das Jahr 1900 unter unglücklichen Vorzeichen stand«, erwiderte Mannigfaltige Freude leise.
»Genau darüber wollte ich von Ihnen Auskunft.«
»Die Astrologen sehen sehr böse Vorzeichen«, erwiderte sie, »und die Hellseher weissagen nicht nur viel Blut, sondern eine Katastrophe für China.«
»Was für eine Katastrophe?« fragte Stanton Ware.
Er wirkte entspannt, als er von dem Samshu trank, der ihm ausgezeichnet schmeckte.
Doch zugleich war sein Kopf hellwach, und er war sich bewußt, daß Mannigfaltige Freude ihm mehr Informationen als jeder andere geben konnte.
Das »Haus der tausend Freuden« war das exklusivste, teuerste und wichtigste Bordell in ganz China.
Bevor ihn seine Tante im Ying T’ai oder Meerespalast gefangensetzen ließ, soll der Kaiser selbst angeblich häufig inkognito Gast im »Haus der tausend Freuden« gewesen sein.
Auch die meisten Angehörigen des Kaiserhofs und die Mandarine gehörten mit Sicherheit zu seinen Stammgästen.
Es kursierten blühende Geschichten über die Freuden, die diejenigen erwartete, die die Gastfreundschaft von Mannigfaltige Freude in Anspruch nahmen.
Nach reichlichem Alkoholgenuß war mancher Mann geneigt, den unvergleichlich liebenswürdigen und verständnisvollen Mädchen sogar Staatsgeheimnisse anzuvertrauen.
Stanton Ware war oft gefragt worden, warum nahezu jeder Mandarin und jeder Angehörige des Kaiserlichen Hofes an Frauen, wie sie im »Haus der tausend Freuden« anzutreffen waren, interessiert war.
»Sie haben doch ohnehin alle ihre Konkubinen«, war ein unvermeidliches Argument.
Doch weder die Konkubinen in der Verbotenen Stadt noch die der reichen Mandarine und Kaufleute hatten Kontakt zur Außenwelt.
Ihr ganzes Leben, ihr ganzes Interesse drehte sich um ihren Herrn, und - abgesehen von der Schönheit ihrer Körper - hatten sie nicht viel zu bieten und waren häufig ausgesprochen dumm.
Die Mädchen im »Haus der tausend Freuden« jedoch waren nicht nur ihrer Schönheit, sondern auch ihrer Intelligenz wegen ausgewählt worden.
So kam es, daß Mannigfaltige Freude eine der bestinformierten Frauen in ganz Nordchina war.
»Bitte, sagen Sie mir, wie die Dinge stehen«, bat Stanton Ware.
Der Klang seiner Stimme und das Lächeln, das auf seinen Lippen lag, mußten auf jede Frau unwiderstehlich wirken.
»Sie sind unverbesserlich, edler Herr«, antwortete Mannigfaltige Freude lachend. »Sie kommen und gehen, wann und wie es Ihnen gefällt, und ich habe keine Ahnung, ob Sie noch am Leben sind oder nicht. Dann kommen Sie wieder und quetschen mich aus wie einen Granatapfel.«
Stanton Ware ergriff ihre Hand und zog sie an seine Lippen.
»Sie haben mich nie enttäuscht in all den Jahren, seit wir uns kennen«, entgegnete er, »und ich kann nicht glauben, daß Sie es jetzt tun werden.«
Sie stieß einen leisen Seufzer aus.
»Ich fürchte, es ist unmöglich, Ihnen etwas abzuschlagen, selbst wenn ich es wollte. Was wollen Sie wissen?«
»Alles«, antwortete er. »Wie Sie wissen, war ich über zwei Jahre fort von China, und manches hat sich geändert.«
»Das stimmt allerdings, und zwar zum Schlechten.«
»Ich hörte davon, bevor ich England verließ.«
»Sie wissen, daß der Fortschritt in China zum Stillstand gekommen ist? Die Witwe des Kaisers hat die Westmächte davon in Kenntnis gesetzt, daß keine weiteren Eisenbahnstrecken mehr gebaut werden dürfen, und es wäre daher sinnlos für ausländische Repräsentanten, entsprechende Vorschläge zu unterbreiten.«
»Ich habe davon gehört«, murmelte Stanton Ware.
»Keine Eisenbahnstrecken - kein Fortschritt.«
»So ist es.«
»Ihre Majestät war lediglich zu Verhandlungen über Waffen und Kriegsgeräte mit den Westmächten bereit.«
Wieder nickte Stanton Ware.
»Sie hat die Generäle angewiesen, westliche Techniken zu übernehmen und westliche Waffen zu kaufen. Wissen Sie, warum?« fragte Mannigfaltige Freude.
»Sie werden es mir sagen«, erwiderte er.
»Um die Fremden aus China zu vertreiben!«
»Ich bezweifle, daß China die Kraft dazu besitzt«, sagte Stanton Ware langsam.
»Aber Sie verfügen hier nicht über genügend Waffen und Truppen, um die Flut aufzuhalten, wenn sie losbricht«, entgegnete Mannigfaltige Freude.
Das war auch Stanton Ware klar, doch es überraschte ihn, daß Mannigfaltige Freude so genaue Kenntnis der Lage besaß.
»Die Kaiserin streut den Fremden Sand in die Augen«, fuhr sie mit leiser Stimme fort, »doch die Boxer hetzen die Massen auf, sich ihnen anzuschließen, und schreien ständig: ,Brennt alles nieder! Tötet sie, tötet!'«
»Wie stark sind sie?« wollte Stanton Ware wissen.
»Männer können kämpfen, wenn sie Vertrauen haben«, antwortete Mannigfaltige Freude, »und mit ihren angeblichen Zauberkräften gelingt es den Boxern, die Leichtgläubigen zu überzeugen, mit Musketen und Pfeilen, die einen in Trance Befindlichen zwar durchbohren, aber nicht verletzen.«
Als Stanton Ware nichts erwiderte, fuhr sie fort: »Und sie verbreiten Gerüchte, die die Chinesen nur allzu gerne glauben.«
»Was für Gerüchte?«
»Daß die Gleise und die Eisenbahnen ihre Götter, Geister und Dämonen verärgern und die Fruchtbarkeit der Erde zerstören würden.«
Stanton Ware lächelte, wußte er doch, daß das primitive Volk stets Angst vor Eisenbahnen hat, wenn es sie zum ersten Mal sieht.
»Sie, sagen, daß die rote Flüssigkeit, die von den ,Eisenschlangen' tropft und die in Wirklichkeit nichts anderes als rostiges Wasser von den oxydierten Telegrafenkabeln ist, das Blut der zornigen Fluggeister sei.«
»Kann denn wirklich irgendjemand diesen Unsinn glauben?« fragte Stanton Ware.
»Sie verbreiten, daß die Missionare Augen, Knochenmark und Herzen der Toten verwenden, um Medikamente herzustellen. Und wer immer in einem Pfarrhaus ein Glas Tee trinke, würde auf der Stelle tot umfallen, sein Gehirn würde aus dem Kopf platzen.«
Sie sah ihn nicht an, als sie leise weitersprach: »Die Boxer sagen auch, daß Kinder, die in einem Waisenhaus landen, getötet und ihre Eingeweide verwendet werden, um wertvolle Arzneien herzustellen und Blei in Silber zu verwandeln.«
»Wer solch einen Unsinn glaubt, muß sehr dumm sein«, meinte Stanton Ware.
Doch er hatte den Ärger, den die Missionare in der Vergangenheit verursacht hatten, nicht vergessen.
»Sie sagen, die Boxer werden immer stärker«, sagte er nach einer Weile. »Die Kaiserin unterstützt dieses Gesindel doch wohl nicht?«
»Offiziell erklärt sie, sie müßten auseinandergetrieben werden und dürften sich nicht weiter ausdehnen.«
»Und inoffiziell?« fragte Stanton Ware.
»Als einige Beamte die Boxer einmal als Rebellen behandelten und versuchten, sie auseinanderzutreiben, geriet der Gouverneur dieser Provinz in Wut und behauptete, sie seien die Schutzmiliz, die der ,alte Buddha' vor etwa einem Monat angefordert hatte.«
»Wer kann der Kaiserin die Gefahr einer solchen Politik deutlich machen?« fragte Stanton Ware.
Mannigfaltige Freude hob hilflos die Hand, ehe sie weitersprach: »Das weiß ich nicht. Doch irgendetwas muß geschehen, und zwar schnell, wenn die prophezeite Katastrophe für China verhindert werden soll.«
Ihre Stimme klang sehr ernst. Stanton Ware wußte, daß sie ihr Land sehr liebte, abgesehen von der Tatsache, daß Aufruhr und Kämpfe in Peking äußerst unzuträglich für ihr Geschäft sein würden.
»Gibt es denn keinen Beamten, der mutig genug ist, der Kaiserin gegenüber offen zu sein und ihr klarzumachen, daß sie etwas gegen diese jungen Rowdys unternehmen muß, bevor es zu spät ist?«
»Der Kaiser wollte einen Wandel, doch seine Bemühungen um den Fortschritt schlugen fehl, und seine Gefolgsleute wurden hingerichtet oder ins Exil geschickt. Der Rest hat Angst bekommen.«
»Alle?« fragte Stanton Ware.
»Da wäre Li Hung-Chang!«
Stanton Ware nickte.
Er wußte, daß Li Hung-Chang zu den dem Kaiser nahestehenden Regierungsbeamten gehört hatte und einer der fortschrittlichsten Politiker Chinas war.
Er hatte den Bau von Waffenlagern, Werften und Kriegsschiffen gefördert, und vor fünf Jahren - im Jahre 1895 - war er nach Japan gereist, um den Vertrag abzuschließen, der den chinesisch-japanischen Krieg beendete.
Und er bewunderte die Entwicklung in Japan.
Der japanische Prinz Ito hatte Stanton Ware erzählt, wie Li Hung-Chang die Lage in China zusammengefaßt hatte: »Mein Land ist verstrickt in Traditionen und alte Sitten und Gebräuche«, hatte er erklärt, »und in zu vielen Provinzen herrscht ausgesprochener Lokalpatriotismus.«
Er war zu loyal gewesen, um die schrecklichen Machtkämpfe innerhalb der kaiserlichen Familie zu erwähnen.
Doch selbst nach der Entmachtung des Kaisers hatte Li Hung-Chang seine Bemühungen um den Fortschritt nicht aufgegeben, hatte versucht, die halsstarrige Witwe des Kaisers davon zu überzeugen, daß China nicht länger wie im Mittelalter leben dürfe.
Er war zu wichtig für China, als daß die Kaiserin auf ihn hätte verzichten können.
Doch sie hatte ihn zum Vizekönig der Provinzen Kwang Tung und Kwangi im Süden des Landes ernannt - eine ausgezeichnete Möglichkeit, ihn aus den Ratskammern in Peking herauszuhalten.
Trotzdem besaß er auch im Alter von siebenundsiebzig Jahren noch eine gewisse Macht in China und den Respekt einer großen Anzahl der Vernunft zugänglichen Chinesen.
»Ist es möglich, daß ich mit ihm zusammentreffe?« fragte Stanton Ware.
Mannigfaltige Freude überlegte eine Weile, dann rief sie: »Warten Sie - ich habe eine Idee! Tseng-Wen, ein sehr einflußreicher, hier in Peking lebender Mandarin, ist ein enger Freund von Li Hung-Chang. Wann immer Li Hung-Chang der Kaiserin seine Aufwartung macht, stattet er seinem Freund einen Besuch ab.«
»Ich würde Tseng-Wen gerne kennenlernen«, meinte Stanton Ware.
»Sie werden ihn kennenlernen, denn er ist ein guter Freund von mir. Und was könnte mich glücklicher machen, als ein Bindeglied zwischen zwei mir lieben Menschen zu sein - zwischen Ihnen und ihm?«
»Wie kann ich Ihnen je danken?« fragte Stanton Ware leise.
»Was darf ich verlangen?« entgegnete Mannigfaltige Freude.
Sie schien ihm jetzt noch schöner zu sein als damals, als er sie kennenlernte und sie noch ein blutjunges Mädchen war.
Er streckte überschwenglich die Hände aus und erwiderte in typisch chinesischer Manier: »Alles, was ich besitze, gehört Ihnen!«
Sie ergriff mit beiden Händen seine Hand, drehte sie nach oben und berührte mit ihrer dunklen Stirn die Innenfläche.
Das Haus von Tseng-Wen war sehr eindrucksvoll, und Stanton Ware erkannte auf den ersten Blick, daß es einem reichen, bedeutenden Mann gehören mußte.
Er hatte den knielangen Brokatmantel angezogen, den die meisten Mandschus während der Wintermonate trugen.
Als Kopfbedeckung trug er den schwarzen Hut mit nach oben gebogener Krempe, den die Generäle und Staatsmänner bevorzugten.
Er hatte diese Verkleidung lediglich Tseng-Wen zuliebe gewählt, um es ihm zu ersparen, beim Empfang eines Ausländers beobachtet zu werden.
Obwohl der Einfluß der Boxer noch nicht bis Peking reichte, war auch hier - wie Stanton Ware auf Schritt und Tritt beobachten konnte - die fremdenfeindliche Stimmung offensichtlich.
Wenn er durch die Straßen der Stadt ging, schnappte er die abfälligen Bemerkungen der Passanten auf und konnte die Unterhaltung der Verkäufer, die nicht wußten, daß er Chinesisch verstand, verfolgen: »Wer bedient den fremden Teufel?« hieß es dann meist.
Man tuschelte und flüsterte bei seinem Erscheinen, was bei seinen früheren Besuchen in Peking nie der Fall gewesen war.
Es waren eigentlich immer nur Kleinigkeiten, doch Stanton Ware wußte, daß sie - zusammen gesehen - eine ständig wachsende Bedrohung für den Frieden waren, der wiederum eine unabdingbare Notwendigkeit für den Handel der fünf Westmächte in China war.
Der Handel wiederum war von lebenswichtiger Bedeutung für China, auch wenn die Kaiserin möglicherweise zu dumm war, um dies zu erkennen.
Die Befürchtungen, daß die fremden Einflüsse eine Bedrohung für das chinesische Kaiserreich darstellen könnten, waren nicht völlig unbegründet.
Doch es schien beinahe unmöglich, der Regierung in Peking klarzumachen, daß es das beste für China war, an den Errungenschaften des Westens zu partizipieren, das Eisenbahn- und Telegrafennetz auszubauen und moderne Kriegsschiffe und Waffen zu erwerben.
Stanton Ware hatte lange genug unter dem einfachen Volk des Fernen Osten gelebt, um seinen Glauben an magische Kräfte zu verstehen, die ihm die Angst nehmen und seine Armut lindern sollten.
Korruption und die wilden Ausschweifungen der Mächtigen in China saugten das Land aus. Sie schürten auch den unterschwelligen Haß derjenigen, die unter den übermäßig hohen Steuern zu leiden hatten. Würde dieser Haß einmal zum vollen Ausbruch kommen, würden Unglück und Zerstörung die Folge sein.
Über das Plakat, das im vergangenen Jahr in der Stadt Hien in der Provinz Chihli angeschlagen worden war, hatte Stanton Ware nicht mit dem britischen Gesandten gesprochen. Der Wortlaut dieses Plakats war:
Die Patrioten aller Provinzen, die erlebt haben, wie die Männer aus dem Westen in ihrem Verhalten alle Grenzen überschreiten, haben beschlossen, sich am fünfzehnten Tag des vierten Mondes zu versammeln und die Fremden zu töten und ihre Häuser niederzubrennen. Alle, deren Herzen nicht mit uns sind, sind Schurken und niederträchtige Weiber.
Weder in Peking noch in London hatte dieses Plakat viel Aufmerksamkeit erregt, als die Jesuiten-Missionare darüber berichteten.
Stanton Ware jedoch hatte erkannt, daß dies der Anfang war, und er wußte, daß die Boxer nur stärker geworden waren, weil man den Anfängen nicht gewehrt hatte.
Er hatte jedoch gehofft, daß es noch nicht zu spät war, um China zu retten. Doch schon bei seiner Ankunft hatte er erkannt, daß die Uhr abgelaufen war.
Ohne sich selbst schmeicheln zu wollen, sagte er sich, daß man ihn schon viel früher nach China hätte entsenden müssen.
Auf dem Weg zum Hause Tseng-Wens durchdachte er noch einmal alles, was er über Li Hung-Chang wußte, und er kam zu dem Schluß, daß der betagte Vizekönig der einzige war, der vielleicht noch helfen konnte.
Er betrat das Haus Tseng-Wens und spürte sofort, daß er erwartet wurde.
Man führte ihn durch einen mit winzigen Bäumen bepflanzten Hof in einen sehr großen, hohen Raum.
Jetzt im Winter war der Boden mit wunderschönen dicken Teppichen bedeckt; im Sommer würde man sie durch erlesen bemalte, geflochtene Bambusmatten ersetzen, die sauber und kühl waren.
Wertvolle Zeichnungen und Gemälde, die Stanton Ware gern näher studiert hätte, schmückten die Wände neben einer kostbaren Jade-Sammlung.
Schließlich wurde die Tür geöffnet, und ein alter Herr mit grauem Bart betrat den Raum.
Stanton Ware, der gewohnt war, einen Menschen auf den ersten Blick hin zu beurteilen, erkannte sofort, daß er diesen Mann schätzen würde und daß er ihm vertrauen konnte.
Da es im Fernen Osten verpönt ist, Eile an den Tag zu legen, erwiesen sie sich zunächst durch mehrere Verbeugungen ihre gegenseitige Verehrung.
Dann wischte der Mandarin mit dem Ärmel seines seidenen Gewandes über den zweifellos fleckenlosen Stuhl, auf dem Stanton Ware Platz nehmen sollte. Stanton Ware erwiderte diese Geste, indem er ebenfalls den Stuhl seines Gastgebers säuberte.
Dann verbeugten sie sich erneut voreinander und nahmen schließlich ihre Plätze ein.
Ein Diener brachte Wein und die traditionellen köstlichen Süßigkeiten. Er servierte sie auf Porzellantellern, die von solch erlesener Schönheit waren, daß Stanton Ware sich kaum bezwingen konnte, seiner Bewunderung nicht Ausdruck zu geben.
Er wußte jedoch, daß man das als Unhöflichkeit betrachten würde, und so wartete er, daß Tseng-Wen zu sprechen begann.
Sein altes Gesicht war traurig und sorgenvoll, tiefe Furchen lagen unter seinen Augen.
»Sie sind zu einem traurigen Zeitpunkt gekommen, mein Sohn«, begann er langsam. »Mein Herz ist voller Sorge um die Zukunft unseres Landes. Uns stehen dunkle Zeiten bevor, doch meine Freundin aus dem ,Haus der tausend Freuden' sagte mir, wenn irgendjemand die Katastrophe verhindern könne, dann Sie.«
»Das ehrt mich sehr, edler Herr«, erwiderte Stanton Ware. »Ich wollte Sie um Rat bitten.«
Tseng-Wen seufzte.
»Unsere Unterhaltung sollte unbedingt unter uns bleiben.« Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann mit gesenkter Stimme fort: »Ihre Majestät, die Witwe des Kaisers, ist besessen von der Idee, daß die Boxer die Rettung für unser Land sind. Seit ich es wagte, ihr zu widersprechen, hat sich eine dunkle Wolke vor die Sonne geschoben, und ich lebe in der Finsternis.«
»Ihre Majestät glaubt das wirklich?« fragte Stanton Ware.
Der alte Mann nickte.
»Sie war schon immer sehr abergläubisch«, entgegnete er, »und besucht viele Orakel und Hellseher.«
»Dann weiß sie aber doch sicher auch, daß für dieses Jahr ein großes Unglück prophezeit wurde?« wandte Stanton Ware ein.
Tseng-Wen seufzte erneut.
»Die Kaiserin ist von skrupellosen Menschen umgeben, müssen Sie wissen, und sie erzählen ihr, was sie hören möchte.«
Stanton Ware wußte, daß das der Wahrheit entsprach und daß es viele Regierungsbeamte in der Verbotenen Stadt gab, für die es nur von Vorteil sein konnte, wenn die Kaiserin nicht alles erfuhr, was draußen geschah.
»Aber die Kaiserin glaubt doch sicher nicht an ihre angeblichen Zauberkräfte?« fragte Stanton Ware.
Tseng-Wen schüttelte gequält den Kopf.
»Jemand, der es wissen muß, erzählte mir, daß sie ihre Parolen siebzigmal am Tag wiederholt.«
»Wie bitte?« fragte Stanton Ware irritiert.
Der alte Mann zögerte, als wolle er seine Lippen nicht mit den Worten beschmutzen, dann zitierte er: »Ich bin der Geist der kalten Wolke, hinter mir liegt der Gott des Feuers. Fleht die schwarzen Götter der Pest um Hilfe an!« Seine Augen waren umwölkt, als er fortfuhr: »Jedes Mal, wenn Ihre Majestät diese Sprüche wiederholt, ruft ihr Oberdiener: ,Da ist wieder ein fremder Teufel!'«
»Das ist kindisch«, erklärte Stanton Ware.
»Wer immer auch das Feuer entfacht - die Qualen, die es verursacht, werden die gleichen sein«, stellte der alte Mann fest.
»Gibt es irgendetwas, das ich tun kann?«
»Ich habe darüber nachgedacht, bevor Sie kamen«, antwortete Tseng-Wen. »Wie Sie sicher wissen, gibt es nur einen Mann, der China retten kann, wenn er dazu bereit ist.«
Stanton Ware sagte nichts, er kannte die Antwort.
»Ich habe Li Hung-Chang mein ganzes Leben lang vertraut«, fuhr Tseng-Wen fort, »obwohl ich weiß, daß viele Dinge über ihn gesagt werden, die seinem Ansehen geschadet haben und die den Westen vermuten lassen, daß er nicht der ist, für den er sich ausgibt.«
Tseng-Wen brauchte nicht zu wiederholen, was man Li Hung-Chang nachsagte, Stanton Ware kannte die Gerüchte.
Es hieß, Li Hung-Chang habe Bestechungsgelder entgegengenommen - kein Zweifel, er war einer der reichsten Männer Chinas -, und er habe trotz seiner fortschrittlichen Einstellung den Kaiser im Kampf gegen seine Tante nicht unterstützt.
Doch er hatte sein Leben in den Dienst Chinas gestellt, und seine Meinung über die Ausländer war stets die gleiche gewesen: »Ihre Gefühle für China sind aufrichtig und freundschaftlich und ohne jede Feindseligkeit.«
Er war kein Mandschu wie der größte Teil der Gefolgschaft der Kaiserin, ja, wie beinahe alle, die Mi den Regierungsgeschäften in China zu tun hatten.
Er war ein Han-Chinese, ein ungewöhnlich ehrgeiziger Mann von großem Durchsetzungsvermögen, der den breiten Dialekt seiner Heimat Anhwei sprach.
Li Hung-Changs Familie war von den Taiping-Rebellen getötet worden. Im Alter von neununddreißig Jahren wurde er Gouverneur von Kiangsu.
Sein Leben lang hatte er, manchmal sogar ganz auf eigene Faust, für die Entwicklung Chinas zu einer Großmacht in einer sich schnell entwickelnden Welt gekämpft, und Stanton Ware war sicher, daß Tseng-Wen recht hatte, wenn er sagte, ihre einzige Hoffnung sei jetzt Li Hung-Chang.
»Wie kann ich mit ihm in Verbindung treten?« fragte er.
»Es wird schwierig sein, doch es müßte sich machen lassen.«
»Wie?«
»Sie dürfen ihm nicht als Ausländer entgegentreten, das wäre gefährlich für Sie und für ihn. Die Stimmung hat sich so zugespitzt, daß nicht nur Sie Ihr Leben, sondern auch Li Hung-Chang seine Macht verlieren könnte.«
»Man hat mich auch jetzt für einen Mandschu gehalten«, erklärte Stanton Ware lächelnd.
»Das dürfte nicht allzu schwer für Sie sein«, erwiderte Tseng-Wen, »weil die Mandschus - anders als die Chinesen - groß sind. Und wenn Sie von der mandschurischen Grenze kommen, wird man nichts anderes erwarten als einen großen, starken Mann.«
Stanton Ware wartete stumm.
»Bei Mondwechsel wird Li Hung-Chang bei Prinz Tuan eintreffen, dem er einen Besuch abstatten will. Dessen Palast liegt zwei Tagesreisen von hier entfernt am Fuß der Westlichen Berge.«
Stanton Ware war erleichtert. Er hatte befürchtet, in die Provinz Kwang Tung reisen zu müssen, deren Vizekönig Li Hung-Chang war.
Er war sich klar darüber, daß die Reise nicht nur anstrengend sein würde, sondern daß sie auch allzu viel Zeit beanspruchen würde, so daß die befürchteten Ereignisse stattfinden könnten, lange bevor er das Ziel seiner Reise erreichte.
»Mit Ihrer großzügigen Hilfe wird es mir ein leichtes sein, in den Palast zu gelangen«, meinte Stanton Ware. »Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»Es ist an uns, die wir China lieben, Ihnen zu danken. Doch vor Ihrer Abreise bleibt uns noch viel zu tun.«
Stanton Ware sah ihn überrascht an.
»Sie werden nicht nur als Mandarin verkleidet reisen - Li Hung-Chang muß glauben, daß Sie einer sind.«
Mit sehr ernster Stimme fuhr Tseng-Wen fort: »Wenn er Sie nicht anhören will und erfährt, daß Sie Ausländer sind, wird Ihr Leben in akuter Gefahr sein. Auch traue ich Prinz Tuan nicht.«
Stanton Ware wartete schweigend, daß Tseng-Wen weitersprach.
»Nur ein Narr würde unnötige Risiken auf sich nehmen«, fuhr er fort. »Ich habe einen guten Freund, der der Welt vor einem Jahr den Rücken kehrte und sich in ein Lamakloster zurückzog. Er ist ein Mandarin.«
Tseng-Wen nahm einen Schluck aus seinem Weinglas, bevor er weitersprach: »Ich weiß, daß er stolz sein würde, Ihnen seinen Namen und seine Position zur Verfügung zu stellen, um damit unserem geliebten Land zu helfen.«
»Ich fühle mich tief geehrt«, murmelte Stanton Ware.
»Li Hung-Chang wird versuchen herauszufinden, wie ihn die Witwe des Kaisers empfangen würde, wenn er in die Verbotene Stadt kommt«, fuhr der alte Mann fort. »Wie Sie wissen, ist sie sehr launisch.«
»Ich könnte ihn gleich nach seiner Ankunft im Palast aufsuchen«, schlug Stanton Ware vor.
Tseng-Wen nickte.
»Sie werden als mein Freund zu ihm gehen und ihm Botschaften und Geschenke überbringen. Sollte Ihre wahre Identität entdeckt werden, so würde das nicht nur Sie, sondern auch meinen Freund und mich in große Schwierigkeiten bringen. Daher ist es von ausschlaggebender Bedeutung, daß Sie sich nicht nur als Mandarin ausgeben, sondern daß Sie wirklich ein Mandarin sind - in Ihren Worten, Gedanken und Ihrem Handeln.«
»Ehrenwerter Herr, ich danke Ihnen für Ihre weisen Ratschläge«, sagte Stanton Ware.
»Es ist wichtig, daß Sie nicht nur erfahren, was Li Hung-Chang zu sagen hat, sondern daß Sie auch andere Geheimnisse entdecken, die möglicherweise im Palast verborgen sind. Ich werde Ihnen einen Begleiter mitschicken.«
»Ich brauche nicht zu sagen, wie dankbar ich Ihnen bin«, wiederholte Stanton Ware.
»Nein, mein Sohn«, antwortete Tseng-Wen. »Und nun sollen Sie Ihren Begleiter auf dieser so ungeheuer wichtigen Reise kennenlernen, von der vielleicht das Schicksal Chinas abhängt.«
Bei seinen letzten Worten klatschte er in die Hände, und ein Diener betrat den Raum.
Der alte Mann sagte nur zwei Worte.
Der Diener verbeugte sich und zog sich zurück, während Stanton Ware nachdenklich sein Glas ergriff.
Was für einen Mann würde Tseng-Wen wohl zu seiner Begleitung ausgewählt haben? Sicher jemanden, der Erfahrung im Ausspionieren von Geheimnissen rivalisierender Staatseinrichtungen besaß.
Jeder Mandarin und reiche Mann hatte eine Reihe solcher Männer in seinen Diensten. Sie beherrschten gewöhnlich mehrere Sprachen und verstanden es, sich in das Vertrauen der Dienerschaft und der niedrigeren Beamten einzuschmeicheln.
Die Tür öffnete sich.
Stanton Ware stellte ruhig sein Glas ab, bevor er sich umdrehte.
Er wußte, daß es in den Augen der Chinesen ein Fehler war, allzu viel Neugier zu zeigen.
Als er schließlich langsam den Kopf wandte, hätte er sich beinahe durch einen überraschten Ausruf verraten.
Denn nicht ein Mann hatte den Raum betreten, sondern das zweifellos schönste Mädchen, das er je gesehen hatte.