Читать книгу Ratsmädel- und Altweimarische Geschichten - Böhlau Helene - Страница 1
Die Ratsmädel gehen einem Spuk zu Leibe
ОглавлениеIch weiß noch so manches aus der Zeit, in der das kleine, nun längst wieder bescheidene Weimar ganz unvermutet anfing, mitten unter den tausend und abertausend europäischen Städten und Städtchen sich außerordentlich wichtig zu thun. Es mochte auch alles Recht dazu haben; denn es hatten sich in dem stillen Neste seltene Vögel eingenistet, Vögel, derengleichen vordem in Deutschland nicht gesehen worden waren, und die auch keine Jungen ihrer Art bekommen haben, so daß sie wirklich außerordentlich seltene Vögel geblieben sind, bis heutzutage.
Von dieser Zeit habe ich schon mancherlei geschrieben, und es hat den Leuten vielleicht gefallen, weil es so ruhig hinerzählt war, allem Feierlichen, Schweren aus dem Wege ging, alles Leichtlebige beim Zipfel nahm.
Ich will euch nun wieder aus den Gassen erzählen, aus den Bürgerstuben, aus den Gärten vor der Stadt, von jenen alten, gesegneten Gärten, und ich werde mich auch wieder vorsichtig, wie das erste Mal, an den großen Tieren vorbeidrücken und mich mit den Vergessenen, Verwehten abgeben.
Die werde ich aus ihren Gräbern noch einmal in ihre alte weimarische Sonne locken, von der sie so gerne sich wieder bescheinen lassen würden.
Es ist eine alte Frühlingsgeschichte, die ihr hören sollt, eine weiche, hingeschwundene Frühlingsgeschichte, in der es sproßt und keimt, in der ein lustiger, feuchter Wind weht, Nebel ziehen, in der Herzen schlagen, und in der allerlei behauptet wird, worüber man heutzutage vornehm die Achseln zucken müßte, wollte man auf der Höhe der Zeit stehen; damals aber glaubte und sprach man, was einem Vergnügen machte. So glaubte man in jenen Tagen und tuschelte es sich gegenseitig wie eine interessante Hofgeschichte zu, daß die verstorbene Hofdame der Herzogin Amalie, von der Karl August gesagt hatte: »Genie die Fülle, kann aber nichts machen!« ganz unvornehmerweise spuken gehe, und zwar in Tieffurth, im Park und im Schlößchen.
Man erzählte sich geheimnisvoll die unglaublichsten Dinge. Die bürgerliche Gesellschaft faßte die Sache ernsthaft, aber doch humoristisch auf. Sie hatte ihren Spaß daran, daß die kleine, bucklige, häßliche Dame solche Geschichten machte.
Der Adel aber zog ein sehr bedenkliches Gesicht, denn es war absolut nicht comme il faut von der Göchhausen. – Außerdem sprach die Hofgesellschaft mit einem tiefen Bedauern darüber, daß ihr so etwas »arrivieren« mußte – solch eine »Kalamität«! – Man fand, daß sich die Göchhausen noch nachträglich schwer »ridikulisierte« und unmöglich machte.
Verschiedene Personen waren ihr nachts begegnet, wie sie schimpfend und klagend die Parkwege auf und nieder gehuscht war.
Sie hatten sie ganz genau erkannt, – daran bestand kein Zweifel!
Einem weimarischen Fleischermeister, der ein Kalb von Krommsdorf erst spät heimgetrieben, war sie im Park auch nachgehuscht, und er erzählte, daß sie ihm scheußlich weinerlich und wichtig gesagt habe: »Ich la–ngweil' mich so!« – Weiter nichts. Aber wie sie es gesagt hätte! Wie aus einer Flasche heraus! Der Fleischer konnte es den Mägden, die die Neuigkeit, samt dem Fleisch von dem armen Krommsdorfer Kalb, das die merkwürdige Geistererscheinung mit erlebt hatte, pfundweis nach Hause trugen, gar nicht haarsträubend genug vormachen.
Sie war, wie gesagt, allen möglichen Leuten erschienen, immer klagend, immer schimpfend und immer unzufrieden; – manchmal auch nur murmelnd und brummend; – aber wie murmelnd! – eben ganz wie eine arme Seele murmeln muß: durch die Zähne und wie aus einer Flasche. Es war überhaupt das Merkwürdige und Ueberzeugende an der Sache, daß sich die Göchhausen genau nach Vorschrift benahm, – nach Vorschrift der alten Kobold- und Geistergeschichten.
Die Weimaraner mußten immer etwas zu schwatzen haben und hatten auch gottlob immer etwas; sie waren an die merkwürdigsten Dinge gewöhnt, eine solche Fülle von gesegnetem Klatsch hatte sich seit 1775 auf das graue Rattennest niedergelassen. Seit geraumer Zeit aber schon floß diese Quelle spärlicher, und die verwöhnten Gaumen mußten mit allerhand fürlieb nehmen und thaten dies wohl oder übel.
Zu allererst tauchen aber in unsrer Geschichte ein paar lachende, blütenjunge Gesichter auf, ein paar feste, kindlich behende Körper, blonde, dicke Zöpfe, junge, weiche, noch etwas tollpatschige Hände, helle Kleider, die sich lebendig um diese jungen Körper schmiegen, die sich so jugendsicher auf leichten Füßen bewegen, so kernig, so wohlgebaut und unschuldig.
All diese schönen Dinge miteinander gestalten sich hie zu ein paar Mädchen, die in der alten Wünschengasse daheim sind.
Sie haben ihr Lebtag in der Wünschengasse gewohnt und sind mehr, als ihnen lieb ist, dort bekannt, bei Freund und Feind, Nachbar und Nachbarin.
»Die Ratsmädel« heißen sie bei alt und jung und sind die Töchter des Herrn Rat Kirsten, der, ehrsam und würdig, nie verstanden hat, weshalb gerade ihm das Schicksal diese blonden Hexen aufhalste, die ihm mehr Mühe und Kopfzerbrechen kosteten, als seine Buben. Ja, in der That, er und Frau Rat wären auch nie und nimmermehr mit dem hübschen Paare fertig geworden, wenn nicht die ganze Wünschengasse ihnen beigestanden hätte, die Rangen zu erziehen; und nicht nur die Wünschengasse fühlte sich dazu berufen, alle Freunde und Feinde haben an dem merkwürdigen Werke mitgeholfen. »Da gehen sie!« hieß es, wenn sie miteinander durch die dämmerige Gasse schlenderten. Und wer dies aussprach, schaute ihnen gewissermaßen gespannt nach.
Von Jugend auf hatten sie es verstanden, die würdige Wünschengasse in Aufregung zu erhalten.
Sehr früh war es angegangen, das Ausschauen nach den Ratsmädchen, das Schimpfen und Lachen, das Nörgeln und Hetzen, das Verhätscheln und Anraunzen. Nie, solange die Wünschengasse steht, sind aber zwei Schwestern von Kindesbeinen an trotz alledem so ungetrübt heiter gewesen wie diese zwei, so treu ihren Freunden ergeben.
Sie gehörten zu den glückseligen Menschen, die ihr Lebtag Freunde haben, – zu den Menschen, die nie einsam sind, – zu den sonnigen Kraftmenschen, die Wärme und Strahlen für andre übrig haben.
Von Jugend an waren sie stolz auf ihre Freunde, verstanden keinen Spaß, wenn irgend jemand diesen Freunden nahe treten wollte, waren ihnen dankbar, – und was die Hauptsache ist, unverbrüchlich treu. Und diese Freunde: der blondlockige, kleine, gescheite Heinrich Goullon, den sie auf den weimarischen Straßen »den Pudding« nannten, seiner französischen Abstammung wegen; in den weimarischen Mäulern aber war »der Pudding« zu einem »Budang« geworden. – Und der schöne Franz Horny, der sich als Maler später einen Namen machte und in jungen Jahren in Amalfi starb; – sein Bild hängt dort in einer Kapelle, wo es von den Landleuten als ein heiliger Johannes oder Sebastian verehrt wird. – Und der dritte im Bunde: Ernst Schiller, Schillers Sohn.
Mit diesen dreien haben die Ratsmädchen sich so köstlich vergnügt, wie dies jetzt im lieben Deutschland nimmermehr geschieht.
Die Leute in unserm Zeitalter haben die schöne, heitere Urwüchsigkeit wie ein altmodisches Kleidungsstück abgelegt.
Die guten Freunde sind oftmals miteinander ausgegangen und haben sich oben im Ettersberg, im alten Gutshofe von Röses Paten Sperber, einquartiert. Sie sind ins Wasser gefallen, haben miteinander getanzt, wenn es ihnen paßte; sie haben getollt und gelacht, sie sind Schlitten gefahren, sie haben Räuber und Prinzeß in den Gassen gespielt, sie haben »Budang« als Mädchen verkleidet und sind mit ihm spazieren gegangen. Und die beiden schönen Mädchen sind recht eigentlich von den etwas älteren Kameraden erzogen und in die Lehre genommen worden, haben ihnen ihre Schularbeiten vorweisen müssen und sind von ihnen belobt und gestraft worden, wie das alles ausführlich schon einmal erzählt worden ist. Herr und Frau Rat wären ohne die Kameraden nie mit der Erziehung ihrer beiden Schelme zu Ende gekommen.
Ein feuchter Frühlingssturm fährt heut durch die Wünschengasse. Zerrissene dunkle Wolken jagen über den Himmel, und in die Dämmerung dröhnt die große Glocke im Schloßturm. Der Sturmwind fährt in das mächtige Geläute; er reißt die großen, vollen Töne wie Wolken auseinander und nimmt diese Riesentöne mit sich fort, zerstreut sie, läßt sie hie und da aufdröhnen und plötzlich verhallen.
Die Glocke läutet die Osternacht ein.
Es ist ein wunderbares Getöse, erschütternd, wie überirdisch; so voll, so rein, so tief wie die tiefste Menschenwonne und das tiefste Menschenleid.
Die alte Glocke, die sie im dreißigjährigen Kriege, weiß Gott wo, erbeutet haben, ist das lebendige Herz des Städtchens Weimar geworden. Ein jeder versteht dies Herz da oben im grünen Turm. Es dröhnt mächtig aus, was die andern Eintagsherzen fühlen. Es erschüttert sie, es erweckt sie, es reißt sie im Gefühle mit sich fort, wie von jeher ein großes, mächtiges Herz die kleinen mit sich gerissen hat. –
Die Ratsmädel, Röse und Marie, schauen zum Fenster hinaus.
»Hörst du?« sagt Marie.
Sie sind bisher immer, wenn die große Glocke geläutet wurde, zum Schloß hinunter gelaufen und haben hinauf nach der grünen Turmspitze gesehen, die von der Wucht der Glockenschläge langsam, aber deutlich hin und her schwankte; oder sie haben das Ohr an die alte Turmmauer gehalten, und das Dröhnen ist ihnen schauervoll durch den Körper gezittert; oder die Kameraden nahmen sie bis hinauf in den Glockenstuhl, und sie haben da, schwankend und schwindelnd und ganz betäubt von den ungeheuren Schlägen, die den Turm zu zersprengen drohten, sich aneinander geklammert und an den riesigen Balken festgehalten.
Heute schauen sie aber, wie gesagt, nur gedankenvoll zum Fenster hinaus.
Es ist, als läge irgend etwas auf ihnen.
Röse hat auf das »Hörst du?« von Marie nicht einmal geantwortet.
Sie stecken beide feierlich in weißen Kleidern und tragen grüne Schärpen.
Grüne Schärpen sind für sie noch immer der Inbegriff von aller Schönheit und Eleganz.
»Röse! Marie! Schließt das Fenster! Gleich! – Was fällt euch ein! – Der Wind!« So ruft Frau Rat, die Mutter der Ratsmädchen, die eben ins Zimmer tritt.
Eine rührende Zartheit liegt über der schlanken Gestalt. Der Haushalt mit den wilden Mädchen und Buben, die Kriegsjahre, der überernste Gatte, die Geldsorgen, – das alles ist der fein organisierten Frau zu viel geworden.
Um sie her wachsen die Kinder urkräftig in die Höhe; sie aber hat etwas Müdes, Insichgekehrtes, als wenn sie nur bei sich selbst fände, was sie sucht.
Die beiden Mädchen schließen das Fenster, und das Glockengeläut dringt nur noch dumpf ins Zimmer.
Der Wind heult im Schornstein. Frau Rat zündet die Lichter an.
Das große Familienzimmer macht heute ein feierliches Gesicht.
Der runde Eßtisch ist blendendweiß gedeckt; statt des einen Talglichtes brennen zwei Wachskerzen auf einem Leuchter unter einem grünseidenen, ovalen Schirm.
»Oho,« sagt Marie, »den nimmst du?«
»Was denn sonst, Schatz? – Habt ihr euch die Hände gewaschen?«
»Jawohl, mit Schmierseife!« antwortet Röse.
»Röse, mein Kind!« Frau Rat ist heute bewegt und streicht ihr übers Haar. – »Gutes Kind!«
Röse ist von dieser Freundlichkeit so sonderbar berührt, daß sie ihrer Mutter um den Hals fällt und in Thränen ausbricht.
»Ruhig, ruhig!«
Der Vater tritt ein, mustert alles und sagt: »Ist Senf auf dem Tisch?«
Senf war eben das Neueste.
Und es ist Senf auf dem Tisch, es ist überhaupt alles in schönster Ordnung; er findet nichts zu tadeln und geht feierlich im Zimmer auf und ab.
»Charmante Leute!« bemerkt er und wiederholt es noch einmal: »Charmante Leute!«
Niemand stört den Vater. Er liebt das »Anreden« nicht. Man hat zu warten, bis er fragt.
»Du könntest der Thon, dächt' ich, noch eine kleine Aufmerksamkeit erweisen,« wendet er sich zu seiner Frau.
»Ja was denn?« fragt diese. »Wie meinst du denn?«
»Ich dachte so etwa … etwa …«
Er schien sich über das, was er eine »kleine Aufmerksamkeit« nannte, nicht recht klar zu sein.
»Weißt du, Kirsten, ich dächte, wir erwiesen ihr schon eine recht große!« Das sagt sie leise und schaut mit einem Seitenblick auf die Mädchen.
Röse lehnt am Nähtisch, müßig den Fingerhut der Mutter auf der Platte tanzen lassend. Marie sieht ihr gespannt zu.
»Ist das eine Art, den Bräutigam zu erwarten?«
Herr Rat meint das ernst und rügend aus seiner hohen Halsbinde heraus, im Hintergrunde des großen Zimmers, zu seiner Frau.
»Bst!« macht Frau Rat. – »Mein Gott, so jung sollte sie nicht sein. So ein armes Ding!«
»I was!« sagt Herr Rat. – »Papperlapapp! Warst du etwa älter?«
Frau Rat lächelt schmerzlich. Alle Papperlapapps ihres Lebens zogen an ihrer Seele vorüber. – Sie lächelt, – alle heißen Thränen, alles Sehnen, alles Verstummen hatte sich bei ihr zu einem müden Lächeln herabgemildert, – oder in ein Lächeln zusammengefaßt, – wie man will.
Apothekers kamen.
Frau Apotheker in der schönsten Haube. Des Gatten rundes Bäuchlein war mit »selber gestickter« Seide überspannt und glänzte wie ein heiteres Gestirn. Er kniff Röse in die Wange und war vortrefflich gelaunt.
Marie tuschelte Röse etwas zu, indem sie vorsichtig nach den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses sah; da zeigte sich eben eine Dame in vollem Putz, in weißer Haube mit blauen Bändern und im weißen Kleide. Sie öffnete das Fenster und hakte die Fensterflügel ein, damit der Wind, der durch die Gasse fegte, es nicht wieder zuwerfen könnte.
»Jetzt kommen sie!« flüsterte Marie. Und es währte nicht lange, da empfing man bei Kirstens wieder Gäste: Frau Geheimderat Thon und deren Sohn Ottokar Thon, Adjutanten des Großherzogs Karl August.
Frau Geheimderat Thon begrüßte sich lebhaft mit den Eltern Kirsten, küßte dann zuerst Röse auf die Stirn, dann Marie.
Sie war die Dame, die aus dem Fenster geschaut hatte. Das weiße Kleid umschloß in langen Falten eine volle, stolze Gestalt. Das schöne Busentuch war aus kostbaren gelblichen Spitzen, und eine breite, hohe Haube mit himmelblauen Bändern beschattete ein energisches, wohlkonserviertes Gesicht.
Ottokar Thon reichte Röse die Hand und führte ihre rundliche Kinderhand dann an die Lippen.
Röse war befangen und schweigsam. Auf ihrem frischen Gesichte aber lag eine große, stille Wonne. Sie ließ indessen ihrer Schwester Hand nicht los, bis man sich zu Tische setzte.
Noch war das große Wort nicht gesprochen; aber sie ahnte, sie wußte alles! Ottokar Thon war erregt; er sprach mit ihr, als spräche er zu einem lebendigen Heiligtume, – so etwas scheu, – und doch … – Rösen überschauerte es.
Wie er schön und stolz in seiner schwarzen, verschnürten Uniform aussah!
Von dem Augenblick an, als sie ihn zuerst gesehen, war ihre Seele ganz erfüllt von seinen guten Eigenschaften, seiner Gescheitheit und seiner Tapferkeit; er war Lützowscher Jäger gewesen, und sie hatte auch gehört, wie er sich in Wien ausgezeichnet.
Die Schopenhauerin erzählte, daß Karl August ihn unbändig gelobt habe, und daß Karl August eine Schrift über die Zukunft Deutschlands von ihm kenne, von wahrer staatsmännischer Bedeutung.
»Solch ein Mensch will mich!«
Das waren Röses Jubelgedanken. –
Röse saß bei Tisch neben dem lieben, herrlichen Menschen und hörte zu, wie alle sprachen.
Es war ihr so feierlich und still zu Mute. Und sie mußte träumerisch an einen Vogel denken, der in seinem Nest auf schwankem, grünem Zweige sitzt, das von einem weichen Winde hin und her geweht wird. Die Sonne glitzert durch die dichten Blätter, und schafft so ein wohliges, grünes Licht um ihn her. Kein Auge sieht ihn; er ist sich selbst genug. Sie fühlt eine Seligkeit, die ihr noch fremd und neu ist; deshalb macht sie sich unbewußt ein Bild von dieser großen, stillen Wonne, ein kindisches, süßes Bild.
Und es waren nicht nur die Gefühle festlich und heiter; nein, alles und jedes! Zu allererst die Suppe. Eine echte Festsuppe: Grünkern mit Kerbelrübchen. Das war Frau Rats Meisterwerk. Die Kerbelrübchen, wie Mandeln so fein und klein, zergingen auf der Zunge, und die Suppe duftete wie ein blühendes Aehrenfeld. Ganz sommerlich duftete es aus der Terrine und verbreitete sich im Familienzimmer. Warmer Sonnenschein, Lerchengesang vom blauen Himmel, der echte köstliche Kornduft, ein sanfter Wind, der über die Aehrenhäupter streicht, – Erdgeruch! Das alles kam, als der Deckel von der Suppenschüssel gehoben wurde, den Gästen bewußt oder unbewußt in Erinnerung.
Das war die Eigentümlichkeit dieser Suppe!
Frau Rat hatte den Mädchen gesagt: »Die Suppe muß sein wie eine Musik oder wie ein Gedicht, die Leute sollen fröhlich davon werden.«
Ja, es war eine feierliche Suppe!
Draußen wirtschaftete der Sturm gewaltig. Die Fensterscheiben klirrten, und im Schornstein heulte und jammerte er.
Nach der Suppe gab es einen Karpfen, – einen Spiegelkarpfen mit großen, goldenen Schildern und Flecken, den besten Karpfen, den der Hoffischer gehabt hatte, einen Riesen! Röse und Marie hatten natürlich mitgeholfen, ihn aus dem Behälter herauszufischen, in dessen klarem Ilmwasser die festen Karpfenburschen sich im dichten, goldig flimmernden Gewimmel durcheinander drängten, und den allerherrlichsten hatten sie also erwischt.
Er war so schön, so unaussprechlich schön in seiner Strammheit, seiner Schlüpfrigkeit und in seinem Goldglanze gewesen.
Der Hoffischer hatte ihn selbst geschlachtet, hatte ihm den Kopf auf den festen Tisch geschlagen, dessen Füße im Rasen neben den Fischbehältern eingerammt waren, und der über und über von Fischschuppen flimmerte. Dann hatte er den Fisch in zwei Hälften geteilt und den Ratsmädchen in den Korb gepackt und ihnen die Fischblase extra verehrt. Marie war darauf getreten, um sie zerplatzen zu lassen; es hatte auch wie ein Schuß geknallt. Das war ein althergebrachter Spaß gewesen.
Als der Karpfen auf den Tisch im Familienzimmer kam, blau gesotten mit geriebenem Meerrettich, und ganz in Petersilie ruhend, da rief der Apotheker: »Donnerwetter, ist das ein Prachtkerl! Ist das ein einziger gewesen?«
Diese beiden Dinge, die Suppe und der Karpfen, waren aber nur die Vorläufer vom Propheten.
Die Gäste waren nicht zum Karpfenessen geladen, sondern zu einem wirklichen und wahrhaftigen Fasanenschmaus.
Die Fasanen hatte der junge Adjutant Thon von einer Hofjagd mitgebracht, denn er war ein großer Jäger vor dem Herrn, und hatte sie Frau Rat Kirsten in die Küche geliefert, und nun sollten sie feierlich gemeinschaftlich verzehrt werden.
Als die Magd diese seltenen Geschöpfe hereinbrachte, waren alle erstaunt, auch der Herr Rat, daß diese merkwürdigen, nußbraun gebratenen Tiere silberne Füße und silberne Köpfe hatten.
»Ja,« rief der Apotheker, »Herr Adjutant, alle Achtung vor eurer Fasanenjagd! Das nenn' ich mir Silberfasanen! Silberne Köpfe und silberne Füße!«
Röse und Marie kniffen sich gegenseitig in die Finger und waren glückselig über das Erstaunen, und daß ihr Vater auch nichts davon gewußt hatte.
Die Schopenhauerin hatte Frau Rat, als sie von dem Geschenk gehört hatte, diesen herrlichen Ausputz für gebratene Vögel aus ihrem Silberschrank geliehen.
Dazu brachte Herr Rat auch eine Ueberraschung: zwei Flaschen alten Steinwein in Bocksbeuteln. Diese beiden Flaschen hatte er in dem Franzosenjahr vor den gierigen Langfingern versteckt. Er hatte sie im kleinen, dunklen Höfchen unter dem Regenfaß vergraben und, als die Luft wieder rein war, wieder hervorgeholt, und seitdem lagerten sie in einer Mauernische, hoch oben in Rat Kirstens Keller, ganz von Staub und Spinnweben bedeckt; und in solchem Zustande setzte er sie, als die Vögel mit den silbernen Füßen kamen, zum Entsetzen seiner Frau stolz auf den Tisch.
»Aber Kirsten!« sagte diese gekränkt.
»Papperlapapp!« – Herr Rat war schon dabei, eine zu entkorken. – »Gehört sich's nicht etwa so?«
Und der Apotheker unterrichtete Frau Rat Kirsten, daß ein alter, seltener Wein in so staubigen und schimmeligen Flaschen auf den Tisch kommen müsse; das sei für den Kenner das Feinste.
Die Fasanen hatten einen stattlichen Hofstaat von Salaten, Kompotts und Beilagen aller Art.
»Na, und wie steht's denn mit dem Fuchs, den Sie verspürt haben wollen?« fragte der Apotheker den jungen Thon. »Das wäre heute so eine Nacht für die Bestie, um den Fasanen im Webicht einen Besuch zu machen!«
»Freilich, freilich, das wird er wohl auch vorhaben!« antwortete der Adjutant lebhaft.
»Seinen Bau hat der freche Bursche übrigens an der Ilm an dem Abhang zwischen Krommsdorf und Tieffurth – so eigentlich mitten im Tieffurther Park. Verspürt ist er nun, der Lump … aber …!«
»Ja – aber!« lachte der Apotheker und stieß mit dem Adjutanten auf den Fuchs an.
Marie zupfte Röse am Kleid.
Röse saß zwischen Marie und Ottokar Thon.
»Röse,« tuschelte Marie besorgt, – »sie werden doch nicht gar zu lange bleiben?« –
Röse fuhr wie aus einem Traum auf.
»Was?« fragte sie.
»Na, wenn unsre Drei nun kämen?«
»Die kommen doch nicht eher, als bis alle hier fort sind; die werden unten schon lauern, bis der letzte hinaus ist!« flüsterte Röse.
Jetzt erhob sich Herr Rat Kirsten und ließ seinen lieben, verehrten Gast, die Frau Geheimderat Thon, hoch leben und bedauerte, daß sie Weimar so bald wieder verlassen müsse.
Die Dame war nur auf kurze Zeit aus Eisenach gekommen, um ihren Sohn zu besuchen.
Darauf erhob sich Frau Geheimderat, schlug mit dem Kompottlöffelchen an ihr Weinglas und dankte sehr wohlgesetzt und stattlich.
Es war ein wohlthuender Anblick, diese kräftige, hochgewachsene Frau in ihrem weißen Kleid so frei und vornehm stehen zu sehen.
Sie sprach davon, wie beruhigt und glücklich sie ihren Sohn diesmal verlasse, wie beruhigend seine Zukunft, soweit menschliches Berechnen nicht trüge, vor ihren Augen läge, – und für diese Beruhigung, diese frohe Aussicht danke sie dem gütigen Elternpaare im Namen ihres Gatten.
Sie hob ihr Glas und stieß mit Herrn Rat und Frau Rat an, dann mit Apothekers, und mit Röse ganz besonders.
»Gott segne dich, mein liebes Kind!« sagte sie.
Ihr Sohn trat auf sie zu und küßte ihr die Hand; darauf küßte er Röses Hand wieder tief bewegt.
Frau Rat traten Thränen in die Augen. »Du wilder Schlingel!« flüsterte sie Röse zu.
Aber ausgesprochen wurde das große Wort nicht. Das war auf Vater Kirstens Befehl hin so eingerichtet.
Die jungen Leute sollten noch mit der Heirat warten, und er wollte in seinem Hause Ruhe haben, und vorderhand keinen »Verlobungstrafik«, wie er sich ausdrückte. Das Geküß und Gethu sollte möglichst eingeschränkt werden.
Das fehlte ihm jetzt: auf Schritt und Tritt über ein verliebtes Paar zu stolpern!
Er war Herr im Hause, damit basta!
Der Apotheker erstickte fast an einer Rede, und die Apothekerin mußte ihren Mann zweimal am Rockschoß zupfen, als sie bemerkte, daß ihm der schönste gewürzte Verlobungstrinkspruch auf der Lippe saß.
Einmal hatte er sich schon erhoben; da war aber der Wind mit solcher Gewalt gegen die Scheiben gefahren und hatte an den wackeligen, alten Fenstern gerüttelt, daß der Apotheker ordentlich zusammengefahren und wieder zur Besinnung gekommen war. Ihm war Wind greulich zuwider.
Röse vermißte das Aussprechen des großen Wortes durchaus nicht. Es war gut so. Sie wünschte sich's nicht anders. Nichts schreckte sie aus ihrem süßen Traume auf. Sie fühlte sich so unaussprechlich glücklich! Und es war nichts Beängstigendes bei diesem Glück. Zugleich erschien es ihr aber auch noch fremd. Sie mußte sich erst daran gewöhnen.
Ja, wie es ihr Vater eingerichtet hatte, so war es gut!
Sie kannte auch Onkel Apothekers Verlobungs- und Hochzeitssprüchlein und gab ihrem Vater, als sie mit ihm anstieß, extra einen Kuß dafür, daß der in der schön gestickten, seidenen Weste nicht reden durfte.
Der junge Adjutant Thon sah das wundervolle, blonde, kindliche Geschöpf vor sich, wie es so süß träumte. Und sie gehörte ihm, war sein eigen, sie war ihm versprochen!
Er war wie verdurstet, wie verschmachtet. Ein Kuß auf diese junge Wange, auf den kecken, rätselhaft schweigenden Mund schien ihm Erlösung, – das seidenweiche Haar zu streicheln Erquickung!
Und daß sie an seiner Seite so bräutlich verschämt schwieg, erschütterte ihn.
Er empfand ihre junge Liebe wie den Duft einer Blume. Ein berauschender Duft! –
Marie flüsterte Rösen ins Ohr: »Du, Röse, sie wird doch heut auch wirklich spuken?«
»Wer?« fragte Röse.
»Ach geh!«
»Wenn das so werden soll, wenn du ewig nur vor dich hin gucken willst! – Na dann –!« Marie sprach sich nicht weiter aus, schien aber entrüstet zu sein.
»Jesses,« flüsterte Röse, »wenn ich nicht gleich aufpaß! Mich freut's grad so wie dich, wenn sie spukt; vielleicht noch mehr!«
Der noch nicht offizielle Bräutigam hörte die beiden zankend miteinander tuscheln.
»Ich denke, die Demoisellen sind immer ein Herz und eine Seele?«
»Sind wir auch!« sagte Röse.
Er lächelte und sprach eifrig mit seiner jungen, zukünftigen Braut; etwas würdig, wie er es mit jedem jungen Mädchen that, aber jedes Wort bebte und zitterte und war beladen mit allem möglichen, und die Blicke beider hingen aneinander, – forschend, ergründend und scheu den Anblick genießend.
Draußen fauchte in langen Zügen unvermindert der Wind und trug jetzt, wie es schien, einen merkwürdig hellen, rhythmischen Pfiff auf seinen Flügeln.
Röse, die eben im lebhaftesten Gespräche mit ihrem Anbeter war, spitzte die Ohren, erhob sich wie im Traume, ging dem Fenster zu, blieb aber zögernd, wie unverrichteter Sache stehen und begab sich wieder auf ihren Platz.
Der junge Thon beobachtete sie.
»Schaf!« flüsterte Marie ihr zu. »Wenn sie's merken, lassen sie uns bei dem Wetter nicht fort!«
Es war etwas übermütig Glückseliges in Röses Gesicht gekommen.
Die Ratsmädel kniffen sich gegenseitig versteckt in die Arme.
Frau Rat aber hatte auch den Pfiff gehört und dachte bei sich: »Das war ja Budangs Pfiff; was lauert denn der?«
Jetzt schellte es unten.
Das sind sie! dachten Röse und Marie gleichzeitig erschreckt und sprangen beide auf, um die Hausthür zu öffnen. Was ihnen denn nur einfiele! Waren sie denn des Kuckucks!
Sie trafen aber ganz etwas andres, als sie vermuteten.
Die Schopenhauerin schickte als Dessert nach dem Fasanenschmaus für Röse ein weißsamtenes Ridikül mit Perlenstickerei und mit einem Veilchenbouquet daran gebunden, etwas unsagbar Schönes, Bräutliches. Sie hatte jedenfalls nicht anders gedacht, als daß die Verlobung doch bei einem Gläschen Wein trotz alledem feierlich abgesprochen worden sei.
Röse und Marie wußten nicht recht, was sie damit beginnen sollten; sie beratschlagten und hielten sich deshalb ziemlich lange auf der Treppe auf. Marie kam auf den schlauen Gedanken, das wundervolle Ding mitsamt den Veilchen in ihr Schnupftuch zu wickeln; so wollten sie es aufheben, bis die Gäste fort wären, denn beide fürchteten, es möchte dem Vater nicht recht sein, wenn sie das Verlobungsgeschenk der Schopenhauerin jetzt mit hereinbrächten. Und es geschah so, wie sie sich vorgenommen.
»Was war denn?« fragte Frau Rat ernst, als die Mädchen wieder eintraten.
Röse errötete und flüsterte ihrer Mutter etwas ins Ohr.
Der junge Thon fand, daß die beiden Mädchen seit einiger Zeit von einer merkwürdigen Unruhe befallen waren. Es war ihm, als müsse er mit Röse ein feierliches, großes Wort reden.
Eine bange Unruhe überfiel ihn. Liebte sie ihn auch wirklich? War er ihrer sicher?
Die beiden Mädchen hielten sich, während sie ganz vernünftig und liebenswürdig sprachen, unter dem Tisch an den Händen fest.
»Heut wär' eine schöne Nacht für meinen Fuchs!« dachte der junge Thon mitten in seinem Herzensrausch. Er hat bereits gestern die halbe Nacht platt auf dem Bauche vergeblich vor dem Fuchsbau gelegen und sieht sich schon, wie er an der nur ihm bekannten Stelle abermals auf den Fuchs paßt. Er hört im Geiste die knospenden Bäume über sich rauschen, fühlt wohlthätig den kühlenden, weichen Sturm. Und das Lauern, das scharfe Hinhorchen, – das Spannen, – die Naturlaute, die nachts hie und da geheimnisvoll auftauchen, – da wird's ihm wohl werden!
Die Gäste empfehlen sich zur Bürgerstunde. Alle machen Frau Rat Kirsten Komplimente über das splendide Gastmahl, und Frau Geheimderat Thon drückt Röse mütterlich zärtlich an sich und flüstert ihr etwas ins Ohr. Röse errötet tief und küßt ein wenig zaghaft und verlegen die Hand ihrer künftigen Frau Schwiegermutter.
Und wieder ist sie durchschauert von etwas Ungeahntem, Unbekanntem, als Ottokar Thon ihr zum Abschied die Hand drückt, so erregt und bewegt, als wäre dieser einfache Händedruck eine heilige Handlung.
Als alle fort waren, fällt sie ihrer Mutter in die Arme und küßt sie und lacht, und dabei glänzen ihr die Thränen in den Augen.
Die Mädchen müssen noch mit aufräumen, alles an Ort und Stelle bringen; sie sind zu diesem Behuf aus ihren weißen Kleidern in die grauen Ginghamalltagskleider geschlüpft und wirtschaften mit wahrem Feuer und so ordentlich und vernünftig, daß Frau Rat ihre Freude hat und bei sich denkt: »Was für ein paar flinke Mädchen sind sie doch, pflichttreu und brav!«
»Jesses, Röse,« flüstert Marie, »mach zu! Wenn du so trödelst, wann denkst du denn, daß wir fortkommen?«
»Erst müssen doch alle im Bett sein,« sagt Röse bang, »was hilft's denn sonst? – Poltere doch nicht so!« Marie ging darauf hin auf den Fußspitzen.
Drüben bei Thons war schon alles dunkel.
»Ach Gott!« brummte Marie, »weshalb dauert's denn bei uns so lang?«
Die Magd schlürfte noch draußen herum; der Vater sah nach diesem und jenem; die Mutter schloß das gespülte und geputzte Silberzeug in den Schrank.
Röse beguckte sich noch einmal nachdenklich die silbernen Füße und Hälse der Fasanen.
Nach und nach zog aber auch in das Kirstensche Haus Dunkelheit und Nachtruhe ein.
Die beiden Mädchen waren hinauf in die Kammer geschickt; die Magd, Vater und Mutter, jedes war schlafen gegangen, und keine Maus rührte sich.
Es schlug elf Uhr. – Da war es, als wenn auf der dunklen Treppe sich vorsichtig etwas bewege. Es knarrte eine Stufe; es huschte und schlich etwas. Zwei Stimmen wisperten vorsichtig. »Ach Gott im Himmel,« sagte Röse tief erregt, dicht am Ohr Maries, »mir ist's ordentlich angst, – so was haben wir noch nie gethan! Glaubst du, daß der Vater bös sein würde?«
»Röse,« erwiderte Marie mit Herzklopfen und verhaltenem Atem, »jetzt ist's zu spät! – Mach nur leise, – du trampelst ja!«
»Na,« murrte Röse, »wenn das Trampeln is! Gar nich!« Aber da krachte die alte Stufe so entsetzlich. Den beiden kam es wie ein Kanonenschuß vor. – Sie standen ganz starr und hatten nicht den Mut, sich wieder zu regen. – »Ach Gott!« klagte Marie.
Dann aber schlichen sie langsam und vorsichtig weiter.
»Ich höre da draußen wen,« brummte Herr Rat in seinen Kissen.
Frau Rat war schon am Einschlafen und entgegnete undeutlich: »Der Wind; auch wohl die Katze.«
Das leuchtete Herrn Rat ein, denn der Wind rasselte draußen an den Dachrinnen, klirrte mit den Fensterscheiben, sang und jodelte in den Schornsteinen. Es war eine wilde, stürmische Osternacht. Zerrissene Wolken fuhren über den Himmel.
Unten an der Hausthür fingerten jetzt ein paar ängstliche, zitternde Händchen vorsichtig, um den großen Hausthürschlüssel geräuschlos ins Schlüsselloch zu stecken.
Röse und Marie hatten diesen Schlüssel, pochenden Herzens, aus der Mutter Speisekammer stibitzt.
Nun standen sie draußen, im Sturm aufatmend, und schauten mit ängstlichem Blicke nach dem Fenster oben. Sie seufzten beide tief, denn es war ihnen nicht geheuer zu Mute. Sie hätten's nicht thun sollen! So heimlich fortzuschleichen war das Rechte nicht, das fühlten sie. Und sie dachten beide mit einem Gefühl bangen Seelendruckes an Frau Geheimderat Thon, vor der sie den denkbar größten Respekt hatten. Was die wohl dazu meinen würde?
»Donnerstag!« rief Röse, »ist das ein Wetter! – Himmlisch!«
Sie faßten sich an den Händen und ließen sich von dem Winde treiben. »Glaubst du wirklich, daß es was gibt, wenn sie's oben merken?« fragte Röse.
Marie antwortete nicht. Der Wind hatte ihren wollenen Longshawl gefaßt und sich darin verfangen.
»Weißt du,« sagte sie nach einer Weile, »ich glaub' schon. Aber wenn alles gut ausgeht, und wir haben sie wirklich gesehen, und wir sagen's, dann – dann …«
Der Wind nahm ihr den Atem.
Sie wollten nicht quer über den Markt laufen, sondern lieber gedeckt, wie die Diebe an den Häusern hin; und so eilten sie Hand in Hand vorwärts. Ihre engen Kleiderröcke flatterten wild im Westwinde; die Stirnlöckchen, selbst die schweren hängenden Zöpfe wehten und peitschten um sie her. »Diese Scheusäler!« brummte Röse, als ihr Maries Zopf übers Gesicht gefahren war.
Jetzt mußten sie am »Elefanten« vorbei. Aus der Gaststube schimmerte Licht in die Dunkelheit; es trat jemand aus der hellerleuchteten Thorfahrt. Röse und Marie drückten sich atemlos, erschreckt in den Schatten an die Mauer. Dann liefen sie weiter, mit halb zugekniffenen Augen, weil der Sturm Sand und Staub aufrührte.
Das Wolkengeschiebe riß auseinander, und der Vollmond schaute auf einen Augenblick ungeheuer glänzend, als wäre er von den Wolken eben erst wieder blank gewischt worden, auf die dunkle, windgepeitschte Erde hinab.
»Gucke, der Mond!« bemerkte Röse im Rennen.
Als sie am Schlosse vorbei zur Burgmühle kamen und die Ilm nächtlich an ihnen vorbeirauschte, blieben sie stehen und lauschten ins Dunkel hinaus.
Ihre Herzen hämmerten, ihre Wangen glühten; der Sturm hatte sie wie ein paar Rosenbüsche zerzaust.
»Die andern werden in der Fähre stecken,« flüsterte Marie, »wenn sie uns nur nicht erschrecken!«
Ja, sie fürchteten sich sehr! Das grelle, plötzlich hervorbrechende und wieder verschwindende Mondlicht, die schweren, schwarzen Wolken, der Sturm, der in den hohen Bäumen sauste, und dazwischen die unheimliche Stille, ohne menschlichen Laut, nur von entferntem Hundegebell unterbrochen, das Kreischen der uralten, verrosteten Wetterfahne auf der Mühle, – alles bedrückte sie!
Röse versuchte einen kleinen rhythmischen Pfiff, dem ähnlich, den der Wind vorhin durch die Wünschengasse getragen hatte; aber er kam so zaghaft zu stande, daß er wie ein Hauch verflog.
»Bis hierher wird sie doch nicht kommen?« fragte Marie kaum hörbar.
»Ach gar!« wehrte Röse mit geheucheltem Mute, und beide schmiegten sich fest aneinander.
»Sie sitzen gewiß in der Fähre und schaukeln sich,« meinte Marie. »Wir müssen ein bißchen näher. Ob der Müller ihnen wohl die Fähre los gemacht hat?«
Sie gingen vorwärts, aber sehr, sehr langsam.
»Wie die Ilm rauscht!« sagte Marie.
Jetzt pfiffen sie beide. Budang würde erklärt haben: »Scheußlich falsch.«
»Oho!« hörten sie laut rufen.
Und es kam wirklich aus der Fähre. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, da standen ihre drei Freunde Budang, Horny und Ernst Schiller vor ihnen.
»Trödelbüchsen!« rief Budang.
»Gottlob, daß ihr da seid!« sagte Marie aufatmend.
Horny und Budang halfen den Mädchen auf die dunkle Fähre. Das Ilmwasser rauschte und gluckste um die groben Bretter und schien eine eisige Kälte zu verbreiten.
Budang und Ernst Schiller stießen vom Ufer, die Fähre zwischen den geteerten Tauen lenkend. Die vier Räder, woran die schweren Taue liefen, schnurrten; der Wind klappte und rasselte damit. Röse und Marie saßen aneinander gedrängt. Wie dünkte ihnen ihre alte gute Fähre heute sonderbar und bedrohlich, einem Riesenungetüm ähnelnd, dem man nicht trauen durfte. Wie sie über das klatschende Wasser schlich, wie sie schwankte, ruckte und zuckte! Der Sturm erschwerte die Ueberfahrt außerordentlich.
»Wie schaurig die Ilm sein kann!« wisperte Röse wieder, – »so schwarz!«
Budang rief: »Na, ihr fürchtet euch wohl?«
Keine Antwort.
Die jungen Burschen lachten nur kurz auf, denn sie waren gerade dabei, die Fähre am andern Ufer anzulegen, und mußten aufpassen.
Beim Aussteigen waren die Ratsmädchen noch immer schwer und bang gestimmt. Alle miteinander schritten in einer Reihe den aufwärts führenden Weg hinan. Den breit ausladenden Westwind hatten sie jetzt in der Seite. Man konnte sich ordentlich dagegen stemmen. Der Mond war einmal wieder hinter den Wolken verschwunden, die Dunkelheit pechschwarz.
Röse fragte Budang zaghaft bittend: »Einhäkeln?«
»Ja, aber so schwer mußt du dich nicht wieder machen!«
»Budang,« kam es schüchtern von Röses Lippen, »in der Osternacht da stehen die Toten aus ihren Gräbern auf.«
Marie, die sich an Röse hielt, fuhr zusammen.
»Nu ja,« meinte Budang kaltblütig, »deshalb gerade, denke ich, gehen wir doch!«
Tiefe Stille.
Marie ergänzte Röses Wissen: »Und die Tiere sprechen miteinander und die Sonne tanzt, wenn sie aufgeht!« Es durchrieselte sie selbst bei ihren Worten.
»Ach Budang,« begann Röse wieder, »es gibt so fürchterliche Dinge! Am Tage denkt man nicht daran, aber nachts, da sieht alles so wie in einer alten schrecklichen Geschichte aus. Weißt du von dem Fährmann, der die Toten über ein großes schwarzes Wasser setzte; – so wie wir vorhin, fuhren sie von allem fort, was sie kennen und was sie lieb haben. – So hat es gewiß gerauscht, – und so kalt wird's gewesen sein, und die Taue haben so geklappt, und die Räder geschnurrt; und alles pechschwarz, Sturm, nie wieder Sonnenschein! – Und da haben sie auch so auf der Bank gesessen und sich gefürchtet, – und sind auf Nimmerwiedersehen fortgefahren! – Budang, wie mir die Göchhausen leid thut! – Glaubst du denn wirklich, daß sie kommt? – Und wie ist's denn nur, daß sie gerade kommt, und die andern nicht? – Ach, Budang, wer so was wissen könnte! Ob sie wohl recht unglücklich ist?«
Marie bemerkte zu Ernst Schiller: »Und daß sie wie aus einer Flasche spricht, – so fiept, – das ist gräßlich!«
Sie gingen jetzt durch die breite Allee von Kastanien, alle Hand in Hand.
Der Wind schlug die Zweige mit den dicken, glänzenden Blätterknospen aneinander; es klappte und sauste, und über die kahlen Felder kam es unheimlich angebraust.
Röse wisperte: »Kahle Bäume sind die Gerippe, und die Blätter werden erst das Fleisch daran.« Dabei hielt sie sich an Budang fest vor Grauen. Und Marie flüsterte bebend: »Pfui Röse!«
»Jetzt haben wir's,« sagte Budang, »jetzt fürchten die sich!«
Aber sonderbar, sie gingen alle etwas aneinander gedrängt; ganz geheuer war es keinem von der Gesellschaft zu Mute.
»Ich weiß noch gar nicht, wie das werden wird, wenn sie wirklich kommen sollte! Was machen wir denn da mit Röse und Marie –?« meinte Ernst Schiller.
Röse ließ ihn nicht aussprechen: »Da sei du nur ohne Sorge, wenn es darauf ankommt, fürchte ich mich gar nicht! – Ich rede sie an!«
»Oho,« rief Budang, »ihr wißt, daß ihr nicht prahlen sollt!«
»Budang,« zürnte Röse, »das geht jetzt nicht mehr, so darfst du uns nicht behandeln! – Weißt du, wir sind so gut wie verlobte Mädchen!«
»Jawohl,« antwortete Budang halb ironisch, halb ärgerlich, »laß die dummen Witze!«
Röse fuhr empört auf. »Nein, jetzt glaubt er's nicht! – Haben wir je gelogen?«
Die ganze Karawane stockte mit einem Ruck. Sie standen alle zusammengedrängt wie in einem Nest, und der Wind schnob um sie her und trieb sie noch näher zu einander.
»Beide?« fragte eine sonderbare Stimme, von der niemand sogleich wußte, wem sie angehörte. Sie klang so fremd, so unterdrückt, als wenn der Frühlingssturm selbst mit einemmal eine leise, ängstliche Frage gethan hätte.
Franz Horny sah beim grellen Mondlicht eine sonderbare Veränderung in dem Gesichte seines Freundes Ernst Schiller.
Ja, er und Ernst Schiller hatten mit den beiden Mädchen Götzendienst getrieben; für sie gab es nichts Schöneres, nichts Lieblicheres als diese Geschöpfe. Aber Horny war kühlen Herzens geblieben, sein ganzes erstes Jugendfeuer gehörte seiner Kunst. Und nun fragte er ruhig, wenn auch seines Freundes wegen innerlich erregt: »Beide?«
»Nein,« sagte Marie, »nur Röse; aber sie darf's ja noch nicht sagen!«
»Nun, – weshalb sagst du dann: beide?«
»Ich weiß nicht,« meinte Röse beschämt. Da hatten sie sie doch auf einer Lüge ertappt, die Bengel!
Es war ihr aber so entwischt, weil noch nie eine etwas gehabt hatte, was die andre nicht auch besaß. Es mochte ihr neu sein, daß sie Einzelwesen waren. Es verdutzte sie völlig. Beide gehörten so eng zusammen. Sie waren sogar merkwürdigerweise in ein und demselben Jahre geboren, als gute Kameraden so ganz nah aufeinander gefolgt; das wissen wir ja.
Im Webicht peitschte der Wind das Gestrüpp der Büsche durcheinander. Er sauste durch die Tausende schlanker Ruten und Zweige, wie durch ein Riesensieb.
Ein Schrei von einem Käuzchen! Fern brömselte ein andres schwatzend und klagend, frühlingshaft spitz und grell vor sich hin. Auch ein Liebespärchen, das sich lockte und schalt, koste und sich beklagte!
Wenn man genau hinhörte, fiepte und klatschte es da und dort: unbestimmbare Nachtlaute. Ganz fern ein Vogelaufkreischen!
»Guten Appetit!« sagte Horny, »da ist einer über eure Fasanen gekommen, – vielleicht ein Fuchs.«
»Wie waren sie denn?« fragte Budang, der an Röses Verlobungsgeschichte nicht glauben wollte und sich doch nicht recht zu fragen getraute.
»Gut,« sagte Röse. »Sie hatten auch silberne Köpfe und silberne Füße aufgesteckt bekommen. Sie sahen prachtvoll aus.«
Die Karawane setzte sich wieder in Bewegung, jetzt ganz still.
Röses Verlobung lag über allen wie etwas Unbegreifliches.
»Röse,« wagte Budang nach einer Weile sich zu erkundigen, »ist denn deine Verlobung wirklich wahr?«
»Ja, Budang.«
»Mit dem Thon, der euch die Fasanen geschickt hat?«
»Ja.«
»Herr Gott!« sagte Budang, »glaubt der, daß du eine vernünftige Person bist? Thust du's denn freiwillig? Verlobst du dich denn gern? Ich begreif's nicht! Wieviel jünger bist du denn als ich?«
»Anderthalb Jahr,« gab Röse wie im Examen Auskunft.
»Stell dir vor,« fuhr Budang fort, »wenn ich mich in anderthalb Jahren verheiraten wollte. – Lächerlich!«
»Ja,« bestätigte Röse aufrichtig.
»Und du weißt's, daß du verlobt bist, – seit heute erst, – und bist doch mitgerannt! – Du bist aber gedankenlos! Da muß man doch, dächt' ich, ganz erschüttert sein?«
»Ach,« meinte Röse betreten, »ich bin ja auch noch nicht ganz verlobt! – Und glaubst du etwa, ich denk' nicht immer dran? – Immer! – Nein, weißt du, mir ist's auch viel lieber, daß ich mit euch hier renne; zu Haus war mir's manchmal ganz angst und bange vor Glück.«
»Weiß denn der Thon, daß du hier mitläufst?«
»Nein.«
»Na, mir scheint, du denkst wirklich über gar nichts nach! Wie bist du nur!«
»Ach geh!« wehrte Röse ab.
Der Sturm hatte nachgelassen.
Sie bogen jetzt ins Dorf ein.
Die Kirchturmuhr schlug zwölf: die Geisterstunde!
»Da kommen wir ja gerade recht,« meinte Horny.
Marie that einen tiefen Seufzer. »Wenn ihr so sprecht, geh' ich wenigstens nicht mit,« protestierte sie leise, aber heftig.
»So seid ihr Mädchen: ›Wasch mich, mach mich aber nicht naß!‹« rief Budang. »Ich habe es immer gesagt, Röse und Marie denken nicht; sie thun's nur!«
»Nein,« sagte Röse, »da irrst du dich!«
Sie gingen jetzt auf einem schmalen Wege, der an der Ilm vorüberführt. Und die Ilm gluckste und rauschte auch hier geheimnisvoll nächtlich, und der Wind pfiff noch gespenstischer durch die riesig hohen Ulmen. »Wenn sie hier käme,« flüsterte Marie zitternd, »da könnten wir doch nirgends ausweichen, – so zwischen der Mauer und der Ilm. – Ich stürb' auf der Stelle, wenn sie mich anfaßte!«
»Fällt ihr nicht ein,« zürnte Budang; »wie soll sie darauf kommen, dich anzufassen? Schließlich war sie doch eine vornehme Dame, und die wird sich doch nicht im Grabe solche Handgreiflichkeiten angewöhnt haben!«
»Laß doch,« meinte Ernst Schiller, »sie mag das nicht hören!«
Marie war jetzt im Grund ihres Herzens tief erregt; das nächtliche Ausreißen von daheim, die dumpfe Sorge, daß sie doch etwas Unrechtes thäten, das schauerliche Ziel, die vermutliche Nähe des Entsetzlichen, – all das hatte sie überwältigt, und sie brach in Thränen aus.
Seele und Körper erschauerten ihr. Sie suchte eine Stütze; Röses Hals umklammernd, weinte sie bitterlich.
»Marie,« schalt Budang, »sei doch vernünftig!«
Die drei Freunde standen um die Ratsmädchen her und wußten nicht, was beginnen.
»Laßt sie nur!« sagte Röse. Und beide Mädchen steckten ihre blonden Köpfe ganz dicht zusammen, und die jungen Körper schmiegten sich fest einer an den andern.
Der Mond schien hell über sie hin.
»Röse,« bat Marie schluchzend, »nicht wahr du, wir verlassen uns doch nicht?«
»Nein,« sagte Röse, »gewiß nicht.«
»Die arme Göchhausen!« schluchzte Marie wieder, »wie muß der zu Mute sein! – Und wie schrecklich, daß sich die Leute so vor ihr fürchten!«
»Wir wollen sie anreden,« ermutigte Röse, »und wollen sie fragen. Vielleicht können wir ihr helfen. Komm, Marie!«
Die guten Herzen der beiden überwanden das Grauen.
Sie hielten sich noch eine Weile umschlungen, während Röse leicht beschwichtigend auf Maries Rücken klopfte. »Nun gehen wir weiter,« sagten sie dann, und sie hingen sich wieder ein in die Arme ihrer Freunde.
»Der Mond hat sich wieder versteckt,« meinte Marie bedenklich.
In der großen, tiefen Stille, die durch kein Geräusch gestört war, nur die Ilm plätscherte, und der Wind fuhr durch die Baumkronen, da hörten sie etwas! – Was war das?
Sie befanden sich noch auf dem schmalen Weg. – Von fern ein Scharren, – ein Laufen, – ein Huschen, – Schritte, – aber merkwürdige Schritte, – in Sätzen, – etwas ganz Unvermutetes, Unvernünftiges, Menschenunwürdiges!
Sie standen alle bewegungslos, lautlos.
Wenn sie das wäre, so wär's grauenhaft, so ein unwürdiges Hupfen und Huschen!
Ihre Herzen klopften zum Zerspringen. Es kam näher, – grad auf dem Wege kam es auf sie zu, – näher, – immer näher, auf dürren Blättern gehend, dann hopsend! Ja, wenn sie das wirklich wäre, dann überstiegen diese Laute alle Phantasie! Der entsetzlichste Kobold hätte nicht widersinniger rennen, hüpfen und stehen bleiben können, als es das that, was da ankam! – Und zu denken, daß diese arme Seele eine vornehme, geistreiche Hofdame war, wenn auch mit einem etwas boshaften Mundwerk gesegnet und mit einem Buckel! – Ein Mensch! Eine Hofdame!! – so heruntergekommen, so urweltlich sich aufführend, – so ungeheuerlich!
Die junge, starke Phantasie der fünf Nachtwandler wurde mächtig bestürmt. Sie standen wie Schatten an die Gartenmauer angedrückt, – totenstill. Wie mußte erst das Aussehen des Spukes sein, nach solchen Lauten! – Sie hatten sich alle eine unbestimmte Vorstellung von der Begegnung mit der Göchhausen gemacht, etwas Geisterhaftes – Nebelhaftes – Huschendes – Fiependes, – und daß sie wie aus einer Flasche sprechen würde; aber nicht so – um Gottes willen nicht so!
Der Mond war hinter eine zerfetzte Wolke gekrochen, deren Ränder versilbernd.
Da sahen sie sich etwas bewegen, – etwas Ungestaltes, Niederes; – es glühten zwei Augen, da war gar kein Zweifel, – und zwei unbegreifliche, wackelnde Hörner zeigten sich und hoben sich gespenstig vom dunklen Hintergrund ab! Diese wackelnden Hörner, was sollten die? Was wollten die?
Röse und Marie waren gelähmt vor Entsetzen.
Da mit einemmal ein Zappeln, ein Strampfen, ein Bocken und Stampfen, und wie aus einer Trompete, ein urweltlicher, scheußlicher Ton, und – ein Gelächter! Budang war's, der lachte.
Der Mond hatte sich jetzt durch seine Wolken gearbeitet und beleuchtete – ein kleines, graues Ungetüm, das verdutzt auf vier hohen, sparrigen Beinen stand und seinen Riesenkopf mit seinen Riesenohren vor sich hin streckte und horchte.
»Jesses, ein Esel!« rief Röse erlöst.
Durch die Stimmen erschreckt, machte das kleine junge Scheusal hopsend und stolpernd Kehrt und jagte wieder mit vorgestrecktem Kopf in die Nacht und in den Park hinein.
»Weiß Gott,« sagte Budang, »das war der kleine ›Muffel‹, der ist dem Pächter entwischt!«
Sie blieben alle still und betreten, also müsse noch was kommen; zu einem wirklichen herzhaften Gelächter brachten sie es nicht. Es lag etwas in der Luft, so etwas Rauschendes, Werdendes, – so etwas Banges, Wehes. – Auf Windesflügeln fuhr es durch die hohen Bäume und sauste schwer über die uralte Erde hin; es klopfte und pochte überall an, an die schwellenden Knospen, an die Herzen, an die Gräber, – denn es war heilige Osternacht, wo die Toten auferstehen!
Fern fiepte es wieder: Fledermäuschen, – Käuzchen, – verliebtes Nachtgetier.
Jetzt zogen sie über die großen, weiten Parkwiesen. Die Schritte waren unhörbar auf dem moosigen Rasenboden. Eine moderige Feuchtigkeit stieg auf.
Sie gingen immer noch in einer Reihe, Hand in Hand.
»Ist's wahr,« erkundigte sich Röse bang, »daß vor Goethes Gartenhaus alle Morgen gekehrt wurde? Daß ein wunderschönes Mädchen dort gekehrt hat? – Glaubt ihr das?«
Sie unterhielten sich alle mit halber Stimme. Die Wucht der stürmischen, feuchten Frühlingsnacht lag über ihnen.
Marie sagte leise: »Goethe hat das Mädchen selbst einmal gesehen; die Schopenhauern hat's erzählt, und die weiß auch, wer's gewesen ist. Beim ersten Morgenschimmer hat er das Mädchen getroffen, wie sie gekehrt hat, – und da hat sie aufgeschrieen wie eine arme Seele und ist zusammengesunken wie ein Wisch; und eine alte Frau, die wie ein Schatten war, hat sie mit sich genommen und hat etwas gemurmelt, wie: ›Ach, wenn ma auch immer alleinig is!‹ Dann sind sie nie wieder gekommen, und das Kehren war aus!«
Diese erschütternde Erzählung stieß auf einigen Unglauben. – »Ja, wißt ihr denn das nicht?« rief Marie unwillig, »Goethe hat der Schopenhauern gesagt, daß das nicht das einzige Mal gewesen ist, daß er das Mädchen gesehen hat. Wenn er in seinem Zimmer bei der Arbeit saß, hat es sich ihm manchmal so zart an die Seite gedrängt, – so wie ein Kätzchen, – oder wie ein Mädchen, das ihn lieb hatte und für ihn gestorben ist. Einmal hat er auch, als es wieder so kam, einen ganz feinen Arm gesehen, der sich über seine Brust spannte, – nur einen Arm und eine Hand. Und wenn er in der Dämmerung in seinen Garten ging, da soll etwas neben ihm aufgetaucht sein, etwas Unbestimmtes. Es haben's auch andre Leute gesehen und sind davor erschrocken. Ja, es war oft jemand unsichtbar um ihn, der ihn übermenschlich liebte! Und der Schopenhauern hat er erzählt, daß kein Gefühl je dem gleichgekommen ist und ihn so übermannt hat, wie der Schauer, wenn das Wundersame bei ihm gewesen sei. Und an dem Morgen, an dem er das schöne Mädchen kehren gesehen hat, da soll er ganz verstört gewesen sein!«
Mit dem Kehren schien es also doch seine Richtigkeit zu haben; alle unterhielten sich weiter über geheimnisvolle Dinge. Jeder hatte etwas zu erzählen.
Röse wußte von einem Kobolde, der den Leuten beim Umzug als Feder nachfliegt und im neuen Hause wieder mit einzieht; die Beutlersleute, die über Kirstens wohnten, kannten einen in ihrer Familie, der auf Spinnenbeinen ging und eine Zipfelmütze trug. – Im alten Rattenneste Weimar spukte es zu jener Zeit eben noch recht kräftig. Da gab es keinen Kreuzweg und kaum eine Wegesbiegung, wo nicht irgend etwas nächtlich hockte und sein Wesen trieb, und kein altes Haus, in dem es ganz einfach geheuer war, und keine adelige Familie, die nicht gerade so wie ihr altes Familiensilber ihren alten Familienspuk besaß. Das heißt, auf den Familienspuk war bei weitem sicherer, als auf das Familiensilber zu rechnen.
Und so strichen unsre Fünf im nächtlichen Grauen auf den einsamen Parkwiesen hin und her und betraten nun mit abermals klopfendem Herzen die dunkelsten, geheimnisvollsten, überwachsenen, feuchten Wege an der Ilm, um trotz allem der gespenstischen Hofdame zu begegnen, denn gerade dort, hieß es allgemein, sollte sie spuken.
Die Kameraden sprachen zwar nach der Eselbegegnung ziemlich von oben herab von diesen Dingen, waren aber wiederum um nichts weniger eifrig und weniger erregt, als unsre Ratsmädchen. Jetzt gingen sie über die Borkenbrücke und versuchten ihr Glück und ihr Grauen am jenseitigen Ufer. Da führte der Weg an einem mit Bäumen und Büschen bestandenen Abhange hin, und kaum waren sie hier eine Strecke in tiefem Schweigen geschlichen, – denn es war eine so feuchte, monddurchschienene Einsamkeit, als wäre jahrhundertelang hier niemand gegangen, – da standen sie alle mit einem Schlage wie gebannt!
Nahe, – in ihrer allernächsten Nähe, hatte jemand aufgestöhnt, und sie hatten alle deutlich gehört, wie etwas, das in den Büschen steckte, so recht verbissen und verzweifelt zwischen den Zähnen »verdammt!« gezischt hatte. »Verdammt!« deutlich »verdammt!« nichts weiter, und dann wieder tiefe, tiefe Stille auf allen Seiten.
»Das is sie aber!« flüsterte Röse schaudernd.
Alle hielten den Atem an und horchten.
Das Einsame, Verlassene, Geheimnisvolle in den Büschen schien indessen auch zu horchen.
Totenstille!
Die Geistersucher warteten, ob sich's nicht wieder regen würde, – denn da war etwas, – das war sicher!
Sie fühlten die Nähe eines fremden Wesens; sie standen wie die Bildsäulen so starr, – ganz Erwartung! Dasjenige, das in den Büschen auf so sonderbare Weise »verdammt!« gesagt hatte, mußte sicherlich in Verwunderung geraten sein, was mit den vielen Schritten, die es doch kommen gehört hatte, geworden sei.
Jetzt aber, – was war das? – Ein Fiepen, ein jämmerliches, sonderbares Fiepen, als singe ein Wasserkessel, oder quietsche ein Wägelchen, oder auch als wimmere ein Hund unter ganz besonderen Umständen!
Es war ein ganz merkwürdiger Ton! Allen schien es durchaus nicht unmöglich, daß sie es wäre, denn daß sie fiepe, oder wie durch eine Flasche rede, hatten sie ja gewußt!
Das war das Entsetzliche!
Der Mond schien dämmernd hell; hell genug, um das, was im Gebüsch steckte, zu erkennen, falls es sich hervorwagte.
Dadurch merkwürdig ermutigt und wie von Jagdeifer gepackt, mahnte Röse: »So kommt doch!« Und sie war's, die sich wieder auf die Beine machte, ohne auf die andern zu achten, die ihr schleichend folgten.
So ging's den kleinen Abhang ein wenig hinan; einige Schritte, mit klopfendem Herzen und stockendem Atem. – Dann ein gewaltiges Rascheln im dichten Gebüsch, – ein furchtbarer Schrei, – ein Springen, – ein heiserer Laut, – und im Mondlichte sahen sie, wie Röse von einem großen, dunklen Mantel umfangen wurde. – Ein ungeheurer Schreck! – Etwas so Unbegreifliches! Schauervolles!
Marie schrie verzweifelt auf.
»Ruhig, – ruhig!« sagte eine erregte Stimme. »Was macht ihr denn hier? Röse, um Gottes willen, wie kommst du hierher?«
Von Röse hörte man kein Sterbenswort; aber sie schien zu flüstern und war immer noch in dem großen Mantel verschwunden. Und jetzt, – ein zarter, zarter Frühlingslaut, – so süß, so wunderlich, – ein Laut wie ein Kuß!
»Herr Gott, der Thon!« rief Marie ganz überwältigt. »Der lag hier auf der Fuchspasse!« Das nicht gerade jagdgemäße Wort hatte sich ihr im Schreck und in der Ueberraschung gebildet.
Da sprang auch schon Thons Hund, dem er im Aerger und in der Erregung über die geheimnisvollen nächtlichen Schritte, die ihm den Fuchs verscheuchten, die Schnauze zugehalten hatte, wedelnd an Marie in die Höhe.
»Ja, der Thon!« antwortete der Geheimnisvolle bewegt, erschüttert, doch auch unwillig aus dem großen, dunklen Mantel heraus. – »Was fällt euch denn ein?«
»Ich hab's ihm schon erzählt,« sagte Röse betreten, »daß wir ausgerissen sind.«
»Ja aber,« meinte Budang in seiner offenen Weise, »sie sind ja mit uns; – und wenn wir dabei sind, dürfen sie alles! – Frau Rat hat es ihnen ein für allemal erlaubt.«
Der junge Adjutant mußte über die Ehrenwache, die die beiden Mädchen hatten, lächeln.
In den wenigen Worten Budangs lag jedoch so eine überzeugende Vortrefflichkeit, – so eine unantastbare Treuherzigkeit, – daß jedes weitere Wort, jeder Unwille und jedes Mißtrauen abgeschnitten war. Der Adjutant schüttelte Budang die Hand und begrüßte die beiden andern, währenddem er seine junge Braut nicht aus dem Arme ließ.
»Also die Göchhausen wolltest du sehen? – Für so etwas hattest du also doch noch Raum?«
»Und Sie,« flüsterte Röse bedrängt und zaghaft – »lagen da doch des Fuchses wegen?«
»Ja, mein Herz, – weil ich's daheim nicht aushalten konnte. – Was denkst du denn? Da ist die Welt zu enge!«
»Ja,« sagte Röse leise, »deshalb war ich eben auch hier.«
Und nun gingen sie alle miteinander und brachten die leichtsinnigen Dinger, die Ratsmädchen, heim in die Wünschengasse.
Unterwegs erzählte Röse ihrem Bräutigam von ihren Kameraden, – wie gut sie immer wären, wie lustig, wie treu, und was sie alles von ihnen gelernt hätte, besonders von Budang.
Sie schüttete ihrem Bräutigam ihr ganzes Herz aus, das voller Liebe und Freundschaft war, voller Anhänglichkeit, – und erzählte alle möglichen dummen und lustigen Streiche.
Er mußte in aller Eile alles wissen. Und sie bat ihn, auch ihre Kameraden lieb zu haben. »Sie sind so gut, so klug! Solche gibt's nicht wieder!« rief sie.
Und er hörte ihr glücklich lächelnd zu.
Das war Frühlingsreinheit, – Frühlingszartheit, – Frühlingswonne!
Der Wind hatte sich gelegt, und der Mond schien hell.
Viele, viele Jahre sind vergangen. – Die Jugend vieler Millionen Menschen ist verweht. – Es ist alles anders geworden.
Röse ist nun eine alte Frau. – Was das Leben ihr gab, hat es ihr längst wieder genommen. Sie hat alle Freuden genossen und alle Freuden mit Leiden gezahlt – nach Menschenart. Sie ist unendlich geduldig geworden. Sie kennt alles und weiß alles. Sie hat alles sich wiederholen sehen, immer von neuem. – Sie ist gut, still und heiter und lebt in sich selbst. Hier, nur in sich selbst, findet sie die schöne, alte Welt, die ihr so lieb ist, so heimisch, – sonst nirgends!
Fremde Gesichter sind um sie, und man spricht von fremden Dingen, die sie nichts angehen.
Ein Sehnen wie nach einer verlorenen Heimat ergreift sie oft, – aber da ist nichts zu machen. Alles ist unerbittlich, was geschieht.
Geduldig werden, – geduldig werden, – geduldig werden! darauf läuft's hinaus.
Jetzt ist sie schwer krank. Von lieben Menschen wird sie gepflegt. Ihre Enkelin sitzt bei ihr am Bette.
Draußen Frühlingsdämmerung und wieder einmal weicher Sturm, der breit durch die Straßen fährt.
Die alte Frau träumt und spinnt an ihren Gedanken.
Da, – was ist das?
Der Sturm trägt wie auf Flügeln einen rhythmisch munteren Pfiff zu ihrem Fenster herauf; ganz wie damals in der Wünschengasse, als sie beim Fasanenessen saßen.
»Das ist er, wie vor sechzig Jahren!« sagt sie leise bewegt zu ihrer Enkelin, – »das ist Budang!« Und wie ein milder Glanz geht es über das Gesicht der Greisin. – »Das ist er!« nickte sie träumerisch.
»Siehst du, so pfiff er immer, der Budang, wenn er uns abholen wollte; so pfiff er, wenn er wissen wollte, ob der Vater nicht mehr daheim sei, und ob er mit den beiden andern heraufkommen dürfe!«
Da thut sich die Thür auf. Ein schöner, kleiner, alter Mann tritt ein, in tadellosem Anzuge, blütenweiß und rabenschwarz; so tadellos, daß es sofort wie etwas Besonderes auffällt. Er hat einen gescheiten Kopf mit lebendigen, geistvollen Augen, – und seine silberweißen, dichten Locken liegen ihm wie eine helle Wolke über der Stirn. – Er hat eine Art geistvoller Grazie in Blick und Bewegung.
»Wie geht's der Röse?« fragt er.
Röse streckt ihm die feine Hand entgegen.
»Goullon,« sagt sie bewegt mit hellen Thränen im Auge, »du kannst ja noch deinen Pfiff!«
»Gelt,« antwortet der Geheimrat, den sie sonst den »Budang« nannten, »das freut dich?«
Dann saßen die beiden Alten zusammen und plauderten und machten miteinander einen weiten, – weiten Ausflug in die gute alte Zeit.
Und das war die beste Medizin.
Es war das vierte Mal heute, daß er herauf zu seiner alten Freundin in Sorgen und Bangen kam; – aber zuletzt, da hatte er's gefunden, was ihr wohl that.
»Gott segne dich,« sagte Röse, »du lieber Mensch, – du treuer Mensch!«
Ja, treu waren sie ihr Lebtag einander gewesen, – treu in großer, wahrer, seltener, starker Freundschaft.