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Die verkaufte Erinnerung

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. . . . Da der holde Spuk des Feuerwerks erloschen ist, flammen im Schloßpark wieder die Fackeln, Windlichter, Lampions und Pechpfannen der Wirklichkeit auf. Zwischen schnurgeraden Laubwänden, über rosenfarbene Marmorstufen, an weißen Brunnen vorbei, aus denen vergoldetes Getier lugt, stolziert auf hohen Absätzen, mit zierlichen Gesten die bunte, lächelnde, puderbestäubte Welt von Versailles. Die Grazien haben ihr den Haarbau getürmt und die Mouche ausgeschnitten. Pausbackige Amoretten tragen ihr die Schleppe, und wenn aus einem Boskett, einer Grotte zärtliche Seufzer tönen, so weiß die Marquise und der Vicomte, was sie Daphnis und Chloe schuldig sind, und huschen lächelnd auf den Zehenspitzen davon.

Der ganze Park schwirrt von Menschen, von Schönheit und Lust. Nur er, der Einzige, der Vielgeliebte sitzt trübsinnig auf der großen Terrasse und starrt geradeaus ins Leere. Vergebens mühen sich gewandte Höflinge, ihn mit unterwürfigen Schmeicheleien, mit feinen Witzworten zu unterhalten; er nickt, bewegt zuweilen den Mund, als wolle er etwas erwidern, und starrt wieder voll schweigenden Trübsinns ins Leere. Die großen, runden Augen haben den Ausdruck eines erschrockenen Vogels, und das Kinn zittert leise, wie bei ganz alten Leuten. Und doch sieht Ludwig jung aus, so jung, daß man ihn für dreißig halten möchte, nicht für fünfzig. Jung ist er, schön, geliebt, vergöttert, Herr über das süßeste Land der Welt, und doch will der Trübsinn nicht von seinem Gesicht weichen. Den ganzen Abend über hat er keine Miene verzogen, mit keinem Lächeln, mit keinem gespannten Blick verraten, daß ihm das Feuerwerk gefiel. Nur nachher diese höflich gelangweilte Bewegung der königlichen Fingerspitzen. Und wie zerquält von marternder, trübinniger Langeweile sitzt er unbeweglich da, starrt aus runden, erschrockenen Vogelaugen ins Leere, und sein Kinn zittert leise – —

Verstohlen und immer aufs neue erstaunt betrachtet die heitere Welt um ihn her das Schauspiel seiner Melancholie, das sie so genau kennt und doch nimmer begreift. Und Blicke ringsum, Lippen fragen flüsternd: »Wo ist sie? Wo ist die Marquise Pompadour? Wo ist die Einzige, der, wie alles am Hofe, so auch die Melancholie des Königs gehorchen muß?«

Die Marquise ist aber nicht zu finden. Gewiß hustet sie wieder in irgend einem verborgenen Winkel ihrer Gemächer Blut . . .

Bei dem Gedanken an dies Blut schlagen die Herzen von hundert schönen Frauen, von hundert zuvorkommenden Gatten, von hundert ehrgeizigen Vätern höher . . . Wie ein hitziger Zukunftsrausch will es die Gemüter umfangen, ein Rausch, dem alsbald die Ernüchterung folgt, sowie sie Choiseul ansehen, den erwählten Minister der Pompadour, ihre rechte Hand, ihren Freund – — Wie er dasteht und lacht, daß sein prachtvolles Gebiß bis zum letzten Zahn sichtbar wird und seine Schultern heftig schüttern, daß man deutlich merkt, wie die rechte höher sitzt als die linke. Nein, solange Choiseul so lacht, ist nichts zu hoffen. Und indes Choiseulʼs Lachen hundert Träume verhöhnt, starrt Ludwig immer noch mit den runden Augen eines erschrockenen Vogels ins Leere, und sein Kinn zittert unaufhörlich.

Der Herzog von Noailles flüstert:

»Ich habe es nie begriffen! Nie habe ich verstanden, wie Seine Majestät zu dieser schwarzen Melancholie gelangt ist! Ein Fürst wie er, auf den das Glück das ganze Füllhorn seiner Gaben geleert hat.«

»Ja, unbegreiflich ist es!« pflichtet ihm leise die Marquise de Tours bei. »Unbegreiflicher aber noch, daß kein Arzt helfen kann. Von allen Enden der Welt her läßt er seit Jahren Doktoren, Quacksalber, Schäfer und Wundermänner kommen!«

»Und wenn Seine Majestät auch die Doktoren aller Erdteile zusammenruft, so kann ihm doch keiner nützen. Seine Krankheit ist unheilbar – ist unheilbar, weil der einzige Arzt, der sie heilen konnte, seit Jahren gestorben ist!«

Betroffen blickt die kleine Gruppe, die eben des Königs Krankheit diskutierte, auf Frau von Hauteville. In ihren Worten klang nicht nur Ernst, sondern auch Geheimnis, das die Neugier rege machte. Wenn Frau von Hauteville solche Worte sprach, so umschlossen sie nicht eine leichtfertige Behauptung, das wußte jeder. Denn Frau von Hauteville, die ehedem zu den allerschönsten Frauen des Hofes gehört hatte, war seit langer Zeit, und zwar ganz plötzlich, nach der Rückkehr von einer langen Auslandsreise, femme sérieuse geworden. Nie hatte man eine frühere Schönheit graziöser und fröhlicher altern sehen als sie.

»Wie, Madame, was sagen Sie da? Der König sei unheilbar??« Frau von Hauteville nickte ernst:

»Der einzige Arzt, der ihn hätte heilen können, ist tot; ich traf ihn gerade noch zur rechten Zeit. Nur ein wenig später – und ich wäre verflucht geblieben bis zum Tode.«

In ihrer Stimme klang ein tiefer Schauder. Sie schloß eine Sekunde lang die Augen.

Die Betroffenheit und die Neugier der anderen wuchsen, ließen nicht nach, bis Frau von Hauteville zu erzählen begann.

»Die Zeit meiner Jugend liegt so weit hinter mir, daß ich von ihr sprechen darf, als gehörte sie einem anderen Menschen. Weil sie schon so fern liegt, daß Sie, meine jungen Freunde, sich kaum mehr daran erinnern, darf ich sagen, daß ich sehr schön war.« (Hier wurde Frau von Hauteville selbstverständlich durch artige Ausrufe unterbrochen. Sie lächelte gütig über die kleinen Höflichkeiten weg und fuhr fort:) »Ich war sehr schön und genoß meine Schönheit, wie eine Frau sie nur genießen kann. Meine Schönheit vergoldete mir jeden Tag; nichts anderes wollte ich vom Leben, als jung und schön sein. Ja, um es ganz richtig auszudrücken: jung wollte ich vor allem sein, jung bleiben, niemals altern.«

»Das ist unser aller Traum,« flüsterte die Marquise de Tours und schob das breite Samtband um den Hals höher hinauf, damit ihr Nachbar nicht die Runzeln hinter dem Ohr sähe.

»Es ist unser aller Traum, aber ich träumte diesen Traum so leidenschaftlich, daß ich meinte sterben zu müssen, wenn die Jugend je zu Ende ging. Wenn bei Festen die Bewunderung der Männer und der Neid der Frauen mich umfing, schrie meine Jugend jauchzend in mir auf wie eine berauschte Bacchantin, und noch im Einschlafen klangʼs durch mein Blut, durch meinen Kopf: du bist jung! Oh Gott, wie bist du jung! Das ging so Jahre, Jahrzehnte, bis der schreckliche Tag anbrach, an dem ich zum ersten Mal —«

»Ein graues Haar oder einen feinen Strich an den Schläfen entdeckte?« fragte die Marquise de Tours atemlos.

»Nein, es kam der viel schrecklichere Tag, an dem ich zum ersten Mal die Angst vor dem Altwerden spürte. Oh, meine Freunde, verlangt nicht, daß ich Euch diese Angst mit Worten schildere! Ihr Jungen würdet nichts von ihren Schrecken verstehen, und ihr anderen, die ihr gleich mir des Lebens Rosengärten längst verlassen habt, ihr anderen wißt aus eigener bitterer Erfahrung, welche Höllenqualen sie in sich schließt – die Furcht vor dem Altern! Merkte auch noch kein Unberufener, daß die Holde sich schon anschickte mich zu verlassen, galt ich auch nach wie vor als eine der schönsten Frauen von Versailles, so wußte ich doch bei mir, daß ich es schon morgen nicht mehr sein würde, und mein Jammer darüber war grenzenlos.«

Frau von Hauteville machte eine Pause. Die Marquise de Tours hatte den Kopf ein wenig gesenkt, damit man die kleine Träne nicht sehen sollte, die sich zwischen ihre tiefgeschwärzten Wimpern drängte.

»Da, in einer Zeit, wo ich schon fast der Verzweiflung, der wirklichen Verzweiflung nahe war, tauchte in Paris ein Italiener auf, der alsbald die ganze Stadt von sich reden machte. Sein Name ist gleichgültig. Er lebte ganz zurückgezogen, nur mit alchimistischen und medizinischen Studien beschäftigt. Wieso dann doch jeder von ihm sprach? Er dankte dies einem abenteuerlichen Gerücht, das ihm von Süden her vorangelaufen war und nimmer verstummen wollte. Es hieß, er besäße eine Panazee gegen Alter und Tod. Ihr könnt euch wohl denken, wie solch ein Gerücht gerade auf die lebensfrohen Pariser wirkte, und wie sie sein kleines, verschwiegenes Haus in der Rue de Venise belagerten. Es war aber fast unmöglich, bis zu ihm vorzudringen, denn er galt als ein Menschenhasser und, so unwahrscheinlich das bei einem Italiener auch klingt, als ein Geldverächter.

Die verkaufte Erinnerung

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