Alle Farben weiß
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Christa Ludwig. Alle Farben weiß
alle Farben weiß
Inhalt
minus drei. Finger
minus zwei. Fußgelenk
minus eins. Augen
null. Haare
eins. Köpfe
zwei. Schulter
drei. Mund
vier. Mund
fünf. Gesichter
sechs. Hände
sieben. Hände
acht. Hand
neun. Gesicht
Prolog auf dem Friedhof Jerusalem 1998
Отрывок из книги
CHRISTA LUDWIG
eine Erzählung
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So saßen sie dann in der Küche und durchlitten gemeinsam dieselben Qualen, nur dass Niklas Rot sah, das Schild an der Tür, den Wein in seinem Glas, Selina aber das dunkle Braun seiner Augen, das dem ihrer eigenen so sehr glich, als seien sie Geschwister, freilich nur Augengeschwister, denn mit der Fülle seiner dunkelblonden Locken konnten ihre farblos bräunlichen langen Strähnen nicht mithalten. So sezierten sie ihre Herzen, hielten den Atem an und stießen ihn in kleinen Seufzern wieder aus, weitgehend gleichzeitig. Selina fand den Rhythmus und fügte sich ein, aber während sie wusste, was ihn quälte, hatte er von ihren Empfindungen nicht einmal eine Ahnung. In ihr drehte sich vom Kopf bis zu den Hüften ein schlanker, mehr röhren- als trichterförmiger Wirbelsturm, in dessen Zentrum die klassische Stille im Auge des Hurrikans ruhte. In tiefem, wohlig geborgenem Frieden erreichte ihren Kopf nur ein einziger Gedanke: Wie er sie liebt! Oh, wie er lieben kann! Wie sehr!
Wenn aber dann durch die rot versperrte Tür jener kleine kurze scharfe Schrei drang, zuckte Niklas’ ganzer Körper zusammen, und während Selinas Augen trocken zwinkerten, flossen aus seinen Tränen, die er weder durch Abwenden des Kopfes noch durch Vorhalten einer Hand zu verbergen suchte. Unter dem Vorwand einer tröstenden Geste berührte Selina mit zwei Fingerspitzen seine Hand, die das Weinglas umklammerte. Sie verharrten in stummer, still leidender Gemeinsamkeit, die Selina als atemberaubend, intensiv, innig, als eine intime Nähe erlebte, zu der ihr zumindest in diesem Augenblick keine Steigerung einfiel. Sie verlor jedes Zeitgefühl, es konnten Minuten oder Stunden so vergehen, gern auch ihr ganzes Leben, aber wahrscheinlich waren diese Szenen immer nur kurz, denn für Stefan und Irene war alles meist schnell erledigt, und sobald erste Geräusche aus dem Zimmer drangen, sprang Niklas auf, stürzte den Rest Rotwein in seine Kehle und verschwand leicht taumelnd in seinem Zimmer. Ob er die Trennung von Selinas Fingerspitzen bemerkte, blieb ebenso offen wie die Frage, ob er die Berührung überhaupt wahrgenommen hatte. Selina leckte die Fingerkuppen wie eine offene Wunde und huschte in ihr Zimmer. Da saß sie auf ihrem Bett, ihr war schwindlig, weil die Drehbewegung des Hurrikans ihre äußeren Hautschichten erreichte und sich gegen die Rotation der Erde zu stemmen schien. Sie spürte, wie sie von außen nach innen langsam erkaltete, und wusste: So fühlt sich ein Klumpen Lava, den der Vulkan gnadenlos ausgespuckt hat!
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