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Daniel Whitmore

Der Aufstieg von Atlantis

Für Dich

Der Leserin und dem Leser dieses Buchs

Betritt meine Welt

und mach sie zu deiner eigenen

Prolog

Totenwelt

„Ein Geist. Eine Stimme. Ein Ziel.“

Credo der Termai

Es war ein ganz normaler Morgen auf Telkiit. Seit einer gefühlten Ewigkeit erhob sich die Sonne über den Bergen und warf ihre Strahlen auf die tote Erde des Südkontinents. Die Zeit schien auf dem toten Planeten stillzustehen. Seit über einem Jahrhundert lebte auf der Oberfläche von Telkiit nichts mehr. Nur noch einige Bakterien und sehr widerstandsfähige Flechten konnten hier überleben. Vor einem Jahrtausend war der ganzer Planet ein fruchtbarer und lebendiger Ort gewesen, aber nach der Ausbeutung durch die Termai und dem darauffolgenden großen Rohstoffkrieg war der Planet nun verseucht und komplett aus dem Gleichgewicht geraten. Nach Ende des Krieges waren die letzten Reste der Natur nach und nach immer weiter verschwunden. Selbst jetzt, nach einem halben Jahrtausend, war der radioaktive Fallout immer noch tödlich für die letzten Termai, die sich in ausgedehnte Bunkeranlagen tief unter die Erde zurückgezogen hatten. Ihre Spezies kämpfte jeden Tag ums Überleben und ihr Volk schrumpfte unablässig. Den Krieg hatten nur acht Stämme überlebt und nun war es nur noch einer. Die Termai waren Insekten und hatten es in Jahrmillionen der Evolution zur einzig intelligenten Spezies ihres Planeten geschafft. Sie existierten als eine Art Kollektiv. Eine Königin, die über Tausende Untertanen herrschte und die alle lebten, um ihr zu dienen. Individualität gab es nur in sehr begrenztem Ausmaß. Ihre Gesellschaft hatte gut mit diesem System überleben können, bis der technische Fortschritt eine Grenze überschritten hatte. Vor dem Computerzeitalter hatte es auf ganz Telkiit Millionen von Stämmen gegeben. Mal entstand ein neuer, mal wurde einer auf die eine oder andere Art ausgelöscht. Es hatte immer wieder Kämpfe gegeben, doch nur in begrenztem Ausmaß. Da jede Königin nur um die tausend Drohnen kontrollieren konnte, hatte es nie einen großen Krieg oder ein größeres Reich gegeben. Nachdem die Königinnen jedoch ihren Geist durch Computer erweitert hatten, waren ihre Stämme förmlich explodiert. Mit steigender Reichweite und Rechenleistung konnten die Königinnen immer mehr Drohnen kontrollieren und einige Stämme wuchsen auf mehrere Millionen Drohnen an. Je mehr Drohnen eine Königin kontrollierte, desto mächtiger wurde sie. Dieser Schritt hatte ihre Welt in kürzester Zeit in den Untergang getrieben. Die Stämme wuchsen zu schnell, die Ressourcen wurden knapp und die Spannungen zwischen den größten Stämmen wuchsen exponentiell dazu, bis irgendwann der letzte Krieg ausbrach.

Nun lebte nur noch eine Königin und ihr Volk zählte ein paar Tausend. Sie vegetierten in ihren unterirdischen Bunkern vor sich hin und zehrten von den Reserven an Uran und Thorium, die sie mit Energie versorgten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ihre Vorräte zur Neige gehen würden. Dann würden ihre hydroponischen Gärten in Dunkelheit versinken und sie würden verhungern. So weit sollte es nicht kommen. Die letzte Königin hatte einen Plan. Er war verrückt und selbst unter den besten Umständen riskant. Doch welche Wahl hatten sie schon?

Mithilfe ihrer neuen Technologie konnte es ihnen gelingen, und noch war die Hoffnung nicht tot. Es waren schon Tausende Drohnen bei der Durchführung des Plans gestorben, aber ihre Königin lebte und mit ihr das Kollektiv und ihre Zukunft. Zusammen wiederholten sie im Geiste ihr gemeinsames Credo.

Kapitel 1

Neuanfang

„Wir sind die Natur. Sie zu bekämpfen wäre

Selbstmord.“

Rana von Atlantis, Priesterin

„Sylph, beflügle unseren Geist.“

„Sylph, beflügle unseren Geist!“

„Undine, glätte unsere Wogen.“

„Undine, glätte unsere Wogen!“

„Gaia, mache uns standhaft.“

„Gaia, mache uns standhaft!“

„Infreet, gib uns Kraft.“

„Infreet, gib uns Kraft!“

Craibian war überrascht, wie viele Atlantae zu diesem ersten Gottesdienst gekommen waren, in dem der alte Gott der Atlantae und die Elemente der Magie selbst verehrt werden sollten. Keiner hier hatte je diesem Glauben angehört, nur viele der Atlantae, die sie in sich trugen. Craibian selbst war eher kritisch, was die Existenz irgendeiner Gottheit anging, und doch stand er nun hier und hatte eine Gänsehaut. In gewisser Hinsicht hatten die alten Atlantae die Natur verehrt und er selbst konnte nicht leugnen, dass sie etwas Göttliches an sich hatte. Die Harmonie, mit der die physikalischen Gesetze ihres Universums ineinandergriffen und von denen kein einziges überflüssig oder entbehrlich war, ließ selbst den größten Zyniker daran zweifeln, dass all dies nur Zufall war.

Der Gottesdienst verlief nach denselben Mustern wie es vor dem Untergang des alten Atlantis Brauch gewesen war. Die Priesterin sprach die Worte und die Gläubigen wiederholten sie. Zuerst wurden die Namen der vier Grundelemente angerufen. Luft, Wasser, Erde und Feuer. Danach folgten normalerweise die drei Nebenelemente, doch anders als im alten Atlantis, waren es mittlerweile vier. Licht, Schatten, Leben und Elektrizität.

„Aska, erleuchte unseren Pfad.“

„Aska, erleuchte unseren Pfad!“

„Luna, verberge uns vor unseren Feinden.“

„Luna, verberge uns vor unseren Feinden!“

„Martel, mache uns fruchtbar.“

„Martel, mache uns fruchtbar!“

„Theis, enthülle uns deine Geheimnisse.“

„Theis, enthülle uns deine Geheimnisse!“

Der letzte Ruf der Menge fiel eher verhalten aus. Theis war der Name, den sie dem neuen Element der Elektrizität gegeben hatten. Es war erst vor zwei Jahren von Cyran entdeckt worden und bisher gab es nur drei weitere Atlantae, die überhaupt Elektromagie nutzen konnten. Die Magie, die jeder Atlantae wirken konnte, war in acht Elemente unterteilt. Manche konnten sieben Elemente unter ihre Kontrolle bringen, andere nur eines. Alle acht hatte noch niemand gemeistert und seit Cyran das achte Element entdeckt hatte, gab es auch keinen Atlantae mehr, der gar keine Magie beherrschen konnte.

Die Magie war fest mit den Atlantae verbunden. Das magische Feld war fast überall in verschiedenen Stärken und es gab den Atlantae immense Kräfte. Es verstärkte ihre Zauber und versorgte sogar einige ihrer Technologien mit Energie. Als das alte Atlantis vor über zehntausend Jahren auf der Erde in den Fluten versunken war, war es eben jene Magietechnologie gewesen, mit der sie sich versehentlich selbst vernichtet hatten. Damals wäre das atlantische Volk beinahe ausgelöscht worden, wenn Levitas, der damalige König, nicht eben jene Interfacekerne in Auftrag gegeben hätte, von denen jeder der heutigen Atlantae einen in sich trug. Kurz vor ihrem Tod war das Bewusstsein der alten Atlantae in die Kerne übertragen worden, und über zehntausend Jahre später war eine automatisierte Drohne aus den Bunkeranlagen des alten Atlantis gestartet und hatte Craibian ins Visier genommen. Seit diesem Zeitpunkt trug er Levitas’ Geist in sich und teilte seine Gedanken mit ihm. Nachdem der Interfacekern durch seine Haut gedrungen war, hatte es nicht mehr lange gedauert, bis er kein Mensch mehr war. Abertausende Naniten waren aus dem Kern in seinen Körper gedrungen und hatten seine DNS verändert. Er war zu etwas zwischen Mensch und Atlantae geworden. In wenigen Wochen hatte sich nahezu sein ganzer Körper verbessert. Er war schneller, stärker und intelligenter geworden, bis ihm zuletzt sogar die Magie der Atlantae eröffnet wurde. Mit Levitas zusammen und unentdeckt von der Menschheit, hatte er danach alles darangesetzt, das atlantische Volk wiederauferstehen zu lassen. Nach und nach waren ihre Reihen gewachsen, bis sie mehr als fünfmal so viele Atlantae waren, als vor ihrem Untergang gelebt hatten. Die neuen Atlantae, für die kein atlantisches Bewusstsein mehr zur Verfügung gestanden hatte, hatten lediglich eine KI als Lehrer und den sonst leeren Interfacekern bekommen. Es hatten zuletzt mehrere große Schlachten auf der Erde stattgefunden und selbst, als sie mit einem improvisierten Raumschiff zum Mars geflogen waren, hatten die Menschen versucht, sie zu vernichten und ihrer Technologie habhaft zu werden. Nun jedoch waren sie völlig außer Reichweite der Menschen. Die Erde befand sich über einhundert Lichtjahre von ihrer neuen Heimat entfernt. Da er den alten König Levitas in sich trug und über nahezu all seine Erinnerungen und sein gesamtes Wissen verfügte, war Craibian nun der Anführer ihres Volkes. Zusammen mit dem Rat entschied er, was zu tun sei. Craibian schreckte aus seinen Gedanken auf. Die Priesterin hatte eine Weile lang zu ihnen gesprochen und war nun fertig. Die Zeremonie war beendet. Jetzt strömten die Atlantae aus dem Tempel. Dieser war eigentlich eher ein Platz als ein Gebäude. Der Boden war mit Steinfliesen belegt, in die kunstvolle Reliefs eingearbeitet worden waren und rund um den Platz ragten acht Säulen einige Meter in den Himmel. Jede in einer anderen Farbe und jede mit einem enormen Edelstein auf der Spitze. Jede Säule stand für eines der magischen Elemente und die Edelsteine sollten zeigen, wie wertvoll die Magie für sie war. Die Edelsteine waren natürlich mit Magie hergestellt worden. So große und reine Steine hätte man wohl nirgends auf Atlantis gefunden. Atlantis, so hatten sie ihre neue Welt getauft. Das alte Atlantis war nicht mehr, also hatten sie nun ein neues gegründet. Es hatte Wochen gedauert, bis sie die ersten Teams auf die Oberfläche hatten schicken können. Der Planet war zu zwei Dritteln von einem gewaltigen Wald überwuchert, dessen Bäume teilweise bis zu einem Kilometer in den Himmel ragten. Größere Landtiere gab es nicht, aber unzählige Wasserlebewesen und andere Lebensformen, die den Insekten und kleineren Säugetieren der Erde sehr ähnlich waren. Die waren nicht das Problem gewesen, vielmehr die wirklich kleinen Lebensformen. Die Bakterien, Viren und Pilze dieses Planten hatten ihnen ziemlich zu schaffen gemacht. Das atlantische Immunsystem war sehr stark, aber dennoch wäre es mit Hunderten unbekannten Erregern völlig überfordert gewesen. Sie hatten in Schutzanzügen zur Oberfläche fliegen und etliche Bioproben nehmen müssen, damit daraus Impfstoffe für alle Atlantae repliziert werden konnten. Erst nachdem ihr Immunsystem damit auf die neuen Erreger vorbereitet worden war, hatte Craibian die ersten Erkundungstrupps entsandt, die die Oberfläche des Planeten erforschen und einen geeigneten Platz suchen sollten, wo dann ihre neue Hauptstadt entstehen würde. Letztendlich hatten sie sich für ein Plateau auf dem größten Kontinent der nördlichen Hemisphäre entschieden. Hier waren die Bäume nicht ganz so groß gewesen und sie hatten einen Landeplatz freiräumen können. Auf dieser Lichtung waren von da an ständig Shuttles gelandet und hatten Ausrüstung und Atlantae auf den Planeten gebracht. Am Anfang waren sie noch sehr auf ihre Magie angewiesen gewesen, bevor die ersten Droiden sie unterstützt hatten. Zum Glück war das Magiefeld auf Atlantis sehr stark. Es war zwar um einiges schwächer als auf der Erde, aber im Vergleich zum Mars war es immer noch gewaltig. Arieanas Theorie, dass die Stärke des Magiefeldes von den Lebewesen in der Umgebung abhängig sei, schien sich damit zu bestätigen. Doch anscheinend war nicht jedes Lebewesen gleichwertig für die Magie. Obwohl es auf Atlantis um ein Vielfaches mehr Bäume und Pflanzen gab als auf der Erde, blieb das Magiefeld hier trotzdem hinter dem der Erde zurück. Für alle Atlantae war es eine Wohltat gewesen, nach dem schwachen Feld des Mars, in dem sie über ein Jahr gelebt hatten, wieder die Stärke und Kraft eines starken Magiestroms zu spüren. In gewisser Weise waren sie alle vom Magiefeld abhängig. Sie konnten zwar ohne es existieren und sogar schwache Zauber wirken, aber mit dem Feld trat ihre wahre Stärke hervor. Ein magiekundiger Atlantae im Einklang mit einem starken Feld war mächtiger als hundert Menschen zusammen, und diese Kraft hatten sie auch gebraucht, um ihre Basis auszubauen und zu erweitern. Sei es, um Bäume nach ihrem Willen wachsen zu lassen, Schneisen zu schlagen oder Stein und Metall zu formen. Nach und nach waren so zuerst kleine Werkstätten und tiefe Minen entstanden, um Rohstoffe für die geplante Stadt zu fördern und zu verarbeiten. Nach Craibians Anweisung durfte nur minimal in die Natur eingegriffen werden, doch ganz ließ es sich nun mal nicht vermeiden. Die Stadt, die nun am Entstehen war, unterteilte sich in mehrere Abschnitte. Unten am Fuße der gewaltigen Bäume standen die massiven Bauten. Fertigungsstätten, Erzraffinationsanlagen, Energiespeicher und Gewächshäuser. Sie hatten hier und da einen Baum fällen müssen, damit genug Licht bis nach ganz unten kam, aber die meisten der wirklich großen Riesen standen noch. Sie trugen die restlichen Ebenen der Stadt. Mit Lebensmagie und den Baustoffen, die sie zur Verfügung hatten, entstand zwischen den Bäumen ein Netzwerk aus Brücken und Häusern. In einigen Bäumen waren Turbolifts integriert worden, die einen in wenigen Sekunden vom Boden bis zur höchsten Ebene in achthundert Metern Höhe brachten. Die Bäume selbst waren mithilfe von Nanotechnologie verstärkt worden. Tausende mikroskopisch kleine Ketten aus kohlenstoffbasierten Röhrchen zogen sich durch die Stämme und Äste und die Bäume konnten dadurch die immense Last der Stadt tragen und sogar noch weiterwachsen. Auf der obersten Ebene befanden sich ihre Energieerzeugungsanlagen. Zwischen den Stämmen der Riesenbäume hatten sie mehrere Hundert Windturbinen montiert, die die starken Winde auf dem Planeten in Strom verwandelten. Die Energie reichte zwar noch nicht vollkommen aus, um die ganze Stadt und alle Anlagen zu versorgen, aber es kamen immer wieder neue Windräder dazu. Die fehlende Energie bezogen sie im Moment noch von ihrem Landeplatz. Dort stand ein Erkunder der Hermes-Klasse. Die Hermes-Klasse war das kleinste Schiffsmodell ihrer Flotte, das noch über einen eigenen Nuklearreaktor verfügte, und dieser versorgte nun nicht mehr das Schiff, sondern die Stadt mit Strom. Sie holten sich nach und nach alles, was ihr Volk brauchte, um zu wachsen und zu gedeihen. Ressourcen, Energie und Lebensraum. Und ihr Volk wuchs bereits.

„Und sonst gibt es keine Beschwerden?“

„Nein, sie tritt nur in letzter Zeit häufiger.“

„Ich glaube, sie merkt, dass sich etwas ändert“, meinte Arieana lächelnd. Filki, ihre Quartiermeisterin, war nun im sechsten Monat schwanger und das war in mehrfacher Hinsicht etwas Besonderes für alle Atlantae. Bei den alten Atlantae waren Kinder nur sehr selten gewesen, doch sie schienen etwas von der Fruchtbarkeit der Menschen mitgenommen zu haben. Filki war die Erste der neuen Atlantae, die ein Kind gebären würde. Körperlich gesehen war sie erst neunzehn Jahre alt und würde damit eine relativ junge Mutter werden, erst recht nach atlantischen Maßstäben, da Atlantae nicht alterten und damit quasi ewig lebten. Bei den alten Atlantae waren die meisten Frauen über einhundert Jahre alt gewesen, bevor sie Mutter geworden waren. Das hatte natürlich auch mit ihrer Unfruchtbarkeit zusammengehangen, aber auch damit, dass es über fünfzig Jahre gedauert hatte, bis ein Atlantae ausgewachsen gewesen war. Von den jetzigen Atlantae war keiner über 25 Jahre alt. Keiner hier hatte viel Erfahrung mit Kindern, aber zum Glück hatten viele von ihnen die Erfahrung der alten Atlantae, die fast ein Fünftel von ihnen in sich trug.

Ihre Gesellschaft teilte sich in zwei Teile. Die Atlantae der ersten Generation waren die Ersten gewesen, die Craibian rekrutiert hatte. Sie trugen die Geister der alten Atlantae in sich und waren durch ihr Wissen und ihre Erfahrung weitaus reifer, als ihr körperliches Alter vermuten ließ. Die Atlantae der zweiten Generation hingegen hatten nur eine KI in ihren Interfacekernen gehabt, die ihnen zwar Wissen vermitteln konnte, aber nicht mehr. Von ihnen gab es fünfmal mehr als von den ersten Atlantae. Was sie verband, war, dass sie alle einmal Menschen gewesen waren. Filkis Kind hingegen würde die erste Atlantin seit Langem sein, die als solche geboren werden würde. Niemand von ihnen konnte voraussagen, was sie erwarten würde. Würde sie von Anfang an die körperliche Stärke der Atlantae besitzen? Wann würde sie Zugriff auf die Magie bekommen? Wie schnell würde sie wachsen? Alles Fragen, die noch niemand beantworten konnte.

Arieana war eine der wenigen Lebensmagierinnen der Atlantae. Als solche war sie im Moment rund um die Uhr beschäftigt. Zum einen war sie als Heilerin tätig, auch wenn ihre Schülerin Elanie das immer mehr übernahm, und zum anderen half sie beim Aufbau der Stadt. Lebensmagier konnten alles was lebte beeinflussen, und durch ihre Magie konnten sie die Bäume nach ihrem Wunsch wachsen lassen. Den Job als Heilerin hoffte sie irgendwann komplett abgeben zu können. Jetzt, da die Kämpfe zu Ende waren, würde ihr Volk auch nicht mehr so viele Heiler benötigen. Ihre Physiologie war so robust, dass es schon einiges benötigte, bis ein Heiler notwendig wurde. Eigentlich betreute sie im Moment nur noch Filki in ihrer Schwangerschaft und wenn das Kind geboren war, würde sie sich komplett dem Erschaffen von lebenden Häusern widmen. Dem und natürlich ihrem eigentlichem Fachgebiet. Die Atlantin, die Arieana in sich trug, hatte vor dem Untergang von Atlantis eine Möglichkeit entwickelt, wie die den Atlantae angeborene Magie auch in gewissem Maße von Maschinen genutzt werden konnte und hatte damit die Magietechnologie geschaffen. Nun war Arieana die Expertin auf diesem Gebiet und auch wenn sie einige der magiebegabten Atlantae als Schüler aufgenommen hatte, gab es nicht viele, die ihre Möglichkeiten besaßen. Arieana war eine der wenigen Atlantae, die sieben der acht magischen Elemente kontrollieren konnten. Gerade für komplexere Magietechnologie war es nötig, mehrere verschiedene Zauber aus unterschiedlichen Elementen einzuweben, und das erforderte entweder, dass man sie alle beherrschen konnte oder, dass mehrere Magier gleichzeitig Zauber einwebten, was allerdings sehr schwierig war.

„Aiden ist ganz nervös, weil er Vater wird“, erzählte Filki, während Arieana sie aus ihrer Wohnung geleitete.

„Das kann ich mir vorstellen“, lachte Arieana. „Du scheinst die Sache ja sehr gelassen zu nehmen.“

„Es bringt nur nichts, wenn ich mir jetzt schon Sorgen mache“, erklärte Filki. „Ich hab schon so viel hinter mir, da werd ich doch hoffentlich mit einem Kind auch fertig.“

„Zumindest wirst du deine Magie wieder nutzen können, wenn das Kind da ist“, meinte Arieana. „Wenn die Schwangerschaft vorbei ist, dürfte dein Körper seine magische Energie wieder für dich freigeben.“

„Das ist mit das Schlimmste an meinem Umstand“, seufzte Filki. „Ich komm ja mit allem klar, aber dass ich keine Magie nutzen kann, solange ich schwanger bin, ist wirklich nervig.“

„Sei lieber froh, dass es so ist, sonst hättest du das Kind vermutlich schon in den ersten Tagen verloren.“

„Ja, du hast recht“, stimmte Filki Arieana zu. „Für meine Kleine werd ich gerne noch ein paar Monate auf Magie verzichten.“

Filki verabschiedete sich und machte sich über die Brückensysteme auf dem Weg zu ihrem und Aidens Apartment.

Arieanas Wohnung lag in der achten Ebene auf vierhundert Metern Höhe. Sie war teilweise aus dem Baum selbst gewachsen und war zum anderen Teil gebaut worden. Sie selbst hatte den Baum mit ihrer Lebensmagie in Form wachsen lassen. Um den Baum herum standen und hingen mehrere Wohneinheiten, die ihren Ausgang alle auf einer Plattform hatten, von der aus man über Brücken zu anderen Plattformen kam. Wenn man die Ebene wechseln wollte, musste man zu einem der hohlen Bäume, in deren Kern ein Turbolift verlief. Die Plattformen selbst waren gewachsen und mit Nanotechnologie verstärkt worden. Arieanas Wohnung hing unter der Plattform. Dementsprechend war der Eingang im obersten Stockwerk ihrer Wohnung. Von ihrem Balkon aus konnte sie fast die gesamte Stadt überblicken, zumindest den Teil, der unter ihr lag. Wenn sie sehen wollte, was über ihr lag, musste sie nach draußen auf die Plattform gehen. Die Höhe und die Plattform über ihr gaben ihr eine gewisse Privatsphäre oder zumindest die Illusion davon. Atlantische Augen waren so scharf, dass sie ohne Probleme eine Mücke in hundert Metern Entfernung erkennen konnten. Da boten auch vierhundert Meter Höhe keinen Schutz vor neugierigen Blicken. Doch wenn Arieana wirklich ihre Ruhe haben wollte, konnte sie auch ganz einfach ihre Fenster mit nur einem Wort verspiegeln. Jede Wohnung verfügte über eine eigene Klasse-Drei-KI, mit der sich so gut wie alles innerhalb der Wohnung steuern ließ, sei es nun Klimaanlage, Fenster, Licht oder Musik. Gerade Ersteres war auf Atlantis wirklich unverzichtbar. Ihre Siedlung befand sich zwar näher am Nordpol als am Äquator, aber dennoch lag die Durchschnittstemperatur bei 25 Grad. Tagsüber konnte die Temperatur durchaus über vierzig Grad erreichen, und das bei einer Luftfeuchtigkeit von über achtzig Prozent. Zwar gab es jeden Tag um die Mittagszeit einen sintflutartigen Wolkenbruch, doch selbst der konnte die Temperatur nicht wirklich senken. Sie waren quasi in den Tropen. Der ganze Planet war mitten in einer Warmzeit und so schnell würde sich das wohl auch nicht ändern. Mit dem neuen Klima kam jeder unterschiedlich gut zurecht. Während Craibian die schwüle Hitze zu genießen schien, litt Nigel scheinbar doch sehr darunter. Eine Umstellung war es aber für alle. Gut drei Jahre hatten sie in Bunkeranlagen, Raumschiffen und in der Marsbasis verbracht. Immer war die Temperatur streng geregelt gewesen, und auch davor hatten die meisten von ihnen in eher gemäßigten Teilen der Erde gelebt. Alles in allem fand Arieana ihre neue Heimat jedoch wundervoll. Die Luft war so frisch, wie es nirgends auf der Erde war und die etwas niedrigere Schwerkraft ließ alles leichter erscheinen. Das einzig Geisterhafte an dem endlosen Wald war, dass es keine größeren Tiere zu geben schien. Auf dem Boden wimmelte es zwar von Insekten und kleineren nagetierartigen Geschöpfen und in der Luft flogen etliche Vögel umher, aber zumindest zu Land war der Atlantae nun das größte Lebewesen, das es auf Atlantis gab.

„Wir planen innerhalb von dreißig Tagen die Stadt genug erweitert zu haben, dass die letzten Atlantae aus ihren Quartieren in den Raumschiffen ausziehen können“, erklärte Talon. Craibian hörte ihm aufmerksam zu und nickte nur. „Wir haben unsere Förderkapazitäten genug erweitert, dass wir ausreichend Rohstoffe dafür haben dürften.“

„Wie sieht es mit der Nahrungsversorgung aus?“, fragte Craibian seinen alten Freund.

„Im Moment zehren wir noch von den Reserven, aber es sind schon weitere Gewächshäuser in Planung. Ich hatte auch an ein oder zwei vertikale Gärten gedacht. Ich glaube, wir werden nicht lange auf Essen aus den Replikatoren angewiesen sein“, erklärte Talon.

„Und mit der Energieversorgung läuft auch alles wie geplant?“, fragte Craibian weiter.

„Jep“, grinste Talon. „Der Fluss im Norden eignet sich perfekt für einen Staudamm und die Probebohrung in der Nähe des Vulkans im Süden war auch eine Goldgrube. Wir werden da so bald wie möglich ein Geothermiekraftwerk errichten.“

„Und dann haben wir genug?“

„Jep“, bestätigte Talon. „Allein das Wasserkraftwerk könnte unseren jetzigen Strombedarf schon zu neunzig Prozent decken. Die monsunartigen Regenfälle, die es hier gibt, transportieren jeden Tag Tausende Tonnen Wasser in die Berge.“

„Schön zu wissen, dass das extreme Wetter hier auch seine guten Seiten hat“, meinte Craibian. Atlantis war ein noch sehr junger Planet. Sein Inneres war noch immer sehr heiß und dadurch gab es quasi überall Vulkane. Sein Mond umkreiste ihn in nur knapp 100.000 Kilometern Abstand und erzeugte zusammen mit dem tropischen Klima immer wieder heftige Stürme und auf dem Meer gigantische Wellen und Gezeiten. Wegen Ersteren hatten sie die ganze Stadt orkansicher gebaut. Wenn die Windstärke zu stark wurde, aktivierten sich die Schildgeneratoren an den Plattformen und den Brücken und schützten die Atlantae darunter vor dem Sturm. Die Windkraftgeneratoren hingegen wurden nicht geschützt. Sie waren auf Überlast ausgelegt und konnten selbst bei Windgeschwindigkeiten von zweihundert Stundenkilometern noch Energie erzeugen. Bei jedem Sturm luden sich somit die Akkuspeicher auf, die unterirdisch unter der Stadt installiert worden waren. Die raue Umgebung half ihnen gerade bei der Energieerzeugung, doch was die Bauarbeiten anging, kam es für Craibians Geschmack zu häufig zu Unterbrechungen aufgrund eines Sturms oder Unwetters. Gerade die geologische Instabilität bereitete ihnen hier und da Probleme. Sie waren erst seit ein paar Monaten hier, und doch hatten sie schon ein Erdbeben hautnah erleben dürfen. Die Beben waren einer der Gründe, warum sie den Großteil ihrer Stadt auf Bäumen gebaut hatten. Den Riesen schienen die Erdbeben nichts auszumachen. Sie waren biegsam genug, dass sie die Schwingungen einfach ausgleichen konnten. Alles was die Atlantae auf oder gar unter dem Boden aufgebaut hatten, musste dafür enorm stabil konstruiert werden. Mehr als einmal hatten sie einen Minendroiden verloren, als ein Schacht nach einem Erdbeben eingestürzt war, doch zum Glück setzten sie nur Droiden in den Bergwerken ein und diese waren ersetzbar.

„Wie sieht es mit den orbitalen Strukturen aus?“, fragte Craibian nun weiter. „Was hast du dir ausgedacht?“

„Da wir hier länger bleiben wollen als auf dem Mars, hab ich mir ein etwas ambitionierteres Projekt überlegt“, gab Talon zurück und grinste.

„Oh weh“, stöhnte Craibian, „wenn du schon das Wort ambitioniert in den Mund nimmst, muss das was heißen.“

Talon ließ sich nicht beirren und fuhr fort: „Ich dachte an einen Planetenring.“

„Bist du sicher, dass ambitioniert dafür nicht etwas, nun ähm, untertrieben ist?“, fragte Craibian seinen Raumschifftechniker mit hochgezogenen Augenbrauen. Ein Planetenring bezeichnete eine theoretische Struktur, über die sich Craibian und Talon schon ein paarmal unterhalten hatten. Es war quasi eine gigantische ringförmige Raumstation, die einmal um den Planeten führte und als Werft, Hafen, Verteidigungsstation, Lebensraum und als interstellares Handelszentrum des ganzen Planeten dienen konnte.

„Deswegen ist das auch eher ein Langzeitprojekt. Ich dachte, wir fangen damit an, dass wir einen Teil davon schon mal errichten und als Werft und Handelshafen nutzen“, schlug Talon vor. „Wir können ihn dann nach und nach ausbauen, bis der Ring irgendwann komplett ist. Im Moment wäre das ja auch noch total überdimensioniert.“

„Ein bisschen, ja“, stimmte Craibian ihm zu. „Aber ich gebe zu, dass die Idee mich reizt.“

„Dann werde ich mir schon mal Gedanken zum Aufbau des Rings machen und mit einem Handelshafen- und einem Werftsegment anfangen, sobald die Bauarbeiten auf dem Planeten abgeschlossen sind.“

„Wenn wir genug Rohstoffe dafür übrig haben, gern. Allerdings sollten wir erst eine normale Werft errichten, das geht wahrscheinlich schneller und wir brauchen auf jeden Fall erst mal mehr Schiffe. Nigel würde sich bestimmt freuen, wenn wir schnellstmöglich wieder eine Werft haben.“ Nigel war Craibians bester Freund und in seiner Funktion als General der Verantwortliche für die Truppen und die Verteidigung des Planeten. Er drängte Craibian schon seit Tagen dazu, endlich mit dem Bau von Verteidigungsstationen im All zu beginnen, aber dieser ging so vor, wie er es als Kind auch immer bei seinen strategischen Computerspielen getan hatte. Erst musste die Wirtschaft laufen, dann konnten Ressourcen für das Militär verwendet werden. Jeder Atlantae musste ein Zuhause haben, die wichtigsten Fertigungsstätten mussten stehen sowie ein gewisses Freizeitangebot für alle und dann waren da noch Ranora, Arieana, Cyran und Talon, die alle ein Labor und Ressourcen für ihre Forschungen haben wollten.

„Wenn wir nicht besser vorbereitet sind, wenn wir das nächste Mal angegriffen werden, werden unsere Verluste größer sein als bei den letzten Schlachten“, hatte Nigel ihn gewarnt. „Wir brauchen mehr Schiffe und vor allem eine bessere Bodentruppe. Wenn wir auf einem Planeten kämpfen müssen, haben wir nur wenige ausgebildete Infanteristen und die Wyvern als Flugunterstützung.“ Der Wyvern war ein kleiner unbemannter Jäger, der sowohl im Raum als auch in der Atmosphäre eingesetzt werden konnte.

„Gegen wen sollen wir denn hier kämpfen?“, hatte Craibian ganz direkt gefragt. „Die Menschen haben keine hyperraumfähigen Raumschiffe und sonst haben wir noch keine andere intelligente Spezies getroffen.“

„Ja, noch ...“, hatte Nigel erwidert. „Vielleicht haben hier ja doch mal welche gewohnt und die kommen irgendwann wieder.“

„Wir haben keine Spuren von Zivilisation hier gefunden, und selbst wenn du recht hast, wieso sollten die erst alle hier verschwinden und dann wiederkommen?“ Nigel hatte daraufhin nichts mehr erwidert. Er war etwas paranoid, und als Führer des Militärs war das vielleicht auch ganz gut, aber manchmal musste er etwas gebremst werden. Auch Craibian wollte früher oder später die Verteidigung ihrer neuen Heimat verbessern, aber fürs Erste war es wichtiger, hier überhaupt eine Heimat aufzubauen. Doch genauso wichtig war es, den Planeten und das System überhaupt erst mal kennenzulernen. Sie wussten so gut wie nichts über die zehn Gesteinsplaneten, drei Gasriesen und Dutzende Monde, die sie umkreisten. Im Moment hatte die Erforschung von Atlantis die höchste Priorität, da sie hier lebten. Danach jedoch wollte Craibian das gesamte System erforschen lassen, dann die umliegenden Systeme und so weiter. Das alte Atlantis hatte sich damals auf einer Insel völlig isoliert. Craibian wollte nicht, dass das wieder geschehen würde.

Nigel glaubte, er würde bald sterben. Warum hatte es kein kühlerer Planet sein können? Trotz seiner atlantischen Physis war er völlig durchgeschwitzt, doch seine Rekruten sahen auch nicht besser aus. Die tropische Hitze und die starke körperliche Belastung ließen selbst den abgehärtetsten Atlantae völlig verschwitzt werden. Nachdem er Craibian tagelang damit in den Ohren gelegen hatte, dass ihr Militär dringend ausgebaut werden müsse, hatte dieser ihm schließlich zumindest erlaubt, einhundert Atlantae zum Militärdienst zu verpflichten und zu trainieren. Es war kein großes Problem gewesen, Freiwillige zu finden. Fast alle Atlantae hatten schon in mindestens einer Schlacht gekämpft und wussten, dass es besser war, vorbereitet zu sein. Zudem winkten für die späteren Soldaten eine Menge Privilegien. Nigel vermutete, Craibian hatte diesbezüglich nur zugestimmt, damit er beschäftigt war und Craibian erst mal seine Ruhe hatte. Jetzt hetzte er mit einer neuen Gruppe von Rekruten durch den Dschungel und versuchte, die Neulinge immer weiter anzutreiben.

Er hatte mit dieser sehr rigorosen Ausbildung erst vor ein paar Tagen begonnen, und doch sah er bereits die Früchte des Trainings. Auch bei ihm selbst. Auf dem Mars war er etwas bequem geworden und deshalb übernahm er den körperlichen Teil des Trainings selbst. Das Magietraining leitete sein frisch ernannter Offizier Torgon, der bis auf die beiden Elemente Leben und Elektrizität jede Magieart mit Bravour gemeistert hatte. Selbst Craibian konnte wahrscheinlich von ihm noch das eine oder andere lernen. Dann kamen noch Flugstunden mit Luca dazu, Taktikunterricht mit Inrey und Palar und Erste Hilfe mit Elanie. Nigel war froh, dass die junge Heilerin sich dazu bereit erklärt hatte, das zu übernehmen. Mit ihren fünfzehn Jahren war sie eine der jüngsten Atlantae, die es im Moment gab, und dennoch zollte ihr die Truppe Respekt. Jeder wusste, dass es unklug war, die beste Heilerin, die sie momentan hatten, zu verärgern. Falls es wieder Krieg geben würde, wären sie vielleicht auf ihre Heilkünste angewiesen. Es gab nicht viele Lebensmagier und noch weniger, die wirklich begabt darin waren. Auf fünfzig Atlantae kam vielleicht einer, der den Magiestrom des Lebens anzapfen konnte. Nur das neue Element Elektrizität war noch weniger verbreitet. Da standen die Chancen, es nutzen zu können, etwa eins zu zweihundert. Am häufigsten waren Erd-, Feuer-, und Wassermagier unter den Atlantae vertreten. Nigel hatte die Erfahrung gemacht, dass diese drei Elemente auch die nützlichsten im Kampf waren.

Die letzten Kriege gegen die Menschen hatten sie ohne allzu große Verluste gewonnen, allerdings waren sie auch in fast jeglicher Hinsicht überlegen gewesen, nur nicht, was ihre Anzahl anging. Insgesamt waren sie jetzt nur noch etwas über siebenhundert Atlantae, und bisher waren etwa fünfzig von ihnen im Kampf gefallen und dreißig waren vor einigen Wochen desertiert und mit der Artemis abgehauen. Der Umstand, dass laut Arieana nun die erste Atlantin ein Kind erwartete und ihr Volk jetzt hoffentlich wieder wachsen konnte, hatte bei Craibian und Nigel für etwas Erleichterung gesorgt. Nigel dachte praktisch. Ihre zahlenmäßige Unterlegenheit war ihre größte Schwäche, und wenn es nach ihm ginge, durften ruhig noch ein paar mehr Atlantae Väter und Mütter werden. Bis es jedoch so weit war, dass ihr Volk groß genug war, um ein ganzes Heer aufzustellen, musste er mit den wenigen Kriegern zurechtkommen, die er bekommen hatte. Deswegen musste jeder alles können. Jeder war Infanterist, Pilot, Taktiker, Arzt und Techniker in einem. Jeder Soldat musste in der Lage sein, eine Waffe und die schweren Kampfanzüge zu bedienen, die sie bisher in der Schlacht geschützt hatten. Jeder musste eine Drohne steuern, ein Shuttle fliegen und jeden Bereich jedes Raumschiffes bedienen, warten und reparieren können. Und nicht zuletzt sollte jeder die Stärken und Schwächen jeder Waffe und jedes Raumschiffes kennen. Für Spezialisierungen waren sie einfach zu wenige, und zum Glück lernten Atlantae schnell und dank der KI oder des Atlantae, die jeder in sich trug, war es auch nicht schwer, große Mengen an Wissen jederzeit abzurufen. Was die Sache auch einfacher machte, war, dass die Entwürfe zu den Raumschiffen so gestaltet worden waren, dass es nur eine Handvoll Atlantae brauchte, damit sie einsatzfähig waren. Das meiste war vollkommen mit Droiden automatisiert worden, und nur für die kritischen Bereiche wie Waffen, Triebwerke und Schilde brauchte es einen Atlantae, der sie steuerte. Falls jedoch die Droiden ausfallen sollten, musste natürlich jeder Atlantae in der Lage sein, ihren Job zu übernehmen. Zum Glück war momentan Frieden und kein neuer Konflikt in Sicht, doch Nigel lebte stets nach der Devise: Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor. Auch damals, als sie auf dem Mars gelandet waren, hatten die meisten gedacht, dass sie jetzt sicher vor den Menschen wären, nur Nigel nicht. Und wer hatte recht behalten?, dachte sich Nigel. Er war sich sicher, dass auch diesmal ein neuer Konflikt näher war, als Craibian oder der Rat glaubten, und beim nächsten Mal wollte er vorbereitet sein. „Weiter geht’s. Los Leute, nicht einschlafen!“, rief er über die Schulter, biss selbst die Zähne zusammen und zwang sich, noch mal einen Zahn zuzulegen. Vor ihm lagen heute noch dreißig Kilometer und er wollte vor der Mittagshitze mit dem Trainingslauf fertig sein.

Ich bin nicht sicher, ob du das essen solltest, Valentina.

Ach was, das hat so gut gerochen, dann passt es bestimmt super dazu,entgegnete die Atlantin der Stimme in ihrem Kopf. Sie hatte heute nach ihrer Arbeit in den Gewächshäusern am Fuß eines Baumes einen kleinen Strauch gefunden. Seine Blätter hatten einen würzigen Geruch verströmt, also hatte sie einige davon mitgenommen. Gerade eben zerrieb sie einige Blätter davon und mischte sie in die Reispfanne, die sie sich repliziert hatte. Das replizierte Zeug schmeckt immer gleich und ich hab die Blätter auf Giftstoffe überprüft. Vertrau mir, das wird lecker.

Das hast du auch bei deiner letzten Kombination gesagt, und das war echt widerlich,erwiderte Galizia, die alte Atlantin, mit der Valentina ihren Körper teilen musste.

Und doch war es immer noch besser als der Brei, den ich jahrelang hab essen müssen,stellte Valentina trocken fest.

Als sie noch ein Mensch gewesen war, war Valentinas Leben furchtbar gewesen. Sie selbst hatte nichts anderes gekannt und so auch nichts vermisst, aber rückblickend fragte sie sich, ob es überhaupt ein Leben gewesen war. Sie war mit einer seltenen Krankheit geboren worden. Ihre Nervenzellen waren von ihrem eigenen Immunsystem angegriffen worden und sie war schon ihr gesamtes Leben auf Hilfe angewiesen gewesen. Sie hatte sich kaum bewegen können und hatte ihr Leben in einem Bett oder ab und zu, wenn es ihr mal besser ging, in einem Rollstuhl verbracht. Sie hatte zwar sprechen, lesen und schlucken können, aber davon abgesehen hatte sie für alles Hilfe benötigt. Sie hatte ihr Zimmer fast nie verlassen, hatte kaum andere Menschen als ihre Eltern und ihren Bruder gesehen und das Essen hatte immer nach nichts geschmeckt. Ihre Geschmacksnerven waren mit als Erstes von ihrem Immunsystem zerstört worden und so hatte sie nie gewusst, dass es so etwas wie süß oder salzig gab. So hatte sie Tag für Tag damit verbracht, an die Decke oder in den Fernseher zu starren und in Gedanken zu versinken. Jeder Tag hätte der sein können, an dem ihr Körper beschließen würde, ein lebenswichtiges Organ anzugreifen, ihre Wirbelsäule oder ihr Gehirn. Dann wäre ihr Leben zu Ende gewesen. So hatte sie vierzehn Jahre lang vor sich hin vegetiert, bis an einem der letzten Wintertage ihr Bruder in ihr Zimmer kam. Er war zu ihr gekommen mit demselben mitleidvollen Gesichtsausdruck, den er immer bei ihr aufgesetzt hatte und hatte sie nur gefragt: „Willst du hier raus?“ Sie hatte nicht gewusst, was er damit meinte, doch sie hatte sofort Ja gesagt. Vermutlich hätte sie sogar Ja gesagt, wenn er gefragt hätte, ob er sie erlösen sollte. Ein kleiner Stich an ihrem Hals, den sie kaum gespürt hatte, dann war er auch schon wieder weg gewesen. Einen Moment hatte Valentina gedacht, er hätte ihr irgendein Gift gespritzt oder etwas in der Art, und als sie immer müder geworden war, hatte sie schon damit gerechnet, nicht mehr aufzuwachen. Es wäre ihr egal gewesen. Doch statt zu sterben, war sie irgendwann in einem Krankenhaus wieder aufgewacht. Sie hatte erfahren, dass sie in eine Art Koma gefallen war und fast nicht wieder aufgewacht wäre. Drei Tage lang war ihr Körper kurz davor gestanden zu versagen, doch die Ärzte hatten sie retten können.

Noch am selben Tag, als feststand, dass sie wieder stabil war, war sie wieder nach Hause gebracht worden. Am Abend war erneut ihr Bruder zu ihr gekommen.

„Es hat nicht geklappt“, hatte sie traurig gesagt.

„Doch, hat es“, hatte er widersprochen. „Du wirst schon sehen.“ Und sie hatte es gesehen. Noch in derselben Nacht war Galizia erwacht und Valentina in ihren Träumen in ihre Erinnerungen eingetaucht. Sie war durch Wälder gerannt, durchs Meer geschwommen, auf einen Berg geklettert und auf einem Segler durch die Lüfte geflogen. Nie zuvor hatte sie sich so frei gefühlt.

Als sie im Morgengrauen erwacht war und als die Realität sie einholte, hatte sie geweint. Bis eine Stimme in ihrem Kopf erklungen war. Eine Stimme, die ebenfalls gedacht hatte, dass sie eigentlich tot sein müsste. Galizia hatte ihr erzählt, wer und vor allem was sie war. Sie hatte Valentina vom alten Atlantis erzählt und von der Magie. Valentina hatte schon gedacht, nun endgültig den Verstand verloren zu haben, bis ihr Bruder zu ihr gekommen war und ihr und der alten Atlantin erklärt hatte, was gerade mit ihnen geschah. Er hatte ihr einen Interfacekern in den Hals implantiert und dieser hatte dann Naniten in ihren Blutkreislauf freigesetzt. Die Naniten hatten daraufhin angefangen, ihre DNS umzuschreiben und sie zu etwas zwischen Mensch und Atlantae zu machen. Auf dem Kern war auch Galizias Bewusstsein gespeichert gewesen und nun lebte sie in einem Nervengeflecht, das Valentinas Körper durchzog. Ihr Bruder hatte diesen Prozess ebenfalls mitgemacht und trug einen Atlantae in sich, der sich beim Untergang von Atlantis auf den östlichen Klippen, direkt in der Nähe der Ursache ihres Untergangs, befunden hatte. Mit ihrer Transformation waren sie ein ziemliches Risiko eingegangen, denn der Transformationsprozess kostete viel Kraft und Valentina war sowieso schon stark geschwächt gewesen. Es hätte gut sein können, dass sie dabei gestorben wäre und das wäre dann auch Galizias endgültiger Tod gewesen. Doch zum Glück war es anders gekommen. Valentina war von Tag zu Tag stärker geworden und gewann nach und nach die Kontrolle über ihren Körper zurück. Die atlantischen Gene überschrieben die fehlerhaften Gensequenzen, die für ihre Krankheit verantwortlich waren, und die zerstörten Nervenbahnen konnten sich neu bilden. Für ihre Eltern war es ein Wunder gewesen und mit ärztlicher Unterstützung konnte sie bald alleine essen, sitzen und sogar laufen. Als sie das erste Mal mit ihrem Bruder durch die Stadt gegangen war, hatte sie vor Freude geweint. Bei all den alltäglichen Wundern, die sich ihr nun offenbarten, war die Magie, die sie irgendwann auf einmal wirken konnte, auch nicht so sehr viel unglaublicher für sie gewesen. Ihr Körper verbesserte sich Tag für Tag immer weiter und ließ nach und nach sogar das menschliche Normal hinter sich zurück, das für sie zuvor immer in unerreichbarer Ferne gewesen war. Nachdem auch ihre Geschmacksnerven sich wieder regeneriert hatten, hatte sie angefangen, das nachzuholen, was ihr bisher entgangen war. Doch die freudige Zeit hatte nicht lange angehalten. Drei Monate nach ihrer Wunderheilung hatte sie erfahren, dass sie zu umfassenden Untersuchungen in eine Spezialklinik sollte. Man wollte ergründen, woher ihre plötzliche Heilung kam und Valentina wusste von ihrem Bruder, wenn man Galizia finden würde, wäre das gar nicht gut für sie. Ihr Bruder war einen Monat zuvor dem Ruf von Atlantis gefolgt und befand sich in der Bunkeranlage, wo die Basis der Atlantae entstand. Sie hatte eine Entscheidung treffen müssen und hatte sich für die Freiheit entschieden. Es tat weh, ihre Eltern zu verlassen, vor allem nachdem sie gesehen hatte, wie sehr die beiden unter dem Verschwinden ihres Bruders litten. Valentina hatte ihnen einen krakeligen Brief hinterlassen und war in der darauffolgenden Nacht verschwunden. Zum Glück hatte es in der Nähe weitere Atlantae gegeben, die ebenfalls zur neuen Basis wollten und mit deren Hilfe sie ohne Probleme dorthin gekommen war. Alleine wäre sie wohl aufgeschmissen gewesen. Zwar wusste sie von Galizia einiges über das Leben im alten Atlantis, aber sie hatte immer noch keine Ahnung, wie es in der Welt der Menschen so zu ging. Sie war nie mit dem Zug gefahren oder hatte etwas kaufen müssen. Sie hatte keine Ahnung von den Regeln und den Gesetzen der Welt. Bis zu diesem Zeitpunkt war das auch nie wichtig gewesen. Zum Glück hatte sie nicht lange in dieser Welt bleiben müssen und die Regeln der Atlantae waren wesentlich einfacher gewesen. Dennoch war sie, nachdem sie in der Unterwasserbasis der Atlantae angekommen war, wieder eingesperrt gewesen. Valentina hatte es ertragen, denn zumindest war sie dank der Atlantae endlich selbstständig und konnte selbst über ihr Leben bestimmen. Ihr Bruder hatte unterdessen versucht ihr beizubringen, wie man sich unter Leuten verhielt, was sie ebenfalls nie gelernt hatte. Selbst unter den Atlantae, die alles andere als normal waren, galt sie schnell als Sonderling.

Nach ihrer Flucht von der Erde war es besser geworden. Zwischen der endlosen Weite der Sterne fühlte sie sich frei, obwohl sie auf einem Schiff mit Hunderten anderen Atlantae eingesperrt war. Sie hatte dort weitergemacht, wo sie auf der Erde aufgehört hatte. Sie war hungrig auf das Leben. Sie wollte Neues schmecken, riechen, fühlen, hören und sehen. Wo immer es ging, versuchte sie die Rationen anderer Atlantae gegen andere Dinge einzutauschen und sie experimentierte mit den unterschiedlichsten Kombinationen herum. Meist hatte sie dafür deren Arbeitsschichten übernommen, was sie überhaupt nicht störte. Vierzehn Jahre lang hatte sie nur gefühllos dagesessen, jetzt freute sie sich, wenn sie ihren Körper spürte, selbst wenn es Erschöpfung oder gar Schmerz war. Für Valentina hielt nun jeder Tag eine neue Entdeckung bereit und sie sog alles Neue in sich auf wie ein Verdurstender das Wasser. Auf dem Mars hatte sie sich, nachdem die Aufbauarbeiten abgeschlossen gewesen waren, fast die ganze Zeit im hydroponischen Garten aufgehalten und sich dort um die Pflanzen gekümmert. Ihr Duft und, als sie reif waren, auch ihr Geschmack hatten ihr schnell gezeigt, wie fade und gleich das replizierte Essen doch war, mit dem sie bisher vorlieb hatte nehmen müssen. Jetzt, hier auf dem neuen Planeten, der wie auch die Stadt den Namen Atlantis trug, lebte sie ihr Leben wie im Rausch. Sie ging ihrer Arbeit in den Gewächshäusern nach und wenn sie dort fertig war, erforschte sie die nähere Umgebung der Stadt. Sie kletterte bis zur Krone der höchsten Bäume, schwamm durch die klaren Flüsse und war sogar schon auf einen ruhenden Vulkan in der Nähe geklettert. Die Farben, Gerüche und vor allem Geschmäcker ihrer neuen Welt faszinierten sie, doch noch viel mehr wollte sie stets Neues entdecken. Deshalb hatte sie sich für ein Erkundungsteam beworben, das den Planeten erforschen sollte. In den nächsten Tagen würde sie hoffentlich erfahren, ob sie genommen werden würde. Bis dahin erforschte sie einfach weiterhin die hiesigen Köstlichkeiten. Sie nahm einen Bissen und ihr war, als ob in ihrem Mund ein Feuerwerk explodieren würde.

Die rote Sonne erhob sich langsam über den gigantischen Bäumen und ihr Licht brach sich im allmorgendlichen Nebel. Craibian stand auf einer der höchsten Plattformen und sah auf die Stadt hinab. Er hatte sich eigentlich mit Arieana hier verabredet, aber sie hatte kurz vorher abgesagt. Sie hatte zu viel zu tun, hatte sie gesagt. Es war auch nicht das erste Mal, das sie ihm mit diesem Grund abgesagt hatte und manchmal zweifelte Craibian daran, dass es wirklich an der Arbeit lag. Hat sie etwas bemerkt?,fragte sich Craibian.

Vielleicht. Wenn selbst Nigel bemerkt hat, wie du sie anschaust, ist ihr es vielleicht auch nicht entgangen,entgegnete Levitas. Craibian mochte Arieana wirklich und er wollte mehr als nur mit ihr befreundet sein. Er wusste es eigentlich schon, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, doch erst vor ein paar Monaten hatte er beschlossen, es ihr auch zu sagen. Leider hatte sich bisher keine passende Gelegenheit dafür ergeben, und dass Craibian was Frauen anging immer noch der schüchterne kleine Junge war, der er als Mensch gewesen war, machte die Sache auch kein bisschen besser. Dazu kam noch, dass Levitas zu seinen Lebzeiten in Sylvana verliebt gewesen war, die nun wiederum in Arieana weiterlebte und die ihn damals entschieden abgewiesen hatte.

Wenn sie es weiß, warum sagt sie nichts?,fragte Craibian Levitas.

Du kennst sie doch. Sie tut sich wahnsinnig schwer sich zu öffnen.

Aber wir sind doch Freunde,stellte Craibian kopfschüttelnd fest.

Richtig, Freunde,stimmte Levitas zu und betonte das letzte Wort.

Craibian fluchte leise. Na, wenigstens ist die Aussicht hier ein Traum,dachte er bei sich und setzte sich auf die Decke, die er ausgebreitet hatte. Er hatte hier eigentlich mit Arieana essen und den Sonnenaufgang beobachten wollen. Jetzt saß er alleine in achthundert Metern Höhe und aß, was er mitgebracht hatte. Craibian sah auf die Stadt herab. Abgesehen von der Sache mit Arieana lief für ihn alles rund. Mittlerweile lebten alle Atlantae hier auf dem Planeten. In ein paar Wochen würden die Gewächshäuser sie ernähren können und dank des Wasserkraftwerkes, das seit letzter Woche lief, hatten sie genug Energie für alle. Die größte Arbeit war getan und jetzt konnten sich die Atlantae endlich etwas ausruhen. Alle bis auf Arieana, wie es schien, und auch Craibian fand keine Ruhe, bis er es ihr endlich sagen konnte. Er seufzte laut und versuchte den Gedanken an sie vorübergehend aus seinem Kopf zu verdrängen. Sie spukte dort sowieso schon viel zu oft herum. Er legte sich auf den Rücken und sah durch das Blätterdach über ihm in den rötlichen Himmel.

Hast du dir schon Gedanken gemacht, wen du da rausschicken willst?, fragte Levitas ihn. Er schien ebenfalls vom Thema ablenken zu wollen.

Nein. Ich sollte mir mal die Atlantae der Pioniergruppen ansehen. Craibian wollte so schnell wie möglich das atlantische System erkunden lassen und danach auch die umliegenden Systeme. Im Moment wussten sie immerhin noch nichts über ihre Nachbarschaft, sofern es denn eine gab. Zwar konnten die automatischen Drohnen diesen Job auch erledigen, aber Craibian wollte eine Forschergruppe aus Atlantae losschicken, um jeden Himmelskörper da draußen genau zu erforschen. Die Drohnen konnten zwar Karten erstellen, aber sie brauchten mehr als das. Für Nigels Vorschläge zum Ausbau der Flotte und für Talons Bauvorhaben brauchten sie eine Menge Ressourcen und Craibian wollte ihre Heimat nicht ausbeuten. Sie würden ihre Rohstoffe aus dem Asteroidengürtel in ihrem System holen, doch dafür mussten sie erst mal die Asteroiden analysieren und kategorisieren. Das sollte ein kleines Team übernehmen, das die Korvette Sylphe dafür bekam. Ein anderes Team sollte mit der Lutin das System verlassen und dort draußen nach interessanten Dingen suchen. Craibian war schon fasziniert davon gewesen, was die Pioniergruppen in der Umgebung ihrer neuen Stadt alles gefunden hatten, und was sie nicht gefunden hatten. Heiße Quellen, Meteoritenkrater, Insekten und Bäume gab es hier zuhauf. Sie hatten sogar einige einheimische Pflanzen gefunden, die ihnen in Zukunft als Nahrung dienen konnten. Ihre bisherigen Nutzpflanzen waren Klone von typischen Gemüse-, Beeren- und Obstkulturen der Erde. Sie mussten in abgeriegelten Gewächshäusern gezüchtet werden, weil niemand wusste, wie die fremden Pflanzen sich auf das hiesige Ökosystem auswirken könnten. Was die Trupps dagegen nicht gefunden hatten, waren größere Tiere oder Hinweise auf eine Zivilisation oder höhere Intelligenz gewesen. Ranora, ihre Genetikexpertin, schätzte, dass die Evolution auf diesem Planeten der der Erde um einige Hundert Millionen Jahre hinterherhinkte. Craibians Blick fiel auf die zahllosen Brücken unter ihm, die die Plattformen einer Ebene verbanden und von hier oben wie ein Spinnennetz wirkten. Die Stadt erwachte. Etliche Atlantae begaben sich aus ihren Häusern und machten sich auf den Weg. Einige zu ihrer Arbeitsstätte, andere zu den wenigen Läden. Vor wenigen Tagen hatten sie nun doch eine Währung eingeführt. Es war nur eine digitale Zahl, aber nun gab es Bezahlung und Preise. Gut zwei Jahre lang waren sie so etwas wie eine Kommune gewesen, wo jeder einfach bekam, was er brauchte, allerdings auch nur das, was er wirklich brauchte. Das hatte lange funktioniert, aber sie waren ja auch zwei Jahre im Ausnahmezustand gewesen. Jetzt waren sie keine Rebellengruppe mehr, die einfach nur überleben wollte, sondern eine Zivilisation im Aufbau. Craibian hoffte, dass eine leistungsabhängige Bezahlung die Arbeitsmoral und vor allem auch die Selbstständigkeit der Atlantae fördern würde, und tatsächlich gab es hier und da schon Ideen, wie man ein eigenes Geschäft aufmachen konnte. Die Wasser-, Strom- und Nahrungsversorgung und das Kommunikationsnetz lagen aber immer noch fest in staatlicher Hand und Craibian wollte das auch so belassen. Zusammen mit den noch sehr geringen Steuern und den Mieteinnahmen der Wohnungen waren dies auch die einzigen Einkünfte des Staats und damit auch das, womit Craibian nun haushalten musste. Er hatte etwas Bammel vor dem tatsächlichen Regieren der Atlantae. Er hatte wenig Erfahrung damit, denn bisher war seine einzige Aufgabe gewesen, sein Volk am Leben zu halten. Jetzt jedoch kam die Verantwortung über das gesamte Wirtschaftssystem dazu und er hatte keine Ahnung, was das Beste war. Weder das System der Menschen noch das der alten Atlantae waren für ihre Situation besonders geeignet. Er probierte einfach aus und hoffte auf das Beste. Er wusste nur, dass ein Mittelweg zwischen Kontrolle durch den Staat und individueller Freiheit das Beste war, doch wie genau dieser Weg verlief, sah er noch nicht.

Wir müssen langsam los, wenn wir rechtzeitig zu der Zeremonie kommen wollen,erinnerte Levitas ihn und riss Craibian damit aus seinen Gedanken.

War das heute?,fragte Craibian und schrak auf.

Ja, wir haben noch ’ne halbe Stunde. Craibian schaute auf seinen Kommunikator, den er um sein Handgelenk trug, und stellte überrascht fest, dass er wirklich schon seit zwei Stunden hier saß und grübelte. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und bald war es schon wieder Mittag. Der Tag auf Atlantis dauerte aufgrund der schnellen Drehung des Planeten nur vierzehn Stunden, und davon war es zu dieser Jahreszeit nur sechs Stunden hell. Er packte rasch seine Sachen zusammen und machte sich auf den Weg in sein Quartier, das zum Glück nicht weit entfernt war, um sich umzuziehen. Heute war ein besonderer Tag für die jüngsten Mitglieder ihrer Gesellschaft und die einzigen Menschen, die unter ihnen lebten. Sie waren Kinder und zwischen sieben und zehn Jahren alt, die sie vor einem Angriff der Menschen auf die Unterwasserbasis der Atlantae in Sicherheit gebracht hatten. Eine Nuklearexplosion, die den Atlantae hatte gelten sollen, hatte damals kurzen Prozess mit den Inseln in der Nähe ihres Stützpunktes gemacht und alle Menschen, die dort gelebt hatten, getötet. Craibian und ein paar andere Atlantae, die Zufällig in der Nähe gewesen waren, hatten nur eine Handvoll Kinder retten können und diese dann auf ihre Odyssee mitgenommen. Es hatte einfach keine Möglichkeit mehr gegeben, die Kinder an die Menschen zurückzugeben und mittlerweile waren sie ein Teil ihrer Gemeinschaft. Heute sollten sie in einer feierlichen Zeremonie endlich ihre Interfaces bekommen und damit ebenfalls genetisch zu Atlantae umgewandelt werden. Craibian hatte dies eigentlich erst durchführen wollen, wenn die Kinder volljährig waren, doch sie hatten mehrfach darum gebeten, die Prozedur vorzuziehen und Craibian konnte es ihnen nicht verübeln. Sie waren die einzigen Menschen unter Hunderten von Atlantae und obwohl sie nicht anders behandelt wurden, waren sie doch anders. Es war für die Kinder schwer, ständig zu sehen, wie stark und mächtig alle waren, außer sie. Egal wie sehr sie sich anstrengten, alles, was sie taten, blieb hinter dem zurück, wozu ein Atlantae fähig war. Sie waren schwächer, langsamer und auch die Magie blieb ihnen verwehrt. Craibian hatte schließlich beschlossen, dass sie reif genug waren, um sich wirklich im Klaren zu sein, was eine Transformation bedeutete, und da es ansonsten keinen Grund gab, weiter zu warten, hatten sie einen Tag dafür festgelegt und die Implantation des Kerns in eine kleine Zeremonie verpackt. Als König von Atlantis musste er die Zeremonie eröffnen, bevor ihre Priesterin Leila übernahm. Seltsamerweise war er deswegen noch kein bisschen nervös. Vielleicht weil das atlantische Volk mehr wie seine Familie war als wirkliche Untertanen.

„Wir haben uns heute hier versammelt, um die Aufnahme von Lif, Coran, Quen, Duke, Relko, Zeri, Sarolf, Hathor und Jerri in die Gemeinschaft der Atlantae zu feiern“, rief Craibian laut. Er stand auf einem Steinpodium, das am Kopf des Tempels stand, in dem auch der erste Gottesdienst stattgefunden hatte, den Craibian vor zwei Monaten besucht hatte. Fast fünfhundert Atlantae waren heute hier versammelt und damit fast ihr gesamtes Volk. Die neun Menschenkinder saßen auf Stühlen zu seiner Rechten und sahen mit ernstem Blick zu ihm hinauf. Sie schienen alle ziemlich nervös zu sein. „Sie kamen nicht freiwillig zu uns, sondern durch ein furchtbares Unglück, an dem wir eine Mitschuld tragen und doch haben sie hier neue Freunde und ein Heim gefunden“, sprach Craibian weiter. „Nachdem sie so viel ertragen mussten und sich dennoch ihr Herz bewahrt hatten, ist das Mindeste, was wir tun können, ihnen dieselben Gaben zu geben, mit denen auch wir beschenkt wurden.“ Damit übergab er das Podium an Leila und stellte sich neben die neun Menschenkinder. Im vorbeigehen lächelte er ihnen aufmunternd zu.

Leila unterdessen erhob ihre Stimme in einem beschwörenden Tonfall: „Ich rufe zu euch, ihr Elemente. Ich bin Leila, eure ergebene Dienerin. Seht diese Kinder, die wie wir ohne euren Segen geboren wurden.“ Sie machte eine kleine Pause und Craibian musste sich zusammenreißen, um nicht die Augen zu verdrehen. Leila war ihm manchmal etwas zu theatralisch. Er glaubte kaum, dass die Magie sie wirklich hören konnte. Außerdem war die Transformation in einen Atlantae ein rein wissenschaftlicher Prozess. Das, was Leila gerade machte, war nur etwas, was mit einer Art Taufe zu vergleichen war. Der Segen der Elemente sollte darüber bestimmen, welche Magieströme die Kinder nutzen konnten, doch alle bisherigen Atlantae hatten auch ohne diesen Segen ihre Magie nutzen können. Leila holte tief Luft und setzte erneut an: „Ich beschwöre euch nun, gebt ihnen euren Segen, auf dass sie ganze, vollwertige Mitglieder unserer Glaubensgemeinschaft werden können! Infreet, leihe ihnen deine Kraft. Gaia, stärke ihren Willen. Undine, kühle ihr Blut. Sylph, befreie ihren Geist. Luna, verstecke sie vor Gefahren. Aska, gebe ihnen ein Licht in der Dunkelheit. Martel, erfülle sie mit Leben. Und Theis, schüre ihre Neugier.“ Neun Atlantae traten nun aus der Menge und stellten sich hinter die Kinder, eine Hand auf ihre Schultern gelegt. Die Kinder hatten sich diese Atlantae ausgesucht und sie sollten ihnen nun den Kern implantieren. „Nun frage ich euch meine Kinder, nehmt ihr das Geschenk der Elemente an und alle Verpflichtungen, die damit einhergehen?“, richtete Leila ihr Wort nun an die Kinder.

„Ja, das tun wir“, riefen sie im Chor.

„Dann empfangt den Segen der Magie und erwacht als Kinder von Atlantis.“ Bei den letzten Worten kam Craibian ein säuerlicher Geschmack hoch. Die Kinder von Atlantis. So hatten sie sich den Menschen gegenüber genannt. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass Leila diesen Namen nun für ihre Kirche erwählt hatte, wo er doch einst ihr ganzes Volk repräsentierte. Doch er konnte schwer etwas dagegen sagen. Staat und Religion agierten getrennt voneinander, und das war auch gut so. Er würde Leila genauso wenig vorschreiben, wie sie zu predigen hatte, wie sie ihm sagen würde, wie er zu regieren hatte. Die Atlantae hinter den Kindern drückten nun ein kleines Metallröhrchen an die Schultern der Kinder und implantierten damit den erbsengroßen Interfacekern. Von jetzt an würde es nur noch wenige Tage dauern, bis es genetisch gesehen keine Menschen mehr unter ihnen gab. Auf der einen Seite freute Craibian es, dass die Kinder nun vollkommen zu ihnen gehörten, auf der anderen Seite kam es ihm nun vor, als hätten sie damit etwas verloren. Die Menschen waren immerhin ihre Vergangenheit und mit diesem Schritt hatten sie erneut einige Bande an sie verloren. Alles in allem jedoch würde dieser Schritt mehr Probleme beseitigen als verursachen. „Lasst euer altes Leben nun hinter euch und tretet ein in euer neues“, schloss Leila. „Mögen euch die Elemente durchdringen und über euch wachen.“

Nach der Zeremonie folgte eine allgemeine Feier auf dem Tempelgelände. Als Craibian Ranora in der Menge fand, stellte er sich zu seiner alten Freundin und begann mit ihr zu reden, während die anderen Atlantae sich entweder selbst unterhielten oder zurück zu ihren Wohnungen gingen. „Fandest du die Zeremonie auch etwas übertrieben?“, fragte er sie direkt.

Ranora schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht, wieso?“

„Ach, nur so“, wich Craibian aus und wechselte rasch das Thema. „Ich hab gehört, du bist mit Evan zusammengezogen.“ Evan war ein Atlantae, der mit Cyran zusammen an KIs, Drohnen und Droiden arbeitete und mit dem Ranora sich seit ein paar Monaten immer wieder traf.

„Jep.“ Ranora nickte und ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

„Geht das nicht etwas schnell?“, fragte Craibian skeptisch. „Ich meine, so lange kennst du ihn doch noch gar nicht.“

„Finde ich nicht“, widersprach Ranora. „Außerdem macht das die ganze Sache auch etwas aufregend.“

Craibian schüttelte nur den Kopf und musste nun auch lächeln. „Du scheinst ja richtig verliebt zu sein.“ Ranora lächelte nur und erwiderte gar nichts darauf. „Wie geht’s mit deiner Arbeit voran?“, fragte Craibian sie nach einer Weile.

„Ganz gut“, meinte Ranora, „jetzt, da die meisten Häuser stehen, kann ich mich wieder auf andere Sachen als Architektur konzentrieren. Ich hab schon über hundert verschiedene Arten gefunden und musste dafür noch nicht einmal die Stadt verlassen.“

„Klingt gut.“

„Hm“, murmelte Ranora. „Wie lief eigentlich dein Date mit Arieana?“

Craibian lief fast sofort rot an. „Es war kein Date, wir wollten uns nur treffen“, versuchte er klarzumachen und es stimmte ja auch. Er hatte nie explizit nach einem Date gefragt. Craibian wusste aber, dass er seiner besten Freundin nichts vormachen konnte.

„Sicher“, gab Ranora zurück und rollte mit den Augen. „Also, wie lief dein Treffen?“

„Hat nicht stattgefunden.“

„Schon wieder?“, stellte Ranora mit hochgezogenen Augenbrauen fest. „So viel kann doch keiner arbeiten.“

„Sie hat wirklich viel zu tun“, verteidigte Craibian sofort Arieana, auch wenn er selbst nicht sicher war, ob das gerechtfertigt war.

„Na ja. Willst du ein weiteres Treffen arrangieren?“, fragte Ranora ihn, ohne weiter darauf einzugehen.

„Weiß nicht“, wich Craibian der Frage aus. Natürlich wollte er weiter versuchen, sich mit Arieana zu treffen, aber vielleicht war es klüger darauf zu warten, dass sie einmal ein solches Treffen vorschlug. Geduld war zwar nicht gerade seine Stärke, aber die Sache war für ihn wichtig genug, dass er auch längeres Warten ertragen würde.

Ranora schien zu spüren, dass ihm das ganze Thema sichtlich unangenehm war und tat ihm den Gefallen, das Thema zu wechseln. „Ich weiß übrigens, welche Atlantin demnächst Mutter wird und ich kenne auch den Vater.“

Craibian sah interessiert auf. „Echt?“ Arieana war vor ihrer aller Ankunft auf Atlantis herausgerutscht, dass sie eine Patientin gehabt hatte, die plötzlich keine Magie mehr hatte wirken können und bei der sie dann bei ihren Untersuchungen eine Schwangerschaft festgestellt hatte.

„Ja, und es war doch ziemlich offensichtlich“, stellte Ranora fest.

„Und wer ist es?“

„Filki und Aiden.“

„Und sie hat mir noch nichts gesagt“, stellte Craibian gespielt gekränkt fest. Filki war ihre Quartiermeisterin auf der alten Basis, auf der Erde und später auf dem Mars gewesen und Aiden gehörte zu Talons Technikercrew. Craibian kannte beide relativ gut, hatte aber Filki seit zwei Monaten nicht mehr gesehen. „Wann ist es so weit?“, fragte er Ranora neugierig.

„Soweit ich weiß, in drei Monaten. Also Erdenmonaten“, stellte sie schnell klar.

„Das wären dann ...“, begann Craibian zu rechnen, „ in ungefähr hundertfünfzig Tagen, also fast einem Jahr.“

„Das ist so verwirrend mit den neuen Zeiten“, stellte Ranora kopfschüttelnd fest.

„Das stimmt“, seufzte Craibian, „aber es wäre noch verwirrender, wenn wir das alte Zeitsystem behalten würden, das ja auf die Erde ausgelegt ist.“

„Vielleicht gewöhnen wir uns ja irgendwann noch an das neue Zeitsystem“, meinte Ranora, klang dabei aber nicht sonderlich überzeugt. „Ich hab aber vorgestern erst zu Evan gesagt, er solle um fünfzehn Uhr zu mir kommen, als mir aufgefallen ist, dass das hier genauso sinnig ist wie 25 Uhr auf der Erde.“

Craibian musste lachen. Einige umstehende Atlantae schauten interessiert zu ihnen herüber. „Woher weißt du eigentlich, dass Filki diejenige ist, die Mutter wird?“, fragte er Ranora, nachdem er sich wieder beruhigt hatte.

Ranora sah ihn leicht verständnislos an. „Man, äh, man sieht es.“

„Ach so“, erwiderte Craibian und kam sich jetzt etwas dumm vor. Natürlich sieht man es,schalt er sich selbst. Ich Idiot. Ein Donnergrollen verhinderte, dass Ranora ihn aufgrund seiner dummen Frage aufziehen konnte und kündigt den täglichen Wolkenbruch an, der nach der Mittagszeit auf den ganzen Planeten herabfiel. Einzelne Tropfen begannen auf die Umstehenden zu fallen und schnell machten sich die meisten auf den Weg zu den Baumhäusern, um Schutz vor dem Unwetter zu suchen. Craibian erzeugte einfach eine magische Blase um sich und Ranora, von der der Regen einfach wie an Glas abperlte. „Wir sollten lieber auch gehen“, stellte Craibian trotzdem fest.

„Jep, ich hab sowieso noch eine Menge zu tun“, stimmte Ranora zu. „Und du kannst uns zwar vom Regen abschirmen, aber ich möchte hier nicht auf nassem Grund stehen, wenn ein Blitz in der Nähe einschlägt.“ Das stimmte. Dank der Kohlenstoffröhrchen, die durch ihre Nanotechnologie nun durch die Bäume verliefen, hatte jeder Baum quasi einen eigenen Blitzableiter, aber wenn der Strom durch die Röhrchen in dem Boden lief, konnte es für sie unangenehm werden. Da sie selbst einen Graphenpanzer unter ihrer Haut hatten, der den Strom ableiten konnte, waren Blitze für sie nicht lebensgefährlich, aber ein Stromschlag tat trotzdem höllisch weh. Einige von Talons Technikern hatten diese Erfahrung schon ein paarmal machen können. Der Himmel verdunkelte sich immer mehr und der zuvor noch leichte Regen schwoll rasant an.

„Man könnte fast meinen, die Welt geht unter“, stellte Craibian fasziniert fest.

Valentina genoss den warmen Regen, der durch das Blätterdach auf sie herabfiel. Sie war schon völlig durchnässt, aber das war ihr egal. Sie befand sich weit außerhalb der Stadt zusammen mit dem Pionierteam Alpha. Ihre Bewerbung war angenommen worden und nun erkundete sie zusammen mit fünf anderen Atlantae die Flora und Fauna ihres neuen Planeten. Valentina hatte sich so gefreut, als sie erfahren hatte, dass sie dabei war. Das Einzige, was sie an ihrem neuen Job nervte, war, dass ihr Bruder Hector ihre Teamkameraden angehalten hatte, auf sie aufzupassen. Hector wäre vermutlich selbst mitgekommen und ihr auf Schritt und Tritt gefolgt, wenn er nicht Käpten der Lazarus wäre und durch das Trainingsprogramm seines Generals andere Dinge zu tun hätte. Seitdem sie stark genug gewesen war, um das erste Mal nach ihrer Transformation ihr Bett verlassen zu können, war Hector ihr quasi auf Schritt und Tritt gefolgt. Er hatte sogar bewirken wollen, dass sie in der letzten Schlacht auf der Erde im Bunker bleiben konnte, obwohl ihr Volk damals jeden Kämpfer gebraucht hatte. Zu Valentinas Erleichterung war sein Vorgesetzter nicht darauf eingegangen und stattdessen war Hector ihr in der Schlacht keine Sekunde von der Seite gewichen, obwohl sie sehr gut auf sich selbst aufpassen konnte. Für ihn war sie anscheinend immer noch das hilflose Mädchen, das alleine nicht überleben konnte. Zum Glück ließ ihre Arbeit nicht zu, dass ständig eines der anderen Teammitglieder sie begleitete, aber sie fragten sie immer wieder über Kom wo sie war und wie es ihr ging. Valentina hoffte, dass das irgendwann einfach aufhören würde. Ich glaube, ich bin selbstständig genug, um keinen Babysitter zu brauchen,dachte sie, als wieder ein Kom-Ruf zu ihr geschickt wurde. Diesmal mit der Bitte, sich irgendwo unterzustellen, bis der Regen vorbei war. Ich bin ja nicht aus Zucker. Sie bückte sich und untersuchte ein Pflanze, die sie zuvor noch nie gesehen hatte. Eine prächtige violette Blume spross aus ihr hervor. Sie machte ein holografisches Bild von ihr und zupfte zwei Blätter von ihr ab, eines für die Untersuchungen und die Gendatenbank und eines für sie selbst. Sie sollten immerhin alles Neue hier erforschen und Valentina erforschte die Dinge nicht nur mit ihrem Scanner oder mit ihren Augen. Mit etwas Übung scannte sie das Blatt und als die Anzeige keine Giftstoffe anzeigte, kaute sie ein wenig darauf herum. Sofort spuckte sie die bitteren Blätter wieder aus.

Ich wünschte, du würdest das lassen,stellte Galizia seufzend fest. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum dein Bruder weiterhin denkt, dass du auf Hilfe angewiesen bist.

Warum?,fragte Valentina im Unschuldston. Ich hab doch vorher überprüft, ob sie giftig ist.

Ja, aber niemand nimmt einfach irgendwelche Dinge in den Mund,versuchte die alte Atlantin ihr wieder einmal klarzumachen.

Aber wie soll man denn dann wissen, wie etwas schmeckt?,fragte Valentina stur. Es ist doch auch nicht falsch, etwas Neues anzusehen oder daran zu riechen.

Nein, aber, also ... Galizias Frustration war für Valentina deutlich zu spüren. Man macht es einfach nicht,wiederholte sie nur erneut, was sie ihr schon oft bei einigen Dingen gesagt hatte. Valentina hatte zwar in Rekordzeit Galizias Wissen über Biologie, Geologie, Physik und Astronomie erlernt, aber was gesellschaftliche Regeln anging, erwies sie sich als erstaunlich lernresistent. Ihr fehlte es oft an Empathie, Einfühlungsvermögen oder Respekt, doch bisher hatte sich noch niemand darüber beschwert. Auch wenn dieser Techniker Aiden sie etwas komisch angesehen hatte, als sie einfach in seine Wohnung gekommen war und ihn aufgefordert hatte, ihren Replikator zu reparieren, der bei einem ihrer Experimente wohl etwas überfordert gewesen war. Wenn sie mit anderen Atlantae zusammenarbeiten musste, kam es dadurch hier und da mal zu kleineren Problemen, doch bei ihrem neuen Job war sie die meiste Zeit allein und sie war gut in dem was sie tat. Niemand aus dem ganzen Pionierteam hatte in so kurzer Zeit so viele neue Tier- und Pflanzenarten entdeckt wie Valentina. Sie nahm alles Neue in ihrer Umgebung überdeutlich wahr und erkannte sogar kleinste Unterschiede von sehr nah verwandten Arten. So unterschieden sich fünf der Käfer, die sie heute eingefangen hatte, nur durch die Anzahl der Streifen auf ihrem Panzer. Außerdem war sie mit einem Elan bei der Arbeit, mit der sich wohl niemand messen konnte.

„Was haben wir denn da?“, murmelte Valentina und schritt schnell und leichtfüßig durch das nasse Moos zu der Stelle, wo sie etwas hatte glitzern sehen. Eine Art übergroßer Tausendfüßer schlängelte sich durch die Farne und sein durch das Wasser glänzender Panzer hatte ihn nun verraten. Er war in etwa so groß wie Valentinas Unterarm.

Der ist wohl etwas zu groß, um ihn im Ganzen mitzunehmen,stellte Galizia fest.

„Sorry, Kleiner“, flüsterte Valentina und tötete ihn mit einem schwachen Schuss aus ihrer kleinen Laserpistole. Sie nahm eine Probe und verstaute diese in einer kleinen Tüte, die sie mit AV 937 beschriftete. Team Alpha Valentina Probe Nr. 937. Danach besah sie sich den restlichen Tausendfüßer.

Nein, untersteh dich,warnte Galizia sie, doch Valentina ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Ein Stock, ein paar große Blätter als Regenschutz, ein kleiner Zauber und der Tausendfüßer brutzelte über einem magischen Feuer vor sich hin. Galizia war zwar eine Abenteurerin gewesen, aber was kulinarische Genüsse anging, war sie ganz und gar nicht entdeckerisch gestimmt. Als Valentina das erste Stück ihrer heutigen Mahlzeit probierte, weiteten sich sofort ihre Augen und sie rief laut in den Regen: „Wow, ist das gut!“ Ich muss mir davon unbedingt etwas für meinen Replikator zum einscannen mitnehmen,fuhr sie in Gedanken fort. So saftig und knusprig und ...

Ja gut, das ist wirklich lecker, zumindest wenn man nicht weiß, was es ist,musste auch Galizia zugeben.

Siehst du, und wenn ich es nicht probiert hätte, wüssten wir nie, was wir verpasst hätten,stichelte Valentina und schob sich ein weiteres Stück in den Mund und es knackte lautstark, als sie zubiss. Aber vielleicht sollte ich ihn schälen,dachte sie sich und musterte ihre Mahlzeit mit neugierigen Blicken.

Wie eine gigantische Krake zog das Metallkonstrukt seine Bahnen durch den Orbit um Atlantis. Die neue Werft war gerade fertiggestellt worden und würde in Kürze mit dem Bau des ersten Schiffs beginnen. Der ursprüngliche Entwurf der Hephaistos-Werft, aus der alle jetzigen Schiffe der atlantischen Flotte entsprangen, war von Talon und Aiden noch mal überarbeitet worden. Die neue Version war etwas größer und besaß, zusätzlich zu den acht großen Fertigungsarmen, kleine Hangars, in denen Drohnen, Shuttles und sogar Raumschiffe der Hermes-Klasse gefertigt werden konnten. Die Fertigungsarme wurden nur noch für Schiffe der Korvettenklasse oder noch größere Klassen benötigt. Gleichzeitig waren die Arme nun von außen mit Solarpaneelen verkleidet und der Reaktor im Inneren damit eingespart worden. Für die ersten Aufträge bezog die Werft ihre Rohstoffe noch von Versorgungsshuttles, die ihre Fracht aus den Minen auf Atlantis bezogen. Doch sobald ihre Erkundungstrupps geeignete Asteroiden im äußeren Gürtel gefunden hatten, würden die Ressourcen von dort kommen. Passende Minenschiffe von der Größe einer Fregatte waren bereits in Planung, ebenso wie Frachtschiffe, die mit jedem Flug Hunderttausende Tonnen an Rohstoffen transportieren konnten. Talon stand auf dem Beobachtungsdeck der Phönix und sah auf die Werft herab. Er hatte große Pläne und wenn Craibian ihm die Erlaubnis zu deren Durchführung gab, würde er diese gewaltigen Mengen an Ressourcen auch brauchen. Allerdings ging er fest davon aus, dass sowohl die geförderten Rohstoffe als auch die Kapazität der Werft von Nigel mit beansprucht werden würden. Wenn er ein Mensch gewesen wäre, hätte er vermutlich gesagt, sein Vorhaben wäre eine Lebensaufgabe. Als Atlantae hatte er aber alle Zeit der Welt, also wozu die Eile?

Erst die Werft, dann der Raumhafen, dann der Rest,dachte er sich. Vielleicht konnte er Nigel mit in sein Team holen, wenn der von ihm geplante Planetenring auch einen militärischen Zweck verfolgen würde. Vielleicht kann ich einige Verteidigungswaffen in meine Pläne mit aufnehmen,überlegte er vor sich hin. Mit einem Knopfdruck aktivierte sich das Hologramm in der Mitte des Beobachtungsdecks und rief seinen Plan des Planetenrings auf. Der Ring bestand aus 50.000 einzelnen Segmenten mit einer Länge von etwas unter einem Kilometer und sollte sich in über dreihundert Kilometern Höhe einmal um den Äquator von Atlantis ziehen. Die Segmente unterschieden sich einzig in Dicke und Funktion. Bisher hatte Talon Segmente in Handelshafen, Werft, Forschungsstation und Orbitalstadtsegment unterteilt, doch aufgrund der geringen Anzahl der Atlantae konnte er von Letzterem wohl einige Module ersetzen.

Nigel würde vermutlich wollen, dass die Verteidigungssegmente in regelmäßigen Abständen kommen, damit der Planet von allen Seiten aus verteidigt werden kann,überlegte Talon. Dann ist der Planet zwar nur um den Äquator herum geschützt, aber immerhin etwas.

Ich hätte da noch eine Idee, aber das wird nicht einfach,meldete sich Leif zu Wort, der seit fast vier Jahren in Talons Kopf wohnte. Wenn wir es schaffen, die Reichweite des Energieschilds weiter zu verbessern und einige Tests durchführen, könnten wir den Planetenring mit einem Planetenschild ausstatten. Wir könnten den ganzen Planeten vor Asteroiden, Beschuss, Strahlung und Sonnenwinden abschirmen.

Wenn ich das Craibian vorschlage und ihm die notwendigen Mittel dafür nenne, wird er mich lynchen,stellte Talon trocken fest.

Nicht wenn Nigel dir Rückendeckung gibt,widersprach ihm Lief. Er steht zwar mehr auf Raumschiffe, aber ein Planetenschild würde uns im Verteidigungsfall so viele Vorteile verschaffen, dass er es unmöglich einfach abschlagen kann.

Dann müssen wir aber Berechnungen dazu anstellen und Versuche durchführen, bevor wir zu einem der beiden damit gehen,meinte Talon nachdenklich. Sonst schlagen die es trotzdem ab.

Ich bin sicher, wir schaffen das, bevor die Bauarbeiten an diesem Punkt angekommen sind, aber wir sollten vielleicht einige Sektionen für Schildgeneratoren und Energiespeicher einplanen,erwiderte Leif, und wenn wir den Planetenring mit Solarfolien autark bekommen, steigert das bestimmt die Chance, dass Craibian das ganze Projekt genehmigt.

Das erhöht zwar den Materialbedarf, senkt aber die Unterhaltskosten,überlegte Talon. Seitdem Craibian Geld und Bezahlung für die Atlantae eingeführt hatte, musste Talon sich auch mit solchen Fragen beschäftigen. Zuvor waren seine Projekte nur von den vorhandenen Ressourcen und der verfügbaren Arbeitskraft eingegrenzt worden, aber jetzt hatte er einen monatlichen Betrag, den er ausgeben durfte und musste irgendwie damit haushalten. Er konnte nicht einmal sicher sein, dass sein Etat in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten gleich bleiben würde. Zum Glück waren die Minenschiffe, die sie gebaut hatten, staatlich und die damit geförderten Rohstoffe dadurch für ihn quasi kostenlos. Er musste nur seine Technikercrew bezahlen und eventuelle Hilfskräfte, die vielleicht anfallen würden. Wie er gehört hatte, hatten auch Ranora und Arieana Probleme mit dieser Umstellung gehabt. Besonders Arieana, die im Moment Grundlagenforschung in der Magie und Magietechnologie betrieb, hatte manchmal nicht genug Mittel, um alles so zu machen, wie sie sich es vorgestellt hatte. Nur Cyran, der einer der wenigen Atlantae war, die wirklich gute Arbeit in der KI-Programmierung und Droidenkonstruktion leistete, hatte diesbezüglich keine Probleme. Jeder Atlantae brauchte ihn, egal ob es um Droiden oder Intelligente Systeme ging und er verdiente sein Geld damit. Am Ende hat der Kerl noch mehr Geld als der ganze Staat,dachte sich Talon und musste einräumen, dass er doch etwas neidisch auf seinen Freund war. Vielleicht können wir irgendwann auch private Raumschiffe verkaufen und uns damit finanzieren,überlegte Talon weiter.

Oder wir fragen Cyran, ob er uns Geld leihen will,scherzte Leif.

Vielleicht gar keine so üble Idee, ihn ins Boot zu holen,meinte Talon. Wir sollten das im Hinterkopf behalten. Er wandte sich noch mal zum großen Aussichtsfenster des Schiffes und sah zur Werft. Diesmal ging sein Blick jedoch daran vorbei und er betrachtete stattdessen Atlantis. Das neue Atlantis. Ich bin mal gespannt, wie Craibians Pläne zu dem Ganzen hier aufgehen werden,dachte er sich. Und wieweit ich mit meinem Teil dazu beitragen kann. Er richtete sich an Leif. Glaubst du, wir schaffen es wirklich, hier eine neue Zivilisation zu erschaffen?

Das hängt wohl in erster Linie davon ab, wie schnell unser Volk wachsen kann. An Wohnraum, Schiffen und Ressourcen wird es auf jeden Fall bald nicht mehr mangeln.

Aiden war etwas nervös. Heute war der große Tag. Er hatte die letzten Wochen kaum geschlafen, doch das lag an etwas ganz anderem. Vor fünf Wochen war seine Tochter zur Welt gekommen und sie hielt ihn und Filki seitdem auf Trab. Er hatte sich schon mehr als einmal gefragt, wie seine Eltern das damals mit ihm ausgehalten hatten. Immerhin hatten die als Menschen mehr als zwei Stunden Schlaf am Tag benötigt, während er für atlantische Verhältnisse quasi ausschlafen konnte. Die kleine Amelya war für ihn und seine Freundin ein echtes Wunder, doch sie waren nicht die Einzigen, die so dachten. Amelya war das erste geborene Kind der neuen Atlantae und als solches wirklich etwas Besonderes. Die Besucher, die alle nach der Geburt hatten vorbeisehen wollen, waren fast anstrengender gewesen als Amelya selbst. Bisher hatte Aiden die meisten einfach abgewimmelt, bis auf die engsten Freunde und einigen wenigen, bei denen er sich nicht getraut hatte, sie einfach wieder wegzuschicken. Er war schon etwas überrascht gewesen, als Craibian und Talon vor seiner Haustür gestanden hatten und gefragt hatten, ob sie reinkommen dürften. Wenigstens hatten alle ihnen nach der Geburt zumindest ein paar Tage Ruhe gelassen. Doch heute konnte er sich nicht verstecken. Heute war Amelyas Aufnahme in die atlantische Gesellschaft. Fast so wie damals Aidens Taufe, aber ohne viele Worte oder irgendwelche Rituale. Eigentlich war es nur eine kleine Feier, um einen neuen Atlantae auf der Welt zu begrüßen. Nur war es die erste Feier dieser Art; also machte sich Aiden keine Illusionen, dass es ganz und gar nicht klein werden würde. Wenigstens brauchte er sich um nichts zu kümmern.

„Bist du so weit?“, fragte eine sanfte Stimme hinter ihm. Er drehte sich um und sah seine Filki in einem prächtigen dunkelgrünen Kleid. In ihren Armen schlief die kleine Amelya, die von ihrer Mutter ebenfalls etwas herausgeputzt worden war. Lächelnd ging er auf die beiden wichtigsten Frauen in seinem Leben zu, küsste Filki kurz und strich dann seiner Tochter sanft über den mit Flaum bewachsenen Kopf.

„Ich glaube schon“, beantwortete er Filkis Frage.

Sie sah ihn kritisch an. „Halt mal kurz“, meinte sie und drückte ihm seine Tochter in die Arme. Vorsichtig nahm er das so zerbrechlich wirkende Baby in seine Arme. Filki unterdessen zupfte sein Hemd zurecht, richtete den Kragen und strich ein paar Falten glatt. „So, jetzt können wir gehen“, stellte sie irgendwann zufrieden fest. Sie nahm Amelya wieder und Aiden folgte ihr zum Tempel.

Eine halbe Stunde später standen alle drei vor fast fünfhundert Atlantae und Leila, die neben den dreien auf ihrem Podium stand, sprach ähnliche Worte wie vor einigen Monaten bei der Aufnahme der Menschenkinder.

„Martel hat uns dieses Geschenk hinterlassen und lebt nun auch in ihm, in Amelya“, rief die Priesterin laut, damit alle sie hören konnten. „Wir werden alle durch die Gnade von Martel geboren, doch wenn wir älter werden, erteilen uns auch die anderen Elemente ihren Segen, auch wenn nicht jeder von uns ihre Macht nutzen kann. Wir allein entscheiden, wie wir die uns gegebenen Gaben anwenden. Wir entscheiden, ob wir damit erschaffen oder zerstören. Wir ringen mit den Gegensätzen von Infreet und Undine, von Sylph und Gaia und von Aska und Luna. Doch Martel hat keinen Gegensatz. Leben gibt es immer, vor allem in der Magie, denn ohne Leben gibt es keine Magie.“ Nun begab sich Leila von ihrem Podium und ging zu Aiden, Filki und Amelya hinunter. „Möge euer Kind den Segen der Elemente in sich tragen und ihr Geschenk weise einsetzen“, sprach sie in normaler Lautstärke zu ihnen. Aiden nickte ihr dankend zu und Filki drückte einfach nur lächelnd ihre kleine Tochter an sich. „Und nun zu dem, weshalb die meisten wohl heute hier sind“, rief Leila wieder in die Menge. „Es ist neues Leben unter uns, also feiern wir das angemessen!“

Die darauffolgende Feier endete erst nach über sechsundzwanzig Stunden und dauerte damit fast zwei Tage. Aiden und Filki gingen bereits drei Stunden nach der Zeremonie zurück in ihr Quartier. Sie waren völlig fertig und auch für Amelya war die Feier wahrscheinlich sehr anstrengend. Die übrigen Atlantae redeten, tranken, sangen und tanzten jedoch noch lange ohne den eigentlichen Grund weiter. Einige Atlantae gingen, aber noch mehr kamen erst während den Feierlichkeiten dazu. Luftmagier und auch einige richtige Musiker mit Instrumenten gaben ihr Können zum Besten, und einige Feuermagier beschlossen gegen Mitternacht, ein ausführliches Feuerwerk in den Himmel zu zaubern. Zum Glück waren die Plattformen und Brücken der oberen Ebenen mit Energieschilden geschützt, die eigentlich nur wegen der Unwetter da waren. Doch auch fehlgeleitete Zauber prallten wirksam daran ab. Erst in der zweiten Nacht kehrte Ruhe ein und am nächsten Morgen ging wieder alles seinen gewohnten Gang.

Kapitel 2

Aufbruch

„Der Drang etwas Neues zu entdecken, etwas Neues zu lernen und etwas Neues zu erschaffen steckt in jedem von uns. Es ist dieser Drang, der uns vorantreibt, der uns zurückhält und der uns inspiriert. Wir entdecken diese Welt, wir lernen von ihr und wir gestalten sie nach unserem Willen um.“

Talos von Atlantis, Philosoph

Valentina war ziemlich nervös. Sie saß in einem kleinen Wartezimmer des Gebäudes, in dem der Rat seine Besprechungen abhielt. Sie hatte heute morgen eine Nachricht auf ihrem Kom empfangen, in der sie gebeten wurde, um sechs Uhr mittags hier zu erscheinen. Sie hatte keine Ahnung, um was es ging oder wer sie sehen wollte, doch die Nachricht war so offiziell, dass es sich nur um jemanden aus der Führungsriege handeln konnte. Aber wer konnte Interesse an einem Treffen mit ihr haben? Hatte ihr Bruder Hector etwas damit zu tun? Er kannte Nigel, aber um was konnte es dann gehen? Oder hatte sie Fehler bei ihrer Arbeit gemacht und wollte deswegen jetzt Ranora persönlich ihr die Leviten lesen? Hatte sich ihr kulinarisches Hobby vielleicht bis zu ihr herumgesprochen? Fand Ranora das vielleicht unprofessionell und würde sie deshalb jetzt aus dem Pioniertrupp werfen?

Mach dich nicht verrückt,versuchte Galizia sie zu beruhigen, wenn es um so etwas ginge, hättest du einfach eine Nachricht bekommen und soweit ich Ranoras Atlantin Surya von früher kenne, wird sie dich wohl kaum deshalb rausschmeißen.

Aber was wollen die dann von mir?,fragte Valentina die Atlantin in ihrem Kopf.

Das wirst du schon noch herausfinden,meinte Galizia und versuchte dabei Ruhe auszustrahlen. Valentina bemerkte jedoch sehr deutlich, dass sie ebenso gespannt war wie sie selbst. Ihre unfassbare Neugier und ihr Entdeckergeist waren wohl die Eigenschaften, bei denen die beiden sich kaum unterschieden. Galizia war zu Lebzeiten schon eine Entdeckerin gewesen. Sie war damals vor über zehntausend Jahren ganz allein mit einem kleinen Schiff einmal um die Welt gesegelt, hatte Tauchgänge in die gewaltigen Tiefen des Ozeans unternommen und war mit dem ersten Segelflieger der Atlantae geflogen. Nur ins All war sie nie gekommen. Der Atlantae Leif, der nun mit Talon verbunden war und das damalige Raumfahrtprogramm geleitet hatte, hatte nur Ingenieure und Techniker gebrauchen können und Galizia war keines von beidem gewesen. Zudem hatte sich zu diesem Zeitpunkt der Krieg gegen die Menschen immer weiter zugespitzt und Galizia hatte sich allzu bald an der Verteidigungsfront der Heimat wiedergefunden, wo sie zusammen mit den meisten anderen Atlantae die Sicherheit der Insel und ihrer Bewohner sicherstellen hatte müssen.

Als Galizia zehntausend Jahre nach dem Tod ihres Körpers in Valentina wieder aufgewacht war, war sie zuerst wenig erfreut über ihr Schicksal gewesen. Sie war eine Entdeckerin gewesen, jemand der das Abenteuer suchte und leben wollte, und dann erwachte sie ohne Kontrolle im Körper eines gelähmten Mädchens, das nicht mal ihr Zimmer verlassen konnte. Zum Glück hatte sich aber schnell gezeigt, dass dies nicht so bleiben würde und mittlerweile lebte Galizia durch Valentina. Sie sah, roch, fühlte und, manchmal zu ihrem Leidwesen, schmeckte, was Valentina sah, roch, fühlte und schmeckte. Sie war zwar nur noch eine Zuschauerin, aber damit hatte sie sich mittlerweile abgefunden. Jetzt war Valentina die Entdeckerin.

Plötzlich ertönte eine weibliche Computerstimme: „Würdest du dich bitte in den Besprechungsraum begeben, Valentina.“

Sofort sprang sie auf. „Bin unterwegs“, antwortete sie der KI, die das Gebäude steuerte und dem Rat bei seiner Arbeit half. Sie verließ das Wartezimmer und öffnete die Tür zum Sitzungsraum des Rates.

Der Raum war groß und fast alles hier war aus Holz. Die grünen Triebe, die immer wieder aus Boden und Wänden sprossen und für eine natürliche Atmosphäre sorgten, zeigten, dass fast alles hier mithilfe von Magie gewachsen und nicht gebaut worden war.

Fast wie der Herrscherturm zu meinen Lebzeiten,bemerkte Galizia und klang dabei ein wenig beeindruckt. Valentina hingegen war völlig überwältigt, obwohl sie eigentlich wusste, zu welchen Werken Lebensmagier fähig waren. Ihre eigene Wohnung sah nicht so eindrucksvoll aus, obwohl sie ebenfalls teilweise gewachsen war. In der Mitte des Raumes stand ein gewaltiger runder Tisch, an dem sonst wahrscheinlich der Rat tagte und am Ende des Raums vor einer großen Glasfront war ... Craibian. Er saß hinter einem massiven Holzschreibtisch und wartete dort auf sie. Vor dem Tisch stand ein einfacher Stuhl, der wohl für sie reserviert war.

„Schön, dass du kommen konntest“, grüßte Craibian sie und bestätigte ihre Ahnung, indem er auf den Stuhl vor sich deutete. Scheu ging Valentina langsam auf ihn zu. Sie wusste nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. Sie schaffte es immer wieder mit Bravour Leute vor den Kopf zu stoßen oder sich selbst lächerlich zu machen, und obwohl sie jetzt zumindest wusste, wer sie sehen wollte, wusste sie immer noch nicht warum. Als sie vor dem Schreibtisch angekommen war, setzte sie sich schnell.

„Hallo“, sagte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel, was sie sonst hätte sagen können. Einen Moment saßen die beiden sich so gegenüber und schwiegen sich an. Die Situation war Valentina mehr als unangenehm.

Schließlich durchbrach Craibian die Stille: „Du fragst dich bestimmt, warum du hier bist, oder?“ Valentina nickte nur und dann brach es aus ihr heraus: „Ist es, weil ich meinen Replikator schon zweimal geschrottet hab oder weil ich dieses eine Nagetier gebraten habe? Mein Expeditionsleiter hat mich schon informiert, dass ich bei halbwegs intelligenten Tieren Regeln einhalten muss. Ich werd’s nicht wieder machen, ich versprech’s! Oder ist es, weil ich auf den oberen Ebenen zwischen den Windrädern herumgeklettert bin, oder weil ich in Aidens Haus eingebrochen bin? Ich weiß jetzt, dass ich vorher klopfen muss. Oder geht es um meine Ausflüge in die Wildnis? Ist das auch verboten?“

Craibian hob eine Hand, um ihren Redefluss zu unterbrechen. „Nichts davon, auch wenn ich jetzt etwas neugierig bin“, erwiderte er und schien ein Grinsen zu unterdrücken. „Ich habe mir die Forschungsergebnisse von Ranora angesehen“, fuhr er fort und tippte auf einer in seinem Schreibtisch eingelassenen Konsole herum. „Dabei ist mir aufgefallen, dass bei der Hälfte aller Einträge über neue Arten dein Name unter ‚Entdecker‘ steht.“ Er sah wieder von seinem Bildschirm auf und musterte Valentina. „Ich bin beeindruckt, aber wenn du so weitermachst, gibt es hier bald nichts mehr zu entdecken.“

„I-i-ich bin sicher, dass ich dafür noch etwas brauchen werde“, stammelte die junge Pionierin und war etwas erleichtert, doch keine Standpauke zu erhalten.

„Sicher, aber wie wäre es mit einer anderen Arbeit für dich?“, fragte Craibian und ein Knoten bildete sich in Valentinas Magen.

Werde ich jetzt doch rausgeschmissen? Hat sich doch ein Teamkollege über mich beschwert? Oder steckt Hector dahinter? „Ich ... ich glaube doch meinen Aufgaben gewachsen zu sein. Ich möchte nicht in die Gewächshäuser zurück!“

„Ich meinte auch gar nicht die Gewächshäuser“, meinte der König und lächelte nun doch. „Weißt du, was die Sylphe im Moment macht?“

Valentina musste kurz überlegen, bis ihr klar wurde, dass die Sylphe eines der Raumschiffe war, mit denen sie hergeflogen waren. „Untersucht die nicht den Asteroidengürtel?“, fragte sie.

„Genau. Ein siebenköpfiges Team ist dort im Nerido-Gürtel und analysiert mit Drohnen die Asteroiden auf verwertbare Ressourcenquellen“, bestätigte Craibian. „Die Rohstoffe, die wir dort hoffentlich fördern werden, wollen wir in zukünftige Flottenbauprojekte und den Bau einiger orbitaler Strukturen stecken.“ Er begegnete Valentinas wenig interessiertem Blick. „Das ist eine sehr wichtige Arbeit.“

„Ich glaube, i-i-ich bin auf der Erde besser aufgehoben“, stammelte sie.

Du bist nicht auf der Erde,erinnerte sie Galizia.

„Atlantis, ich meinte Atlantis“, verbesserte sie sich schnell.

„Da bin ich mir nicht so sicher“, zweifelte ihr Gegenüber. Valentina wollte etwas einwenden, doch sie kam nicht dazu. „Der Rat und ich planen, ein zweites Schiff zu Forschungszwecken loszuschicken“, sprach Craibian einfach weiter. „Wir wollen die umliegenden Systeme kartografieren und uns einen groben Überblick über Art und Alter der Sonnen, vorhandene Ressourcen, besiedelbare Planeten und Spuren von Leben verschaffen. Dafür brauchen wir eine Crew, die bereit ist, sich alleine den Gefahren und Schwierigkeiten des Weltalls zu stellen und deren Neugier groß genug ist, um sie weit entfernt von ihrer neuen Heimat Pionierarbeit leisten zu lassen.“ Jetzt war Valentina sprachlos. Das war etwas ganz anderes, als sie erwartet hatte. Langsam schloss sie wieder ihren Mund und dachte nach.

„Und ich soll ein Teil der Crew sein?“, fragte sie und ihre Nervosität war wie weggeblasen. Sie fragte sich nur noch welche Möglichkeiten sie in einem Raumschiff hätte, dass überall hinfliegen konnte und was sie dort alles erleben konnte. Das All war der einzige Ort, den Galizia nie erforschen konnte und dann waren auch noch all die Welten, all die Planeten, die dort draußen ihre Bahnen zogen.

„Nein, du sollst ihr Käpten sein“, berichtigte Craibian.

Es dauerte eine Weile, bis Valentina diese Nachricht verarbeitet hatte und ihr Sprachzentrum wieder funktionierte. „Ich?“, fragte sie nur völlig ungläubig.

„Du hast mit Abstand die besten Ergebnisse des ganzen Pionierteams geliefert, und außerdem glaube ich, deine Neugier ist groß genug, dass du nicht so schnell vor Risiken zurückschreckst“, erklärte Craibian seine Entscheidung. „Wir können keine feigen Entdecker gebrauchen.“ Wieder schwiegen beide einen Moment lang.

„Also“, fuhr der König nach einer Weile fort, „bist du dabei, oder nicht? Du kannst auch gerne noch ein paar Tage drüber nachdenken, aber in zwei Wochen brauch ich eine Antwort. Wenn du nicht willst, muss ich einen anderen Atlantae als Käpten auftreiben.“

„Ich mach’s!“, rief Valentina sofort. „I-i-ich bin nur ... ü-überwältigt.“

„Das sehe ich“, erwiderte Craibian und nun lächelte er breit. „Ich bin mir sicher, dass du den Herausforderungen gewachsen sein wirst.“

„Wann s-soll’s losgehen?“, fragte die baldige Raumfahrerin und gewann nun doch etwas an Selbstvertrauen.

„Nun, in zwei Wochen ist die Lutin umgerüstet, dann wird die Ausrüstung aufgeladen und dann kann es auch schon losgehen“, erklärte Craibian. „Bis dahin kannst du machen, was du möchtest. Wenn die Lutin allerdings mit deinem Team losgeflogen ist, kann es Wochen oder Monate dauern, bis du wieder nach Atlantis kommst. Du wirst eigenständig Entscheidungen treffen müssen und als unser erstes Erforschungsteam unterstehst du auch nur mir.“

Valentina nickte. „Das ist kein Problem für mich. Ich bin gerne selbstständig.“

„Das ist gut. Unsere Pläne für die Erforschung des Alls sind nämlich sehr umfassend“, erwiderte ihr neuer Chef. „Wir haben im Moment nur ein Schiff dafür und ihr seid da draußen größtenteils auf euch gestellt. Wenn es wirklich Probleme gibt, kann die Harpie euch zwar Unterstützung leisten, aber mir wäre es lieber, wenn das nicht notwendig werden würde.“

„Okay“, meinte Valentina. Endlich werde ich mal nicht bemuttert,dachte sie sich im Stillen. „Könnte ... könnte ich noch erfahren, wer alles mitkommt?“

„Ich werde dir eine Liste schicken, sobald ich alle zusammenhabe“, meinte Craibian. „Wenn du sonst keine Fragen mehr hast, wäre es das auch von meiner Seite aus.“

Valentina nickte und stand auf. Auf den Weg zum Ausgang drehte sie sich aber noch mal um. „Ich will auf der Lutin einen eigenen Replikator!“, forderte sie kühn. Fast sofort kam ihr, dass sie sich damit vielleicht im Ton vergriffen hatte und fügt noch schnell hinzu: „W-Wenn es keine allzu großen Umstände macht.“

Der König sah sie eine Weile lang mit undurchdringlicher Miene an, dann nickte er nur.

„D-Danke“, rief Valentina schnell und verließ den Besprechungsraum, bevor sie doch noch etwas Dummes sagte.

Die Eleganz, die die tonnenschweren Felsbrocken in ihren stetigen Drehungen trugen, hatte etwas Faszinierendes an sich. Cyran war vor einem Tag mit einem Shuttle zur Sylphe geflogen und war dabei von zwei großen Konstrukten begleitet worden. Jetzt stand er auf der Brücke und überwachte, ob alles auch richtig funktionieren würde. Die zwei gigantischen Minendrohnen, die Talon konstruiert hatte, hatten von ihm eine einfache KI der Klasse Zwei bekommen und sollten nun von der Sylphe aus gesteuert werden. Die Crew der Sylphe hatte in den letzten Tagen einige der Felsbrocken des gewaltigen Asteroidengürtels untersucht und sie nach ihrer Zusammensetzung katalogisiert. Cyran konnte sich vorstellen, wie trocken die Arbeit gewesen sein musste, aber die Atlantae, die damit betraut worden waren, nahmen ihre Aufgabe sehr ernst. Sie wussten, wie wichtig ihre Arbeit war. Der Nerido-Gürtel, der ihr Sonnensystem abschoss, war nach dem ersten Atlantae, den es je gegeben hatte, benannt worden. Von ihm war nur noch sein Name bekannt und dass er wohl aufgrund zufälliger Mutation der Frühmenschen entstanden war. Nun trug die wohl größte Ressourcenquelle ihres Systems den Namen desjenigen, mit dem ihre Zivilisation vor über zwanzigtausend Jahren ihren Anfang genommen hatte. Die ersten Asteroiden hatten bereits vielversprechende Werte aufgewiesen. Die Anteile an Metallen und seltenen Erden, die sie für ihre Schiffe und Raumstrukturen brauchten, waren relativ groß. Auch spaltbares Material für die Reaktoren der Raumschiffe gab es hier genug. Durch die kosmische Strahlung, die hier draußen allgegenwärtig war, wandelten sich sogar regelmäßig nicht spaltbare Elemente in spaltbare um. So hatte die Crew der Sylphe schon nachgewiesen, dass die freien Neutronen in der kosmischen Strahlung, das nur sehr schwer spaltbare Uranisotop U-238 in das um ein Vielfaches effizientere Isotop Plutonium Pu-239 umwandelte. Die Ergebnisse dieser Untersuchung waren bereits an Talon geschickt worden, der nun nach Möglichkeiten suchte, diesen Umwandlungsprozess für ihre Zwecke nutzen zu können. Zwar konnte dieser Prozess auch künstlich herbeigeführt werden, aber das war mit hohem Energie- und Ressourcenaufwand verbunden. Cyran fand das alles wahnsinnig interessant, aber heute war er wegen etwas anderem hier. Er sollte den ersten Praxistest der Minendrohnen überwachen. Im Gegensatz zu den Minendroiden, die sie bisher eingesetzt hatten, waren die neuen Modelle wahre Monster. Jeder der beiden war fast so groß wie die Korvette, die sie nun steuern und überwachen sollte. Die gewaltigen laserbasierten Schneidwerkzeuge an der Vorderseite konnten vermutlich sogar der Sylphe gefährlich werden. Deswegen waren die Drohnen in ihrer Selbstständigkeit auch sehr stark beschränkt worden. Bevor sie ihre Arbeit begannen, musste man jeden einzelnen Asteroiden, den sie abbauen sollten, freigeben und ihr Hyperantrieb war nicht mit der KI verbunden. Sie wollten sichergehen, dass ein Unfall aufgrund eines Systemfehlers, wie er auf dem Mars schon einmal passiert war, nicht noch einmal auftrat. Wie effizient der Droide aber genau war, würden sie erst nach dem Praxistest erfahren.

„Können wir anfangen?“, fragte Cyran den Käpten der Sylphe.

Dieser nickte. „Gebe Asteroid NA-247 frei“, bestätigte der Atlantae an der Drohnensteuerung.

Sofort erwachten die beiden Droiden zum Leben. Die Impulstriebwerke glühten auf und die beiden Schiffe steuerten auf einen der größeren Asteroiden zu. Langsam passten sie sich an die Drehung des Steinbrockens an und nachdem sie sich ebenso schnell um den Asteroiden drehten, wie er sich um sich selbst, fuhren fünf Teleskoparme aus und verankerten sich mit der Asteroidenoberfläche. Dann fingen die Droiden mit ihrer eigentlichen Arbeit an. Die gewaltigen Laserschneider schmolzen sich durch das Gestein und trennten Stücke von mehreren Metern Durchmesser ab. Kleinere Arme lösten die Stücke dann vom Asteroiden ab und schoben sie ins Innere des Droiden. Im Inneren durchlief der Brocken mehrere Brecher, die den Brocken immer weiter zertrümmerten, und das zerkleinerte Material wurde danach in mehreren Schritten von allen verwertbaren Materialien getrennt. Der ganze Raffinationsprozess würde einige Stunden dauern, dann würde der Droide alles unbrauchbare Material in kleinen Bröckchen von wenigen Millimetern Durchmesser an seiner Rückseite wieder ausspucken. Das gewonnene Material wurde erst mal im Inneren gelagert, bis der Droide voll war und an einen Frachter ankoppeln konnte. Der Droide wartete aber nicht, bis der Steinbrocken die ganze Prozedur durchlaufen hatte, sondern fing bereits an, das nächste Stück abzutrennen. Sein Partner wiederum machte dasselbe an der gegenüberliegenden Seite des Asteroiden. Cyran beobachte fasziniert eine ganze Stunde lang, wie die beiden Droiden den gigantischen Felsbrocken Schritt für Schritt zerlegten, während die Crew der Sylphe das Vorgehen der Droiden dokumentierte.

„Wenn sie in dem Tempo weitermachen, haben sie den Asteroiden in fünf Tagen und drei Stunden komplett abgebaut“, stellte einer der Atlantae fest.

„Damit fördern wir pro Minendrohne je nach Zusammensetzung des Asteroiden fünf bis dreißig Tonnen verwertbares Material pro Stunde“, schätzte ein anderer zuversichtlich. „Vermutlich circa zehn Tonnen im Durchschnitt.“

„Mit der Quote können wir den Materialbedarf der Werft mit den beiden Minendrohnen schon decken“, stellte Cyran zufrieden fest und tippte auf seinem Pad herum. „Die Algorithmen der Droiden scheinen gut zu laufen, sie erkennen sowohl sich gegenseitig als auch das Schiff als nicht abbaubare Ressourcen.“ Er sendete eine kurze Textnachricht an Talon, in der er den Erfolg seiner Arbeit mitteilte und fuhr dann fort: „Die Pegasus ist bald auf dem Weg hierher, um die erste Fracht entgegenzunehmen, bis die ersten Frachtschiffe fertig gebaut sind“, informierte er den Käpten der Sylphe. „Mit der ersten Lieferung können wir den Bau der Frachtschiffe abschließen. Ihr werdet unterdessen weiter Asteroiden scannen und weitere potenzielle Ziele für die beiden da auswählen“, wies er sie an. „Talon meint, wir benötigen im Moment vor allem Nickel, Mangan, Tantal, Neodym, Lanthan, Yttrium, Lithium und wenn ihr Kohlenstoff findet, brauchen wir den auch in rauen Mengen. Sorgt dafür, dass Asteroiden, die von diesen Elementen besonders viel enthalten, zuerst abgebaut werden.“

„Kohlenstoff? Warum Kohlenstoff? Der ist doch nicht gerade selten“, wunderte sich der Atlantae an der Drohnenkontrolle.

„Ich hab gehört, Talon hat ein weiteres Großprojekt, das er nebenbei betreiben möchte“, meinte Cyran nur. „Soweit ich weiß, geht es dabei nicht um den Bau von irgendwelchen Schiffen oder Strukturen.“

An Bord der Phönix ging alles seinen gewohnten Gang. Seitdem die letzten Atlantae aus ihren Quartieren hier ausgezogen waren, diente das Flaggschiff der atlantischen Flotte wieder seinem eigentlichem Zweck. Dem Schutz des Volkes. Doch im Moment war dieser nicht wirklich vonnöten. Das mächtige Kriegsschiff war nur noch eine Rückversicherung für Eventualitäten. Deshalb durfte Talon die Phönix gelegentlich für seine Zwecke verwenden.

„Passt die Geschwindigkeit an den Planeten an“, befahl Luca, der Käpten der Phönix, laut und das gewaltige Schiff schwenkte in eine Umlaufbahn um einen der Schwesterplaneten von Atlantis ein. Sie hatten ihn Niflheim getauft und passend dazu sah er auch aus. Der Planet war ein einziger großer Schneeball. Seine gesamte Oberfläche war von gefrorenem Wasser bedeckt. Nur hier und da brachen Vulkane aus dem Eis und zeigten, dass irgendwo darunter ein heißer Planetenkern lag. Nach den Daten zu schließen, die ihre Forscherteams bereits gesammelt hatten, ging Talon davon aus, dass die sieben Planeten, die in sehr ähnlichen Umlaufbahnen um die Sonne kreisten, aus demselben Staub entstanden waren. Sie alle hatten ungefähr dieselbe Zusammensetzung und doch gab es auf nur einem Leben. Die feinen Unterschiede machten schon den Unterschied zwischen einer blühenden Oase und einer toten Welt. Verglichen mit der Masse der Planeten waren die Unterschiede zwar nur verschwindend gering, aber dennoch ging es um Milliarden Tonnen an Material, das entweder fehlte oder von dem zu viel vorhanden war. Niflheim zum Beispiel hatte eine Sauerstoff-Stickstoff-Atmosphäre. Zusätzlich mit Spuren von Edelgasen, wäre gut für Leben geeignet gewesen, doch etwas anderes waren kaum vorhanden. Die klirrend kalte Luft auf dem Planeten hatte viel zu wenig Kohlenstoffdioxid und auch andere Treibhausgase fehlten völlig. Der Planet war dadurch völlig ausgekühlt und der reflektierende Eispanzer verstärkte diesen Effekt noch. Unter dem Eispanzer hatten ihre Sensoren zwar große Mengen an Kohlenstoff gefunden, aber der war in Gesteinen gebunden und damit nicht für eine Freisetzung geeignet. Der Planet hatte keine Chance, sich allein aus dem eisigen Mantel zu befreien, also mussten sie ihm dabei helfen. Craibian wollte, dass irgendwann alle sieben Planeten im atlantischen System blühende Oasen waren, auf denen ihr Volk leben konnte. Terraforming lautete das Zauberwort. Talon hatte zwar mit dem Planetenring schon ein Megaprojekt, dass er betreute, aber das Terraformingprojekt brauchte vor allem eines: Zeit. Bei den Minenarbeiten im Asteroidengürtel fiel sowieso eine Menge mehr Kohlenstoff an als sie für die Produktion von Nanoröhrchen und Graphen brauchten, also konnte er den überschüssigen Kohlenstoff gleich für das nächste Projekt verwenden. Erst vor wenigen Tagen hatte die Pegasus schon die dritte Lieferung aus dem Nerido-Gürtel gebracht und jetzt hatten sie genug Kohlenstoff, um die erste Ladung abzuwerfen.

„Wir sind in Position“, informierte Luca ihn. „Sollen wir die Fracht abwerfen?“

Talon nickte. „Schmeißt die Kohle aus dem Fenster“, befahl er.

Luca gluckste. „Nichts lieber als das.“ Über Kom gab er den Befehl, die Schwerkraft im rechten Hangarbereich umzukehren, sodass die Fracht im Inneren durch den halbdurchlässigen Energieschild nach außen katapultiert wurde. Die gewaltigen Brocken aus reinem Kohlenstoff flogen eine Zeit lang durch das All, bevor sie in die Atmosphäre des Planeten eintauchten und sich langsam ein Feuerschweif hinter ihnen bildete. Auf der Brücke sahen alle dabei zu, wie die tonnenschweren Kohlebrocken wie Sternschnuppen in der Atmosphäre verglühten.

„Ihr dürft euch was wünschen“, meinte Talon. „Aber sagt nicht, was, sonst geht’s nicht in Erfüllung.“

„Wie oft müssen wir das jetzt noch machen, bis genug Kohlenstoff in der Atmosphäre ist?“, fragte Luca interessiert.

„Wenn wir jedes Mal dieselbe Menge wie heute freisetzen? Ein paar Milliarden Mal“, gab Talon in leicht trockenem Tonfall zurück. „Aber es besteht keine Eile.“

„Ich hoffe, du bekommst irgendwann ein eigenes Schiff dafür“, meinte Luca. „Ich hab das nächste Jahrhundert noch was anderes vor als Kohle zu transportieren.“

„Ich bin sicher, in ein oder zwei Monaten haben wir genug zivile Schiffe, dass du dich wieder vollkommen deiner Ausbildung widmen kannst“, versicherte Talon ihm.

„Da freue ich mich schon wieder drauf“, meinte Luca mit leichtem Sarkasmus in der Stimme. „So wie Nigel mich immer reintreibt.“ Nach einer kurzen Pause stellte Luca Talon die Frage, die er zuvor eigentlich hatte stellen wollen: „Wie lange wird es dauern, bis das Eis da unten zu schmelzen anfängt?“

„Jahrtausende“, entgegnete Talon. „Zumindest, wenn wir in dem Tempo weitermachen, was ich nicht vorhabe. Der Treibhauseffekt ist auf diesem Planeten kaum vorhanden, aber je mehr Treibhausgase wir einbringen, desto schneller heizt er sich auf.“

„Aber wenn wir es übertreiben, haben wir das gleiche Problem wie es die Menschen im Moment haben“, stellte Luca fest.

„Nicht ganz“, berichtigte Talon. „Es stimmt, dass der ganze Prozess schwierig zu steuern ist. Wir werden immer wieder Treibhausgase in das künstliche Ökosystem hinzugeben und herausnehmen müssen, bis wir den Planeten bei der optimalen Menge einpendeln lassen können. Allerdings können wir am Anfang die erforderliche Menge ruhig überschreiten. Wenn wir anfangen, Pflanzen da unten auszubringen, werden die durch Fotosynthese wieder eine ganze Menge CO2 aus der Luft filtern und dem Ganzen wieder entgegenwirken.“

„Aber das passiert doch auf der Erde auch die ganze Zeit, oder nicht?“

Talon sah Luca mit hochgezogener Augenbraue an. Er war etwas erstaunt, wie wenig er über den CO2-Kreislauf der Erde wusste. „Schon, aber auf der Erde ist das ein Kreislauf. Pflanzen filtern CO2 aus der Luft und sterbende Pflanzen geben es wieder frei. Aber wir müssen diesen Kreislauf erst mal starten und dafür brauchen wir ein paar Billiarden Tonnen Kohlenstoff.“

„Und auf einmal klingt dein Planetenringprojekt viel weniger aufwendig“, schnaubte Luca. „Ich frage mich, ob du jemals in kleinen Maßstäben gedacht hast.“

„Als ich noch ein Mensch war, hab ich das häufiger“, scherzte Talon, doch in seinen Worten lag tatsächlich eine Spur Wahrheit. Seitdem er mit Leif verbunden war und sich seine Möglichkeiten durch seine Position und die Technologie, die ihm zur Verfügung stand, vervielfacht hatten, hatte er angefangen, sich immer größere Ziele zu stecken. Das hatte er mit Craibian gemeinsam. Das Terraformingprojekt war zwar seine Idee gewesen und er war auch derjenige, der es umsetzte, aber Craibian hatte fast ebenso viele Einfälle dazu und die beiden trafen sich häufig, um ihre Ideen zu teilen. Craibian bezeichnete ihn zwar ab und zu als größenwahnsinnig, aber Craibian selbst hatte auch Pläne und Ideen, die selbst die Talons in den Schatten stellten. Einige Einfälle waren aber durchaus jetzt schon umsetzbar und ergänzten Talons Pläne scheinbar perfekt. Erst bei ihrem letzten Treffen hatte Craibian vorgeschlagen, als zusätzliches Treibhausgas eine Schwefel-Fluor-Verbindung auf Niflheim freizusetzen, die über 20.000-mal effizienter war als CO2. Talon würde in den nächsten Tagen über die Probleme und Umsetzung des Ganzen nachdenken und dann sehen, ob es sich dabei wirklich um eine so gute Idee handelte. Falls ja, konnten sie mit viel geringeren Mengen an Material eine viel schnellere Wirkung erzielen. Ganz ersetzen konnte dieser Stoff das CO2 zwar nicht, aber er würde den Erwärmungsprozess in der Anfangsphase immens beschleunigen. Und trotzdem würde es eines sehr lange Zeit dauern, bis Niflheim wirklich Atlantis’ Schwesterplanet werden würde. Doch Zeit hatten sie nun ja.

„Setzt Kurs nach Atlantis“, befahl Luca. „Wir sind hier fertig. Sind wir doch, oder?“, fügte er an Talon gewandt hinzu und dieser nickte.

„Ja, sind wir.“ Bei sich dachte er: Zurück zu unserer eigentlichen Baustelle.

Wenn wir fertig sind, wird dieses System völlig umgestaltet sein,kommentierte Leif.

Ich glaube nicht, dass wir an den Grenzen dieses Sonnensystems damit aufhören werden,erwiderte Talon.

„Und das ist jetzt wirklich mein Schiff?“, fragte Valentina voller Ehrfurcht.

„Ja“, erwiderte ihr Bruder Hector wortkarg. Er hatte ihr angeboten, ihr beim Packen zu helfen und sie mit einem Shuttle zur Werft zu fliegen, wo die Lutin im Moment noch umgebaut wurde. Jetzt sah Valentina aus dem großen Frontfenster des Shuttles und bestaunte das Schiff, das für eine lange Zeit ihr neues Zuhause werden sollte. Sie hatte die Lutin zwar schon öfter gesehen und war mit ihrem Schwesterschiff der Sylphe nach Atlantis geflogen, aber jetzt, da sie wusste, dass es ihr Schiff werden würde, erschien es ihr viel prächtiger.

„Ist das nicht toll? Ich hätte nie gedacht, irgendwann wirklich zu den Sternen fliegen zu können“, jauchzte sie vergnügt.

„Du bist doch schon auf der Phönix durchs All geflogen“, meinte Hector.

„Das ist doch nicht dasselbe. Damals waren wir nur mit Impulsantrieb unterwegs und sind kaum vorangekommen. Jetzt kann ich mit Überlichtgeschwindigkeit herumfliegen.“

„Juchhu“, erwiderte Hector trocken und wenig begeistert.

„Du freust dich ja gar nicht für mich“, stellte Valentina leicht überrascht fest.

„Weil mir bei dem Gedanken nicht wohl ist, dass du ganz allein da draußen bist“, gab Hector zu. „Du brauchst immer noch bei so vielen Dingen Hilfe.“

„Gar nicht wahr!“, widersprach Valentina sofort. „Ich wohne seit Wochen alleine und ich komme klar!“

„Du hast wochenlang völlig vergessen, dich zu waschen, die Kleidung zu wechseln und die Wohnung sauber zu machen“, stellte Hector trocken fest.

„Ich lerne das noch“, rechtfertigte sich Valentina sofort. „Ich habe nichts gerochen, also dachte ich, meine Klamotten wären noch gut.“

„Nach drei Wochen sind sie das garantiert nicht mehr“, stöhnte Hector.

„Ich geb ja zu, dass ich ab und zu etwas Hilfe brauch“, räumte Valentina ein, „aber dafür hab ich Galizia. Sie ist immer bei mir und zusammen kriegen wir das schon hin.“

„Ich muss mich wohl darauf verlassen“, meinte ihr Bruder. Hector war schon immer sehr protektiv gewesen, doch seit er ein Atlantae geworden war, hatte sich das eher verschlimmert als verbessert. Valentina hatte er erzählt, dass der alte Atlantae in ihm den Untergang von Atlantis aus nächster Nähe erlebt hatte, als Wächter an der Ostküste von Atlantis. Diese Erfahrung hatte seinen Beschützerinstinkt wohl weiter gefördert. Die Lutin kam nun immer näher. Hector steuerte das Shuttle in Richtung Hangar und verringerte die Geschwindigkeit. Ein paar Meter bevor sie den Energieschild des Hangars durchflogen, schaltete sich der Autopilot ein und verband sich mit dem Hauptcomputer der Lutin. Ab jetzt übernahm der Computer das Steuern und ordnete das Shuttle langsam zwischen den anderen Shuttles und den Drohnen ein, die auf dem Schiff stationiert waren. Die Drohnen waren eine der Aufrüstungen, die die Lutin bekommen hatte. Sie waren sowohl für den Einsatz im Vakuum des Alls als auch für die zerstörerischen Umgebungsbedingungen in einem Gasriesen geeignet und sollten neu entdeckte Planeten nach Ressourcen und Zeichen für Leben untersuchen, während sie gleichzeitig Luftdruck, Temperatur, Strahlung und noch viel mehr maßen. Zusätzlich zu den acht Erkundungsdrohnen standen nun auch drei Reparaturdrohnen im Hangar, mit denen sie ihr Schiff überall reparieren konnten, ohne auf eine Werft angewiesen zu sein. Die letzten dreißig Konstrukte waren Kommunikationssatelliten, die sie unterwegs immer wieder an geeigneten Stellen aussetzen sollten, um ein weitreichendes Hyperkommunikationsnetz aufbauen zu können. Der Hyperfunk war eine Möglichkeit, ohne Zeitverzögerung über Lichtjahre hinweg zu kommunizieren, doch er benötigte alle zehn Lichtjahre eine Art Verstärker. Die Kommunikationssatelliten sollten dafür sorgen, dass ihr Hyperfunk weiter reichte als nur zehn Lichtjahre um Atlantis herum. Das Schiff selbst war mit Dutzenden zusätzlichen Sensoren aufgerüstet worden und hatte zusätzliche Brennstäbe für den Reaktor bekommen, um diese bei Bedarf selbst austauschen zu können. Zusätzlich hatten sie einen Magietech-Kristall zur Energieversorgung in Notfällen und einen Radioisotopengenerator, um die Lebenserhaltung aufrechtzuerhalten, wenn alles andere versagte. Die Brennstoffmenge, die sie im Moment dabei hatten, reichte, um ganze fünf Jahre lang umherfliegen zu können, ohne nach Atlantis zurückkehren zu müssen. Für Verteidigungszwecke hatten sie zwar nur die Standardbewaffnung der Korvetten der Artemis-Klasse, aber ihr Energieschild und ihre Panzerung waren verstärkt worden. Nun konnten sie auch Sterne aus der Nähe erforschen oder in absolut lebensfeindliche Atmosphären eintauchen, die zum Beispiel kochend heiß waren oder stark ätzende Chemikalien beinhalteten. Nur in der Nähe von schwarzen Löchern oder Neutronensternen mussten sie noch aufpassen, da dort die radioaktive Strahlung so hoch war, dass ihre Schilde dem nicht lange standhalten würden. Ansonsten war das Schiff nun für fast alles gerüstet. Aufgrund der ganzen Aufrüstungen, die alle Systeme erfahren hatten, und der zusätzlichen Aufgaben, die sie nun alle hatten, brauchten sie nun allerdings auch mindestens doppelt so viele Atlantae an Bord, um es zu steuern. Valentinas Crew bestand aus insgesamt vierzehn Atlantae, und noch kannte sie keinen einzigen davon. Galizia hatte ihr zwar nahegelegt, sich mit ihnen zu treffen und sie kennenzulernen, aber Kontakt mit anderen Atlantae lag Valentina überhaupt nicht. Spätestens wenn ihre Reise begann, würde sie aber nicht mehr umhinkommen zu lernen, zumindest mit ihren Crewmitgliedern umzugehen. Als Käpten hatte sie zumindest den Luxus, dass sie zwar Anweisungen geben, aber nur wenig mit den anderen zusammenarbeiten musste.

Denk doch nicht so negativ,schalt sie Galizia. Du weißt doch gar nicht, wie sie sind. Vielleicht kommst du ja super mit ihnen aus.

Das sagtest du auch, als ich bei den Pionieren angefangen habe,erwiderte Valentina.

Ja, aber du lernst auch ständig dazu, was den Umgang mit anderen angeht. Das stimmte zum Glück. Valentina fiel es mittlerweile wesentlich einfacher, sich in die gesellschaftlichen Normen einzufügen, als es noch vor einem Jahr der Fall gewesen war. Sie fragte sich nur, wie viele Leute sie noch vor den Kopf stoßen würde, bis sie genug gelernt hatte. Diejenigen, die ihre Vergangenheit kannten, verziehen ihr zum Glück relativ schnell und hatten Verständnis, doch solange sie sich nicht anpasste, würde sie immer die Außenseiterin bleiben. Es war ihr zwar egal, ob sie viele Freunde hatte oder nicht, aber so vieles war einfacher, wenn sie sich nicht ständig überall Feinde machte.

Mit einem leichten Ruck setzte das Shuttle schließlich auf dem Boden auf und die Tür im hinteren Bereich entriegelte sich.

„Wir sind da“, stellte Hector überflüssigerweise fest. Valentina schnappte sich ihre Tasche, in der die meisten ihrer Habseligkeiten waren und Hector nahm die zweite. In beiden zusammen war alles, was Valentina je besessen hatte. Als sie noch ein Mensch war, hatte sie nicht viel gehabt. Was sollte eine fast völlig gelähmte Person auch mit Besitztümern anfangen? Und auch als sie dann eine Atlantin geworden war und sich wieder bewegen konnte, hatte sich das nicht wirklich geändert. Bis vor wenigen Monaten waren sie schließlich ständig auf der Flucht gewesen. Jeder Atlantae war mit leichtem Gepäck unterwegs gewesen. Für viel mehr war auf den Schiffen nie wirklich Platz gewesen. Selbst nachdem sie ihre Wohnung auf Atlantis bezogen hatte, hatte sie spartanisch gelebt. Die meisten Sachen dort hatte sie für ihre Arbeit als Pionierin gebraucht und hatten dazu gedient, Dinge zu untersuchen und zu analysieren. Da das auch ihr Hobby gewesen war, kam abgesehen von einem Pad nicht viel an persönlichen Dingen dazu.

Welches Quartier ist denn meins?,fragte Valentina Galizia.

Deck zwei. In Richtung Brücke und dann kurz vorher rechts weg,beschrieb sie ihr den Weg in ihr Quartier. Valentina hatte sich den Bauplan der Lutin ganz genau eingeprägt. Sie wollte gut vorbereitet sein, wenn sie bald das Kommando übernahm. Wenn sie schon nicht mit Sozialkompetenz oder anderen Führungsqualitäten protzen konnte, wollte sie es zumindest mit Wissen tun. Sie kannte jeden Raum der sechs Decks und wusste, wo was war. Nur die Info, wem welches Quartier zugeteilt worden war, fehlte ihr noch. Die Raumaufteilung war bei jeder Korvette des Typs Artemis gleich, doch die Lutin hatte ein paar Veränderungen erfahren. Die unteren Quartiere auf Deck fünf waren verschwunden und hatten einem komplett eingerichteten wissenschaftlichen Labor Platz gemacht. Der kleinere Lagerraum auf Deck zwei war gefüllt mit Vorräten und Ersatzteilen, und der größere Lagerraum auf Deck fünf war für alles reserviert, was sie eventuell auf ihrer Reise finden und mitnehmen würden. Zuletzt waren noch die Waffendecks, die an den Hangar anschlossen, so weit wie möglich verkleinert worden, um Platz für die Kommunikationssatelliten zu schaffen. Jeder Quadratzentimeter der Lutin wurde nun bestmöglich genutzt, um die ganze zusätzliche Technik unterzubringen. Von Hector hatte Valentina erfahren, dass der Schiffskonstrukteur Talon eigentlich einige der Waffensysteme aus dem Schiff hatte entfernen wollen, doch der König und der oberste General hatten dem vehement widersprochen. Beide wollten offenbar nicht, dass ein Schiff mit Atlantae an Bord in irgendeiner Form wehrlos war. Stattdessen war das Schiff so weit wie möglich mit modernster Technik aufgerüstet worden, damit es trotz der ganzen zusätzlichen Ansprüche kein bisschen seiner Kampfkraft verlor. Die Lutin war zwar nun offiziell ein Forschungsschiff, aber sie stellte im Notfall immer noch gut ein Zehntel der Kampfkraft der atlantischen Kriegsflotte. Valentina hatte selbst zwar in der letzten Schlacht vor ihrer Flucht von der Erde mitgekämpft, aber sie hatte den Sinn von Waffen noch immer nicht ganz verstanden. Sie verstand weder, warum jemand sein Leben für irgendetwas wegwerfen sollte noch warum man jemanden für irgendeinen Zweck töten sollte. Für sie gab es nur einen Grund zu kämpfen, und zwar, um nicht selbst zu sterben. Vielleicht lag es daran, dass sie selbst dem Tod jahrelang so nah gewesen war. So häufig war sie nachts dagelegen und hatte gespürt, wie ihr Körper gegen sich selbst kämpfte. Sie wollte nie wieder die Berührung des Todes spüren, aber das hielt sie auch nicht davon ab, Risiken einzugehen, um das Leben zu greifen und es jeden Tag aufs Neue zu erfahren.

„Da sind wir“, riss die Stimme ihres Bruders sie aus ihren Gedanken. „Das ist deine Kabine.“ Die Tür glitt auf und Valentina trat in ihr neues Zuhause. Ihr Quartier war ziemlich geräumig, dafür, dass Platz auf der Lutin im Moment Mangelware war. Auf dem Weg vom Mars nach Atlantis hatte Valentina in einem ähnlichen Quartier gewohnt, nur hatte sie sich es mit sechs anderen Atlantae teilen müssen. Doch das einzelne Bett, das in der Wand eingelassen war, zeigte deutlich, dass sie hier alleine wohnen durfte. Mit dem Raumtrenner vor der Schlafnische konnte man den Schlafbereich völlig verdecken. Eine Tür führte in ein kleines Badezimmer mit einer Dusche und einer Toilette, die beide für den Einsatz im All umgebaut worden waren. Schließlich wollte niemand, dass sich überall Wasser verteilte, wenn die Schwerkraft ausfiel. Im restlichen Raum standen ein kleiner Tisch, ein Stuhl und sogar ein bequem aussehendes Sofa, alles über Magnete am Boden fixiert. Neben dem Tisch stand, eingelassen in die Wand, ein Essensreplikator. Craibian schien Wort gehalten zu haben. Der eigentliche Luxus war jedoch die Wand gegenüber der Tür. Dort konnte man durch ein großes Fenster ins All hinaussehen. Fenster waren rar auf einem Raumschiff. Jedes Fenster war eine potenzielle Schwachstelle und musste mit Schotts abgesichert werden. Valentina wusste, dass das Quartier des Käptens das einzige an Bord war, das einen solchen Luxus genoss. Im Moment konnte man durch das Fenster nur die Schiffswerft in der Nähe und den Mond von Atlantis sehen. Atlantis selbst befand sich auf der anderen Seite des Schiffs. Vermutlich konnte man den Planeten von der Brücke aus sehen. Valentina stellte ihre Tasche neben den Spinden ab, die ebenfalls in die Wand eingelassen waren und ging sofort mit schnellen Schritten auf das Fenster zu. Sie hoffte, mehr sehen zu können, wenn sie direkt davorstand. Tatsächlich konnte sie in der Ferne eine helle Scheibe erkennen. Das musste Niflheim sein. Einer der sechs Schwesterplaneten von Atlantis. Seine Umlaufbahn lag nur einige Millionen Kilometer von der von Atlantis entfernt und die beiden Planeten waren damit für astronomische Verhältnisse sehr nah beieinander. Die anderen fünf Schwesterplaneten zogen ihre Bahnen entweder in ähnlichen Abständen zueinander oder befanden sich gar auf identischen Bahnen, nur auf der anderen Seite der Sonne. Valentina hätte nie gedacht, dass es ein solches Sonnensystem geben würde. Warum hatten sich sieben einzelne Planeten in so unmittelbarer Nähe zueinander gebildet? Warum hatte sich die Materie, nachdem der Stern geboren worden war, nicht in einem einzigen gewaltigen Planeten vereinigt? Vielleicht würden sie das irgendwann herausfinden. Valentina war jedenfalls gespannt, welche kuriosen Sternensysteme sie in den nächsten Jahren entdecken würde und welche Geheimnisse das All für sie noch bereithielt.

Hier werde ich mich wohlfühlen,dachte sie bei sich. Das wird mein neues Zuhause.

Craibian mochte Ranoras Wohnung. Alles hier zeigte deutlich, dass sie nicht das war, was man sich unter den Menschen unter einer typischen Frau vorstellte. Eine chaotische Küche, ein unaufgeräumtes Wohnzimmer, aber ein ordentlicher Arbeitsraum. In dem Kühlschrank neben ihrem Schreibtisch befanden sich neben etlichen Bioproben, die sie noch untersuchen wollte, einige Teller mit nicht ganz aufgegessenen Nahrungsmitteln, die Ranora sich wohl für später aufhob. In einem Regal in der Nähe stapelten sich zahllose technische Bauteile, deren genauer Zweck Craibian nicht ganz klar war. Er wusste aber, dass Evan sehr gerne bastelte und Ranora schien dieses Hobby nun mit ihm zu teilen.

„Ich sehe, du hast dich mit Evan hier sehr gut eingelebt“, stellte Craibian fest.

Ranora nickte und grinste breit. „Jep.“

„Und, wie ist es so?“, fragte Craibian interessiert.

„Unbeschreiblich“, erwiderte Ranora vergnügt. „Ich glaub, ich war noch nie so glücklich.“

„Das freut mich“, erwiderte Craibian lächelnd. „Nach dem, was in den letzten drei Jahren so passiert ist, tut es gut zu sehen, dass ein gewisses Maß an Normalität wieder einkehren kann.“

„Das stimmt, auch wenn ich nichts hier als normal bezeichnen würde“, lachte Ranora.

„Na ja, so normal, wie es eben für atlantische Verhältnisse sein kann“, räumte Craibian ein und sein Lächeln wurde eine Spur breiter.

„Wie läuft es denn im Allgemeinen?“, fragte Ranora ihn. „Ich hab in letzter Zeit nicht mehr so viel mitbekommen.“

„Warst wohl etwas beschäftigt“, stellte Craibian fest und meinte damit nicht ihre Arbeit. Ranora schien zu verstehen, was er meinte und lächelte nur wissend. „Nun ja, eigentlich läuft alles wie geplant“, fing Craibian an. „Die Werft arbeitet auf Hochtouren, die Asteroidenminer scheinen gut zu funktionieren, die Versorgung der Stadt ist jetzt komplett und sichergestellt und wir schicken in ein paar Tagen unser erstes Forschungsschiff da raus.“

„Hast du jemanden gefunden, dem du das Sternerforschungsprogramm anvertrauen kannst?“, fragte Ranora interessiert. Craibian hatte eigentlich sie als Käpten der Lutin einsetzen wollen, doch Ranora hatte andere Pläne mit ihrem Leben und die sollten sich auf Atlantis abspielen.

„Ja. Ich glaube Valentina ist eine gute Wahl für den Posten“, meinte Craibian. „Sie ist etwas seltsam, aber sie ist bei allem was sie tut mit Leidenschaft dabei.“

„Seltsam? Und das aus deinem Mund“, lachte Ranora. „Das muss ja was heißen.“

Craibian wurde leicht rot und rechtfertigte sich sofort: „Ich meinte, im Verhältnis zu uns anderen seltsam. Sie hat wohl sehr isoliert gelebt, bevor sie zu uns gestoßen ist. Soweit ich weiß, hatte sie eine unheilbare Krankheit.“

„Wenn das stimmt, hätte sie eigentlich gar keinen Interfacekern bekommen dürfen“, stellte Ranora überrascht fest. „Je labiler ein Körper ist, desto höher wird die Chance, dass eine genetische Transformation tödlich endet.“

„Ich weiß, aber es hat ja zum Glück für beide doch funktioniert“, erwiderte Craibian. „Was hältst du denn von Valentina?“, fragte er dann Ranora. „Du hast doch mit ihr gearbeitet.“

„Ich hab von ihr Proben, Karten und Berichte bekommen, aber ich hab sie nie getroffen“, erklärte Ranora. „Sie schien mir aber durchaus kompetent zu sein.“

„Das glaube ich auch“, stimmte Craibian ihr zu.

„Wie läuft’s eigentlich mit der anderen Geschichte?“, wechselte Ranora nun das Thema und es schien, als ob sie die ganze Zeit darüber hatte sprechen wollen. Craibian überlegte kurz, ob er so tun sollte, als wüsste er nicht, was sie meinte, beschloss dann aber, es zu lassen. Erstens konnte er Ranora wohl kaum was vormachen, zweitens war er sowieso ein miserabler Lügner und drittens wussten sie beide, dass sie die Geschichte mit Arieana meinte.

„Unverändert“, erwiderte er leicht niedergeschlagen.

„Du hast sie immer noch nicht gefragt?“, fragte Ranora ungläubig nach.

„Ich glaube, sie geht mir aus dem Weg oder sie hat wirklich viel zu tun“, wich Craibian aus.

„Aber du siehst sie doch bestimmt ab und zu mal“, erwiderte Ranora. „Sprech es doch einfach nebenbei mal an.“

Der Aufstieg von Atlantis

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