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Danny Fränkel

Soladum

Die Suche des Sonnenpatrons

Zum Autor

Danny Fränkel liest und schreibt seit seiner frühesten Jugend leidenschaftlich gerne Fantasy- und Alltags-Geschichten. Nach einer mehr als zweijährig währenden Wanderung durch Europa, auf der nur der Rucksack und einige Recherchenbücher seine ständigen Begleiter waren, legt Danny Fränkel hiermit sein Zweites Werk vor, dessen letzte Redigierung nach einer Odysee als Selbstversorgerbauer im Balkan Osteuropas erfolgte.

Heute ist er leidenschaftlicher Landschaftpfleger in Oberfranken.

Soladum

Die Suche des Sonnenpatron

Eigenverlag Danny Fränkel

Genehmigte E-Book-Ausgabe No. 1

Alle Rechte vorbehalten bei Danny Fränkel

1. Auflage 2020

E-Mail: danny-fraenkel@web.de

Widmung

Für mich

Soladum – Die Suche des Sonnenpatrons

Prolog:

Er verwandelte sich. Seine Lunge füllte sich mit der umgebenden Kälte. Er blieb ruhig, doch seine Gedanken rasten! Er begann zu schweben. Sein Gesicht verschmolz mit der Krähenmaske, die sich wie Lava gegen die Haut brannte. Er wollte schreien.

Plötzlich spürte er einen kräftigen Ruck, als sause er mit einer Achterbahn hinab. Magensaft benetzte seine Zunge.

Thomas atmete tief durch bevor er seine Krähenaugen öffnete.

Er erschrak. Nicht weil ihn das welke Grasland vor sich und der schwefelige Gestank irritierten, sondern die schiere Weite aus Bächen und Wegen unüberwindbar schien. In einem Gebiet so groß wie Deutschland, fand er die Hilfsgeister nie!

Wütend spreizte er seine Krähenschwingen, sah zum sonnigen Himmel und hob ab. Er schrie, statt des Vogelgesangs zu lauschen. So überschlug er sich, prallte in einen Baumwipfel und brach sich einen Flügel. Während der überschattenden Ohnmacht hörte er den Bach unter sich plätschern, fiel in die kalte Strömung und ertrank.

Thomas erwachte aus der Trance. All seine Glieder schmerzten. Nach Luft schnappend riss er sich mit der Linken die hölzerne Krähenmaske ab und warf sie davon. Während sie in der Dunkelheit der Höhle schepperte, biss er sich auf die Lippen: Sein rechter Arm lag an der Taille und rührte sich nicht – außer unter höllischen Schmerzen. Er muss ihn sich in der Unterwelt gebrochen haben.

Bevor er vorwerfend knurren konnte, schrie jemand. „Du Narr!“ Das Echo hämmerte unbarmherzig in seine Ohren. „Wie willst du deine Schutzgeister finden, wenn du dich selbst verstümmelst?!“

Derart zornig hat Thomas den Alten noch nie erlebt. Er begann zu zittern, als es auf dem Pfad im Höhlensee raschelte, der zu seinem Liegestein führte.

„Denkst du, die Götter machen es dir einfach?“, rief der alte Mann, der in völliger Finsternis auf ihn zumarschierte. „Da bin selbst ich besser als du, trotz meiner dreihundert Jahre!“

Thomas begann zu keuchen.

Die Schritte wurden lauter, bis sie plötzlich verstummten. Thomas konnte den heißen Atem des Alten spüren. Plötzlich umfassten zwei Hände seine Achseln und hievten ihn hoch.

Er unterdrückte einen Schrei, als die kräftigen Arme abließen und er vor Schmerz in das schwarze Nass zu fallen drohte. Der Alte erhob stattdessen die Stimme: „Wärst du mit deinem Schädel gegen den Baum geprallt, hätte sich deine Freiseele gelöst. Weißt du, was das heißt?“

Thomas schwieg und trat einen Schritt zurück.

„Dein Krähenkadaver wäre jetzt Frischfleisch für die Dämonen!“

Obwohl der Konflikt einseitiger nicht sein konnte, knirschte Thomas die Kiefer. „Lass’ mich in Frieden“, und trat am Mentor vorbei, verfehlte beinahe den Pfad und stürmte blindlings aus der Höhle.

Trotz der Bewölkung, die ihn begrüßte, blendete ihn das Licht. Er hatte sogar mit dem Gleichgewicht zu kämpfen. Sein Arm hing schlaff hinab. Er verlangsamte seinen Schritt und betrachtete die wirbelnden Sanddünen um ihn herum. Hitze – wie in der Kalahari – trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Er stampfte weiter über aufgerissenen Sandboden. Alles wirkte tot und ohne Leben.

Endlich erreichte er sein Zelt. Es bestand ganz aus zottig-braunem Lamafell. Als er die Plane aufschlug, atmete er tief ein. Rechts neben einem aufrecht stehenden Breitschwert, das am Innenzelt lehnte, verteilten sich zwei schmucklose, okerfarbene Holztruhen. In denen befanden sich Kleidung und Fachbücher. Fachbücher über die Zauberkunst dieses Reiches.

Vor den Truhen lag ein zwei Meter langer Teppich mit blau, schwarz und orange gestickten Reliefs. Hierauf schlief, saß und studierte er die Bücher des Mentors.

Rasch stülpte er sich die dreckige Kutte ab und setzte sich halbnackt auf den Teppich. Als er die Beine kreuzte und die Augen schloss, strömte wohltuende Wärme vom Boden auf. Thomas versank in tiefer Meditation.

Zog nicht plötzlich jemand die Zeltplane zur Seite? Thomas wagte nicht die Augen zu öffnen, als die Stimme des Mentors erklang: „Es tut mir Leid. Ich darf wirklich nicht zu viel von dir verlangen. Selbst ich habe zehn Jahre gebraucht, bis ich den ersten Grad der Erleuchtung errang. Dennoch bleiben ‚dir’ nur wenige Monate – wenn überhaupt.“

Thomas schnaufte ohne aufzusehen. „Eure Anforderungen sind verrückter als die in meiner Welt.“

„Ich weiß, dass dir dein Reich am Herzen liegt. Aber wenn du zurückkehrst, sperren sie dich ein.“

„Wessen Schuld ist das wohl?“

Die Stimme des Alten dämpfte sich: „Es war deine Entscheidung. Und du hast die Macht ausgekostet, egoistisch wie du bist!“

Thomas wollte erwidern, schnitt ihm nicht der Mentor das Wort ab: „Wenn ich könnte, würde ich mein Land selbst retten. Doch die Tyrannen sind zu schnell und gewitzt für mich.“

Thomas wollte nichts mehr hören und versank in seinen Erinnerungen. Wäre dieser alte Mann nicht in sein Leben getreten, hätte er eine bessere Zukunft angestrebt, wäre sein eigener Herr geblieben und mit Achtung behandelt worden. Vor allem dachte er an ein Mädchen, das er seit Kleinauf kannte und dessen Herz er zurückerobern wollte.

Er öffnete seinen verklebten Mund und flüsterte tief und innig: „Christine.“ Ein Engel mit wachen Augen und blondem Haar, das wie das Fell einer Gazelle im Sonnenschein schimmerte.

Kapitel 1Alte und neue Wunden

„Thomas, fang!“, rief Sasha ihm zu. Er sah zu spät, wie der Basketball auf seine verträumten Augen zuflog. Sein Nasenbein knackte, worauf der Ball achtlos auf den Boden hüpfte.

Er blickte seinen Freund Sasha verwirrt an. Der Sportlehrer pfiff dagegen in die Halle: „Vier zu Drei für die Mädchenmannschaft. Fünf Minuten Pause!“

Thomas war leider nicht in der Mädchenmannschaft. Sie haben fast verloren. Als wäre das das Ende des Welt stürmte Sebastian Schulz – der Klassenheld und Neonazi der 12b – auf Thomas zu. „Hast wohl wieder geträumt, Ortwig?“ Er packte Thomas am durchnässten T-Shirt, zog ihn hoch sodass sich ihre Blicke kreuzten. „Wenn wir wegen dir verlieren, schlage ich solang auf dich ein, bis du Hundefutter bist!“

Thomas’ Wut loderte auf. Doch blieben seine Lippen geschlossen. Er betrachtete den schwarzen Seitenscheitel, der noch perfekt auf dem neonazistischen Kopf saß.

Zu Schulz gesellten sich zwei halbstarke Glatzköpfe, die ihn anfeuerten: „Mach’ ihn fertig.“

Schulz presste Thomas’ Hals zusammen. Er sah plötzlich kantige Punkte und hörte kaum noch Sashas Ausruf: „Hört auf damit!“, und wie die Glatzköpfe ihn wegstießen.

„Lass ihn in Ruhe, Basti“, schien das Letzte, was er wahrnahm. „Es ist bloß ein Spiel.“

Thomas’ Atemwege öffneten sich wieder. Er registrierte alles um sich in solcher Intensität, dass er erstarrte: Sämtliche Schatten, Umrisse und der Glanz der an den Seiten stehenden Geräte; das Quietschen zwischen Parkett und Sohlen der herumalbernden Schleizer Gymnasiasten; der bittere Geschmack von Galle, die seine Speiseröhre hinaufschoss; und Christines Anblick in ihrem gelben und voll geschwitzten Trainings-Shirt sowie den haselnussbraunen Augen. Diese wechselten den Blick zwischen ihm und Sebastian Schulz, als könne sie sich nicht für einen der beiden entscheiden. Bis sie sich plötzlich an Schulz’ Taille schmiegte. „Er ist es nicht wert.“ Sie sah lächelnd auf. „Ich aber umso mehr – oder Basti?“

Thomas hörte Schulz’ Schlucken und konnte sich vorstellen, was dieser sich für heute Nacht ausmalte.

„Nur weil ihr gewonnen habt?“ Schulz’ böses Funkeln wich der Vorfreude.

Gegen Thomas’ Kehle drückte ein Kloß. Was Frauen nicht alles für eine ansehnliche Zukunft gaben? Schulz’ Vater war eben der Chef eines renommierten Waffenhandels in Westdeutschland.

Aber war Thomas aus dem Martyrium heraus. Er sah Sasha an und winkte ihm hektisch in Richtung Umkleide.

Obwohl Thomas nach der Pause den Ball fing und sogar den Korb traf, verlor die Jungenmannschaft. Die Spieler vergaßen ihre Niederlage schnell als sie ausgelassen ihre Tagespläne austauschten. Allein Sebastian Schulz kochte vor Wut.

Es war später Nachmittag, als sich die Zwölft-Klässler– umgezogen – vom Sport verabschiedeten. Schulleiter, Lehrer und Schüler waren längst daheim.

Thomas und Sasha durchquerten gerade das Haupttor. Da aber saß Schulz mit den Glatzköpfen auf dem Bürgersteig. Sie hielten Bierflaschen in der Hand und rülpsten. Schulz grinste Thomas zu. „Was glotzt du so? Hast wohl Langeweile? Die treiben wir dir schnell aus!“ Zum Glück waren diese Drei die einzigen Neonazis der Stadt, dafür umso skrupelloser.

Alarmiert begannen die beiden schneller zu laufen. Schulz’ Konvoi setzte nach. Sie rannten nicht den Hauptweg hinunter, sondern die Nebengasse zur Bushaltestelle. Dort würden sie die fünfhundert Meter zur nächsten Haltebucht fahren und hätten die Neonazis abgehängt.

Der Rucksack scheuerte an Thomas’ Schultern. Er hörte die Sprünge der Springerstiefel lauter werden. Sasha keuchte, während er Thomas einholte: „Der nimmt die Niederlage ernst!“

Sie stürmten vorbei am abgerissenen Regelschulgelände, an Parkverbotsschildern, Gartenzäunen und Hecken. Da war die Hauptstraße. Sasha sprang durch eine Verkehrslücke. Vor Thomas aber rauschten dutzende Klein- und Lastwagen vorbei, deren mitgezogener Wind ihn zurücktaumeln ließ.

Sasha rannte in den wartenden Bus und bat die Fahrerin zu warten. Die tippte auf ihr Armaturenbrett. „Wir haben einen Zeitplan, Junge“, und fuhr an.

Thomas versucht krampfhaft über die Straße zu kommen, da rissen ihn nicht kräftige Hände zurück. „Das war’s, Blindschleiche“, rief Schulz, der seine Schultern fast zerdrückte. „Jetzt wirst du büßen.“

Er sah nur noch den Bus davon rauschen, während sie ihn zu dritt zurück zerrten; Richtung Schule. Was hatten sie mit ihm vor? In einen Spint sperren? Thomas wusste zu gut, dass ‚dieser’ Neonazi nicht mit solchen Spielen scherzte. Spürte es zugleich: Ein Nasenhaken und Thomas schleppte sich benommen hinterher. Er nahm bloß wahr, wie sie ihn unter eine abgesperrte Terrasse – über dem der Sportplatz lag – zerrten. In den schattigen Winkeln, die kaum sichtbar waren, warfen sie ihn hin. Er prallte gegen scharfe Metallteile. Überall lagen Berge aus Schrott und Sperrmüll, den nie jemand entfernt hat.

Abrupt packte Schulz ihn am Kinn und quetschte daran. Er wollte sich wehren, doch versagten seine Kräfte.

„Du hältst dich für besonders schlau – was?“ Schulz verpasste ihm eine Ohrfeige. „Lässt dich von Christine beschützen. Ich weiß, dass du es mit ihr treiben willst. Sie gehört mir, klar!“, und schupste Thomas erneut in den scheppernden Schrotthaufen.

Als er sein zerkratztes Gesicht erhob, stieß Schulz’ Stiefel gegen seine Brust und presste solang darauf, bis er ohnmächtig wurde.

Trotz der Genugtuung spuckte Schulz auf sein Gesicht: „Du und Christine habt meine Ehre verletzt! Dafür wird auch sie bezahlen.“ Noch ein kräftiger Hieb gegen seine linke Schulter und Schulz wandte sich der leblosen Gestalt ab. Hier sollte er bleiben, bis die Ratten an ihm nagten oder er in der spätherbstlichen Nachtluft erfror.

Doch ließ ein Nerv in Thomas’ Hirn nicht los. ‚Christine.’ Er musste ihn aufhalten, und keuchte: „Du und Ehre! Du hattest nie welche, feiges Schwein!“

Kaum fiel er wieder ins Halbdunkel zurück, rissen ihn zwei Hände hoch. „Was? Willst du mich provozieren?!“

Thomas lächelte nur. Da brodelte etwas in ihm, was stärker war als Wut: Ein Gefühl der Verantwortung. Er musste Christine vor einer Vergewaltigung bewahren. Wie viele Gräuelgeschichten hatte er über Schulz’ frühere Freundinnen gehört.

Abrupt hob er Schulz das Knie in die Hoden. Er schien ihn loszulassen, stöhnte vor Schmerz, wurde kreidebleich … und stieß Thomas in die Eckwand. Sein Kreuz knackte. Schulz holte aus, schlug ihm ins Gesicht, immer und immer wieder. Er wollte nicht umfallen. Schulz schlug ihm in den Bauch, trat gegen die Knie und seine Kehle. Schließlich sank Thomas ohnmächtig zusammen.

Schulz wollte weiter auf ihn einprügeln, zerrten ihn nicht die Glatzköpfe weg. „Es reicht, Basti. Er merkt eh nix mehr.“

„Das Schwein hat mich verstümmelt!“

„Leg’ was Kühles drauf. Die Kleine kann doch bis morgen warten.“

So ließen sie Thomas im Schrotthaufen zurück. Keiner ahnte, was die Drei im toten Winkel der Terrasse getan haben. Nur eine wurde stutzig.

Ein dumpfes Pochen ließ ihn erwachen. Sofort brannten die Schmerzen in Gesicht, Bauch und Knie auf. Dennoch fröstelte ihn in der Dunkelheit.

Wie durch einen Reflex griff er nach der Decke und zog sie hoch. „Was?“ Sofort riss er die Augen auf. Obwohl sie schmerzten, als hätte Säure seine Tränen ersetzt, sah sich der Achtzehnjährige um. Was er sah, erkannte er nicht als Krankenhauszimmer oder Schrottplatz wieder. Es war ein Zimmer, an dessen Wänden Grönemeyer, Stürmer und andere Poster deutschsprachiger Charaktere hingen. Auf einem kleinen Tisch am Fenster stand ein Notebook sowie verstreute Musik-CD’s. Auf der Decke, die Thomas umhüllte, waren buddhistische Mandalas eingestickt. Dieses Zimmer kam ihm bekannt vor.

Er entsann sich, dass ihn jemand abgestützt hat und er zu kämpfen hatte, nicht tiefer in Ohnmacht zu sinken, während sie liefen.

Bloß: Wo war er? Er versuchte sich aus dem Bett zu stemmen. Doch fiel er zurück. Wogen aus Muskelkatern jagten durch seinen Leib. Er unterdrückte einen Schrei. ‚Wer hält mich in dieser Welt gefangen?!’

Plötzlich öffnete jemand die Tür. Eine verschwommene Gestalt trat herein. Als sie sich näherte, stockte ihm der Atem: Er lag in Christine Munzes Reich. Vor ihm stand sie, mit ihrem warmen Lächeln und den lehmbraunen Augen. Sie gebot ihm mit der Hand, liegen zu bleiben.

Zu spät. Er spürte Schmerzen durch seinen Rücken hinabfahren, als wären einige Rippen geprellt. Sein gesamter Körper fühlte sich wie zerhackt an. Schließlich gelang es Thomas zu stottern. Seine Zunge war trocken und verklebt. „Was … ist passiert?“

Christine antwortete mit schierer, wutverzerrter Miene: „Sebastian und seine Clique haben dich verprügelt. Ich sah sie von der Sportterrasse weggehen. Darunter habe ich dich gefunden und mitgeschleift. Wie viel wiegst du eigentlich?“

Beide begannen zu lachen. Thomas vergaß das Martyrium. „Siebzig Kilo. Mehr ist an mir nicht dran.“

Doch legte Christine ihr Grinsen rasch ab. „Geht es dir etwas besser?“

„Keine Ahnung. Alles ist taub.“ Er betrachtete kurz seine aufgeschürften Hände. „Hast du einen Spiegel?“

Sie zuckte zusammen, bis sie nickte und aus dem Schrank einen Handspiegel nahm. Um den Moment zu verkürzen, drückte sie ihn Thomas rasch in die Hand.

Auch er sog tief Luft ein und betrachtete sein Gesicht so genau, als würde er noch stundenlang darauf starren: Sein Kopf war vom roten Haupthaar bis zum Kinn mit Schrammen und blutigen Schwellungen versehen. Der Kontrast zwischen Lila und Blau ekelte ihn. Seine starken Wangenknochen knackten wie Mühlsteine. Genauso schmerzte es auch in seinem Kopf. Er betastete einige Kratzer. Seine Haut war ein Gebilde aus Hügeln.

Er hatte Schulz provoziert, um Christine vor Schaden zu bewahren. Auch wusste er, dass Christine danach tagelang nicht zur Schule gekommen wäre. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit.

„Wenn ich früher gekommen wäre“, unterbrach sie seine Gedanken, „hätte ich das verhindern können. Tut mir Leid.“

Thomas schüttelte barsch den Kopf: „Es ist nicht deine Schuld. Eigentlich sollte sich jeder um seinen eigenen Kram kümmern.“

Sie schien ihn nicht gehört zu haben. „Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte …“

„… wäre das Sackgesicht nie in unser Leben eingedrungen. Aber das kann man nicht. Man muss die Welt nehmen wie sie ist.“

Christine nickte nur. „Kommst du allein nach Hause oder soll ich helfen?“

„Das schaff’ ich schon. Ich bin in wenigen Tagen wie neu.“

Als er mit Schwung aufstand, knackte sein Rücken. Ein Schmerzensschrei und er fiel zurück.

„Wirklich nicht?“

Er sah sie grimmig an. Ihm wurde schwummrig und er verlor das Gleichgewicht. Christine umklammerte ihn, bis er sich fing. Am liebsten hätte sie ihn noch länger umarmt.

Da drückte Thomas sich von ihr ab und musterte sie grimmig. „Den Rest mache ich allein. Kümmere dich um dich … und pass mit Schulz auf. Er hat Andeutungen gemacht.“ Thomas schnappte seinen Rucksack neben dem Bett, hinkte mit den pochenden Knien zur Tür hindurch.

Christine folgte ihm, doch war er bereits im Treppenaufgang. Sie rief über ihm über das Geländer gute Besserung zu.

Thomas lächelte hinauf und verschwand auf dem Gehweg des Wohnblockgebietes Am Oelschweg. Durch ein Aufgangsfenster seufzte sie ihm nach. ‚Ein Danke wäre das einzige, was ich erwartet hätte.’ Sie wusste jedoch, dass mit Schulz’ Erscheinen vor fünf Jahren, Thomas’ Temperament keine Achtung mehr geschenkt wurde. Seither verbarg er seine Gefühle und Hilfsbereitschaft.

Vorbei an einigen Einbiegungen, einem Elektrowerk und über einen Feldweg gelangte er zur Schleizer ‚Glücksmühle’ – seinem Familienhaus. Von außen ‚wirkte’ es wie ein einigermaßen hergerichteter Bauernhof mit Pferdeweide.

Hinkend trat er durch die Tür. Der Weg war schmerzhafter, als alles, was er je erlebt hat. Nach den ersten Metern des Marsches warf er sich vor, Christines Hilfe nicht angenommen zu haben. Jetzt war es neun Uhr abends und morgen stand eine Klassenarbeit an. Er stöhnte, beugte sich vornüber und stürmte aufs Klo, um sich zu übergeben.

Als er erleichtert auf den Flur trat, hörte Thomas laute Knallereien aus der Wohnstube. Er wollte in Deckung springen. Da merkte er, wie sein Vater ein James-Bond-Video ansah. Neben dem Sessel türmten sich Bierflaschen in die Höhe.

„Schon zurück, Söhnchen?“, rief Thomas’ Vater mit kratzender Stimme, ohne sich umzudrehen. „Sei so lieb und hol’ mir noch eine Flasche.“

Thomas roch die saure Bierfahne, ohne näher zu kommen. „Hol’ sie dir selber, Saufbold!“

Dieser drehte sich verdutzt um und beugte sich über die Lehne. „Hast gefälligst zu tun, was ich sage, sonst …“, und stürzte auf die scheppernden Bierflaschen.

Thomas winkte nur ab und torkelte die Treppe hinauf.

So tief war die einst so ehrbare Bauernfamilie gesunken. Statt ihr Feld zu bestellen, Kühe zu melken und Pferde als Geldeinnahme (für einen Reithof) aufzuziehen, verwahrlost alles auf dem Hof. Selbst das Gemäuer bröckelte bereits.

Seit sein Vater vor einigen Jahren wegen eines Wutausbruches im Agrarbetrieb entlassen wurde, trank er täglich in der Kneipe, und abends daheim. Thomas’ Mutter ging ihm meist aus dem Weg. Deshalb hat sie die Stelle als Reinigungskraft angenommen. Sie arbeiteten meist nur in Spätschichten, und trat so der unerträglichen Zeit mit Thomas’ Vater aus dem Weg.

Allein konnte er die Arbeiten auf dem Hof nicht übernehmen. Genauso fehlte ihm die Bezugsperson, mit der er einst über alles (sogar über die Pubertät) reden konnte. Seine Mutter sah er nur ab und zu, wenn er nachts zur Toilette musste und sie am Kühlschranke kauerte. Wo sollte das hinführen? Sein eigenes Leben geriet nun ebenso aus den Bahnen: Er stand kurz vor der Abiturprüfung, aber war zu unkonzentriert beim Lernen. Aussichten auf einen interessanten Beruf hat er nicht. Zum Studieren fehlt ihm Geld und Geduld.

Während des Duschens bemerkte er weitere Druckstellen, die schlimmer schmerzten als sein Gesicht. Alle offenen Wunden brannten unter dem Wasser.

Den Rucksack in die Ecke geworfen, setzte Thomas sich – im finsteren Zimmer – aufs Bett. Sein Kopf qualmte; der Körper schmerzte. Er stand vor einem Wutausbruch, setzte die Hände auf die zerzausten Haare und wollte sie raufen! Stattdessen atmete er tief ein ‚Eins, Zwei, Drei, Vier’, hielt die Luft an ‚Eins, Zwei, Drei, Vier’ und atmete aus ‚Eins, Zwei, Drei, Vier’ – und immer wieder. Seine Muskeln entspannten sich. Er konzentrierte sich nur auf das Zählen. Der Schmerz und alle Sorgen schoben sich weit vom Bewusstsein fort. Er fühlte sich leichter, entspannter und allein auf die Meditation bedacht.

Keine Viertelstunde später schlief er ein.

Kapitel 2

Flucht

Thomas erschrak. Allein in Unterhosen stand er auf derbem Boden. Er hat nicht gemerkt, wie er aufgestanden war. Um ihn erstreckte sich eine Ebene aus umherwirbelndem Sand. Darüber schwelte nicht die Sonne, sondern eine dunkel schattierte Wolkenbank. Sie plusterte sich auf. Es war heiß.

Obwohl er sich umgeblickt hat, erspähte Thomas plötzlich drei wankende Palmen und einen glitzernden Teich in der Mitte. Seine Kehle wurde trocken und er stampfte zwanzig Meter zur Oase hin. Seine Füße brannten mit jedem Schritt. Ein kräftiger Windstoß drückte ihn nach hinten.

Am Rand der sich kräuselnden Nässe ließ er sich nieder. Er wollte hinein springen und trinken, als er plötzlich sein Gesicht spiegeln sah. Er betastete die Schwellungen und blutigen Abschürfungen. Sie brannten, als züngelte das Höllenfeuer daran; und er verfluchte ihren Verursacher: Sebastian Schulz. Dieser sah das Leben als Spiel – er war der Spielmeister. Jeder hatte ihm zu huldigen. Nur Thomas widersetzte sich seit jeher, zollte ihm weder Respekt und winkte ab.

Wie oft wünschte Thomas sich, dass Schulz sich das Genick brach.

Plötzlich knurrte etwas vor ihm. Er blickte auf und sah zwei Kröten, die nebeneinander quakten. Dann aber sprachen sie abwechselnd zu ihm: „Du hasst ihn.“ „Willst du Genugtuung?“ „Willst du Respekt?“ „Willst du das Mädchen?“ „Willst du Schamane werden, Thomas Ortwig?“

Genau das waren seine Sehnsüchte. Die letzte Frage ignorierte er: Bereits vor seiner Pubertät hatten sich ihm Eulen, Hirsche, einmal sogar ein verstorbener Verwandter gezeigt, die ihm ähnliche Fragen ins Ohr hauchten. Jedes Mal war er schweißgebadet aus dem Bett hoch geschreckt. Warum heute nicht?

Er legte seinen Kopf in den Nacken und brüllte: „Ja! Das alles steht mir zu! Und ich will es!“

Wie zur Bestätigung quakten die Kröten und sprangen ins kalte, glitzernde Nass.

In Thomas loderte die Wut auf und er presste die Finger gegen seine Wange. Er spürte weder Schmerz, noch die Wellen, die über den Rand auf seine Füße schwappten. Dann brüllte er aus aller Inbrunst!

Plötzlich stiegen Blasen aus dem Wasser. Er schrie weiter und schlug seine Fäuste in den Sand. Über dem Teich sammelte sich heißer Dunst, der zu brodeln begann. Hitze schlug in sein Gesicht.

Endlich hielt er inne. Ein Anflug von Panik überrannte ihn. Heißes Wasser schwappte auf seine Füße. Vor Schmerz hätte er flüchten sollen. Doch beobachtete er weiter, wie sich die Wellen ballten, höher stiegen und immer höher. Was geschah hier?!

Eine der Wellen verschlang die andere und peitschte auf Thomas zu. Da riss die siedende Flutwelle ihn bereits mit. Er schluckte Wasser und fürchtete zu ersticken. Statt zu kochen, wurde er eins mit dem Element. Er konnte sich frei bewegen und fühlte, wie das Wasser seinen Leib rein wusch.

Dann zerschellte die Welle auf dem Sand.

Keuchend schrak er hoch. Er lag auf seinem Bett. Einzelne Sonnenstrahlen wanderten über den Horizont und die letzte Wolke löste sich am Himmel auf.

Jetzt erst bemerkte er den Wecker, der unentwegt schellte. Hektisch schlug er ihn aus und sprang auf: Sieben Uhr. In dreißig Minuten begann die Schule und in zwanzig fuhr der Bus ab!

Während er seine Sachen überstülpte, stoppte er und trat an den Spiegel. Was er sah, verwirrte ihn: Sein Antlitz war mit Rissen und Beulen übersät. Bloß glänzte bereits wieder gesunde Haut darauf. Hat ihn der Schlaf derart geheilt?

Egal; er musste sich beeilen!

Nach aller Hast erreichte er den Bus. Auch Christine saß darin, betrachtete ihn kurz, sah aber wieder weg. Thomas setzte sich vor sie und bemerkte ihre Blicke, die sich auf ihn legten.

Als Thomas in den Klassenraum marschierte, vernahm er allerhand Gequassel: „Guckt mal, was ich gestern gekauft habe.“ Übertriebenes Staunen auf eine Halskette folgte bei den Mädchen. Allein Christine, die sich an Thomas vorbeizwängte, interessierte das nicht.

Oder: „Habt ihr vom Rohrbruch auf dem Neumarkt gehört? Da entsteht zurzeit ein Tümpel.“

Sein Blick fiel auf Sebastian Schulz, der mit hochgelegten Beinen am hinteren Tisch saß. Dieser flüsterte zu seinen Glatzkopf-Nachbarn: „Ortwig müsste im Krankenhaus liegen.“

Thomas setzte sich grinsend neben Sascha, der ihn beunruhigt musterte. „Die haben dich ja zugerichtet.“ Er begann sich zu entschuldigen, da er Thomas nicht helfen konnte. Er selbst verfiel in seine Tagträume.

Die Geografie-Stunde begann. Der Lehrer kam grüßend herein, knallte den Koffer auf den Tisch und rief ebenso launisch: „Zettel raus. Heute nun die Arbeit über die endogenen und exogenen Vorgänge Japans.“

Kaum war die Stunde um, skizzierte Thomas mit Bleistift eine 6 auf die Unterkante seines Blattes. Der Lehrer sammelte alles ein und verschwand.

Keine Minute später nahm Thomas einen Schluck Wasser. Es schmeckte wie das, an dem er heute Nacht fast erstickt wäre. Er schüttelte den Kopf.

Der Albtraum folgte, als sich plötzlich Schulz neben ihn stellte. „Du müsstest aussehen, wie eine gerupfte Gans – oder hast du einen Zwillingsbruder?“ Thomas nahm ungestört einen zweiten Schluck.

Schulz aber packte seinen Arm und drückte ihn zusammen. „Das holen wir hinterm Schulhof nach. Mitkommen!“

Er riss Thomas vom Stuhl. Der wollte sich losreißen, lähmte ihn nicht das Zerren im linken Arm. Christines Aufruf betäubte den Schmerz. „Hör auf, Basti! Du übertreibst langsam!“

Die Wasserflasche fiel zu Boden und lief aus. Schulz war abgelenkt, und Thomas riss sich los.

Schulz stampfte auf ihn zu: „War wohl gestern nicht genug? Heute bestelle ich dir persönlich den Sarg.“

Thomas versuchte an Schulz vorbei zu springen. Hektisch ballte er seine Fäuste und verpasste ihm einen Kinnhaken. Schulz taumelte zurück, stieß aber sein Knie in Thomas’ Magen. Er fiel zu Boden und prallte mit dem Kopf gegen eine Tischkante.

Schulz wankte zornig auf ihn zu. Neben Thomas lief das Wasser aus der Flasche. Es plätscherte, als flute neue Kraft seine Seele. Die braunen Augen wurden von einem Orange aus Flammen übertüncht.

Thomas kam Schulz zuvor, schwang sich auf und packte ihn am Kragen. Sein Kopf dröhnte vor Schmerz. Heute musste er dem Irrsinn ein Ende setzen. „Entschuldige dich oder ich bestelle ‚dir’ einen Sarg … Richtung Hölle.“

Schulz zischte: „Du wirst dir wünschen, gestern gestorben zu sein.“

Der Hass vermehrte sich. Er erinnerte sich an seine Wunden. Erinnerte sich, wie er im Traum geschrieen hat. Und spürte die Hitze des Wassers.

Abrupt warf er Schulz zu Boden. „Nie wieder!!“

Der grinste und wollte sich hoch stemmen – begann nicht plötzlich die Luft vor ihm zu flimmern. Ein eigenartiges Pochen drang durch den Raum, wie Trommelschläge. Es wurde heiß. Thomas stieß seine Faust vor. Ein Hitzeschwall packte Schulz und katapultierte ihn wie einen Kanonenschuss gegen die Tafel. Sie brach aus der Schiene und schrammte Schulz’ Schädel. Schlagartig verklang das Pochen.

„Oh Gott“, rief jemand. Keiner rührte sich.

Christine löste sich als erste und rannte zum steifen Sebastian. Sie griff mit den Fingern an seinen Hals. Es verstrichen rasende Pulsschläge, bis sie den Kopf hob. Sie betrachtete Thomas, der regungslos auf seine Hand, dann auf Christine sah. Sie rief mit bebender Stimme: „Er ist tot!“

Thomas stockte der Atem. Leere durchrann seine Augen: Er hat einen Menschen umgebracht!

Entsetztes Wimmern drang durch das Zimmer und steckte jeden mit Panik an. Thomas wirbelte herum und rannte durch die offene Tür.

Er stürmte auf den Korridor, zu den Ausgängen und die Treppen hinab. Die Schüler auf dem Gang huschten zur Seite.

Fast hat er den Ausgang erreicht. Da rammte er plötzlich gegen eine aufschwingende Klassentür.

Es wurde dunkel, endlos dunkel.

Wieder erwachte er mit einem Dröhnen ihm Kopf. Ihn regten die irrealen Träume auf. Am liebsten wollte er gar nicht mehr schlafen, sondern meditieren.

Wieder ähnelten die Umstände denen von gestern: Er lag auf einer Liege. Christine saß neben ihn und bemerkte, dass er bei Bewusstsein war. Wärme breitete sich in seiner Seele aus. Christine aber war aschfahl, wie eine verwelkte Blüte. „Sie wollen dich abholen.“

Seine Erinnerung schwebte im Nebel. „Wer?“, krächzte Thomas.

Ihre Miene wurde steif, während sie einen kalten Lappen auf Thomas’ Stirn tupfte. „Die Polizei.“

Der Nebel verpuffte schlagartig.

„Sie wollen dich auf Arrest stecken“, fügte Christine leise hinzu. „Dann kommt die Verhandlung. Aber wer glaubt einem jungen Mann, der vorgibt, mit unnatürlichen …“ Sie erstickte im Satz. Zu konfus schien ihr das Geschehen.

Barsch wurde die Tür geöffnet. Die Direktorin kam mit zwei groß gewachsenen Männern in beiger Uniform und Handschelle am Gürtel herein. Thomas zuckte und rief: „Das habe ich nicht gewollt!“

Einer verzerrte die Miene: „Das sagen die meisten“ Er musterte Thomas’ zerschlissenes Gesicht. „Für solche wie dich gibt es lebenslänglich.“ Kurzer Hand klemmte er Thomas die Handschellen an. Als er sich nicht von der Liege erhob, zog ihn der Polizist hoch und nach draußen.

Aneinander gereihte Schüler – wie auch Sascha – gafften dem Mörder des skrupellosen Sebastian Schulz entsetzt, aber auch mit Genugtuung an.

Thomas selbst verzieh sogar seinem Vater, der im Gegensatz zu ihm nur sein eigener Mörder war. Seine Augen wurden glasig. Die Muskeln erschlafften. Bevor sie ihn in den Polizeiwagen drückten, blickte Thomas auf Christine zurück, die ihm aufgelöst nachsah. „Es tut mir Leid.“ Er hob den Kopf … und riss sich los, und hetzte davon!

Er war frei, trotz der Handschellen. Hinter sich hörte er die Schüler schreien und die Polizisten jaulen. Einer startete den Wagen, der andere setzte Thomas nach.

Er rannte zur – von einer langen Waldinsel geteilten – Hauptstraße; entgegen der Fahrtrichtung, wo ihm der Wagen mit heulender Sirene nicht folgen konnte. Der tat es dennoch. Die Autos hupten und ließ den Polizist stoppen.

Doch folgte ihm der andere noch und kam immer näher. „Bleib’ stehen!“

Ein Stau bildete sich. Thomas quetschte sich durch eine Lücke, um auf die andere Seite zu stürmen und bog in eine Gasse zum ‚Neumarkt’ ab. Der Beamte schaffte es nicht mehr. Rasch rannte dieser die Straße hinab und orderte einen Motorradfahrer von einer Suzuki.

Thomas drosselte seinen Lauf. Da röhrte ein Motor hinter ihm auf. Er weitete die Augen zum Motorrad, womit der Beamte auf ihn zuhielt.

Panisch nahm Thomas den Sprint auf. Schlimmer durfte es nicht werden.

Wie magisch angezogen, stürmte Thomas zur Baustelle am großen Parkplatz, den rot-weiße Absperrzäune abgrenzten. Er sprang darüber und stolperte über aufgerissenen Asphalt. Vor ihm lag ein Tümpel.

Thomas blickte nach hinten. Der Beamte schoss auf ihn zu. Thomas rannte schneller; zum Teich. ‚Wenn er darin rutscht, entwische ich und verschwinde.’

Noch wenige Meter Abstand lagen zwischen ihnen.

Als Thomas ins Wasser sprang, verlor der Polizist die Kontrolle und fiel auf den Schutt. Thomas rannte weiter durch das Nass.

Die Bauarbeiter brüllten und beobachteten, wie die Suzuki auf Thomas zuschlitterte, und ihn traf.

Der Polizist schaute verdutzt auf. Der Junge war im Teich verschwunden.

Thomas sprang weiter durch das Wasser. Ihm wurde heiß.

Erst als die Suzuki an ihm vorbeischrammte, hielt er inne und blieb stehen: Das Motorrad schlug über das Ufer hinaus, bis es im Sand zum erliegen kam. ‚Sand?!’ Schockiert blickte er sich um.

Rechts, links, vor und hinter ihm knisternde Sand. Mittendrin verharrte er in einem glasklaren, grünen Teich und umzingelt von wenigen Palmen.

Er begann zu keuchen, zu zittern und zu schreien: „Was zum …?!“ Er erinnerte sich an diese Wüste aus dem Traum. Er sah nirgends eine Seele, und keine Polizei! „Ein neues Leben“, flüsterte er hysterisch. Er konnte das Geschehen hinter sich lassen. Bloß: Wo war er?

Der Flüchtling watete halb durchnässt zum Ufer und ließ sich erschöpft auf den Sand sinken. Dieser brannte derart heiß, dass Thomas aufsprang.

Erneut blickte er sich um. „Ich träume doch. Oder die haben mich erschossen.“

„Nichts von beidem, Junge.“

Thomas schrak herum … und sah einem alten Mann mit schlohweißen, langem Haar an. Neben dem Schock nahm er kaum die dreckfarbene Kutte wahr, die den Alten umhüllte. Ein Krächzen entrann Thomas’ Kehle: „Wer sind Sie?“

Der Alte lächelte nur.

Kapitel 3

Legende

So standen sie sich gegenüber: Der Mentor mit dem im Wind wehenden, weißem Haar; und sein Schüler, grimmig und verkrampft zugleich. Beide – Laudanius und Thomas – trugen braune, bis zum Sandboden reichende Kutten, und je ein Schwert in der Linken.

Unter den tiefen, kantigen Narben in seinem Gesicht wirkte Laudanius gelassen. Mit geschlossenen Lidern raunte er zum angespannten Thonas: „Am Anfang gab es weder Krankheit noch Tod … bis böse Geister sie dem Erdenleben brachten. Da sandten die Götter einen Adler zur Hilfe. Doch verstanden die Menschen weder seine Sprache, noch seine Absicht. Die Götter schickten den Adler zu einer Frau, die unter einer Lärche saß. Er schenkte ihr ein Kind, das zum ersten Schamane wurde.“ Laudanius atmete tief durch und schrie: „Bereit?!“

Die Stille verpuffte, als der Mentor nach vorn sprang. Mit gehobenem Schwert stürmte er auf Thomas zu. Der stemmte sich vor. Klingen klirrten. Kaum hat er den ersten Schlag pariert, erschütterte ein neuer Thomas' Glieder. Trotz des Alters seines Mentors war dieser stark wie ein Wrestler.

Der Lärm schallte weniger als hundert Herzschläge über die Wüstenebene, bis Thomas erschöpft in die Knie sank.

Laudanius legte ihm abfällig die Klingenspitze ans Herz. „Na ja. Besser als zuletzt. Mehr Konzentration beim nächsten Mal.“

Würden Thomas’ Sehnen nicht zerren, wäre er aufgesprungen und hätte den Alten zu Boden geschupst. Er hechelte ihm ein grimmiges „Mh“ zu.

Laudanius ließ das Schwert sinken und trat zu seinem nahen Zelt.

Während Thomas sich daraufhin auf einem verkohlten Holzstamm ausruhte, betrachtete er die Landschaft. Eine Frage verunsicherte ihn im glühenden Kopf. Denn es ergab alles keinen Sinn, sooft er es drehte und wendete:

Mitten in einer leicht hügeligen, von wehenden Sanddünen und Heide übersäten Ebene befand er sich nun. Das einzige Leben tummelte sich im quer hindurch fließenden Fluss Ranus. Ohne großartig anzuschwellen oder sich zu verzweigen, donnerte er im Südosten die Küste hinab. Selbst von hier hörte er das Peitschen des zwanzig Kilometer entfernten Ozeans, der tödlicher nicht sein konnte – wie Thomas bei einer Selbsterkundung vor zwei Wochen erfuhr. Den Geschmack konnte Laudanius nur mit einer leicht ätzenden Lauge lösen.

Wie lang meinte der Alte, sollte Thomas hier bleiben, ohne auch innerlich zu vertrocknen? Alles, was er sah, ekelte ihn an: Nur Berge des umkesselnden Definio-Gebirge, das sie von der West- zur Nordküste vom Rest des Landes abschnürte. Etwas Zerklüfteteres hatte Thomas nie in seiner Welt gesehen. Zudem warf dieses Stachelschwein – wie er es nannte – nicht einmal kühlenden Schatten!

Eine Flucht schien aussichtslos. Immerwährend raschelte der Sand; selbst in seinen Träumen. Dennoch befand er sich an einem Ort voll wilder Magie: Um die hundert Quadratmeter breite Oase, von der er sich vor einem Monat in diese Welt gerettet hat, hatten sich über Nacht verzweigte Wege von der Insel zu den Ufern gebildet. Danach konnte Thomas sogar zusehen, wie sich die Palmen über die Insel bogen, die Kronen darüber zusammensteckten und sich ein Wurzelgeflecht von einem zum anderen Baum hinauf zog.

Über Nacht war eine dichte Höhle aus Palmen um den Teich entstanden. Nicht einmal die beiden Eingänge, die Laudanius und er hineinhackten, reichten, um das Innere zu beleuchten.

Dennoch war Thomas fasziniert von der wilden Natur: Eine lebendige Grotte. Wie Laudanius sagte, passieren derartige Wunder in „Soladum“ öfters. Würde er nicht darüber nachdenken, könnte ihm diese Welt ein Zuhause werden.

Ihm fehlte das normale Wetter. Denn trotz des Ödlandes stoben oft und ohne Vorwarnung monsunartige Schauer, Hagelklumpen oder Schnee vom Himmel. Innerhalb von Herzschlägen waren die Wolken abgezogen. Dafür folgte umso drückendere, tagelange Hitze. Stürmen gelang es, selbst die Palmengrotte zu biegen.

Daneben gab es auf dem Wüstenplateau keinerlei Leben! Nichts zischte und fleuchte neben dem endlos rieselnden Sand. Die Kröten aus seinem Traum schienen nur Trugbilder gewesen zu sein. Gab es denn nur den alten Mann und ihn in dieser Trostlosigkeit?

Was ihm noch stärker ins Mark griff, war die Nacht, wenn die Stimmen wisperten.

Ein Klappern riss Thomas aus dem Wahn: Statt mit dem Schwert kam der Alte mit zwei Holzschalen, worauf der Dampf von Brennnessel-Tee Thomas’ Nase kitzelte.

Was wie eine Teepause aussah, wurde von Laudanius’ grimmigem Blick vereitelt. Er setzte sich im Schneidersitz seinem Lehrling gegenüber. Als er ihm das Gebräu reichte, vernahm er Thomas’ Schnauben. „Nimm, wenn du nun das Wissen aufarbeiten willst.“

Widerwillig fasste er die Schale und nippte kurz. Das Gebräu schmeckte herb.

„Zur Wiederholung“, rief Laudanius. „Was weißt du soweit über den Aufbau unserer Welt?“

„Vom Boden zum Himmel hinauf ist die Mittelwelt – das Diesseits. Darunter erstreckt sich die Unterwelt. Das Firmament ist das Zeltdach, über die sich die Oberwelt ausbreitet.“

„Hast du die Herkunft der Schamanen begriffen?“

Thomas spannte sich an. „Dass der erste Schamane … von einem Adler gezeugt wurde?“

„Genau. Um Krankheits- und Todgeistern ins Handwerk zu spielen.“ Seine Gesichtsfalten zogen sich zusammen. „Doch galt es immer mehr zu bewältigen.“ Er erläuterte seinem Adept nun langwierig die Aufgaben, Anschläge von Geistmächten zu verhindern, Zelte vor dem Bezug rituell zu reinigen, zu heilen und deren Verursacher zu beschwichtigen, gefährdete Seelen in die Oberwelt zu führen, sowie kinderlosen Frauen zur Seelenfindung ihres Embryos zu verhelfen. „Mit rituellen Opfergaben konnten wir Ren-, Elch- und andere Wildgeister milde stimmen oder ihnen helfen. Da wir einmal eins mit den Tierwesen waren, musste jeder Stamm das Verhältnis zu ihnen und deren Göttern bewahren. Ansonsten war der Stamm zum Hungern verurteilt. Soweit verstanden, Thomas?“

Er schreckte auf, nickte hastig und nahm einen Schluck Tee.

„All das wollen wir versuchen – soweit ich die Mittel aufbringe – in die Tat umzusetzen.“ Da hob er den Finger. „Um solche Aufgaben zu meistern, musst du aber Hilfsgeister im Jenseits aufspüren. Ohne sie nimmst du nie Kontakt zu den Oberweltmächten auf.“

Thomas versuchte ein Schielen zu unterdrücken. Seine Gedanken rasten. „Klingt ja interessant. Aber was hat das alles“, und zeigte auf das angelehnte Breitschwert, „mit Kämpfen zu tun. Ich begreife nicht mal, wozu ich mich ausbilden lasse. Zu welchen Zweck?! Verrate es mir, du Geheimniskrämer!“

Statt rot anzulaufen ließ Laudanius den Kopf fallen. „Na schön.“ Er musste die Hintergründe seiner Anwesenheit erfahren, bevor er sich weigern würde, das Schwert in die Hand zu nehmen.

„Soladum“, und breitete die Arme zu beiden Seiten aus, „ist gewaltiger als dieser Flecken zwischen Gebirge und Ozean.“ Rasch steckte er den Finger in den Sand und zog eine Elypsenlinie. „Es gibt etliche Welten, die durch Pforten verknüpft sind – nicht nur physisch. Soladum, deine Erde und weitere Welten synchronisieren miteinander. Geht es der einen schlecht, werden auch andere in Mitleidenschaft gezogen; ebenso wie wenn eine Welt aufblüht. ‚Uns’ geht es seit zwei Jahrhunderten ‚miserabel’.“

Thomas überlegte scharf. „Da begann bei uns die Industrialisierung ... und Umweltzerstörung.“

„Gut geschlussfolgert. Eure Welt platzt vor Kapitalausbeute – oder wie ihr das nennt – aus den Nähten. Bald sind alle Rohstoffe auf eurem Planeten ausgebeutet. Darum muss sich etwas verbessern: In meiner oder deiner Ebene.“

Thomas grinste bitter. „Daran glaube ich kaum.“

Laudanius tippte barsch auf den Kreis vor sich. „Bei euch vielleicht“, und zeichnete eine einnehmende Landmasse darin ein. In der rechten, unteren Kante zog er Gebirgsgrate, aber ließ die unterste Ecke frei. „Dieser winzige Fleck ist unser Lager, umschlossen vom Definio-Gebirge.“ Dann zog er eine Schlängellinie von der östlichen Küste ins Landesinnere. „Das ist der Salmus-Meeresarm. Darüber erstreckt sich ein mächtiges Kiefernwaldgebiet bis zur Nordküste.“ Diese Küste wirkte wie abgehackt – als fehle ein Stück Land. Laudanius kratzte ein weiteres, kleines Gebirge an der Nordküste ein. „Hier hinein fließt der sich teilende Fluss Galonges ins … Meer.“ Eine weitere Linie zweigte sich südlich des Gebirges zu zwei weiteren. „Bis zur oberen Hälfte Soladums ist alles Ödland. Nach Süden zu folgt vorwiegend Steppe und“, wobei er seine spröden Lippen befeuchtete, „Ödland.“ Plötzlich zeichnete er von der mittleren Westküste aus eine starke Linie nach Südsüdost, bis sie vor der Südküste zu einem gewaltigen Rund anschwoll. „Er hat beinahe die halbe Größe vom Definio-Gebirge: Der Crudus-See; ungenießbar. In ihn mündet das Salzwasser des Ozeans. Über dem See“, und drückte einen dicken Punkt in den Sand, „liegt die ehemalige Imperialstadt unseres Landes.“

„Warum ehemalig?“

„Erfährst du früh genug.“

Thomas beugte sich näher an die Skizze. „Was liegt westlich des Zuflusses?“

Plötzlich zerschnitt der Alte mit der Hand wirsch die Luft. „Lasse mich ausreden!“ Sein Blick legte sich träge auf die von Thomas betrachtete Fläche. „Dort liegt der Rombos-Vulkan, auf den nur Dämonen oder Lebensmüde einen Fuß setzen.“

„Wegen der Ausbrüche?“

Laudanius zögerte. „Wie du sagst.“

„Noch einige astrologische Feinheiten: Nach dem Ozean folgt ein Abgrund in die Unterwelt.“ Thomas zuckte auf. „Richtig gehört. Soladum ist eine ‚Scheibe’. Was glaubst du, woher eure Mittelalter-Theorie stammt.“

Thomas aber wölbte sich der Magen. Er wollte nichts mehr über diese Welt wissen.

„Wie du bestimmt bemerkt hast, umkreisen drei Monde unsere Scheibe.“ Ganz langsam wurde Laudanius’ Blick leer. „In Soladum gab es einst keine Schatten, da zwei Sonnen gegenständig zueinander schienen, und immer zeitgleich am Horizont verschwanden. Das Klima war mild, der Himmel klar und mit Feuchtigkeit spendenden Nebelbänken bedeckt.“

„Kann das Wetter sich derart ändern? Was ist … mit der einen Sonne passiert?“

„Das ist der Knackpunkt, Thomas.“ Der Alte hob ruckartig den Kopf. „Unsere Welt wurde bis vor zweihundert Jahren von einem gottgleichen Wesen regiert, das wir ‚Sonnenpatron' nannten. Es besaß die Gabe, die Ordnung zwischen den Menschen zu wahren – allein durch seine lebensfrohe Mentalität. Sein allabendlicher Singsang drang über den ganzen Kontinent. Er konnte alles, wozu wir Schamanen auch in der Lage waren; nur weiträumiger. Mit dem Sonnenpatron war unser Dasein gesegnet. Es gab kaum düstere Tage, bis …“

„Bis was?“ Thomas’ Interesse an Soladum flammte wieder auf. „Vor zweihundert Jahren ...?“

Laudanius’ Kopf fiel auf die Brust, wobei er laut schnaubte. Die Erinnerung nagte schmerzhaft. „Vor zweihundert Jahren tauchten Kreaturen in unserer Welt auf: Drei Flüchtlinge mit großer Macht. Sie wollten den Sonnenpatron stürzen und das Land ausbeuten. Sie lotsten hunderte Dämonen in unsere Welt und verdrängten unseren Bauern- und Nomadenstaat. Da sie die Hitze der zwei Sonnen nicht ertrugen – und um den Sonnenpatron zu schwächen –steuerten sie einen Mond aus unserem Sternsystem aus der Bahn und schoben ihn mit gleicher Ellipse vor die südliche Sonne. Seither spielt unser Wetter verrückt und es gibt abnormale Naturkatastrophen. Genauso trockneten die Böden aus. Dieses Ungleichgewicht opferte über die Hälfte unserer Bevölkerung! Unser Blut wird sich nie daran gewöhnen. Dafür blühte das Heer der drei Bestien auf.

Bald beherrschten Fehden das ganze Land, auch von Mensch zu Mensch. Der Sonnenpatron verzweifelte mit dem Chaos und wurde so schwach, dass er die Angriffe nicht mehr aufhalten konnte. Knapp zehn Jahre nach dem Erscheinen der Bestien stürzten sie den Sonnenpatron und ernannten sich zu den Dominantoren – den ‚Allmächtigen’ Soladums. Seitdem beherrscht Tyrannei unser Land. Alles wird überwacht, außer abgelegene Orte.“ Er hob die Hand. „Wie auch das Definio-Gebirge und die Wüste hier. Seit dem Schreckensbeginn ist dies meine Zuflucht.“

„Haben die Dominantoren den Sonnenpatron getötet?“

Der Alte zuckte mit den Schultern. „Einige meinen Ja. Andere, dass der Sonnenpatron ihnen entkommen sei und sich verbirgt. Auch ich vertrete diese Meinung. Denn wenn ein Sonnenpatron stirbt, legen sich seine Energien spürbar über unsere Scheibe. Das ist damals nicht eingetreten.“ Er hob den Finger. „Außerdem wollten sie seine Macht einsaugen, um alle zu erreichenden Dimensionen einzunehmen; auch eure Erde. Das ist bis heute nicht passiert.“

Thomas grübelte kurz nach und hob abrupt den Kopf: „Wieso hast du mich nun hierher gelotst? Soll ich die drei Irren mit ein paar Geistern und Heilmethoden aufhalten?!“

„Nein!“, rief der Alte barsch, um anschließend ein Grinsen aufzusetzen. „Natürlich muss jemand diese Tyrannen vertreiben. Dazu ist nur der Sonnenpatron fähig, wenn er sich wieder gestählt hat. Dir soll die Aufgabe zuteil werden, die ich die Hälfte meines Lebens zubrachte.“

Thomas fielen die Kiefer auf. „Was? Ich soll doch nicht diesen Sonnenpatron finden?!“

Laudanius schnippte die Finger. „Dafür will ich dich ausbilden. Die Schamanen und der Sonnenpatron entstammen der gleichen Ader. Wir sind miteinander verknüpft, durch Ober- und Unterwelt. Kein anderer als ein Schamane wäre dazu fähig.“

Thomas' Herz klopfte. Hastig sprangen seine Blicke über die Karte im Sand. „Wenn er stark genug ist, warum handelt er nicht selbst? Was würde es bringen, den Sonnenpatron zu finden?!“

Laudanius hasste solche Fragen und wurde lauter: „Er soll nur durch den Verlust seines Gedächtnisses entkommen sein. Jemand muss ihm seine alte Bestimmung vor Augen führen.“

„Und wo soll ich suchen?!“

Laudanius legte einen Finger quer über die Skizze. „Ich habe sämtliche Winkel unterhalb der Linie durchforstet, ohne fündig zu werden. Ich hoffe, du bestreitest die obere Hälfte – mit Erfolg.“

Entsetzen erhitzte sein Blut. „Soll ich dafür auch zweihundert Jahre brauchen?! Mein Leben vergeuden für eine minimale Hoffnung?!“

Der Alte ignorierte die Auflehnung. „Ein Leben, das es in deiner Welt nicht mehr gibt. Du hast es dir selbst verbaut.“

„‚Du’ hast mir diese Hexerei eingeflößt. Ich bin keiner von euch!“

„Das wird sich herausstellen.“ Laudanius verwischte die Karte. „Nenne mir die Aufgaben des Schamanentums. Danach ist Schluss für heute.“

Thomas fletschte die Zähne, doch versuchte er sich zu beruhigen. Leider war ihm alles wieder entfallen. Seine Stirn kräuselte sich vor Anstrengung.

„Man nennt unser Gruppe auch ‚Träumer’. Und du bist der Unfähigste! Merkst du dir überhaupt was?!“

„Jetzt reicht’s!“ Thomas sprang auf und stampfte davon. „Rette deine Welt allein! Ich lass' mich nicht beleidigen; nicht von dir … Alter!“

Verspannt sah er dem Flüchtenden nach, wie er die Plane zu seinem Zelt aufriss und verschwand. Als von Innen ein langer, tiefer Schrei das Fell wellte, schrak Laudanius zusammen.

„Zweiundfünfzig! … Dreiundfünfzig! … Vierundfünfzig!“, keuchte Thomas, bevor er von den Liegestützen zu Boden sank. Seine Schläfen pulsierten. Der Atem schlug ihm heiß ins Gesicht zurück.

Wütend sprang er auf, um am Boden einige Rumpfbeuge zu heben. Da trat behutsam Laudanius herein. Seine leichte Furcht verwandelte sich zu Staunen.

Während der Alte ein abfälliges Schnauben hörte, hob er die Hände. „Ich weiß, dass solche Bürden schwer zu tragen sind. Eins aber solltest du wissen, bevor du mich verabscheust.“

Thomas sprang wieder auf und hob die Arme, um die Finger stetig zu den Fußzehen zu strecken.

„Hör auf!“, rief Laudanius. Derartige Ignoranz war ihm sein ganzes Leben nicht untergekommen. „Höre mir zu.“

Endlich hielt Thomas inne und starrte ihn grimmig an.

„Sei gewarnt. Atme durch und verarbeite es …“

„Worauf willst du hinaus, Alter.“

Laudanius legte den Kopf auf die Brust. „Dann eben so“, und starrte ihn an. „Eigentlich hättest du bei deiner Geburt sterben müssen.“

„Was?!“, keuchte Thomas verwirrt.

„Deine Seele wäre nach dem Erdentod bei einer Tiermutter – hier – im Soladischen Jenseits aufgezogen und – in Soladum – als Schamanenkind wiedergeboren worden. Eure Ärzte haben zu gute Arbeit geleistet.“

Thomas schnaubte. „Bestimmt war es besser so, dass ich auf der Erde blieb!“

Laudanius schüttelte den Kopf. „Ach ja? Denke nach: Hättest du nach der Schule eine erstrebenswerte Bestimmung gehabt, Aussichten für das spätere Leben? Antworte mir ehrlich.“

Bevor sein Schüler innerlich zu kochen begann, schnaubte er durch zusammengebissene Zähne: „Eben nicht. Mir fehlte der Plan.“

„Warum denkst du, ist das so? Du bist bestimmt, Schamane zu sein, in dieser Welt. Auf Erden hättest du nie eine Zukunft aufbauen können, egal, wie stark du dich angestrengt hättest. Wie letzteres Geschehen beweißt.“

Thomas’ Züge erschlafften. ‚Auch ohne die Magie dieser Welt hätte ich Schulz umgebracht? Vielleicht hätte ich mich auch nie von den Schrammen erholt?!’ Sein drangsalierter Arm schmerzte heute noch, wenn er ihn hob.

Laudanius sorgte sich um etwas anderes. „Da du leider keine Tiermutter hattest, fehlt sie dir nun als erster Schutz- und Hilfsgeist. Dir würden die Jenseitsreisen besser von der Hand gehen. Du trägst eine schwere Bürde, Thomas. Aber sobald du den ersten auf deine Seite ziehst, gelingt dir jeder Schritt besser.“

„Dennoch ist diese Reise Selbstmord!“

Da begann der Alte aufzulachen. „Nicht unbedingt. Ein Vorteil birgt deine Mutterlosigkeit: Dir fehlt das Schamanen-Mal.“ Er krempelte den Ärmel hoch und zeigte ihm ein Zeichen am Ellbogen, dass einem Angelhaken ähnelte. „Auch verdeckt würden es die Dominantoren von weit her orten. Ohne das Mal öffnen sich dir Möglichkeiten, die anderen Magiekundigen verwehrt bleiben. Denke darüber nach, Thomas. Diese Reise ist kein Selbstmord, sondern machbar. Dein Temperament wird dich unterstützen – glaube mir.“

Bevor er alles verarbeiten konnte, wandte Laudanius ihm den Rücken zu. „Vergiss nicht: Du bist die einzige Hoffnung, dass Soladum wieder aufblüht“, und verschwand hinter der Plane. So ließ er Thomas allein mit seinen Gedanken.

Kapitel 4

Albträume

Neben ihm plätscherte der Fluss in geschwungenen Schleifen. Der Eichenwald, der sein Zelt seit dieser Nacht umgab, ließ Laudanius hoffen. Mittendrin atmete er die moosige Würze der Erde ein und lauschte dem Rascheln der Blätter. Selbst einige grün und goldbraun schimmernde Libellen surrten an ihm vorbei.

Plötzlich spürte er den kühlen Windhauch durch sein Haar streifen, gemischt mit der Wärme der Wüste. Trotz des Widerstrebens des Jungen und seines Egoismus’, entfachte sein Adept das Temperament dieses Landes von neuem. Laudanius öffnete die Augen und schritt an einen Eichenast und strich sanft über eine Knospe, um einen klaren Tautropfen aufzunehmen. Er schmeckte süß.

Da schlug der Geschmack plötzlich ins Bittere um. Das Baum-Geäst begann sich zu schütteln und bog sich unter nicht vorhandenem Wind. Bog sich und knarrte, bis die Krone mit einem Hieb den Boden berührte!

Laudanius sprang erschrocken zurück, als der Stamm über den Grund fegte und ihn beinahe traf. Dann bildeten sich ein Mund in der Rinde und aufbrechende Augen darüber, die ihn zornig anstarrten. Ein knackendes Gebrüll der Eiche stieß sich in Laudanius Ohren. Er krümmte sich, während er tief ein- und ausatmete. Was er da sah, war allein die Reflexion aus einer anderen Welt. In Soladum war es ein harmloses Trugbild.

„Wie hältst du das nur aus?!“, rief der heran kommende Thomas über das Brüllen und Knacken von Geäst hinweg.

„Weil es dir keinen Schaden zufügen kann“, antwortete Laudanius ruhig, ohne sich umzuwenden. „Nicht auf dieser Ebene.“ Dann tastete er am Gürtel herum, kramte in einem befestigten Säckchen und warf ein Pulver zur bebenden Eiche. Abrupt verwandelte sie sich zum stillen Baum zurück.

Als der Mentor sich aber zum Adept wandte, riss er die Augen auf, keuchte und lief rot an. „Was hast du getan?“

Thomas kratzte sich am morgens kahl geschnittenen Kopf. „Es hat gejuckt.“

„Du bist des Teufels, Junge!“ Laudanius fuhr sich angestrengt durchs Gesicht. „Das Haar ist für uns Schamanen heilig, da es die meisten Vitalkräfte besitzt. Es sollte nie geschnitten werden! Und du scherst es ab?!“

„Soll ich etwa herumrennen wie du?“, wobei er auf Laudanius’ lendenlangen, silbrigen Zopf deutete.

„Du begreifst den Schamanismus wohl nie?“, und strich seinen Arm durch die Luft. Rasch beruhigte er sich. ‚Aus jedem Fehler lernt er.’ „Egal nun, jetzt lässt du es eben wachsen. Bürste es jeden Tag durch, dann vergeht das Jucken. Wir haben uns vorzubereiten.“

„Auf was?“

„Du wirst dich wieder in die Oberwelt begeben. Ohne einen Hilfsgeist können wir mit der Ausbildung nicht fortfahren.“ Er hörte Thomas’ Grunzen. „Ich weiß … aber wenn du ihn gefunden hast, fällt dir alles leichter.“

„Das sagst du jedes Mal!“

Sein Mentor wandte sich zu dem Jurtenzelt inmitten der wehenden Eichen. „Lasse uns endlich beginnen.“

Thomas folgte ihm lahmen Schrittes. Als er das Zelt betrat, stach ihm beißender Weihrauchgeruch in die Nase.

In der Mitte ragte ein mächtiger, kahler, aber mit Rinde versehener Lärchenstamm bis zum Deckenabzug. Drum herum standen kleine Holzfiguren (Elche, Eulen, Otter, Fuchs und Rene), die Hilfsgeister darstellten. Etliche Decken waren ausgebreitet. Einiges an Schamanenwerkzeug lag darauf.

Der Alte setzte sich im Schneidersitz davor und nahm eine mit Dellen verzierte, vergilbte Handtrommel mit Stößel. „Setze dich“, und er begann rhythmisch im Dreiviertel-Takt auf die gespannte Wildtierhaut zu schlagen. „Höre genau hin und du findest die Wesen.“

Schnaubend gab Thomas nach und setzte sich dem Schamanen gegenüber. Verkrampft lauschte er den dumpfen Schlägen. Nebel umgab seinen sich wieder entspannenden Geist; seine Umgebung löste sich darin auf. Er vernahm nur seinen Atem und die Laudanius’ Schläge.

Dann riss er die Augen auf: Diesmal hat er mit beiden Füßen auf einem verwucherten Pfad. Ihm graute vor der Erkundung des Jenseits.

Behutsam setzte er einen Schritt nach dem anderen über verwucherte, steinige, aber auch schlammige Pfade. Bei jedem Geräusch lauschte er und betrachtete jede Ecke. Nach jedem Blick und Innehalten jedoch riss Thomas die Geduld. Seine Bewegungen wurden hektischer. Er stolperte ständig, fluchte und ballte die Fäuste. Die Sonne blähte seine pulsierenden Schläfen. Nicht einmal die Bäche, an denen er sich abkühlte, brachten Linderung. Zudem verlor er die Orientierung! Seine Augen zuckten hin und her. Nach tausenden Pulsschlägen eilte er durch raschelnde Buchenwälder. Das Spiel aus Schatten und Licht raubte ihm die Nerven.

Er wollte brüllen und auf einen Baum einschlagen … da hörte er plötzlich ein Zischen. Wirr sah er nach links. Eine Schlange lag smaragdgrün schimmernd im braunen Laubboden.

Vorsichtig näherte er sich ihr. Er wusste: Jede Tiergestalt im Jenseits war ein Hilfsgeist. Er musste ihn bloß auf seine Seite locken.

„Ich suche schon den ganzen Tag nach dir, edles Tier. Und suche deine Nähe hier.“

Die Schlange züngelte nur.

„Begehrest du etwas Vulgäres?“

„Wassserpelzz bei diessem dampfenndem Blätterrwerk“, zischte das Tier.

„Hä, Wasser?“ Neben ihm floss ein Rinnsal den Weg hinab. Verwirrt schöpfte er und hielt ihr die tropfende Hand hin.

Das Tier fauchte nur: „Niccht tröpflich. Pelzzig.“

„Was meinst du?“ Thomas platzte die Geduld. „Soll ich’s tagelang aufbewahren, bis es schimmelt und stinkt?!“

Die Schlange schrak auf und bleckte sichtbar vier spitze Zähne. „Dummess Hautgeschöpff. Erklimm die Nebelspitzzen auffwärtss dess Rasschelgeistss, und bring mir Wassserpelzz!“

Thomas schnaubte und warf die Blicke wild umher. Er sah neben Wald nur Flüsse, Heide und einen Berg, den Eis bedeckte. Nebel umsäumte den Gipfel. ‚Nebelspitze.’ „Was – ich soll da rauf? Und dann?!“

„Wassserpelzz!“, zischte der Geist verächtlich.

„Was meinst du damit, du … du Vieh?!“ Kochend warf er ihr das Wasser zu.

Die Schlange fauchte kurz, schnellte vor und biss ihm in die Hand.

Bevor der Schmerz ihn ereilte, schoss der Geist ins Gestrüpp. Schockiert betrachtete er die Bisse. Er begann zu hecheln. Sein Herz flatterte vor Furcht. Er wollte rennen – nur wohin?!

Rasch sprenkelten bunte Punkte seine Netzhaut. Er übergab sich und fiel.

„Ich habe nicht daran gedacht“, drang Laudanius’ Stimme dumpf in seinen Geist. Thomas wollte antworten, doch fehlte ihm die Kraft. Allein etwas Weiches unter sich wahrnehmend, fielen seine verschwommenen Blicke auf den Alten. Er saß entspannt neben ihm.

Die fragenden Augen reichten ihm zur Antwort. „Jeder Geist spricht auf seine eigene Weise. Ich habe es vergessen, da ich mit ‚meinen’ Hilfsgeistern gewohnt bin, so zu sprechen.“

Thomas wollte zornig auffahren, doch lag er starr am Boden.

„Ich habe versucht, das Gift aus dir zu räuchern. Es gelang mir nicht ganz.“

Trotz der hörbaren Reue in Laudanius’ Stimme, öffnete Thomas die klebrigen Lippen auf. „Wie lang war ich weg? ... Wie lang bleibe ich so?“

Der Kopf des Alten fiel hinab. „Zwei Tage musste ich dich heilen. Dass du nicht gestorben bist, verdanke ich meiner Renmutter.“

„Wie lang … noch?“, presste Thomas.

„Vielleicht einen Tag, eine Woche oder …“

Das ‚oder’ ließ ihn resigniert entspannen. Nichts war ihm jetzt interessanter als der Tod.

„Selbst erkrankte Schamane heilen sich normalerweise selbst“, begann Laudanius zu seufzen. „Aber nur mit Geistmächten. Umso mehr, umso besser.“

Wollte er Thomas etwa ermutigen, weiterzusuchen – mit Fehlinformationen und Verwirrung?

„Sterben die Hilfsgeister, ziehen sie auch den Schamanen mit sich. Du musst lernen, besser mit ihnen umzugehen, auch wenn sie noch nicht an deiner Seite stehen. Du musst ein Verhältnis zu ihnen entwickeln. Deine Ungeduld ist falsch.“

Wann hörte er endlich auf, ihn zu bevormunden. „Lass mich einfach in Ruhe.“ Mit letzter Kraft drehte er sich zur Seite und schloss die Augen. „Ich kann nicht mehr.“ Er vernahm Laudanius Seufzen. Um ihn wurde es wieder dunkel und still – himmlisch still.

Knurrend versuchte er sich aufzustemmen. ‚Hoch mit mir!’ Er war des Liegens, des Grübelns und Nichtstuns müde.

Mit ächzenden Knochen drückte er sich hockend auf. Jeder Muskel schmerzte. Umso länger er dalag, desto schlechter würde es ihm fallen, aufzustehen.

Endlich schwankte er zum Zeltausgang. Er fühlte sich weder auf dem Boden stehend, noch in der Luft schwebend. Zitternd hob er die Plane … und wurde durch das Zucken eines gleißendes Blitzes zurück gestoßen.

Keuchend lugte er erneut nach draußen: Eine sich auf- und abschwellende Wolkenfront fauchte finster über die Ebene. Innerhalb weniger Herzschläge war sie zur Ostküste abgezogen und hinterließ stechende Helligkeit, blauen Himmel und die aufdunstende Wüste. ‚Bald wird es wieder heiß’, seufzte Thomas.

Behutsam stampfte er durch den feuchten Sand, bedacht, nicht zu rutschen. Ihn zog es zum Eichenwald, dessen Blätter sich von grün zu rötlich-gelb verfärbten. Hoffentlich war das kein Omen, dachte er im Stillen.

Auf dem Weg zur Jurte blendete ihn plötzlich ein gleißend-braunes Licht. Rasch sprang er zurück.

Da blendete es ihn wieder. Er erkannte einen Gegenstand aus dem Sand ragend: Spitz, alt und leicht verrostet. Neugierig beugte er sich nieder.

Ein Schrei riss Laudanius aus dem Schlaf. Erleichtert seufzte er. ‚Die Schlacht ist vorbei.’ Kalter Schweiß rann seiner Stirn hinab. Noch immer sah er die Frau im prächtig wehenden Schamanengewand, die sich durch eine Menge kreischender Dämonen kämpfte. Wie wunderschön sie doch war.

Beinahe lächelnd hörte er ein neues Brüllen! Er riss sich hoch und blickte durch einen Spalt der Zeltöffnung.

Stirnrunzelnd schritt er auf seinen scheinbar gesunden Adept zu. Dieser versuchte krampfhaft etwas aus dem Boden zu heben. Starr blieb er stehen.

Was Thomas vergeblich versuchte, aus den Sand zu ziehen, war eine Klinge. Laudanius’ Blick verschwamm. In seinen Ohren hörte er wieder das Kampfgebrüll:

„Schickt sie in den Abgrund!“, ruft ihr Anführer zum tobenden Heer. Diese Menschen hatten ihr Land verwelken sehen, Angehörige und Familie verloren und schienen ausgelaugt zu sein. Bis sich ein Mutiger an ihre Spitze gewagt hat.

„Lasse uns das gemeinsam überstehen“, flüstert Laudanius beunruhigt zu der Frau im Schamanengewand.

Diese haucht ihm ein Lächeln ins Ohr. „Und zum Guten wenden.“

Neben dem plötzlichen Aufbrüllen der Krieger, spürt der Schamane einen sanften Kuss auf der Wange.

Dann stürmen die Krieger los, hinaus in das Ödland und dem aneinander gereihten Dämonenheer.

„Was ist das für Schrott?!“, stöhnte Thomas verkrampft auf. Während er kräftiger am Schwert zog, spürte er plötzlich eine Hand auf der Schulter.

„Hör’ auf. Du bekommst das Schwert nicht hoch“, sagte sein Mentor.

Erschrocken fuhr er auf. Dabei klirrte etwas, und starrte auf den Breitschwertknauf in seiner Hand. Daran stak nur die Hälfte der Bronzeklinge. Verblüfft betrachtete er die andere Hälfte, die unberührt im Boden stak. Sein Blick wandte sich zu Laudanius, der ebenfalls auf die Klingenspitze starrte, und geistig weggetreten war.

Die menschlichen Krieger reduzieren sich immer drastischer – trotz der geistigen Stütze der Schamanen. Laudanius’ zerstochene Schulter trieft vor heißem Blut. Er verzweifelt mit jedem Schlag. Seine Gefährtin springt dafür wie ein Reh von einer Bestie zur nächsten, um zu ihm zu gelangen.

Als sie ihn erreicht und seine Wundheilung unterstützen will, hebt Laudanius verneinend die Hand. „Spare deine Geistmächte für Wichtigeres“, und deutet auf das tobende Schlachtfeld, worüber ein riesiger Rabe kreist. „Macha dreht bereits die Runde. Wir müssen den Fluch aussprechen, bevor ihre Vision wahr wird.“

„Ein Fluch“, flüsterte Laudanius vor sich hin.

Thomas hob die Braue. „Wozu ein Fluch?“

Kurz aufgezuckt, blinzelte der Alte ihn an. „Um die Waffen der Tyrannen nicht mehr anzuheben, ohne dass sie zerbersten.“

„Wow“, pfiff Thomas. „Wieso habt ihr sie dann nicht vertreiben können?“

„Sie sind zu stark – auch ohne Schild und Schwert!“, schreit Laudanius die Klippe hinab, wo die Dämonen mit bloßen Fäusten auf die Menschen einschlagen.

Ihn lässt ein schriller Schrei herumwirbeln: Eine vierbeinige Bestie mit Löwenkopf und Skorpionschwanz liegt sabbernd auf seiner Gefährtin. Kaum hat sie die Tatze zum Hieb ausgeholt, brüllt sie die Frau an.

Bevor Laudanius sie erreicht, schlägt der Dämon zu. Er stößt ihn wuchtig weg und tötet ihn mit dem Schwert. Als er aber hinab blickt, sieht er in die matter werdenden Augen der Frau, deren Bauch aufgeschlitzt ist.

Hastig kniet er sich zu ihr und versucht sie mit seinen Hilfsgeistern zu retten. Diese aber meinen: ‚Es ist zu spät.’

Sich der Tatsache bewusst werdend, haucht die Schamanin Laudanius ein letztes Mal an: „Verbanne die Dominantoren in die … Unterwelt – mit allen Mitteln. Versprich es mir.“

Laudanius’ Blicke werden starr. „Ich schwöre es, auf alles, wofür wir gelitten haben. Sie sollen deinen Bruder und dich nicht umsonst bezwungen haben.“

„Diese verfluchte Schlacht“, raunte der Alte plötzlich.

„Welche Schlacht?“, fragte sein Adept.

Laudanius fuhr verwirrt auf, schüttelte den Kopf. „Wie geht es dir?“, und blickte lächelnd auf das Dämonenschwert in Thomas’ Hand. „Na, Kraft hast du ja wieder.“

„Was für eine Schlacht?“, drängte er.

„Hast du schon etwas gegessen?“

Thomas schüttelte den Kopf. „Von welcher Schlacht redest du?“

„Unglaublich. Die Eichenwurzeln müssen das Schwert wieder zutage gefördert haben.“

„Wer hat es denn vergraben? Liegt unter der Wüste ein Schlachtfeld?“ Thomas wurde mulmig bei dem Gedanken, jede Nacht über hunderten Gerippen zu schlafen.

Sein Mentor zerschnitt mit der Hand wild die Luft. „Schluss mit den Fragen! Das ist uninteressant. Du musst dich auf deine Ausbildung konzentrieren. Erhole dich, dann sehen wir weiter.“ Plötzlich stieß er die Klinge aus Thomas’ Hand. „Rühre das Ding nie wieder an!“

Bevor Thomas knurrte, drehte sich der Alte um und trat zurück in sein Zelt. Thomas tat es ihm gleich. ‚Warum verschweigt er soviel?’

Laudanius ließ sich erschöpft an seinem Mittelbaum sinken. Der Schweiß drang ihm heiß aus jeder Pore. „Wie soll ich diesen Schwur erfüllen?“ Er erhob sich und ging auf und ab. „Ich habe den Sonnenpatron nicht gefunden. Und Thomas bringt mich zur Weißglut!“ Wie gehetzt schritt er um den Pfahl und torkelte. Dann stürzte er bäuchlings auf die Decken.

Sehnsüchtig betrachtete er die Holzfiguren neben sich. Sein Blick brannte sich auf eine kleine Wildkatze fest, die in einem anderen, rötlichen Holz schimmerte. „Wie bringe ich dich zurück an meine Seite. Hilf mir, Schamanin meines Lebens. Hilf mir, Alena – meine Frau!“, und fiel zurück in tiefen Schlummer.

„Was willst du?“, fragte Laudanius. Er wollte Thomas mit einer Handbewegung aus seinem Blickfeld scheuchen und im Schneidersitz in Meditation versinken. „Es gibt Augenblicke, wo auch ich meine Ruhe haben will!“

Doch Thomas grinste ihn argwöhnisch an. „Ich muss dir etwas zeigen. Komme mit mir.“

Stöhnend erhob er sich. Sein Adept nahm ihn an die Hand. Laudanius wollte sich losreißen. Ihm fehlte dazu jedoch die Kraft. Auch sein Inneres war zermürbt: Von den Herausforderungen und offenen Aufgaben in seinem langen Leben. Er ertappte sich bei dem Gedanken, mit Thomas zu tauschen und von vorn zu beginnen.

Wie von einer Mutter geführt, traten sie vorsichtig aus dem Zelt. Der Eichenwald war verschwunden! Neben der Traurigkeit irritierte Laudanius, dass nicht einmal die Wüste existierte: Um sie erstreckte sich wehendes Grasland. Wind pfiff ihm in die Ohren. Fast verlor er den Halt. Thomas zog ihn weiter. „Komm. Es bleibt nicht ewig hell.“

Sie marschierten los. Manchmal stolperte er über Grasbüschel. Dennoch war das Gelände flach und windig.

Auch die monotone Idylle nahm kein Ende.

Da zeigte Thomas plötzlich in die Ferne. „Er steht da hinten.“

Laudanius erschrak: Vielleicht hundert Meter vor ihnen ragte urplötzlich ein mächtiger Nadelbaum auf, als stünde er dort seit Jahrhunderten. „Wo kommt der her?“

„Weiter“, drängte sein Adept.

Als sie an den stacheligen, im Wind wankenden Monolith der Einsamkeit traten, runzelte Laudanius die Stirn. An den Ästen der Lärche hingen all seine Schamanenrequisiten, die er in seinem Leben angefertigt und über die Zeiten gerettet hatte: Seine Kostüme – von prächtig bis plump –, seine Trommel mit Schlegel, Kräutersack-Gürtel, Zeremonialstab, Brustspiegel, Tiermasken, die ihn bedrohlich anfunkelten, Ketten und Rasseln, Messer und Schwerter, sowie Kleinigkeiten, wie die Tierfigürchen, die eigentlich in seiner Jurte verweilten.

Ein weiteres Requisit war die kunstvoll bestrebte Leiter, die am Stamm der Lärche hinaufführte. Neben ihm hob Thomas seine Hand zum Ende. Statt Finger sah Laudanius jedoch zwei spitze Hufe!

Er drehte den Kopf zu Thomas’ Gesicht und schrak auf. Neben ihn hielt nicht sein Adept, sondern ein aufrecht stehendes, zottig behaartes Ren seine Hand. Sie blickten sich gegenseitig an, bis Laudanius begriff: Vor ihm stand seine Tiermutter, die gleichzeitig sein Schutzgeist war. Nur selten war er ihr auf zwei Beinen begegnet.

Laudanius amüsierte der Anblick beinahe, deutete die Renmutter nicht erneut zur Lärche. „Sieh und begreife.“

Der alte Schamane blickte zum Ende der Leiter. Auf drei mächtigen, abzweigenden Lärchensträngen wuchs knirschend ein plumpes Gebilde heraus. Es ähnelte einem Kasten, der seine Körperlänge maß. „Ein Sarg?!“, rief Laudanius.

„Und begreife“, wiederholte seine Renmutter.

Laudanius fuhr auf. Das Tageslicht drang nur noch rötlich gedämpft durch den Zeltabzug und beruhigte ihn. Er blickte sich ängstlich um. Erleichtert darüber, dass weder seine Tiermutter, noch jemand anderes im Zelt stand, ließ ihn zurücklehnen. Trotzdem flatterte sein Herz.

Kapitel 5

Überfall

„Bereit?“, rief Thomas Laudanius zu.

Als dieser nickte, schnellte der Junge vor und traf den Alten sanft an der Schulter.

Dieser drehte erst nach langen Herzschlägen seinen Kopf zur Spitze. „Oh“, meinte er. „Ich war kurz woanders.“

Thomas hob amüsiert die Brauen. „Wer ist wohl jetzt der Träumer?“

Der Alte wehrte barsch die Klinge ab. Wieso dachte er immer an diesen Traum? „Hör her“, lenkte er sich ab. „Ich erwarte morgen Abend zwei Schamanen. Der eine kommt durch die Felsspalten des Definio-Gebirges, der andere von der Ozeanküste den Fluss hinauf.“

„Herauf?“, hakte Thomas verwirrt nach. „Er widersetzt sich der Fließkraft?“

Laudanius zerschnitt die Luft quer mit dem Schwert. „Sie bringen mir Material für deine Ausbildung und wollen uns eine Zeit lang unterstützen. Zusammen werden wir ein Ritual praktizieren, das ich lange Zeit vernachlässigt habe …“

„Weiter geht’s“, unterbrach Thomas ihn. Ihm waren die theoretischen Lehrstunden zuwider geworden. Außerdem gefiel ihm, dass er im Kampf besser wurde.

Über den ganzen Tag blieb Laudanius halbherzig bei der Sache. Thomas’ Übermut stieg, und als er den Alten unverhofft zu Boden schlug, wurde dieser fahrig. „Übereifriger Rabauk!“, und eilte fluchend in seine Jurte.

Trotz des Hochgefühls reichte es dem ‚Rabauken’: Die ständige Strenge des Alten, die Vorurteile und Beleidigungen, die gesamte Schamanenausbildung! Sollte bei Thomas’ Geburt sonst etwas schief gelaufen sein.

Mit seiner beinahe täglichen Meditation beruhigte Thomas sich meist. Doch heute wallten die Gedanken rasch wieder auf.

Er sprang auf, nahm das Schwert und wirbelte kräftig mit der Klinge umher. Entkräftet, aber noch zu aufgeregt, knurrte er die geschlossene Truhe mit den Schamanenbüchern neben sich an: „Was will ich hier?!“, und schlug mehrfach gegen das Holz. Der Schmerz in seiner Faust ließ ihn niedersinken. Seine Schläfen pochten.

Als würde ihn ein Kinnhaken treffen, fiel er plötzlich längs zu Boden – und erwachte neben dem Teich, wie er zur Ankunft in Soladum aussah: Mit drei wankenden Palmen darum, und den zwei Kröten! Sie sprangen auf dem Wasser umher, als wäre es fest wie Eis. Statt zu quaken, flüsterten sie düster und fahrig zugleich: „Du hast uns versprochen, Schamane zu werden.“ „Halte es.“ „Oder du wirst unsere Rache spüren.“ „Hältst du es nun?“

Thomas’ Stimmbänder begannen zu vibrieren, als würden sie platzen. „Niemals! Ihr habt mein Leben zerstört. Verschwindet!“, und wollte die Kröten in den Teich treten. Diese sprangen dafür in sein Gesicht und an den Bauch. „Du bist ein Schamane, ob du willst oder nicht!“ Seine Atemwege schnürten sich zu, er schmeckte Galle und Schleim. „Wir werden es dich lehren!“ Zudem verkrampfte sich sein Magen. Alle Eingeweide prickelten und stachen plötzlich … bis die Schmerzen ihn hochfahren ließen.

Zurück im Zelt presste Thomas die Hände auf den Bauch. Der Schmerz malträtierte ihn noch immer, ebenso real und intensiv wie im Traum. Er wollte schreien, aber sein Hals drückte. Die Luft wich kaum heraus, noch hinein.

So schnell wie er schnauben konnte, rannte er hektisch zur Wasserschüssel neben dem Teppich. Als er auf die spiegelnde Oberfläche sah, erschrak er: Sein Hals war um das Doppelte angeschwollen. Träumte er noch, oder reichte das Martyrium in die Realität?!

Bevor er hechelnd in Panik verfallen konnte, trank er einen Schluck. Das Wasser glitt drückend seine Kehle hinab und löste die Verschnürung etwas. Rann es jedoch in den Magen, begann es zu stechen.

Mit vorgehaltenen Händen sprang er zur Zeltöffnung. Er hielt inne, bevor er hinaus stürmte. Denn der Alte würde nur seine Geister auf ihn hetzen.

Tief durchatmend setzte er sich verschränkt hin, ignorierte den Schmerz und zählte von Hundert rückwärts. Bei der Hälfte zerdrückte die Spannung seine Bronchien, dass er zusammenbrach.

„Du wirst uns erliegen“, quakte eine Kröte. Die andere fügte bedächtig hinzu: „Früher, oder später.“

Mit einem Schal um den Hals, beging Thomas den neuen Tag. „Ich glaube, dass ich was ausbrüte“, gab er den Blicken Laudanius’ zu verstehen.

So gut es der zuschnürende Druck in Hals und Magen zuließ, versuchte er der Theorie des Alten zu folgen und zu begreifen. Es schien ihm Ablenkung genug zu sein, um bis zur Abenddämmerung wieder frei atmen zu können. Sein Bauch drückte weiter.

Am frühen Abend saßen die beiden nebeneinander und warteten. So vergingen viele Stunden. Die Sterne blinkten bereits in der anziehenden Kälte. Auch die drei Monde verstärkten den Frost des Wüstenabends. Ungeduld breitete sich auf den beiden Männergesichtern aus. Sie saßen da wie Götzen, die darauf warteten, zu versteinern.

Plötzlich blinkte etwas neben der untergehenden Sonne auf.

„Das Signal“, rief Laudanius. Es kam aus den unteren Graten der Berge. „Cheviots Spiegel“, und sagte Thomas, bevor er sich erhob und in die Wüste eilte. „Warte hier. Achte auf den Fluss.“

Stöhnend drehte Thomas sich in Richtung des Ozeans. ‚Du willst bloß nicht, dass ich den Ausgang der Wüste entdecke.’ Trotz des Grams war er auch froh. Was wollte er in einer unbekannten Welt, die von drei Wahnsinnigen regiert wird? Er war noch nicht bereit für diese Reise – oder?

Der Warterei müde praktizierte er seine Gymnastik. Mitten in den Übungen jedoch wurde das Rauschen des Flusses verstärkt. Kaum sah er auf, erspähte er keine hundert Fuß stromabwärts ein Floß, das ‚gegen’ die Strömung steuerte!

Auflachend stürmte er darauf zu. Er erreichte das Ufer und staunte erneut. Die Gestalt darauf – von Kopf bis Fuß in schwarze Leinen gehüllt – saß wie auf einem fliegenden Teppich, ohne zu paddeln. Neben und hinter ihm stapelten sich angetaute Kisten, mit einer gespannten Lederplane darüber, die sich im Wind wellte.

Die schwarze Gestalt sprang vom Floß, pflockte einen Stab in den Sand und taute das Floß fest. Nach einigen Knoten wandte sich die Gestalt zu Thomas und rief mit rauer, aber schneller Stimme: „Hilf mir, das Floß an Land zu ziehen.“

Nach einigen knirschenden Zügen ruhte das Gefährt durchnässt im Sand. Endlich enthüllte der Fremdling seinen Kopf, um sich den Schweiß von der schwarz-braunen Stirn zu wischen.

Thomas glaubte zu träumen: Genauso hatte er sich als Kind die Szenen zu ‚Tausend und Einer Nacht’ herbeigewünscht. Heute stand solch eine Gestalt vor ihm: Ein muskulös wirkender Afrikaner mit stählernem Gesicht, einer breiten Nase und etliche goldene Ohrringe, sowie einen schwarz geflochtenen Zopf. Zugleich strahlten seine braunen Augen etwas Offenes aus. Vor allem, als er Thomas anlächelte und die Hand aufs Herz legte. „Sei mir gegrüßt, Adept von Laudanius. Ich hoffe, du bist frohen Mutes“, und reichte ihm die Hand. „Ich bin Achim, Schamane eines Nomadenvolkes, das zurzeit am Fjord Salmus verweilt.“

„Thomas Ortwig“, entgegnete dieser und reichte ebenfalls die Hand. Kaum berührten Sie einander, durchdrang eine fremde Wärme Thomas’ Herz. „War die Reise zu uns angenehm?“ Was interessierte ihn das plötzlich?

Aufatmend blickte Achim zum Ozean. „Zurzeit ist stürmische See da draußen. Aber meine Geister beschützen mich sehr gut.“ Bevor Thomas bei dem Geist-Wort fröstelte, fragte Achim. „Ist Laudanius nicht da?“ Plötzlich klarte sein Blick auf, als er zum Gebirge sah. „Ah, da kommt der große Meister – zusammen mit Cheviot. Komm’, lasse uns zu ihnen gehen.“

Gesagt, getan, wurde Cheviot – ein ebenso alter Greis wie Laudanius – vorgestellt; mit einem zerrissenen Ohr, einem halb vernarbten, kahlen Scheitel und stark verbrannter Gesichtshaut. Er war das Gegenstück zum strahlenden Achim. Cheviot wirkte auf Thomas noch unsympathischer, als er grimmig murrte: „Der Kleine soll Soladum retten? Viel Spaß, Meister.“ Insgeheim gab ihm Thomas Recht. Der Kerl schien hellzusehen.

Nachdem die Neuankömmlinge ihre Zelte neben das von Laudanius errichteten, sammelten sich die Schamanen um ein knisterndes, Funken wehendes Feuer.

Als Thomas zu ihnen stieß, schrak er zusammen: Drei knorpelige Holzstäbe staken – rot beleuchtet – neben den Schamanen. Darauf kauerten daumengroße, unmaterielle Schemen – mit Gesichtern von Eulen, Hirschen, Ziegen, Wildschweinen und anderer Geister. Sie starrten ihn an, und er fühlte sich von den Blicken der Lichtgestalten erstochen. ‚Hilfsgeister!’ Als dass sie ihm nicht bereits im Traum auflauerten, sah er sie direkt vor sich.

„Komm’, setze dich zu mir“, empfahl Achim ihm. Seine Stimme verjagte Thomas’ Unbehagen.

Kaum hat er sich zu ihnen gesellt, reichte Cheviot eine qualmende Pfeife herum, von der jeder einen Zug nahm. Nach dem bitteren Geschmack meinte Achim: „Jetzt kommt erstmal mein Präsent“, und hob eine verkorkte Holzflasche mit vier Bechern. „Wir wollen doch ins Gespräch kommen und nicht vor uns hin gucken.“

Rasch war der Wein verteilt und schimmerte durchsichtig in jedem Becher. Kaum hat er genippt, begann Thomas’ Magenschmerz zu schwinden. Vom feurigen Geschmack verblüfft, interessierten ihn nicht einmal mehr die flackernden Geister neben ihn.

„Also gut“, unterbrach Laudanius den Genuss. „Danke, dass ihr gekommen seid. Ohne eure mitgebrachten Mittel, stünden Thomas und ich jetzt planlos da.“

Cheviot zog ein Lid hoch. „Vergeudet nicht alles für heiße Luft. Ich habe lang gesucht, bis ich alles zusammen hatte.“

„Dafür zolle ich euch auch meinen Respekt.“

„Ist doch selbstverständlich“, meinte Achim.

„Ach ja?“, erwiderte Cheviot. „Die Ausbildung des Bengels soll die Zukunft unseres geschundenen Volkes bestimmen. Da darf nichts vergeudet werden oder schief laufen. Die Tyrannei muss ein Ende nehmen!“

„Bräuchte mein Stamm mich nicht ständig“, seufzte Achim, „würde ich Thomas auf seiner Suche begleiten.“

Cheviot lachte auf und schielte zu Thomas’ Mentor. „Wie ich Laudanius kenne, schaffen die das schon. Wir beide kennen uns lang genug, um zu wissen, wer der Stärkere ist.“

„Übertreibe nicht.“

Auch Achim stimmte ein: „Doch, doch. Zu Soladums Blütezeit nannte man dich nicht umsonst ‚Begehrtester Schamane, neben dem Sonnenpatron’. Weißt du noch, wie dich manche mit ihm gleichgesetzt und verwechselt hatten?“

Thomas wurde stutzig. „Darf ich fragen, wie alt ihr seid?“

„Zweihundertdreißig“, sagte Achim.

Cheviot: „Etwas über Dreihundert.“ Bevor Thomas keuchen konnte, drehte Cheviot sich Laudanius zu: „Allein dein Ehrgeiz hat mich und andere zum Schamanismus bekannt: Vom armen Bauernsohn, der nach Höherem gestrebt hat, als sich auf dem ertraglosen Feld abzumühen. Damals gab es wenigstens noch in jedem Dorf einen Stammes-Schamanen, bei dem du lerntest.“

„Was heute kaum mehr möglich ist“, seufzte Achim.

„Ja, ja“, schnaubte Laudanius gereizt. „Gelernt, zu oft gebraucht, zu viel umhergezogen.“

„Und allerhand erlebt“, hob Cheviot mit dem Finger hervor. „Die Strapazen haben sich gelohnt – nicht? Erst Sonnenpatrons-Vasall, dann sogar Schwager ...“

„Schluss!“, schnitt Laudanius mit einem Handwisch das Wort ab. „Wir sind nicht zum Schwärmen hier, sondern einer Aufgabe Willen“, und sah zu Thomas. „Seiner Aufgabe. Morgen will ich eine ‚Voraussicht’ praktizieren, da ihr hier seid. Ich muss wissen, was die drei Dominantoren zukünftig vorhaben. Das wird Thomas von Nutzen sein. Material haben wir ja nun.“

„Morgen ist morgen“, meinte der gähnende Achim, verschränkte die Arme hinterm Kopf und streckte die Beine. „Hier stört uns keiner. Ich habe die Anspannung der letzten Jahre satt. Lasst uns musizieren … tanzen … singen!“

„Oder etwas spielen“, stimmte Thomas mitgerissen ein.

„Was hast du anzubieten, als Kinderkram?“, fragte Cheviot bissig.

„Kennt ihr Pasch?“

Die beiden Ältesten blickten sich verdutzt an. Dafür rief Achim: „Die Wette gilt“, kramte drei Würfel aus einem Gürtelsäckchen und warf sie in den leeren Weinbecher. „Gut, dass ich gern im Traum durch eure Welt schleiche. Da entdeckt man einiges“, und schüttelte.

Nachdem sie den Älteren nebenbei das Spiel und die Einsätze erklärten, wurde der Abend recht lustig; schon da Laudanius – nach Achims Aufforderung – einen wackeligen Handstand auf dessen Zeremonialstab hinlegte. Selbst die verdrängten Schutzgeister schienen zu lächeln.

Thomas spürte, wie sich die alte Sehnsucht stillte. Doch er wusste: Der Abend währte. Der kommende Tag würde ernst genug beginnen.

„Stehe auf, Junge.“

Thomas erschrak beim Anblick von Cheviots Narbengesicht. Prompt war er wach. „Was ist los?“

„Langschläfer sind keine gewissenhaften Schamanen. Merke dir das.“ Er wandte sich wieder zum Zeltausgang. „Wir erwarten dich zum Zenit vor Laudanius Jurte. Sei pünktlich. Es gibt allerhand vorzubereiten.“

Cheviot trat bereits hinaus. Thomas war die Lust am Aufstehen vergangen. Er wälzte sich noch dutzende Male hin und her. Einschlafen konnte er nicht mehr. Seine innere Unruhe zwang ihn auf.

Etwas verspätet erschien er vor der Jurte. Zu seiner Verblüffung saßen die Schamanen noch im Kreis und aßen Suppe, die über dem Feuer köchelte. Cheviot schüttelte schlürfend den Kopf.

Zwischen Achim und dem grimmigen Laudanius (der eine Bemerkung unterdrückte) setzte er sich und schöpfte einen Becher voll. Kaum hat er gekostet, hüpften seine Geschmacksnerven. „Hühnerbrühe?“ Er hatte die Deftigkeit des Fleisches bereits vergessen. Welch Genuss.

„Etwas ähnliches“, antwortete Achim. „Ein Präsent von den ‚Vado-Seen’. Eher etwas Fischiges.“

„Sage doch gleich“, paukte Cheviot heraus, „ein Wasserdämon.“

Kurz verging Thomas der Appetit. Dafür nahm er sich danach sogar eine zweite Schale. Wie lang hat er das wenige Brot und Grün gegessen, was hier wuchs?

Vom Mahl gestärkt, begannen die Vier Laudanius’ Zelt auszuräuchern. Jeder Winkel roch schließlich leicht bitter nach Margarite. Die kamillenähnlichen, großen Blüten wurden auf dem ganzen Boden verteilt. Einige Kerzen flackerten am Weltenbaum. Vier volle Wasserschalen standen darum.

„Vor der Voraussicht“, sagte Laudanius, „muss ich Thomas einiges erläutern. Wartet bitte draußen auf uns.“ Er zog seinen Schützling beiseite, während die beiden das Zelt verließen.

Bevor Thomas schnauben konnte, hob er eine Braue. Laudanius’ Gesichtszüge wurden schlaff. Er fuhr sich zitternd über das Gesicht, schloss kurz die Augen und öffnete sie nur halb. „So stark ich es versuche, zu verdrängen, fällt mir jeder Tag schwerer.“

Das wunderte Thomas nicht. Der Mann wird auch einmal alt.

„Meine Zeit kommt. Ein Traum hat es mir prophezeit. Darum habe ich Achim aufgetragen, dass er deine Ausbildung bei seinem Stamm weiterführt.“

Das Herz des Adepten klopfte stärker denn je! Mit Achim kam er besser zurecht. „Wie lang wollen die beiden bleiben?“ Er brannte darauf, von diesem hoffnungslosen Ort zu fliehen.

„Drei, vier Tage wohl. Sonst hätten sie alles umsonst mitgebracht. Vorher“, Laudanius drehte sich zum Lärchenstamm, betastete ihn … und nahm ein Stück Rinde ab, „muss ich dir etwas geben – so schwer es mir auch fällt.“ An der Stelle, die zuvor verdeckt wurde, klaffte nun ein Loch. Heraus zog Laudanius etwas goldig Schimmerndes. Kaum drehte er sich um, musterte Thomas einen Armreif mit verschiebbarer Lasche an der Seite.

„Es ist nicht das Gold, was daran wertvoll ist, Thomas. Dies ist der Armreif des Sonnenpatrones. In ihm schlummert ein Großteil seiner Macht, sein Wissen – ja, sein ganzes Lebens.“ Er legte Thomas die Hand auf die Schulter. „Du bist der Richtige, es ihm zu überreichen. Allein mit dem Reif gewinnt der Sonnenpatron seine verbannte Erinnerung und Stärke zurück.“ Warnend hob er den Finger. „Führe ihn versteckt und immer mit einem Auge darauf mit dir. Wenn er dir gestohlen wird, stehle ihn dir zurück. Beschütze ihn mit deinem Leben. Zeige ihn niemandem! Und das wichtigste: Lege ihn selbst nie an!“

„Wenn doch?“, schnaubte Thomas grimmig.

„Ansonsten wirst du zerfetzt und sämtliche Dimensionstore in Soladum brechen zusammen. Nur der Sonnenpatron und andere Weiße wissen, wo sie sich befinden. Aber stirbt das Wissen mit jeder Generation aus.“ Er betrachtete den Armreif ein letztes Mal und wog ihn leicht in seiner Hand. Wie lang hat er ihn mit sich geführt, gehütet und versteckt? „Nimm ihn. Erzähle nicht einmal Achim davon.“ Rasch streckte er Thomas den Reif zu.

Der Adept nahm ihn ernst entgegen. Er spürte scharfe, ungeschliffene Kanten. Zwei lange, unbemusterte Schlangendrachen streckten sich über und nebeneinander auf je zwei Sonnen am Reif zu. Ansonsten wirkte das Stück plump. Das sollte dem Sonnenpatron gehört haben?

Thomas steckte den Reif achselzuckend in seine äußere Kuttentasche. Laudanius zog ihn barsch wieder heraus, riss Thomas’ Anzug auf und stülpte ihn in die ‚innere’ Tasche. „Geh’ bloß nicht fahrlässig damit um! Hörst du?!“

Thomas nickte. „Ja, gut.“

„Schön“, und wandte sich dem Rauminneren zu. „Nun zur Einweisung. Die Seance wird zeigen, wie du Theorie mit Praxis einen kannst.“

Nach der Vorarbeit holte Laudanius die Schamanen zurück ins Zelt und verknotete es von innen. Keiner durfte bei einem Ritual den Raum verlassen – höchstens als Freiseele.

Die Vier setzten sich vor die Wasserschüsseln. „Seid ihr bereit für die Voraussicht?“, fragte Laudanius.

„Für einen Blick in die Zukunft?“, schmunzelte Achim. „Immer gern.“

Cheviot nickte ernst und begann als erster – nach Einnahme einer weichen Margeritenblüte – zur Wasserschüssel zu summen.

Die anderen taten es ihm gleich.

Laudanius’ Sicht verschwamm, als sich das kehlige Brummen des Chors zum Singsang eines Schamanenliedes einte. Wie lang hatte er es nicht mehr gehört? Zuletzt mit Alena, seiner Frau.

Ihr Brummen wurde um jeden Herzschlag derart intensiv, dass sich das Wasser der Schalen kräuselte. Tropfen sprangen von der Mitte auf, tanzten auf und ab. Ihre Energien durchdrangen die Sphären zwischen Geist und Ritus.

Plötzlich riss Laudanius entsetzt die Augen auf. „Nein!“, und zog die anderen in ihre Körper zurück. Zudem begann die Erde unter ihn zu beben. Laudanius keuchte. Seinen Augen schnellten hektisch in jede Ecke. Er bekam kaum Luft. Da riss er sich hoch. Die anderen waren noch von Sinnen, Cheviot brummte weiter.

Das Zelt begann unter einem starken, heulenden Sturm zu zittern. Selbst der Weltenbaum ächzte. „Zu spät!“

Mit zitternden Gliedern packte er Thomas barsch am Arm, zog die benebelte Gestalt zu einer offenen, massiven und dicken Truhe an der Seite … und schupste ihn hinein. Bevor Thomas die verwirrten Augen öffnete, stöhnte der Alte: „Sei still, egal was passiert“, und knallte den Deckel zu.

Kaum fasste er einen neuen Gedanken, wurde ihm heiß.

Knall auf Fall fegte eine grelle Feuerwalze durch den Zelteingang, verbrannte die Felle binnen von Sekunden und warf ihn und die zwei Schamanen zu Boden. Laudanius’ Kopf fiel hart auf. Er sah den Eichenwald, der um ihn herum loderte – niedergebrannt bis auf die schwarzen Stämme. Der Alte schnaubte mit einem Zorn, der die gesamte Welt hätte auslöschen können.

Neben der Enge und Finsternis in der Truhe hämmerte der letzte Ausruf des Alten in seinem Kopf. Nach krampfhaftem Wenden und Drehen gelang es ihm, die Truhenklappe einen Spalt zu öffnen.

Thomas’ Erleichterung wurde von Schock verdrängt: Vor ihm züngelten einzelne Flammenmeere. Das Zelt war weg. Was ihn beunruhigte, war, dass die drei Schamanen leblos dalagen. Ihre Kutten und Haare dampften und ihre Haut war verschmort.

Bevor er aus der Truhe springen konnte, duckte er sich: Ein metallisches Klappern kam näher. ‚Schritte?’

Damit drängten sie sich das erste Mal in sein Blickfeld: Schwebend, nebeneinander aufgebäumt, sowie mit schwarz-silbernen Bein- und Armpanzern. Alle Drei waren ebenso von strahllosen Kutten umhüllt. Auf ihren kapuzierten Häuptern thronte je eine in die Höhe gestreckte Maskenfibel, die ihre stämmigen Gestalten größer wirken ließ. Auf den lang gezogenen Spitzen zierte eine runde Kugel mit Augen, die in jede Richtung zuckten und wie die aus Rosswell-Filmen aussahen. Thomas’ Magen verkrampfte sich.

Bevor er sich fragte, was die Wesen wollten, umringten sie die Schamanen und zogen jeden einzelnen hoch. Laudanius war als einziger wach und spuckte der Gestalt ins verdeckte Gesicht. „Ihr verdammten Landplagen!“, schrie er, worauf die anderen die zwei Schamanen fallen ließen.

Eine klappernde, kehlige Stimme ertönte von dem, der Laudanius’ Hals hielt: „Welch liebliche Begrüßung, alter Mann. Da hat man sich ein Jahrhundert nicht gesehen. Mir würde etwas Dezenteres einfallen.“

„Was wollt ihr von uns? Reicht es euch nicht, die bewohnten Teile Soladums zu unterjochen? Das hier ist lebloser Grund.“

Plötzlich schoss Thomas ein Blitz durchs Gehirn: ‚Die drei Dominantoren?!’ Er musste ein Stoßatmen unterdrücken.

„Leblos?“, zischte einer der anderen Dominantoren und zeigte ringsherum. „Dieser Wald hat unsere Späher erst auf dich aufmerksam gemacht.“

„Verschwindet! Ihr wisst, dass wir drei Schamanen zusammen machtlos sind.“

„Ihr allein hattet damals auch genügend Macht, um uns in diese Welt fliehen zu lassen.“

Thomas stieß beinahe gegen den Deckel.

Laudanius ließ bitter den Kopf hängen. „Ja … gepeinigte Kreaturen ward ihr einst. Immer wieder hörte ich euer Flehen aus den Felsspalten, Baummulden und Quellen. Sogar im Traum hörte ich euch.“

„Du warst eben der einzige, der die Tore öffnen konnte“, wisperte ein anderer.

Schließlich riss Laudanius den Kopf hoch. Seine Augen glühten zornig. „Ihr wusstet, dass eine neue Übergangszeit in Soladum eintrat. Das habt ihr ausgenutzt! Zu Neujahr haben Cheviot und ich euch dummerweise eingelassen.“ In zerfransten Wildhäuten staken sie einst, kaum zum Sprechen fähig und verwundet durch die Folter ihres Königs, nur weil sie seine Tyrannei stürzen wollten. „Dann erkanntet ihr die Schwächen unseres Volkes, unserer sonnigen Ordnung.“

Der Dominantor zog Laudanius höher. „Du musst zugeben: Wir waren wie Freunde. Ihr habt uns diese Welt und ihr Gefüge erst erläutert. Welch schöne Zeit. Gib es zu, alter Mann!“

„Vergeudete Zeit!“, spuckte dieser. „Zu viel habe ich euch beigebracht.“

Ihre Reaktion war ein krächzendes, gurgelndes Gelächter.

„Lasse uns nicht mehr schwärmen.“ Der vordere Dominantor drückte seine Gurgel zu. „Unsere Weissagerin meinte, dass du wieder eine Kreatur eingeschleust hast. Jemand mit solcher Macht, dass er“, und schwang die freie Hand zu den lodernden Strünken, „diesen Wald wachsen ließ.“

„Angeblich ein Schamanenkind“, zischte der andere.

„Aha“, tat Laudanius. „Und wo soll dieser Schamane sein? Diesen Wald ließ ich durch meine Experimente so schnell wachsen, um euch mit der umgekehrten Technik aufzuhalten!

Er konnte die Ratlosigkeit hinter ihren Kapuzen spüren. Die Augen ihrer alles sehenden Maskenfibeln zuckten umher und suchten nach dem vierten Schamanen-Mal. Laudanius schmunzelte. ‚Fluch und Gabe zugleich, Thomas.’

„Damit wolltest du uns aufhalten?“, wisperte der dritte Dominantor.

Laudanius’ Hand glitt langsam in die Kuttentasche. „Damit … und mit dem Armreif des Sonnenpatrons!“

Abrupt verkrampften die Bestien. Die Erste stieß ihn meterweit davon. Kaum traf er auf, schnellten die Bestien zu ihm und rissen den Mantel von seinem Leib. „Bastard!“, wisperten sie. „Du hast unser Kommen vorausgesehen.“ „Aber nicht schnell genug.“ „Wo …?“ Sie zerfetzten die Kutte. „Wo ist er?!“, rief ein Dominantor.

„Weggeworfen … in den Fluss Richtung Ozean, damit ihr ihn nie bekommt. Der Anblick … hätte … euch verletzt, aber nicht genug.“ Trotz seiner Schmerzen hoffte Laudanius, dass Thomas alles genau verfolgte. Dann wurde seine Miene hart und kraftlos. „Ja … ich habe euer Kommen vorausgesehen … und … meinen Tod.“

Die Dominantoren bäumten sich auf. Einer nach dem anderen lachte: „Wohl wahr.“ „Dein Tod ist endgültig.“ „Sterbe hier in Schmach, wie die anderen Versager.“ „Welch schöne Zeit.“ Somit drehten sie sich um und überließen Laudanius seinem Schicksal.

Um ihre Risiken auszulöschen, streckten sie – ihre Rücken zu einem Dreieck gerichtet – die Arme aus.

Thomas beugte sich vor Schreck hinter, und fiel plötzlich in ein Loch im Truhenboden.

Draußen bildeten sich Feuerzungen um die drei Dominantoren, vergrößerten sich … und stoben in einer Walze in alle Richtungen.

Hitze, Sand und Holzsplitter schlugen auf Thomas nieder. Er schwitzte rasch. Die Luft wurde knapp. Er hechelte, verlor fast das Bewusstsein. ‚Durchhalten’, rief Laudanius’ ihm im Geiste zu. Abrupt vollzog Thomas die Branajama-Atmung. ‚Eins … Zwei …Drei …

Vier …’ Einatmen, anhalten, ausatmen. Trotz der sich in den Schutt fressenden Flammen, beruhigte er sich und verharrte noch hunderte Herzschläge ... bis er nicht mehr einatmen konnte.

Ohne Rücksicht stieß er sich aus der Dreckschicht und sprang in die sengende Freiheit. Obwohl alles um ihn loderte, erloschen die Flammenmeere wieder. Woher sollten sie sich auch in einer Wüste nähren?

Hektisch blickte er sich um. Nirgends mehr war eine Spur von den Dominantoren. Dafür erstarrte er, als er die anderen vor sich auf dem gläsernen Boden sah: Achim, Cheviot und Laudanius waren halb verkohlt. Rasch eilte er zu ihnen. Jedoch atmete nur sein alter Mentor.

Zusammenfahrend hörte er die Stimme von Laudanius, der hauchte: „Ich wünschte … ich könnte dir mehr beibringen … aber nicht in diesem Leben.“

„Was soll ich tun?“ Erneut war eine Zukunft für Thomas zusammengebrochen, abrupt und ohne Respekt.

„Am … Nordwest-Rand des Definio-Gebirges … steht ein Hain … aus toten Lärchen. Darin wachsen … einige Lebende.“ Der Alte hüstelte. „Begrabe uns darauf, wie es für Schamanen würdig ist.“ Um ihn zu ermutigen keuchte Laudanius zu seinem zitternden Schüler. „Wenn du den Hain … am Definio-Gebirge entlang … verlässt … kommt hundert Fuß Richtung Norden … Schlucht … Ausgang der Wüste.“

Obwohl ihn die Erkenntnis erheitern sollte, resignierte er. „Und dann?“

Ein Blick auf Laudanius’ offen gebliebene Augen reichte, um nicht erneut zu fragen. Sein Mentor war tot – nach dreihundert Jahren des Lebens, Kämpfens und Leidens.

Um seinem Ableben Nachdruck zu verleihen, begann die Erde unter ihnen zu zittern. Thomas wollte aufspringen und fliehen, doch fiel er wieder hin. Alles schien zu wanken und zu donnern, selbst die Luft. Alle Sphären schienen dem Zerbersten nahe. Denn jeder Schamane verband die drei Welten mit den Menschen und hat sie zusammengehalten. Und Laudanius war ein wahrhaft Großer.

Das Beben währte noch bis in die Nacht hinein.

Als ihn die ersten Sonnestrahlen kitzelten, hatte Thomas sich wieder gefangen und zog die drei Schamanen auf einer steifen, selbst gefertigten Pritsche aus starken Ästen zum beschriebenen Hain. Nach vielen Pausen, einem Nachtlager in der offenen Wüste und mehrmaligem Übergeben, erreichte er den ebenso toten und vom Feuer verkohlten Rand des Lärchenwaldes. Innen aber standen ein Dutzend, wohl hundert Jahre alte Lärchen. Sie hatten derart dicke Stämme und Äste, die sogar Särge tragen konnten.

Thomas stöhnte und übergab sich beim Rückblick auf die drei toten Schamanen. Obwohl er sich fragte, wozu er den Aufwand betrieb (man konnte die Leichen einfach vergraben), zimmerte er am nächsten Tag aus herumliegenden Stämmen floßähnliche Särge. Um den Gestank von verkohlter Haut ertragen zu können, hat er die Toten in übrig gebliebene Zeltplanen gewickelt. Sie wieder auszuwickeln, kostete ihn die meiste Kraft.

Ja – er tat es vor allem für Achim. Die Vorstellung, bei ihm die Ausbildung weiterzuführen, hätte Thomas gefallen. Jetzt war er tot, ebenso wie Thomas’ Aussicht für eine Zukunft.

Als er die verschlossenen Särge mit den Schamanen darin mit Seilen in die starken Äste gezogen hatte, vertaute er sie mit seiner letzten Kraft. Jeder Sarg bekam seinen eigenen Baum.

Von der Prozedur erschöpft, lag er nun am Fuß der drei Lärchen, sinnierte und schlief ein.

Vor ihm stand plötzlich Laudanius aufrecht und ohne eine Verletzung. Er schien vor Jugendlichkeit zu strahlen. Um sie herum herrschte Finsternis.

Trotz insgeheimer Freude schrie Thomas: „Verschwinde! Du bist tot. Und ich auch bald.“

„Gebe nicht auf, Adept!“ Laudanius schüttelte den Kopf. „Mit meinem Tod kann ich dir immerhin deine erste Aufgabe erleichtern, indem ich dein Schutzgeist werde.“

„Dich, als Schutzgeist?“ Leichter Ekel wölbte Thomas’ Magen.

„Ja. Mein letztes Geschenk und vielleicht Ermutigung genug, um weiterzumachen und den Sonnenpatron zu suchen.“

„Wenn es sein muss.“

„Du musst nicht zustimmen. Bedenke aber: Mein Opfer ist der Verlust ‚meines’ Seelenfriedens, und meiner ganzen Erinnerung. Ich werde ein helfendes Tier, wie jeder andere Geist. Glaube ja nicht, dass mir dieses Opfer leicht fällt“, aber für den Sonnenpatron und die Rache seiner getöteten Frau!

Obwohl er sich sträubte, den Alten in seiner Seele zu verankern, nickte Thomas. Was hatte er zu verlieren? „Gut. Lasse es schnell gehen“, und öffnete ihm seine Freiseele.

„So sei es, unserer Aufgabe Willen.“

Wie Nebel verschwamm der Schamane vor ihm, während plötzlich Licht vor Thomas aufleuchtete. Schemen kristallisierten sich.

Kaum verschwand das Stechen in seinem Herzen, sah er ein altes, einstöckiges Backsteinhaus in einer lila blühenden und wehenden Heidelandschaft. Alles war umsäumt von glitzernden Bächen und kuppigen Bergen.

Bevor er auf das Haus zutrat, raschelten die weißen Kiesel des Weges. Erschrocken sah er weiße Hände, die sich aus dem Boden streckten. Innerhalb von Sekunden gruben sich gleichfarbene, gesichts- und faltenlose, menschliche Gestalten aus der Erde. Sie besaßen nur Augen und je einen Speer in den Händen. Bei seinem Anblick traten sie beiseite und verneigten sich vor dem neuen Schamanenadept.

‚Dies war mein Territorium im Jenseits, wo sich deine Seele zurückziehen und stärken kann. Es soll dein sein.’ So verklang Laudanius’ letzter Gedanke – vorerst.

Kapitel 6

Der Aufgabe Willen

Als er wieder wach war, bemerkte er, dass sich die Rinde der Lärchen um die drei Särge geschlossen hatte. Nur die menschengroßen Knorpel erinnerten an die Begräbnisstätte.

Von den Wundern allmählich überdrüssig geworden, suchte Thomas den Ausgang der sengenden Wüste. Kurz vor dem Zenit trat er den Weg zum ehemaligen Schamanenlager an.

„Raus hier!“, rief Thomas laut. Er setzte sich eine improvisierte Holzkappe auf und drehte den Zündschlüssel. Die Suzuki jaulte auf, obwohl das Motorrad beinahe zwei Monate im Sand lag. Laudanius hatte es vergraben, da „Teufelsgerät nichts in unserer Welt verloren hat“. Obwohl Thomas gern ein paar Ablenkungsrunden gedreht hätte, war er froh über die Sturheit des Alten. Ansonsten wäre die Maschine mit den Feuerwalzen der Dominantoren explodiert.

Er stak wieder in seinen alten Klamotten, der Schamanenkutte, hatte das Breitschwert an der Hüfte, und Verpflegung und Zeltfetzen im Rucksack.

Mit einem letzten Blick auf die Wüste mit dem Fluss und der halb verbrannten Palmenhöhle, warf er den Gedanken daran fort. „Endlich!“ Sandwehen stoben nach hinten.

Trotz des peitschenden Fahrtwindes lehnte Thomas sich zurück und genoss das weiche Polster, die Schnelligkeit, sein aufloderndes Temperament und die Vorfreude. Leider huschte alles zu schnell an ihm vorbei sodass er die Einzelheiten am Weg nicht aufnahm. Auch schien seine Seele ihm nicht rasch genug folgen zu können da er sich mit der Zeit völlig leer fühlte.

Nach kurzer Zeit hielt er sich nördlich am Rand der spitzen Felsen, bis sich eine gut drei Meter breite Lücke offenbarte. Mit einem Grinsen schoss Thomas hinein.

Trotz des Echos vom jaulenden Motor konzentrierte sich Thomas auf den Pfad. Er war halbwegs eben, von fester Erde, Kies und selten auch Geröll gezeichnet.

Obwohl er bei unübersichtlichen Stellen und Kurven das Tempo drosselte, pendelte der Tacho zwischen sechzig und achtzig Kilometer je Stunde. Ihm blieb genug Konzentration, um die Formen der Berge zu mustern, sich nach Sonne und Monden umzuwenden und um durchzuatmen.

Abends vom drückenden Hintern und tränenden Augen mürbe geworden, schob er das Motorrad unter einen Felsvorsprung. Es war genau rechtzeitig, da eisiger Gegenwind durch den Spalt des Gebirgspfades zu pfeifen begann.

Kaum hat er ein Feuer mit den Holzreserven entzündet, aß er den Rest von Achims Suppe. Während er in die Flammenzungen sah, verloren sich seine Gedanken. Er war froh, aus der toten Wüste heraus zu sein. Doch wohin sollte er jetzt?

Da fiel ihm Laudanius Kartenskizze im Sand ein. Wenn seine Orientierung nicht zu sehr in der Irre lag, hielt er auf die Imperialstadt zu. Sie liegt hinter dem Gebirge. Da der Tank seines Motorrades halb voll war, käme er noch einige hundert Kilometer voran. Bloß fehlte ihm der Maßstab. Wie lang würde er noch durch das Gebirge fahren: Tage oder Wochen? Bevor er zu tief in Grübeleien versank, schüttelte er den Kopf. Er genoss seine Suppe.

Nach der Gymnastik meditierte er eine Stunde und wickelte sich in die Felle. Die Nacht blieb ungewohnt warm.

Im Sonnenschein erwacht, fuhr er weiter nach Nordwesten. Der Gegenwind rüttelte so stark an ihm, dass er die Schamanenkutte fester um seinen Leib band.

Auf einmal wurden die Pfadränder breiter, die Felsen wichen zurück und machten üppig wachsenden Wiesen Platz. Schmetterlinge in jeglicher Farbe flogen auf, Eidechsen huschten und Adler schwangen sich durch die Lüfte. Einer schien mit Thomas Gefährt um die Wette zu fliegen.

„Wow!“ Er beschleunigte und der Adler holte auf! Zudem galoppierte ein weises Pferd aus dem Gebüsch und an Thomas’ Seite entlang. Verblüfft erkannte er eine Spitze an dessen Stirn. „Ein Einhorn. Wahnsinn!“ Da plötzlich: Eine Riesenkröte … sprang mitten auf die Fahrbahn.

Thomas bremste mit aller Kraft. Er wich aus und stob zwischen Einhorn und Kröte ins Brombeergebüsch. Nur Gras sehend, schlitterte er durch Rinnsale und Matsch, bis er derart schlingerte, dass er stürzte. Thomas selbst federte im Matsch ab und hörte ein lautes Scheppern. Noch etliche Herzschläge lang blieb er liegen.

Halb durchnässt stolperte er durch die Schneise im Grasgebüsch. Keine zehn Meter vor ihm lag dann die zerschellte Suzuki an der Felswand. Kopfschüttelnd trat er darauf zu. Mit jedem Schritt versteifte sich seine Miene.

Am Wrack tastete er daran herum: Über den verbeulten Tank, geknickten Lenker, platten Reifen und die gebrochenen Spiegel. Als er aus der Leitung tropfenden Benzin roch, ballte er die Fäuste. „Verflucht!“, und boxte auf den Sattel, bis er entkräftet niedersank.

Das Motorrad war unrettbar zerstört. Seine Klamotten waren vom Schlamm durchnässt. Ihm schien auch sein klapperndes Kochgeschirr im Rucksack gebrochen zu sein. Als er den Kopf in den Nacken werfen wollte hielt er inne: Eine Wolkenfront ballte sich von Westen aus zusammen.

Von schüttelnden Regengüssen in der einbrechenden Nacht wach gehalten, zeichnete Thomas in einer Höhle die Karte des Meisters in die Erde. Sooft er die Maße drehte: Er hat höchstens die Hälfte des Gebirges hinter sich. Wofür er mit dem Motorrad eineinhalb Tage gebraucht hatte, würde er nun mindestens zehn benötigen. Seine Verpflegung ging zur Neige!

Während er sein rotes Haar zerwühlte, besprühte ihn nasser Regen. Er konnte in andere Höhlenecken flüchten, wie er wollte: Sie war zu klein und lag auf der dem Wind zugewandten Seite. Er würde keinen Schlaf finden, selbst wenn er die Felle vor sich spannte.

Er tat es dennoch und hielt sich über die Nacht durch Gymnastik warm. Dabei zog er die halbnassen Klamotten an, damit sie an seinem warmen Körper trockneten.

Mit dem ersten dämmrigen Morgenrot packte er die Sachen und marschierte im Nebel los. Augenringe legten sich auf seine Wangen.

Die undurchsichtigen Schleier klarten nach und nach auf. Sonnenlicht ließ ein Lächeln auf Thomas’ Antlitz erstrahlen. Trotzdem fühlte er sich ausgelaugt. Seine Schritte traten schwer nach dem nächsten. Immer häufiger versperrten Geröllbrocken den Pfad. Hat er diese bestiegen, folgten Schlamm und Pfützen. Manchmal stolperte er über zwar herrlich blühende, aber wild verrankte Heidesträucher. Am ersten Tag legte er höchstens zwanzig Kilometer im Zickzack zurück.

Der zweite verlief kaum besser. Immer wieder fluchte er, brüllte seine Energien unnötig heraus, blieb minutenlang im Schlamm liegen, um sich aufzugeben.

Seine Nahrung war verbraucht. Von den wenigen Brennnesseln, die aus den Felsen ragten, knurrte sein überdehnter Magen ächzend weiter. Wasser hatte er im Überdruss, da sich die Wolken seit dem dritten Tag im Gebirge über ihm türmten.

Der Regen strömte glitzernd die Felswände hinab, um sich in der engen Schlucht zu sammeln. Thomas versank – trotz zwei stützender Wanderstöcke aus Ästen – knietief in den Rinnsalen. An Schlaf war auf den feuchten Böden und Höhlen kaum zu denken.

Am fünften Tag brachen zur Mittagsrast plötzlich einzelne Sonnenstrahlen durch die Wolken. Wie geläutert sog seine einfallende Haut die Wärme auf. Er legte sich auf den Fels, aalte sich … und schlief prompt ein.

Statt sich zu entspannen, verkrampfte er … durch Schläge auf die Schulter!

Als er herumsah, peitschen zwei Seile gegen sein Gesicht. Er schrie und fiel mit den Händen zu Boden. Die zwei stämmigen, mensch-pferdhufigen Minotauren hieben weiter die Peitschen gegen Thomas’ Freiseele. „Was ist deine Bestimmung?!“, rief einer.

Thomas stöhnte gequält: „Zu sterben …“

„Was ist deine Bestimmung?“, wiederholte der andere.

„Lasst mich!“ Thomas riss sich hoch und wollte den Geistern ihre Geiseln entreißen, doch peitschten sie ihn unbarmherzig zu Boden.

„Was bist du?!“

„Hört auf!“, flehte Thomas.

„Gebe dich endlich deiner Bestimmung hin!“

„Suche deine Geister.“

„Oder willst du diese Qual ohne Schutz ertragen?“, grinste ein Minotaurus.

Da rief er bei einem Hieb auf die Stirn: „Laudanius!“

Jedoch ertrug er die ins Fleisch fressenden Hiebe weiterhin.

Kurz vor der Ohnmacht hörte er aus entrückter Ferne das Scharren von Hufen. „Schluss jetzt! Oder soll ich euch aufspießen?“, drohte unverhofft Laudanius’ Stimme. Nur klang sie kräftiger als die des alten Mannes.

Als Thomas mühsam aufblickte hörten zwar die Hiebe auf, doch schrak er zusammen: Ein Zwei-Mann großer Hirsch – mit der Hälfte davon Geweih – bäumte sich neben ihm auf, scharrte und schnaubte wild: „Wird’s bald?!“

Ein letzter Peitschenhieb knallte und erlöste Thomas’ Geist.

Mit einem Prickeln im Gesicht schnellte er hoch. Es war nicht der Regen, der auf ihn hinabfegte, sondern stechender Schmerz.

Noch glaubte er, in Trance zu sein. Als er seine Glieder streckte, schrie er auf. Alles zog und brannte. Rote Striemen, sogar Blutergüsse zogen sich über seine Arme, Beine und wer wusste, wo noch. Mit jeder Betastung stach seine Haut umso heftiger. Nicht einmal der Regen kühlte.

Sich der Realität bewusst, sprang er vom Fels, über Pfützen und unter einen Felsvorsprung, schrie mit jedem Tritt auf. Wie war das möglich? Dennoch prangten die Peitschenhiebe der Minotauren auf seinem Leib. Was waren das für Geister? Was war das für eine Bestimmung?!

Wie zur Folter streckten ihn die Schmerzen zu Boden. Er begann zu brüllen, die Fäuste zu ballen und zu schluchzen. Er presste sich an die Felsen und weinte mit den Wolken.

Tagelang hielten ihn der Regen und die Schmerzen unter dem Vorsprung fest. Oft brachen Geröllmassen von den Hängen und verschütteten den Weg. Thomas plagten Hunger, zunehmende Schwäche und eine angehende Grippe, wie auch in jeder Nacht Albträume, in denen ihm Geistwesen weitere Verletzungen zufügten.

Schließlich überzogen neben den roten Striemen Pusteln und offene, eiternde Ekzeme seinen Körper. Immer häufiger versteiften seine Arme. Oft erwachte er am Morgen in strömendem Regen, hunderte Meter vom Felsvorsprung entfernt und mit durchweichten Klamotten. Er hatte geschlafwandelt! Dazu warf er sich – wie unter Anfällen – unwissentlich hin, schlug den Kopf in den Schlamm, um kurz vorm Ersticken aufzutauchen.

Er brauchte Hilfe. Neben dem Schutzgeist Laudanius stand ihm keiner bei. Er war allein, krank verweilend auf einem Pfad, den niemand entlang ging. Die Einsamkeit und Überlastung erdrückten ihn in verregneter Melancholie. Seine Sachen zu trocknen wurde ihm gleichgültig, genauso wie zu trinken und sich zu bewegen. Die oftmals einschlafenden Glieder löschten den Schmerz aus, wie auch ihn bald.

Trotzdem zuckten bei jedem Geräusch seine Ohren. Nach wirrem Umherblicken fiel er resigniert in sich zusammen. Das Alleinsein hatte ihn nie etwas ausgemacht. Er liebte die Einsamkeit, die Stille des Insich-Kehrens. Oft hat er sich nichts sehnlicher gewünscht; auch bei Laudanius. Jetzt sah er ein, dass der Mensch ein Herdentier war. Ohne Hilfe, Worte und Gemeinschaft verzweifelte er. Anfangs halfen Zwiegespräche. Diese verstummten nach den ersten Tagen im Gebirge. Wer sollte ihn in dieser Trostlosigkeit stützen. Am liebsten hätte er zum Messer gegriffen. Ihm fehlte selbst dazu die Kraft. Er würde sterben – qualvoll und langsam. Vorher aber wurde ihm schlecht, er erbrach einige Liter Wasser und schlief ein.

Diesmal duckte er sich instinktiv vor einer Attacke. Doch stand er plötzlich mit seinem Zwei-Meter-Hirschgeist auf einem Jenseitspfad. Der Bach vor ihm plätscherte gar friedlich im herbstlichen Buchenwald.

„Diesmal“, raunte Laudanius, „habe ich dich sofort vor Dämonen bewahren können. Bloß schwinden meine Kräfte auch mit deinen. Bitte“, flehte er, „nimm deine Suche nach weiteren Hilfsgeistern auf. Allein mit mir wirst du die ‚Schamanenkrankheit’ nicht los.“

„Ich werde sterben – so oder so“, antworte Thomas erschöpft. „Wozu sich noch abmühen?“

Der Hirsch legte sich vor den Bach. „Dieses Wasser birgt einige Fisch-Geister. Sie sehen mich neugierig an. Knie dich zu mir. Wir können mit ihnen sprechen.“

Thomas schüttelte den Kopf. Ihm fehlte die Kraft, seine Beine zu knicken. Er schloss die müden Augen.

„So einfach wie ich macht es dir kein anderer Schutzgeist. Verstehe doch.“

Endlich fiel Thomas an den Bachrand, riss die Augen auf und musterte das Wasser. Kurz vorm Einschlafen versteifte sich sein Hals. Vor ihm schwamm ein großer, kugeliger Laternenfisch im Wasser und beäugte ihn und Laudanius abwechselnd.

Als der Fisch die Stimme erhob, glomm seine Kugel milchig auf. „Wat guck-uckst du?“

„Wat begehrest du, Schimmerschpp-upp?“, flüsterte Laudanius rasch und abgehackt.

„Ah bi-bislle Teischlinsen.“ Wieder glühte die Laterne auf.

Endlich wusste Thomas, was ‚dieses’ Geistwesen meinte. ‚Eine Pflanze auf Teichoberflächen.’ „Wartet. Ich kom-omme bald zu-ück!“ Neues Feuer wallte in ihm auf.

Mit aufwallendem Adrenalin sprang er durch den Buchenhain und suchte nach lichten Stellen. Er fand den Rand und spähte über eine weite, morastige Hügellandschaft.

Rasch, aber vorsichtig, sprang er zwischen den Sümpfen auf Grasbüscheln umher. Dabei spähte er an jedes Ufer der Sümpfe.

Plötzlich kniete er sich auflachend nieder … und fischte eine Hand der grünen, wie zusammenklebende Linsen aussehende Oberfläche heraus. Erfreut eilte er zum Hain zurück.

Dort versuchte Laudanius den Fisch mit einem Gespräch hinzuhalten. Als Thomas sich niederließ und den Fund zum Bach hinstreckte, erschrak er: Vor Übermut waren ihm die Teichlinsen aus der Hand gerutscht. Es klebten nur noch wenige mit den Wurzeln darin.

Die Kugel des Fisches leuchtete auf. „Welsch Köst-lischkeit. Gub-gub.“

Thomas sah irritiert auf die fünf übrigen Linsen in der Hand, schob sie je auf eine Fingerspitze und hielt sie an die fließende Wasseroberfläche. Die Schwanzspitze des Glimmfisches zitterte, während sein Kopf aus dem Wasser lugte und die grünen, bewurzelten und klebrigen Linsen abnippte.

Mit heller werdender Kopfkugel zog er sich ins Wasser zurück und schwamm zitternd einige Kreise, bis seine gesamten Schuppen durchsichtig wurden. Genau wie Laudanius, der zufrieden lächelte. „Glückwunsch“, und sich wie der Fisch in Licht auflöste.

Planlos sah sich Thomas um. Alles verschwamm. Das Plätschern des Baches begann zu pochen, bis es ihn zu seinem echten Pulsschlag zurückführte.

Trotz der körperlichen Schwäche biss sich Thomas während der Gymnastik die Zähne zusammen. Mental pulsierte jede Zelle in ihm. Wenn, musste er jetzt weiter, solang die Sonne schien. Seine Haut tankte die Wärme regelrecht auf.

Noch einmal umgeblickt, dass er nichts vergessen hat, marschierte er los. Obwohl die ersten Kilometer an seinen Beinsehnen zerrten, gewöhnte er sich wieder ans Gehen. Hinzu kam, dass seine zwei Hilfsgeister seine Striemen und andere Wunden begannen, zu heilen. Ebenso linderten sie die Kopfschmerzen und Anfälle mit jedem tiefen Atemzug, bis sie im Verlauf des Tages ganz nachließen.

Auch drangsalieren ihn keine bösen Geister mehr in seinen Träumen.

Mitten in der ersten Nacht nach der Geistfindung gelangte er erneut ins Jenseits. Zum Glück war er an diesem Platz schon einmal gewesen. Nichts hat sich verschoben.

Ihn packte das Verlangen, es erneut zu versuchen.

Genau im selben Dickicht stöberte er die Schlange auf, die ihn vor längerem gebissen hatte. Sie schlief. Er wollte sie nicht wecken.

Stattdessen rief er Laudanius. „Wasserpelz“, erinnerte er sich an das verfluchte Wort und deutete zum steilen Berg mit den weißen Gipfeln.

Laudanius schnaubte: „Steige auf. Ich bringe dich hinauf, bis der Schnee beginnt.“

Prompt galoppierten sie los. Das Hirschfell übertrug Thomas unnatürliche Wärme, die ihn entspannen ließ. Sie ritten tausende Herzschläge und sprangen die zerklüfteten Grate hinauf. Oft holperten die Steine in die Tiefe. Es war schwer, sich an Laudanius’ Hals fest zu klammern.

Kaum haben sie die Schneefallgrenze erreicht, grub Thomas einen kalten Brocken Eis aus der Schneedecke. Er maß knapp einen Meter. Laudanius brach ihn mit dem Geweih heraus.

Mit dem Eis vor der Brust, galoppierten sie rasch zurück. Der Schamanenadept verdrängte die Kälte mit einem Adrenalienschub. Mit dem zur Hälfte geschmolzenem Eis gelangten sie in den Wald zurück.

Zum Glück war die Schlange nun wach. Beim Anblick des tropfenden Klumpens in Thomas’ Hand zischte sie: „Wassserlpelzz. Welch Freude bei dieser walllenden Sonnne.“

Kaum legte er mundgerechte Stücke vor sie hin, schlang sie diese hinunter. Die Stücke dehnten ihren Leib, als hätte sie Blähungen.

Zufrieden streckte sie sich vor ihnen aus und bedankte sich zischend. Damit gesellte sich ein weiterer Schutzgeist an seine Seite. Die Nacht war vorbei.

Beschwerlich stampfte er über den Pfad weiter. Das Geröll, das Thomas übersteigen musste, war mit Rissen bedeckt. Seine Füße blieben oft in den Spalten hängen sodass er aufschrie.

Obwohl die Schutzgeister die Wunden seines Körpers heilten, reichte ihre Kraft nicht für alles: Was er ihnen an Nahrung beschafft hatte, fehlte ‚ihm’ in der Realität.

„Wann ist das vorbei?!“, schrie er den monotonen Bergen zu. Er begann zu Hyperventilieren. Die Enge in der Felsspalte erdrückte ihn. Der Pfad war eine Katastrophe. Neue, diesige Nebelwolken züngelten bereits um die Bergspitzen.

Also kletterte er, kletterte und kletterte über den Tag weiter den Geröllpfad entlang. Nach Wutausbrüchen folgten innere Stille, Gleichgültigkeit und Grübeleien.

Nach wenigen Meilen ohne Geröll stoppte er plötzlich. „Hä?“ Durch seine eingefallenen Lider blickte er zu beiden Seiten und ersah, dass die Grate des Gebirges kleiner wurden, umso näher sie sich zum Horizont erstreckten! Ebenfalls wichen sie neben dem Pfad zur Seite.

Von innerer Unruhe gepackt, hob Thomas die Beine … und eilte los.

Das Ende schien nah. Rasch wurde er langsamer. Ihm fehlte der Plan. Gut; er hatte drei Hilfsgeister. Aber wie ging es nach dem Gebirge weiter? Ja – erst einmal Nahrung finden; wenn es nach dem Gebirge überhaupt Wälder und Tiere gab.

Mit leichter Bange folgte er dem Pfad gen Nordwesten. Wenigstens blieb er halbwegs eben, wurde breiter und weiter. Die Berge wichen zurück. Spähte Thomas darüber hinweg, erblickte er Frühabends andere Hügel und erhöhte Landschaften, die über dem Definio-Gebirge hinaus lagen. Selbst einen Vulkankrater machte er in westlicher Ferne aus.

Plötzlich schwoll der Weg an wie ein Fluss, der ins Meer mündete. Genauso wurde das Land ebener und zog sich zurück. Zur Dämmerung wurde die Sicht derart klar, dass Thomas den Kopf schüttelte. Denn hinter vereinzelten, rot betupften Eiben und Meilen voller Steppe, thronte ein fahles Gemäuer. Es wirkte derart groß, dass es die Imperialstadt Soladums sein mochte. Für heute genügte ihm der von der abendlichen Sonne beschienene Anblick. Thomas war erschöpft und musste seine Kräfte für Morgen sparen.

Er spannte sein Fell wie Planen an einen Baumast, aß einzig das entkernte Fruchtfleisch der Eibenfrüchte und legte sich schlafen.

Frühzeitig und ohne Träume erwachte er und rannte los. Er sprang kräftig durch Bäche, Heide und karge, aufgeheizte Steppenlandschaft. Leider erspähte er, wie im Schamanenlager, kein Tier. Von ein paar Beeren und Käfern wird er nicht satt. ‚Zur Siedlung hin!’, jagte er sich voran. Geschirr und Schwert klapperten im Rucksack. Er sah aus wie ein Flüchtling. Auch fühlte er sich so, wäre er nicht schon einmal vor dem Gesetz geflohen.

Umso näher er der breiter werdenden, mit Schießscharten beschlagenen Sandsteinmauer kam, desto mehr beschlich ihn Bange. Wie würde man ihn aufnehmen? Zerrüttet und bärtig, wie er aussah, würde man ihn einsperren. Das Spiegelbild der morgendlichen Bachwäschen erschrak ihn selbst. ‚Noch eine Meile.’

Ohne Trampelpfad und dem festgebrannten Blick folgend, sprintete er näher zur Stadt. Allein die Mauern erdrückten ihn. ‚Noch eine halbe Meile!’ Abgebrochene Fahnenstangen staken auf den massiven Ecktürmen des Tores. ‚Eine viertel Meile!’

Vor dem Tor erkannte er einen einführenden, zwanzig Meter langen und aus Granit geschlagenen Säulengang ohne Dach. Den breiten Anfangssäulen waren eine zugespitzte Stirn, auseinander stehende Augen, Nase, sowie ein breit grinsender Fratzenmund eingemeißelt. Unter dem Kinn legten sich zwei dicke Hände um den Steinleib. Der Rest war von Querlinien durchzogen, eingraviert mit Wellen, Dreiecken und Kreisen. Füße gab es nicht.

‚Noch hundert Meter!’ Da die letzten Säulen je einen Block obenauf hatten, erkannte er durch die Schatten nicht, was sich hinter dem Eingang verbarg. Die Anfangssäulen schienen die einzigen Wächter der Stadt zu sein.

Er stürmte übermütig an den massigen Idolwächter-Säulen vorbei, durch das Schattenspiel, hinein in die Stadt … stoppte abrupt und riss die Augen auf.

Neben zahlreichen, abzweigenden Sand- und Schuttwegen türmten sich reihenweise vierkantige Häuser. Sämtliche Bauten aus rötlichem Sandstein waren wie Ruinen ineinander gesackt! Die meisten besaßen weder Dach, noch Fenster.

Thomas befürchtete, in eine Totenstadt gestolpert zu sein. Sah er nicht – als er seinen Gang fortsetzte – Rinnen an den Straßenrändern. In ihnen floss schaumige Flüssigkeit, deren ätzender Gestank ihn an Urin erinnerte. Hinzu gesellten sich Kot und anderer Unrat. ‚Die Pest lässt grüßen’, bemerkte er, als er an menschengroße und schmutzige Leinensäcke auf einem Karren vorbei schritt.

Vor ihm schlich sich plötzlich das ‚erste’ Leben aus einem Haus – wenn man diesen Halbwüchsigen demnach bezeichnen konnte: Unter seinem halb zerrissenen Hemd und der Hose lugten Pickel und Ekzeme hervor. Sein Kopf war vernarbt und kahl. Ein Bein war nur dreiviertelst so lang wie das andere!

Trotz des Ekels trat Thomas auf ihn zu. Bevor er ihn ansprach, schrak der Junge zurück, jaulte ängstlich und stürmte in sein Ruinenhaus.

In Thomas fraß sich Schock in die Glieder. „Oh, mein Gott“, flüsterte er, während er benommen weiterlief. Woher bekam er ‚hier’ genießbares Essen?

Mit suchenden Augen traf er mehrfach auf Menschen, die – sobald sie ihn erblickten – flüchteten. Jeder einzelne hatte hässliche Verstümmelungen am Leib, wie verkrüppelte Hände, nach vorn überdehnte Rücken, verstellte Gesichtszüge oder auch elefantenartige Ohren. Da verging selbst Thomas das Lachen. Alle Merkmale schienen angeboren zu sein. War das Wasser verseucht, oder die Ernte und Tiere? Oder gab es nur Dämonenfleisch zu ihren Mahlzeiten?

Bevor er sich den Kopf zerbrach, vernahm er ein Wispern. Er hörte genauer hin: Es war der leise Singsang eines Chors. Er drang durch die Gassen und brach sich wie Geisterstimmen an den Häuserwänden.

Neugierig stolperte er in Richtung Stadtzentrum.

Nach wenigen Biegungen blieb er stehen. Vor ihm standen mehrere Dutzend Männer und Frauen in einem weiten Kreis, alle in zerschlissenen Klamotten und mit grausigen Verstümmelungen. Sie hielten sich gegenseitig an den Händen. Die, die keine hatten, lehnten an ihrem Nachbarn und schwangen im Singsang nach rechts und links. Alle schienen in Trance verfallen zu sein, krächzten abgehackte Ferse in das Rund: „Dämon der Finsternis, sei unser Gast.“ Thomas schritt verunsichert näher. „Fleisch und Darm sei geopfert für deine Rast.“ Niemand bemerkte ihn. Der Singsang schwoll an. „Senke die Flügel, wir sind bereit. Unser Leben sei dir verdingt, bis auf Ewigkeit!“

Er spähte durch den Menschenwall in das Rundum. Ein eisiger Rückenschauer ließ ihn zurückstolpern: Mittendrin staken zahllose, menschliche Totenköpfe auf Pfählen. Alle waren frisch und mit hinab getropften Blutrinnen darunter.

Er stürzte zu Boden und wollte sich panisch aufrappeln. Da packte ihn eine warzige Hand.

Schnell sprang er auf. Doch die Hand klebte, abgerissen vom Arm, an ihm. Der alte Krüppel neben ihm starrte ihn glanzlos an: „Was störst du unsere Ruhe, Fremder?“

„Wa-was geschieht hier?“ Vor Angst wunderte ihn, dass er ein Wort heraus brachte.

„Hinfort mit dir!“, schrie der Greis. Dann funkelten seine Augen. „Oder – nein. Die Phantomkönigin freut sich immer über frische Opfer.“

„Nein!“ Wo war er gelandet?! Stattdessen fragte er den Krüppel, um den sich zwei stämmigere Männer stellten: „Für wen?!“

Soladum - Suche des Sonnenpatrons

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