Читать книгу Donovan - David Wilhelm Beckmann - Страница 1

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Über das Buch:

Die sechzehnjährige Leonie weiß nicht, wie ihr geschieht, als sie sich nach dem Ehekrach ihrer Eltern plötzlich in der verschlafenen Kleinstadt Balling's Cape an der Ost-küste Australiens wiederfindet; für sie nach kurzer Zeit der mit Abstand schönste Ort der Welt. Was nicht zuletzt an dem charismatischen Psychiater Daniel Donovan liegt, den sie schon bald zum Zentrum ihrer Welt macht – und der sie den ein oder anderen Makel an diesem Ort ignorieren lässt – womit sie hier scheinbar bei weitem nicht allein ist. Als Leonie jedoch fatalerweise feststellt, dass sie einem Hirngespinst nachjagt und mit einem entsetzlichen Vorwurf den Frieden in Balling's Cape ins Wanken bringt, beginnt die Fassade des idyllischen Städtchens endgültig zu bröckeln, die Menschen zeigen ihr wahres Gesicht und Geheimnisse treten ans Licht, die das Mädchen nie kennen wollte. Am Ende bleibt die Frage nicht aus, ob Leonie all das nicht vielleicht sogar verdient hat – und ob es noch einen Ausweg für sie gibt.

Über den Autor:

David Beckmann, geboren 1996, ist Student der Germanistik und Anglistik. Zum Schreiben gebracht hat ihn vor allem Stephen King, aber auch viele andere sorgen inzwischen dafür, dass er nicht mehr damit aufhört. Bei Donovan handelt es sich um seinen Debütroman.

Weitere Informationen auf

www.facebook.com/OfficialDavidWilhelmBeckmann


DAVID WILHELM BECKMANN

DONOVAN

THRILLER


Deutsche Erstveröffentlichung März 2016

© 2016 David Wilhelm Beckmann

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv von Hans-Peter Boche

Baspherical Photoarts ©

www.flickr.com/baspherical

Printed by Amazon CreateSpace

ISBN: 978-1530671397


Für

Jojo


»›Aber ich will nicht zu verrückten Leuten gehen‹, merkte Alice an.

›Oh, das lässt sich nicht vermeiden‹, sagte die Katze,

›wir alle hier sind verrückt.‹«

ALICE IM WUNDERLAND

(frei übersetzt)


I

Sonne

1

Gott, Dad, wo bringst du mich nur hin?, dachte das Mädchen.

Der grüne Ford ihres Vaters fegte über die dunkle Straße durch die Hitze. Der Highway war in dieser Nacht kaum befahren, es waren nur hin und wieder Lastwagen zu sehen, die ebenso schnell wieder verschwanden, wie sie erschienen.

In ihrem Leben hatte Leonie schon des öfteren darüber gestaunt, wie lang so ein Highway doch sein konnte. Das hatte sie bei vielen Familienausflügen der letzten sechzehn Jahre mehr als einmal feststellen dürfen. Die waren ihr seinerzeit zwar langweilig erschienen, in Anbetracht all der Dinge, die sie gerade erlebte, hätte sie aber alles für einen Zoobesuch gegeben oder einen dieser fürchterlichen Familienspaziergänge in irgendeinem Nationalpark am Ende der Welt – was wörtlich zu nehmen ist, denn Leonies Familie lebte in Australien, der großen einsamen Insel unter dem Äquator. So fühlte es sich zumindest an. Ja, die Highways waren lang. Noch nie zuvor aber war ihr irgendeine Straße so lächerlich endlos vorgekommen, wie die, der sie in jener Nacht nach Norden folgten.

Sie lehnte die Stirn gegen das Fenster und spürte jede Unebenheit der Straße wie ein Hämmern in ihrem eigenen Kopf. Doch eigentlich nahm sie es kaum wahr. Dafür war sie zu sehr von den Gedanken aufgewühlt, denen sie nachhing.

Der Grund dafür – zumindest die eine Hälfte davon – saß neben ihr am Steuer. Ihr Vater war kein Mann, der sich je über seine Frau beklagt hätte, das war er nie gewesen. Doch Leonie konnte ihm ansehen, dass auch er durcheinander war, ob er es nun verbergen wollte oder nicht. Danach fragen würde sie ihn jedoch keinesfalls. Das Letzte, was sie sich gerade wünschte, war eines dieser gezwungenen Vater-Tochter-Gespräche, das keinem von beiden weiterhelfen würde. Allein bei der Vorstellung schüttelte es sie.

Sie hätte Schwierigkeiten gehabt, überhaupt zu erklären, was geschehen war. Und wenn sie nur versuchte, sich die Geschichte selbst zu erzählen. Alles war sehr schnell gegangen, so schnell, dass es albern war. Das Wort Scheidung konnte wirklich wahre Wunder bewirken und selbst die ruhigsten – und »erwachsensten« – Menschen von einem Moment auf den anderen wie ausgewechselt erscheinen lassen. Dazu gehörte auch ihr Vater, Michael, der genau genommen nichts anderes getan hatte, als seine Töchter zu entführen. Genauer gesagt war folgendes geschehen: Nachdem Michael am Tag zuvor nach Hause gekommen war, hatte er sich mit Leonies Mutter gestritten (wie sie es in letzter Zeit immer öfter getan hatten), sich Leonie und ihre kleine Schwester geschnappt und war ins Auto gesprungen, scheinbar, um bis in alle Ewigkeit nach Nordosten zu gurken. Nun waren sie hier, irgendwo auf halbem Wege in ihr neues Zuhause, in dem Leonie sich bestimmt »gut einleben« würde und Michael kurzfristig eine Stelle hatte annehmen können. Ein erstaunlicher Zufall, wie Leonie fand, was darauf hin-deutete, dass diese ganze, dumme Geschichte letztlich weniger spontan entstanden war, als ihre Eltern es inszeniert hatten. Dass Leonie ihnen irgendetwas geglaubt hatte, lag allerdings auch schon eine ganze Weile zurück. Mit der Zeit lernte man, hinter die Dinge zu schauen. In diesem Licht betrachtet war dieses kleine Theaterstück sogar beinahe überzeugend gewesen. Was Leonie überhaupt über all das dachte, war wie immer nicht zur Sprache gekommen. Nicht, dass es irgendetwas geändert hätte, versteht sich.

Auf der Fahrt hatte Michael kaum mit ihr gesprochen. Dadurch wusste sie weder, wo genau sich ihr neues »Heim« eigentlich befand, noch, wie lange sie von ihrem richtigen Zuhause in Canberra bis dort brauchen würden, und einfach alles daran war Leonie zuwider.

Der Rastplatz, der sich nun vor ihnen aus der Dunkelheit schälte, war, im wahrsten Sinne des Wortes, der erste Lichtblick seit Stunden. Der Platz war mit schummrigen Neonlichtern beleuchtet und ansonsten so schwarz wie die Nacht, die ihn umgab. Michael manövrierte den Wagen in die Einfahrt. Er tat es mit erstaunlicher Leichtigkeit. Man sollte meinen, eine solche Trennungsgeschichte sei aufwühlend. Leonie interpretierte sein Verhalten als weiteres Indiz für das falsche Spiel ihrer Eltern und dass die Scheidung doch nicht ganz so plötzlich vor der Tür gestanden hatte. Michael hatte vermutlich bereits viel Zeit investiert, um sich emotional zu distanzieren. Das passte zu ihm, dem Mann, der niemals zeigte, was er fühlte, der einen einstudierten Tonfall für alle Gelegenheiten besaß, um ja nicht in Gefühlsausbrüche zu geraten, geschweige denn wütend zu werden und, vor allem, niemals zu weinen. Als wäre das eine Todsünde. Und der harte Kerl war er nun wirklich nicht. Wäre Leonie nicht selbst den Tränen nahe gewesen, hätte sie lachen können. Egal was ihre Mutter auch getan haben mochte (denn Michael hatte sie für irgendetwas beschuldigt, aber vor Leonie eine Art Geheimsprache benutzt, denn ein sechzehnjähriges Mädchen kann bekanntlich nicht mit erwachsenen Themen umgehen – Leonie schüttelte innerlich den Kopf), unschuldig war Michael an der ganzen Sache sicher nicht gewesen.

»Ich geh kurz tanken«, murmelte er, während er umständlich aus dem Wagen kletterte. Leonie erwiderte nichts. Michael schien auch nicht damit gerechnet zu haben. Er warf einen Blick auf das schlafende Bündel kleines Mädchen auf der Rückbank und schloss die Tür. Leonie hörte augenblicklich wieder alles wie durch Watte, die Schritte ihres Vaters, das Klappern des Zapfhahns. Ein, wie sie fand, sehr beruhigender Klang. Sie beobachtete in den Rückspiegeln teilnahmslos, wie ihr Vater um den Wagen herumwuselte und nach drei Versuchen die Tankkappe löste. Kalt war es nicht, im Gegenteil. In der schwülwarmen Nacht musste das Zittern seiner Hände tatsächlich eines der kleinen Zeichen der Schwäche sein, die er immer so penibel zu verstecken versuchte. Leonie wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Hatte sie jetzt irgendetwas gewonnen? Es fühlte sich jedenfalls nicht so an.

Als das gedämpfte Rauschen des Zapfhahns erstarb und ihr Vater sich in Zeitlupe auf den Weg zur Kasse machte, wurde es plötzlich sehr still um sie. Etwas weiter entfernt, konnte sie die Umrisse eines Wagens ausmachen – ein Mercedes, wenn sie richtig sah –, samt riesigem Anhänger, der etwas abenteuerlich geparkt zwischen Tankstelle und Ausfahrt stand, dort allerdings wohl niemanden behinderte und somit toleriert wurde. Es war sowieso nichts los auf diesem Rastplatz, niemand da, den er hätte stören können. Leonie machte sich dennoch Gedanken über den Idioten, dem er gehören mochte, im Grunde aber nur, um sich von dem unangenehmen Gefühl abzulenken, mitten in der Nacht auf einem Rastplatz irgendwo im Nirgendwo zu sitzen. Immerhin waren sie nahe der Ostküste und nicht in der Wüste, aber darüber freuen konnte sich das Mädchen nicht.

Die Minuten verstrichen, doch Michael war noch immer nicht zurück. Langsam kam es Leonie vor, als starre sie das falsch geparkte Auto regelrecht an. Der Wagen dort hätte gut in eine Gruselgeschichte gepasst, fand sie, wie die über diesen mordenden roten Plymouth Fury, der heißt wie eine Frau. Der Titel wollte Leonie nicht einfallen. Wenigstens war der Wagen dort vorne nicht rot.

Natürlich hatte ihr Vater auch so an die Säulen heranfahren müssen, dass diese sich nun zwischen Leonie und dem Tankstellengebäude befanden und sie weder ihn, noch die hell erleuchteten Fenster sehen konnte, was sie sicher etwas beruhigt hätte. Sie war sechzehn Jahre alt, es war nicht direkt so, dass sie im Dunkeln Angst gehabt hätte. Aber je mehr Zeit verging, desto mehr hätte sie sich für ihre Horrorfilmphase ohrfeigen können, die darin bestanden hatte, mit ihren Freundinnen die ganze Nacht aufzubleiben und sich in den Schlaf zu gruseln. Ein Widerspruch in sich, der, so sollte man meinen, gerade für solche Situationen abhärtet. Leonie musste allerdings feststellen, dass das absolut nicht der Fall war. Im Gegenteil, sie erwartete jede Sekunde Mörderpuppen auf der Motorhaube oder Clowns auf dem Fahrersitz und sie abartig angrinsen zu sehen. Die Erinnerung an die Filmabende war bittersüß, denn sie hatten ihr immer sehr viel Spaß bereitet. Aber ihre Freundinnen würde sie nun wohl, wenn überhaupt, für eine lange Zeit nicht wieder sehen. Denn wenn sie die Wahl zwischen Canberra und irgendeinem Örtchen am Rande der Wüste hatten (bildlich gesprochen), würden sie sicherlich keinen Finger krümmen, um Leonie zu besuchen. Tolle Freunde, dachte sie, doch an ihrer Stelle hätte sie vermutlich dasselbe getan, und der Gedanke hob ihre Stimmung nicht gerade.

Nach einer halben Stunde war es ihr genug. Mit einem Seufzer der Entrüstung öffnete sie die Tür und musste sich selbst bremsen, kurz bevor sie die Beifahrertür gegen die Zapfsäule gezimmert hätte. Sie drückte sich behutsam zwischen Säule und Wagen hindurch, und zwar in Richtung Heck, da sie möglichst viel Abstand zwischen sich und das Auto gegenüber bringen wollte, das sie so ausdauernd beobachtete. Man musste das Schicksal ja nicht gleich herausfordern.

Dann stand sie mitten in der nächtlichen, sonnenlosen Wärme und erblickte durch ein riesiges Fenster ihren Vater, wie er sich im grellsten Licht, das je eine Tankstelle gesehen haben mochte, in aller Seelenruhe mit jemandem unterhielt, den er seit maximal dreißig Minuten kennen konnte. Und offenbar war ihm dieser Fremde jetzt schon wichtiger als seine eigenen Töchter.

»Typisch«, entfuhr es Leonie und sie trat, fest entschlossen ihren Vater, wie in einem Zeichentrickfilm an einem Ohr zum Wagen zurückzuziehen, durch die automatischen Eingangstüren.

Leonie hatte genug Scheidungsdramen im Fernsehen gesehen oder von Mitschülern gehört, die solche erlebt hatten (und die scheinbar immer davon ausgingen, dass es sie in irgendeiner Weise interessanter machte, jedem ungefragt davon zu erzählen) und war sich deshalb sicher, gegen sämtliche Überraschungen gewappnet zu sein, egal welches wunderliche Verhalten ihr Vater auch an den Tag legen mochte. Doch was sich hier abspielte, war so seltsam, dass sie zunächst versteinerte und sich dann nur sehr gemächlich der Szene zu nähern wagte. Und das gleich aus mehreren Gründen.

Erst einmal war das dort gar nicht ihr Vater. Mehr noch, es schien nicht einmal ein erwachsener Mann zu sein. Denn der Mann, der so aussah wie Michael Fitzpatrick – fünfundvierzig Jahre alt, zwei Kinder, unglücklich verheiratet –, kicherte wie ein kleines Kind, das gerade zum ersten Mal den ältesten Witz der Welt gehört hatte und nun einfach nicht mehr darüber hinweg kam. Ein lächerlich breites Grinsen zog sich über sein Gesicht, das sie so noch nie an ihm gesehen hatte. Dass seine Tochter gerade den Raum betreten hatte, nahm er offensichtlich gar nicht erst wahr. Überhaupt musste er alle Mühe haben zu denken, denn sein ganzer Körper zitterte und bebte vor Lachen. Leonie hätte beinahe Angst um sein Leben gehabt, fragte sich stattdessen aber, ob es nicht einfach ein fürchterlich schlecht gestelltes Lachen war; wie der Versuch eines Mädchens einem Jungen zu gefallen, den es mochte, indem es sich über seine besonders geistreichen Kommentare schüttelte – die meistens gar nicht so besonders geistreich waren.

(Also … hatte sie gehört.)

Doch da Michael zumindest technisch gesehen weder ein Mädchen war, noch jemals zuvor versucht hatte, irgendjemandem zu gefallen (manchmal fragte Leonie sich sogar, wie ihre Eltern überhaupt hatten zusammenfinden können), suchte sie den Grund für sein absonderliches Verhalten bei seinem Gesprächspartner.

Was zur nächsten Schockstarre führte.

Ihrem Vater gegenüber stand ein griechischer Gott, oder zumindest das, was dem auf Erden am Nächsten kam. Möglicherweise eine Art Halbgott, schoss es Leonie durch den Kopf. Zeus hatte schließlich viel zu tun mit den Menschenfrauen, da ihm seine Göttinnen im Olymp ja regelmäßig langweilig wurden. (Da sollte noch jemand sagen, Wikipedia bildete nicht.) Als wären die Zeichnungen aus Disneys Hercules lebendig geworden, oder Michelangelos David wäre nicht als Statue, sondern als Mensch zur Welt gekommen, stand hier Perfektion vor ihr, die eigentlich gar nicht hätte existieren dürfen. Leonie kam nicht eine echte Person in den Sinn, mit der sie ihn hätte vergleichen können.

Das Idealbild des männlichen Geschlechts blickte nun zu ihr herüber, als es ihr gelang, sich zu nähern, und ihr Vater, der aufgrund irgendeines physikalischen Wunders noch nicht am Boden gelegen hatte, schien langsam wieder Kontrolle über sich selbst zu erlangen. Zu ihrer Überraschung machte er sogar Anstalten zu sprechen. »Leonie«, sagte er in einer Art Singsang, und hörte sich an, als fehlte ihm mindestens die Hälfte seines gewöhnlichen Vorrats an Atemluft. »Ich hab dich ja ganz vergessen.« Was du nicht sagst, dachte Leonie, doch nur irgendwo weit in ihrem Hinterkopf, denn der Fremde Mann vor ihr war weit interessanter als es ihr Vater jemals gewesen war. Oder irgendetwas anderes.

Unfähig zu sprechen glotzte Leonie in die stahlblauen Augen, die nun etwas fragend, aber nicht unsicher zwischen ihrem Vater und ihr hin und her blickten. Sie wollte sprechen, um nicht vollkommen zurückgeblieben zu wirken, wie sie sich plötzlich vorkam, seltsam, hatte sie sich doch Momente zuvor ihrem Vater noch so überlegen und der Welt gegenüber so stark gefühlt. Doch ihr Sprachzentrum war Last Minute in den Urlaub geflogen. Leonie musste lächeln, was ihrem Gegenüber wohl Anlass gab, das Schweigen endlich zu brechen. Natürlich hatte dieses nur wenige Sekunden angedauert – in etwa die Zeitspanne, in der Michael vermochte, einige Male tief ein– und wieder auszuatmen. Doch für Leonie hatte sich die Zeit gerade verselbstständigt.

»Leonie, nehme ich an, junge Frau?« Sie hatte gar nicht auf den Inhalt der Worte achten können, sie hörte nur den tiefen, warmen Klang seiner Stimme und die selbstverständliche Freundlichkeit, mit der er sprach, als könne jedes seiner Worte die ganze Welt heilen. Oder zumindest ihre Welt.

Dass es etwas seltsam war, dass dieser Fremde ihrem Vater bereits jetzt ihren Namen hatte entlocken können, wäre Leonie selbst dann gleichgültig gewesen, hätte sie darüber nachgedacht. An Michaels Stelle hätte sie vermutlich dasselbe getan. Diesem Mann würde sie alles erzählen und alles glauben. Hätte er behauptet, er sei der Auferstandene persönlich, Leonie hätte keine Sekunde daran gezweifelt.

Die gnadenlose Freundlichkeit, die in dem Lächeln lag, das ihr entgegen leuchtete, machte es ihr nicht leichter, etwas zu erwidern, doch sie versuchte es dennoch. »Äh, ja. Genau. Und Sie?« Sie kam sich selbst unhöflich vor, dabei klang sie mehr nach kleinem Mädchen, als nach irgendetwas anderem, aber sie war plötzlich nicht länger in der Lage, ihren Tonfall zu kontrollieren. Alles, was sie sagte, klang eine Oktave höher als normal. Weder dem Fremden, noch ihrem Vater schien das aufzufallen. Dabei schwitzte sie fürchterlich, ihre Kleider klebten ihr am Körper und sie fürchtete, dass es diesmal nicht nur am australischen Klima lag, das mit jedem Meter, den sie sich dem Norden näherten, tropischer wurde.

Wieder huschte ein Lächeln über das Gesicht des Mannes, für das Leonie gemordet hätte, ehe er antwortete. »Schön, dich kennenzulernen, Leonie. Doctor Daniel Donovan.« Er machte Anstalten, ihr die Hand zu geben, doch sie schaltete nicht schnell genug und er ließ sie wieder sinken. Während er sich bewegte, konnte Leonie unter seiner dunklen Kleidung deutlich die Kraft in seinen Armen und Schultern erkennen. Der Kerl war riesig. Michael Fitzpatrick sah aus wie ein Zwerg neben einem Comichelden, und jedem den Leonie kannte, wäre es genauso ergangen. Vielleicht stammte er ja wirklich nicht aus dieser Welt.

Nachdem sie, abgelenkt durch ihre Beobachtungen, nichts erwiderte, fuhr Donovan mit einer Hand durch sein goldblondes Haar und seinen weichen Bart derselben Farbe – er schien kaum zu schwitzen – und fügte hinzu: »Ein blöder Name, nicht wahr? Diese schreckliche Alliteration. Ich hab nie erfahren, was sich meine lieben Eltern eigentlich dabei gedacht haben. Na ja, ganz unschuldig bin ich auch nicht. Immerhin hab ich es noch schlimmer gemacht und promoviert.«

Michael war augenblicklich wieder den Tränen nahe. Leonie brachte nur ein verzerrtes Lächeln zustande. Als ihr Vater sich erneut gefangen hatte und ihr Schweigen bemerkte, sagte er: »Eine Alliteration ist, wenn zwei Wörter, die nacheinander stehen, mit demselben – «

»Ich weiß, was eine Alliteration ist, Dad, ich bin in der zehnten Klasse!« Leonie konnte spüren, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss und sich mit dem Rot ihrer Haare beißen würde, doch Donovan schien das nicht im Entferntesten zu amüsieren. Immerhin hatte sie ihre Stimme wieder gefunden und fühlte sich nun etwas besser. So verfügte sie über genug Fassung, ihm zu antworten. Dennoch, erwidern konnte sie lediglich heiser: »Ich bin in der zehnten Klasse.« Und das klang kein bisschen stolz.

Ein Nicken von Donovan war die Antwort, anerkennend oder schadenfroh, das konnte Leonie nicht deuten, vielleicht ein wenig von beidem. Und endlich kam das Mädchen auf das naheliegende Gesprächsthema. »Was für ein Arzt sind Sie denn?«, fragte sie und aus Angst erneut unhöflich zu wirken schleuderte sie noch ein »Wenn ich fragen darf?« hinterher.

Donovan antwortete prompt: »Psychiater. Und natürlich darfst du fragen, wenn ich schon mit meinem Titel angebe.«

Oh Scheiße, explodierte es plötzlich in Leonies Kopf, ein Seelenklempner, der hat bestimmt längst alle möglichen Macken an mir entdeckt. Im selben Moment bemerkte sie, dass sie ihren Pferdeschwanz schon seit geraumer Zeit um ihre Finger zwirbelte – wie lange genau, wusste sie nicht, genauso wenig ob Donovan es bemerkt hatte. Doch so viel verstand auch Leonie von Psychologie: Wenn eine Frau vor einem Mann mit ihren Haaren spielt, dann kann sie ihn auch gleich fragen, wie weit es bis zu ihm nach Hause ist.

(Also ... hatte sie gehört.)

Peinlich berührt steckte sie ihre Hände in die Hosentaschen. Viel zu plötzlich. Für Donovan musste es wie ein Krampfanfall ausgesehen haben, glaubte sie.

Irgendwo lief ein Radio und ein uraltes Liebeslied schwirrte knisternd durch die Luft. Irgendwas, das Sinatra vielleicht gesungen hatte. Weil ihr nichts besseres einfiel, grinste Leonie Donovan nur noch über beide Ohren hinweg an und wünschte sich, dass ihr Vater endlich sein Hirn wieder einschalten und sie aus dieser Situation befreien würde. Wie viele Dummheiten konnte ein Mensch denn in einem Gespräch nur begehen? Sie war dabei, es in einer Feldstudie an der eigenen Person herauszufinden.

Donovan selbst war es, der schließlich ihren Albtraum beendete. »Na schön, es war sehr nett Sie kennenzulernen, aber ich muss dann weiter.« Nun endlich drückte er Leonies Hand, die in seiner zu verschwinden drohte, und diesmal war sie schnell genug. Sein Händedruck war fest und warm und, so kam es ihr zumindest vor, länger als es üblich war. Dass sich ihre Pupillen längst geweitet hatten, konnte Leonie zwar nicht bemerken – es ist eine unbewusste Reaktion, auf etwas, das uns gefällt –, doch das Gefühl, welches sie durchfuhr, war nicht weniger angenehm, als es ihre blauen Augen nach außen hin signalisierten.

Zu Michael gewandt sagte der Arzt: »Wie gesagt, Mister Fitzpatrick, falls Sie Interesse haben, meine Tür steht immer offen.« Leonie hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte, aber sie war sowieso nur halb anwesend. Am liebsten hätte sie gleich nochmal nach seiner Hand gegriffen. Oder sich gleich in seine starken Arme geworfen.

Die beiden Männer schüttelten ebenfalls die Hände und Donovan verließ lächelnd und mit großen Schritten den Raum, während Vater und Tochter Fitzpatrick ihm ehrfürchtig hinterhergafften.

Das Radio spielte jetzt Queen und Freddie Mercury sang Another One Bites the Dust.

Kaum hatte die Mensch gewordene Bildhauerei sich aus ihrem Blickfeld entfernt, kehrte Michael, im Gegensatz zu seiner Tochter, in das Reich der logisch Denkenden zurück. Er störte den Kassierer, der offenbar versucht hatte, ein Schläfchen zu halten, zerrte ihn hinter die Kasse und bezahlte hektisch. Wortlos traten er und Leonie wieder in die warme Nachtluft hinaus, als Michael plötzlich völlig überstürzt zum Wagen galoppierte. Perplex brauchte Leonie einen Moment länger um zu verstehen. Ihre Schwester. In ihrem Ärger über Michael hatte sie vollkommen ihre kleine Schwester Sophie vergessen. Leonie rannte ihrem Vater hinterher um die Zapfsäulen herum und sah das Unvermeidliche: Eine der hinteren Türen stand offen und der Kindersitz auf der Rückbank war leer.

Michael starrte von der Fahrerseite in den Wagen. »Du hast sie alleine gelassen?«, schrie er sie über das Dach hinweg an. Leonie wären hundert Antworten eingefallen, die alle mit seiner Mitschuld zu tun hatten, doch er schien mit überhaupt keiner zu rechnen und so schluckte sie sie alle hinunter. »Sie ist zwei Jahre alt, verdammt nochmal!« Michael rannte aufgeregt über das Tankstellengelände und blickte in alle Richtungen gleichzeitig. Zwecklos, bei diesem Licht war es unmöglich, etwas zu erkennen. Zwei Jahre und verdammt faul, dachte Leonie. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sophie von selbst aus dem Wagen klettern und einfach davonlaufen würde. Auch wenn sie es durchaus nachvollziehen konnte. Vor ihrem Vater wollte auch Leonie des öfteren die Flucht ergreifen. Der heutige Tag war nicht die Ausnahme.

»Du bleibst hier!«, befahl Michael, bereits in der Dunkelheit verschwindend.

Leonie stand noch immer entgeistert neben der offenstehenden Wagentür und fragte sich, wieso Michael nicht die Kindersicherung benutzt hatte um die Türen zu verriegeln. War er so zerstreut gewesen? Oder hatte er es doch getan? Aber wenn ja, wie hatte es dann eine Zweijährige bewerkstelligt, die Tür zu öffnen? Scheiße, war alles, was Leonies Hirn dazu einfallen wollte.

Auch sie sah sich nach ihrer kleinen Schwester um, aber es war, als läge die Welt hinter einem schwarzen Vorhang. Irgendwo rief ihr Vater verzweifelt nach Sophie.

Wenig später kehrte er schlurfend und ohne kleines Mädchen zu Leonie zurück. Sie kam ihm entgegen und er schüttelte den Kopf. Beide setzten sich nebeneinander auf die Motorhaube und Michael legte einen Arm um Leonie, die den Tränen nahe war. Auch er schien damit zu kämpfen, als er ungläubig sagte: »Ich habe überall gesucht. Hier ist weit und breit niemand. Sie ist weg. Einfach weg.« Leonie vergrub ihr Gesicht an Michaels Brust. Die Polizei zu rufen hätte keinen Sinn gehabt, hier draußen wären sie niemals rechtzeitig angekommen. Wenn sie den Ort überhaupt gefunden hätten.

Deshalb hätten sie vermutlich die ganze Nacht dort gesessen, wenn nicht in diesem Moment ein Kinderschrei beide hätte aufhorchen lassen. Michael schoss in die Höhe, kniff die Augen zusammen und blickte in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Dieser entwickelte sich nun zu einem Weinen, das sie kannten und das nur Sophie zu Stande bringen konnte, und lachend lief Michael auf die erlösende Erscheinung zu, die sich langsam in den Lichtschein um sie bewegte. Leonie folgte ihm und erkannte das Kind, aus voller Lunge kreischend, mit unsicheren Schritten auf sie zu stolpernd, in ihrer niedlichen Latzhose aus Jeansstoff und demselben Rotschopf, den auch Leonie mit sich herumtrug – an der Hand Daniel Donovans. Er nahm das Kind auf den Arm und übergab Sophie mit dem wärmsten Lächeln ihrem Vater, der in diesem Moment vermutlich eigentlich lieber den Retter umarmt hätte als die Gerettete.

»Eine kleine Ausreißerin haben Sie da. Sie kam mir einfach entgegen, mitten auf dem Platz. Ich habe direkt die Ähnlichkeit mit ihrer Leonie erkannt. Sagen Sie, lassen Sie ihre Kinder immer mitten in der Nacht allein?« Es hätte ein Vorwurf sein können, doch Donovan schien es nicht möglich zu sein, seinen Tonfall von vollkommener Zufriedenheit abzubringen. So hörte es sich beinahe schon wie ein Lob an.

»Nein, haha, nein. Ich, wir. Danke. Vielen, vielen Dank. Nicht auszumalen,... Ein Glück, dass Sie noch hier waren. Nicht auszudenken,…« Michaels Gestammel wurde immer schlimmer, aber Leonie brachte es gar nicht erst fertig, den Mund aufzumachen. Mit jeder Minute wurde dieser Psychiater großartiger. Spätestens jetzt war es ihr absolut unmöglich, die Augen von Donovan zu lassen.

»Passen Sie in Zukunft besser auf, ja? Wir wollen doch kein Unglück provozieren.«

Michael antwortete prompt: »Natürlich nicht. Danke, Doctor. Danke.«

Und schlussendlich wandte sich der Traummann und Lebensretter ab und begab sich in seinen Wagen. Den seltsam geparkten, schwarzen Mercedes mit dem großen Anhänger, über den Leonie sich so aufgeregt hatte. Plötzlich fühlte sie sich deshalb schlecht, ja, es tat ihr sogar beinahe leid. Ein seltsames Gefühl, wie sie fand.

Nun wieder zu dritt, beobachteten sie eben jenen Wagen, wie er mit dem Asphalt des Highways eins wurde und in der Dunkelheit verschwand.

Nach einer Weile hatte Sophie aufgehört zu weinen und Michael bugsierte sie auf den Rücksitz, wo sie daumenlutschend bald wieder einschlief. Als Leonie und er ebenfalls wieder Platz genommen hatten, schien Michael wie ausgewechselt. Fast schwungvoll startete er den Wagen und steuerte ihn vom Rastplatz hinunter. Auch von Leonies Angst und ihren Sorgen war nichts mehr übrig. Anstatt sich über die Scheidung ihrer Eltern oder ihr neues Zuhause zu ärgern oder darüber, dass sie Canberra und ihre Freundinnen vermisste, dachte sie nur noch über Doctor Donovan nach. Und das würde sich eine ganze Weile nicht mehr ändern.

Der Wagen steuerte gemächlich der aufgehenden Sonne am immer näher rückenden Horizont entgegen. Bald schon wechselten sie auf eine Nebenstraße in Richtung Küste.

Schon lustig, wie kurz so ein Highway doch sein konnte.


2

Die Sonne stand noch tief am Himmel, als Michaels Wagen das Ortseingangsschild mit der Aufschrift »Will-kommen in Balling's Cape« passierte. Leonie war sofort wieder hellwach, nachdem sie zuvor in einen dämmrigen Zustand der Ermüdung gefallen war, und ihr Verstand, den sie in der Nacht auf einem gewissen Rastplatz zurückgelassen hatte, fand nun allmählich zu ihr zurück. Was bedeutete, dass sie zumindest vorübergehend wieder vernünftig würde denken können, ohne von blauen Augen und großen Muskeln zu fantasieren.

Vermutlich.

»Ein Kap? Wir wohnen am Meer?«, fragte sie und hoffte inständig, dass es so sein würde, denn das einzige Problem an Canberra war für sie immer der fehlende Strand gewesen. Die neue Stadt würde also zumindest einen Vorteil haben, denn Leonie liebte Strände.

»Genau«, war Michaels beinahe einsilbige, aber vielsagende Antwort und beide blickten erwartungsvoll dem Ort entgegen, der ihr neues Heim werden sollte.

Schon nach einer kleinen Weile passierten sie ein weit offenstehendes, pechschwarzes, schmiedeeisernes Tor, von dem aus sich auf jeder Seite je ein von einer grünen und mit bunten Blumen durchsetzten Hecke überwucherter, mindestens drei Meter hoher Zaun desselben Materials um die Stadt wand. Dahinter lagen einige kleine Felder und Äcker, die nur zu Farmen gehören konnten, und sich auf saftigem grünen Gras ausbreiteten.

Sie folgten der Straße und näherten sich der eigentlichen Stadt, die aus einem Hügel herauszuwachsen schien. Es stand außer Frage, dass Balling's Cape weit mehr zu bieten hatte als nur ihre Lage an der Küste. Die Stadt war ein einziges Ölgemälde. Die Häuser leuchteten allesamt in warmen Farben, die Dächer glänzten rot in der Sonne und ein weißer Kirchturm mit einer großen Uhr wachte über sie. Die Stadt hätte mehr zu Italien gepasst als zu Australien, fand Leonie. Als hätte jemand ein Dorf in der Toscana aus einem Reiseführer herausgeschnitten und auf ein Bild von Australien geklebt. Dafür sprossen allerorts leuchtend grüne Sträucher und Büsche aus dem Boden und jede Menge Eukalyptus. Den hätte man in Italien vergeblich gesucht.

Es war unglaublich, dass sie vor kurzem noch durchs Nichts gefahren und nun im Paradies gelandet waren. All zu groß schien das Städtchen am Kap auch nicht zu sein, im Gegenteil, es hatte eher Dorfcharakter. Michael würde das gefallen; er konnte überfüllte Plätze nicht ausstehen und hatte sich insgeheim immer ein wenig nach dem Landleben gesehnt. Ihre Mutter nicht. Und Leonie genauso wenig, aber dieses Städtchen hatte das Potenzial, das zu ändern.

Leonie war überwältigt; vor einem Tag hätte sie es nicht einmal gewagt, sich ein Ferienhaus am Strand vorzustellen und nun würde sie hier leben? Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus und kam sich vor wie ein Hund, der den Kopf aus dem Fenster streckte um den Fahrtwind zu genießen. Ähnlich dem Gefühl, das sie in der Nacht zuvor verspürt hatte, breitete sich in ihr auch jetzt ein warmes Gefühl der Zufriedenheit aus, kein Fünkchen Unbehagen.

Michael steuerte den Wagen über die Hauptstraße, vorbei an kleinen, verwinkelten Gassen den Hügel hinauf, auf dessen Spitze das Stadtzentrum lag. Alles war still und friedlich, der Morgen war ja gerade erst angebrochen, doch Leonie wurde das Gefühl nicht los, dass dieser Ort auch zu jeder anderen Tageszeit diese Wirkung hatte.

Endlich fuhr ihr Vater in eine der abzweigenden Seitenstraßen und begann sich nach den Hausnummern umzusehen, die in großen, schwarzen Ziffern an den Mauern in der Sonne schimmerten.

»Vierzehn, Fünfzehn, Sechzehn.« Michael ließ den Wagen im Schritttempo dahin rollen und hielt in der einen Hand den Zettel mit der Adresse. Nun sah er angestrengt zwischen diesem und den umliegenden Häusern hin und her, als sei er nicht im Stande sich die richtige Hausnummer zu merken und sein Leben hinge von dem kleinen Stück Papier ab. Leonie störte sich nicht länger an den Macken ihres Vaters, sie war wie erschlagen von der Pracht der wundervollen kleinen Häuser, die sie von allen Seiten umzingelten und wohlwollend zu beobachten schienen und ihr war völlig egal, welches davon ihres sein würde.

Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie auch auf der Straße kampiert, nur um in dieser Stadt bleiben zu dürfen. Ganz leise glaubte sie bereits das Meer rauschen zu hören.

»Achtundzwanzig«, beendete Michael schließlich seinen Monolog in einem Tonfall, als habe er gerade alle zwölf Heldentaten des Herakles auf einmal gemeistert. Bei diesem Vergleich musste Leonie schlagartig wieder an Donovan denken und ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Ganz abgesehen davon, dass ihre Umgebung sie schon mehr als genug erfreut hatte. Sie hatte nie einen besseren Tag erlebt, zumindest erinnerte sie sich an keinen vergleichbaren.

Sie war zum Sterben glücklich.

Der Wagen schwebte wie von selbst in die Einfahrt eines vanillefarbenen Häuschens mit ziegelroter Tür. Vorsichtig – denn die Einfahrt war nicht sehr breit –, öffneten Leonie und ihr Vater die Türen und kraxelten hinaus und an die frische Luft, wie Maulwürfe aus ihren Erdlöchern, um sich umzusehen. Leonie begann damit, die Straße hinauf und hinunter zu blicken und sah nicht einen Quadratmeter, der ihr nicht gefiel. Der Himmel über ihnen stand in Flammen und alles um sie herum war bei weitem zu malerisch, um es in Worte fassen zu können. Leonie fürchtete, bald aus dem wundervollsten Traum aller Zeiten aufzuwachen und danach nie wieder glücklich werden zu können. Doch noch schien es nicht soweit zu sein und so entschied sie sich, diesen Traum so lange auszukosten wie möglich, und das Beste daraus zu machen.

»Ist das schön hier«, seufzte Michael hinter ihr, wühlte in seiner Hosentasche und zog einen Bund mit so vielen Schlüsseln hervor, dass ihr Klimpern leicht die gesamte Nachbarschaft hätte aufwecken können. Es gelang dem Mann aber geradezu meisterhaft, einen bestimmten Schlüssel vom Bund zu lösen, ohne die anderen damit auch nur zu berühren. Leonie staunte nicht schlecht und fragte sich, ob der Michael vom Vorabend dieselbe entspannte Fingerfertigkeit an den Tag gelegt hätte, hätte er nicht dank Doctor Daniel Donovan scheinbar vergessen, warum er überhaupt auf dem Weg hierher gewesen war. Also quasi sein ganzes bisheriges Leben. »Nimm du Sophie.« Leonie war überrascht über die Bestimmtheit in Michaels Stimme und nicht unbedingt erfreut über ihre Aufgabe, doch in dieser Situation schien ihr ein Streit als das Absurdeste überhaupt und so fügte sie sich wortlos.

Ihr Schwesterchen aus dem Kindersitz zu nehmen war allerdings leichter gesagt als getan, doch das kleine Mädchen wachte dabei nicht einmal auf und schrie auch nicht, was höchst ungewöhnlich für Sophie war, besonders wenn Leonie sich in ihrer Nähe befand. Es schien fast so, als weigerte sich diese Stadt entschieden, auch nur das leiseste Geräusch in ihren Straßen zu dulden.

Leonie gelang es schließlich, mit dem Mädchen im Arm Michael zu folgen, der sich die wenigen Stufen hinauf zur Eingangtür begeben hatte und ungeduldig auf seine beiden Töchter hinabblickte. Er drehte den Schlüssel im Schloss, doch die Tür war unverschlossen. »Seltsam«, murmelte Michael und trat ein. Leonie befürchtete instinktiv einen faux pas ihres Vaters. Wahrscheinlich hatte er sich bei seiner heroischen Häusersuche in der Adresse geirrt und nun brachen sie aus versehen ins Nachbarhaus ein. Ein fantastischer Start in eine gute Nachbarschaft. Doch sie traten ein und das Haus war leer und still und genauso perfekt wie von außen. Das ganze Zimmer leuchtete orange, denn durch die großen Fenster flutete das warme Sonnenlicht. Makelloses Holz bedeckte den Boden des geräumigen Zimmers, dessen hinteren Teil ein geschmackvoller Esstisch dominierte. Rechts von ihm grenzte eine Küchenzeile an, die nur so vor blitzblank poliertem Metall glitzerte. Gleich daneben, hinter dem Tisch, gab es einen Durchgang, der auf die Terrasse vor der anderen Hausseite führte und dort an die nächste Straße anschloss. Ein Berg aus Umzugskartons herrschte über den vorderen Teil des Raumes, flankiert von mehreren Kanistern weißer Wandfarbe. Leonie beruhigte sich, es war wohl doch das richtige Haus. Auf der linken Seite des Eingangs befand sich die Treppe in den ersten Stock, in dem sich die Schlafzimmer befanden. Genau die Räume, die die Fitzpatricks gerade am allermeisten benötigten – mit Ausnahme von Sophie vielleicht, die sich bekanntlich nicht darum scherte, wo sie in die Unzurechnungsfähigkeit abdriftete.

Michael schloss die Tür und schlurfte, dicht gefolgt von Leonie, die Treppe hinauf, die weiterhin das Kleinkind balancieren musste. Mit Kleinigkeiten wie der Zimmerverteilung hielten sie sich gar nicht erst auf. Leonie warf sich einfach in das erstbeste Bett, das sie entdeckte, nachdem sie Sophie, mehr oder weniger behutsam, darauf abgelegt hatte. Nach wenigen Minuten schlief sie ebenso tief und fest wie ihre Schwester und begann zu träumen. Wovon genau, das weiß nur sie. Dass ein Mann namens Daniel Donovan nicht unwesentlicher Bestandteil ihres Traumes war, ist natürlich reine Spekulation.

Und Leonie dachte, sie träumte noch immer, als sie erwachte und blinzelnd eine Gestalt wahrnahm, die genau vor ihrem Bett aufragte. Ebenso Gemurmel, teils auf-geregt, teils ruhig und monoton. Sie schreckte hoch, setzte sich kerzengerade auf und erkannte langsam einen großen, hageren, dunkelhaarigen Mann in Uniform, der mit unergründlichem Blick auf sie herabsah. Am Ärmel seines blauen Hemds befand sich das Zeichen der »Australian Federal Police«. Leonie schluckte, Michael hatte es also doch geschafft, sie waren wirklich im falschen Haus und nun würden sie am ersten Tag im Knast landen.

Der Wahnsinn.

Der Mann stemmte eine Hand in die Hüfte, in der anderen hielt er seine Mütze und fächelte sich dann und wann Luft damit zu. Erst durch diese Geste bemerkte Leonie wie unglaublich warm es geworden war. Sie hatte keine Ahnung wie lange sie geschlafen haben mochte und durch ihre Anspannung konnte sie nicht einmal sagen ob der Schlaf erholsam gewesen war oder nicht. Doch sie fühlte die Hitze am ganzen Körper und ihr Haar und ihre Kleider schienen inzwischen mit ihrer Haut verschmolzen zu sein.

Zum ersten Mal seit langem beruhigte sie die Stimme ihres Vaters. Auch wenn sie nicht verstand, was er sagte, war es wohltuend zu wissen, dass sie nicht allein, dass er da war.

»Schon in Ordnung, das konnten Sie nicht wissen«, gab der Polizist über die Schulter zurück. Michael stand in der Tür und nestelte nervös an seinem Zettelchen herum.

»Was? Was konnte er nicht wissen? Was ist passiert?«, fragte Leonie verschlafen und rieb sich die Augen. Sie hatte keinen Nerv für Höflichkeiten und die Uniform schüchterte sie auch nicht gerade ein. Im Gegenteil, sie hatte stets das Gefühl gehabt, australische Polizisten sähen eher aus wie Touristen in Verkleidung als wie Hüter von Recht und Ordnung.

»Nichts Schlimmes, keine Sorge. Das passiert fast jedem, der hier her zieht.« Der Mann schien sich zwar alle Mühe zu geben, möglichst autoritär zu sprechen, doch es gelang ihm nicht wirklich. Er klang einfach zu gelassen. Vom erschöpften und überarbeiteten Polizisten, wie man sie immer in irgendwelchen mittelmäßigen Fernsehserien sieht, war hier nicht die Spur zu erkennen. Dieser Mann war geduldig und hatte offenbar Spaß an seinem Beruf. Faszinierend, wie Leonie fand. Er sah weder sie noch ihren Vater an, als er sprach, stattdessen sah er sich ein wenig desinteressiert im Zimmer um, blickte mal hier hin, mal dorthin. Seine Augen schienen stets in Bewegung zu sein. »Hier in Balling's Cape schließen wir die Türen nicht ab, weißt du«, sagte er beiläufig.

Leonie sah ihren Vater an. Sie war fest davon überzeugt, dass dieser Fremde gerade einen Witz erzählt hatte. Doch das hatte er nicht. Michael blickte zu Boden, aber Leonie wusste nicht, wieso. Hielt er diesen Typen auch für einen Spinner, oder war es ihm tatsächlich peinlich, diese sogenannte Kleinigkeit von einer Regel nicht gekannt zu haben? Woher hätten sie das auch wissen sollen, aus dem Reiseführer?

»Aha«, war zu ihrer eigenen Überraschung das Einzige, was ihr als Erwiderung einfiel.

Der nervöse Blick des Polizisten huschte noch immer im Zimmer umher, ehe der Mann zu der Überzeugung kam, dass seine Arbeit wohl getan war. »Versuchen Sie einfach daran zu denken, Mister Fitzpatrick«, sagte er und nach einer kleinen Pause: »Auf Wiedersehen.«

Na hoffentlich nicht, hätte Leonie beinahe geantwortet, doch ein plötzliches Gähnen versagte es ihr. Sie reckte sich, drückte den Rücken durch und der Mann musterte sie belustigt, ehe er sich an Michael vorbei durch die Tür drückte und seine Schritte auf der Treppe immer leiser wurden.

»Was war das denn, Dad?«, fragte Leonie.

Michael schien sie nicht zu hören. Er stand noch immer wie ein nasser Sack in der Tür und fingerte so heftig an dem Stück Papier herum, dass es ein Wunder war, dass er es noch nicht zu Fetzen verarbeitet hatte. Dann seufzte er, sagte »Na, wir werden uns schon daran gewöhnen« und verließ das Zimmer.

Leonie war für einen kurzen Moment aus Stein. Dann stürzte sie ihm hinterher in den Flur und wäre mit ihren Socken beinahe auf dem glatten Holzboden ausgerutscht und gegen die Wand geklatscht, konnte aber mehr oder weniger grazil die Richtung ändern und Michael folgen, der in das andere Schlafzimmer verschwunden war und die Tür geschlossen hatte. Leonie öffnete sie und blieb demonstrativ mit verschränkten Armen im Türrahmen stehen.

»Haben Sie´s schon wieder vergessen, Mister Fitzpatrick? Man macht die Türen hier nicht zu.« Es war ihr egal, ob ihre Imitation gelungen war oder nicht, Hauptsache Michael würde wieder zur Vernunft kommen.

Doch dieser, der sich inzwischen auf dem Bett niedergelassen hatte, sah sie nur an und sagte, wie selbstverständlich: »Wir schließen sie nicht ab, das ist ein Unterschied.«

Wir?, dachte Leonie. So weit waren sie also schon? Wie lange wohnten sie hier? Sie waren ja noch nicht einmal eingezogen. Leonie verstand überhaupt nicht, was hier gespielt wurde. »Das ist völliger Schwachsinn. Was hat der Typ überhaupt gesagt, was für einen Grund es dafür geben soll?«

Michael klang von Sekunde zu Sekunde wütender. »Der Typ ist Chief Thomas Richmond, Polizeichef von Balling's Cape, also pass' auf, dass du keinen Ärger mit ihm bekommst. Und er sagte, das sei gut für das gegenseitige Vertrauen der Bewohner.«

Das klang wirklich wie aus einem Reiseführer.

Leonie war zu einer Art Salzsäule erstarrt, während sie zuhörte und lehnte sich verdattert gegen den Türrahmen. »Weißt du, für wen das noch gut ist? Für Diebe, für Entführer und andere freundliche Zeitgenossen. Klar, kommt rein, nehmt mit, was ihr braucht, wir haben´s ja! Seht und staunt, wie viel Vertrauen wir haben!« Sie hob die Arme in die Luft, wie ein euphorischer Pfarrer.

Michael warf ihr einen genervten Blick zu, erhob sich vom Bett und verließ das Zimmer, indem er seine Tochter einfach zur Seite schob. »Wir wohnen jetzt hier, also müssen wir uns auch an die Gesetze halten. Und Chief Richmond sagte, es ist in fünf Jahren kein einziger Diebstahl oder Einbruch gemeldet worden. Also sei jetzt still!«

Leonie stand mit offenem Mund da. Sei jetzt still? In sechzehn Jahren hatte Michael diese drei Worte niemals im selben Satz, geschweige denn in dieser Reihenfolge benutzt. Was passierte hier gerade?

Sie sah ihrem Vater entgeistert nach. Sie atmete tief durch und beschloss, die Diskussion später fortzusetzen und zunächst einmal für ihr eigenes Wohl zu sorgen, denn die Müdigkeit steckte ihr in den Knochen. Warum muss man nach dem Aufstehen eigentlich immer noch fertiger sein, als vor dem Einschlafen?, fragte sie sich und gähnte noch einmal. Es war eines dieser unergründlichen Geheimnisse des Lebens, die einen nachts überhaupt nicht schlafen ließen.

Während Michael nach Sophie sah – oder sonst was tat – begab Leonie sich in das Badezimmer, welches sich ebenfalls im oberen Stockwerk befand und eierschalenfarben gekachelt war. Obwohl es nur ein kleines Fenster hatte, schien auch dieses Zimmer über eine eigene Sonne zu verfügen und strahlte Leonie regelrecht an, deren Laune sich schlagartig besserte. Über dem Waschbecken hing ein kreisrunder Spiegel und Leonie sah sich selbst in die Augen, die noch nicht ganz erwacht waren. In diesem kräftigen Licht leuchteten diese hübsch, doch alles andere an ihr fühlte sich an und sah für sie auch so aus, wie ein nicht ganz ausgewrungener Waschlappen. Ihr Pferdeschwanz hatte sich verselbstständigt und lange rote Strähnen klebten an ihrer Stirn und ihren Wangen. Hoffentlich sah ich gestern Nacht nicht auch schon so aus, dachte sie, doch das konnte nicht sein, Donovan wäre es sicher nicht gelungen, bei einem so scheußlichen Anblick keine Miene zu verziehen, ja, sie sogar anzulächeln.

Oder doch?

Sie versank in, für sie eher untypischen, Selbstzweifeln. Denn Leonie hatte schon immer zu der Art Mädchen gehört, die einfach schön war – eine gelungene Mischung aus einer irischen Schönheit und einem nicht völlig verkehrten Australier britischer Abstammung – ohne in irgendeiner Form nachhelfen zu müssen und hatte sich deshalb bisher auch keine besonderen Gedanken darum gemacht.

Jetzt brachte es sie ganz durcheinander.

Sie beschloss zunächst einmal ein Bad zu nehmen. Danach würde die Welt gleich ganz anders aussehen. Sie flitzte nach unten und stöberte in den Kartons, die mit »Leonies Zeug« beschriftet waren, nach ihrer Waschtasche und Kleidern zum Wechseln. Erstere fand sie, außerdem Unterwäsche, irgendein weißes T-Shirt und dunkle Shorts. Zwar nicht gerade ihre Lieblingsklamotten, doch für den Moment würden sie genügen, zumal es Leonie vor allem darum ging, aus ihrem jetzigen Outfit herauszukommen, bevor sie Klebstoffentferner dafür würde benutzen müssen.

Mit ihrer Beute unter dem Arm stolperte sie die Treppe wieder hinauf und zurück ins Badezimmer. Sie wollte sich gerade ausziehen, als ihr plötzlich ein Gedanke kam. Wir schließen die Türen nicht ab. Das konnte doch nicht auch für Badezimmertüren gelten, oder? Leonie konnte getrost darauf verzichten beim Duschen gestört zu werden, egal ob von ihrem Vater, irgendeinem Polizisten, oder sonst wem. Außer vielleicht von Daniel Donovan, schoss es ihr blitzartig durch den Kopf, aber sie schüttelte die Vorstellung etwas widerwillig aus ihrem Hirn. Sie musste klar denken. Im Grunde konnte jeder einfach ins Haus spazieren, nicht wahr? Leonie erschauderte. Sie inspizierte die Tür, entdeckte aber tatsächlich keinen Schlüssel. Nicht mit mir, sagte sie sich, legte ihre Sachen auf die Fensterbank und rannte ein weiteres Mal hinunter und wieder hinauf, diesmal mit einem der Stühle aus dem Esszimmer im Schlepptau. Sie schloss die Badezimmertür von innen und platzierte die Rückenlehne unter der Klinke. Nicht perfekt, funktionierte aber. Sie lächelte über ihre Straftat und schüttelte den Kopf über den seltsamen Polizisten. Ein Glück, dass der Stuhl geeignete Ausmaße hatte. Sie wusste nicht, was sie andernfalls gemacht hätte. So oder so, nun war sie sicher.

Sie stellte die Dusche an, pellte sich endlich und unter Mühen aus ihren verschwitzten Klamotten (vor allem die Socken bereiteten ihr Probleme) und sprang unter den Strom, erfrischenden Wassers. Eine Abkühlung, die überfällig gewesen war und die sie sich mehr als verdient hatte, wie sie fand. Deshalb, und weil sie gerade wenig Wert auf die Gesellschaft ihres Vaters legte, ließ Leonie die klaren, kühlen Tropfen recht lange an ihrem Körper hinunter fließen. Es verging mehr als eine halbe Stunde, ehe sie schließlich das Wasser abstellte, sich die Haare aus dem Gesicht wischte und aus der Dusche stieg. Die Handtücher im Schrank an der Wand stellten wohl eine Art Einzugsgeschenk dar, doch Leonie kümmerte es kein bisschen, woher sie stammten, sie war nur froh, dass sie nicht kratzig waren, sondern weich wie Schafwolle. Sie trocknete sich ab – ihr Haar war danach noch nass, aber das hatte sie schon immer als willkommene Abkühlung empfunden – und zog die Sachen aus den Umzugskisten über. Sie hatte Socken vergessen, doch auch das scherte sie wenig. Sie würde später noch genug Zeit haben, all den Kram aus den Kartons nach oben und an die richtigen Stellen zu schleppen. Und wenn Michael nicht ganz schnell seine alte Einstellung zurück erlangte, sich der Autorität seiner Tochter zu fügen, würde sie das vermutlich alles allein machen dürfen.

Sie entfernte das abenteuerliche Türschloss, ging auf den Flur und gemächlich in das Schlafzimmer in dem sie ihren Vater vermutete. Hier fand sie jedoch nur die kleine Sophie, die immerhin nicht mehr schlief und somit wieder zu den lebenden Wesen gezählt werden konnte. Sie saß auf dem Bett und spielte mit ihrem Kuscheltier. Es war kein Teddybär, Sophie hatte immer schon einen Hund bevorzugt. Das kleine Mädchen gluckste freudig vor sich hin.

Also begab sich Leonie in das andere Schlafzimmer und fand Michael, der es kommentarlos annektiert und bereits damit begonnen hatte, seinen Kleiderschrank zu bestücken. Auf seinem Bett thronte ein Karton namens »Arschloch«. Das musste auf das Konto ihrer Mutter gehen. Nette Idee, Mum, lachte Leonie in sich hinein, stellte die Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, allerdings hinten an und entschied sich, das Gespräch mit einer Belanglosigkeit in ihrer liebsten Bravesmädchenstimme zu eröffnen. »Hey, Dad, sag mal, weißt du vielleicht, wie spät es ist?« Die Frage erschien vollkommen sinnlos, da Leonie keinerlei Schwierigkeiten gehabt hätte die Uhrzeit auf dem Wecker abzulesen, den Michael bereits neben sein Bett gestellt hatte. Die Leute sagten und taten allerhand seltsame Dinge, nur um ein Gespräch zu beginnen und Leonie kümmerte es in diesem Moment nicht, ob sie eine dumme Frage gestellt hatte, nur, ob sie eine vernünftige Antwort bekommen würde. Denn sie hegte große Zweifel daran, dass Michael gerade in der Lage war, eine solche zu geben.

Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr, während er seine Landkarte aufhing und an der Wand gerade rückte, sprach allerdings eher zu sich selbst als zu seiner Tochter, als er sagte: »Fast fünf. Pack schon mal aus. Ich mach gleich was zu essen.« Ganz zufrieden mit dieser Antwort war Leonie zwar nicht, aber immerhin würde er sie nicht verhungern lassen. Man muss Prioritäten setzen, dachte sie.

In der Hoffnung, dass Michael sich bald gänzlich erholen würde tat sie wie geheißen. Ohne Eile und mit in den Taschen vergrabenen Händen stieg sie die Treppe hinab und nahm bei jeder Stufe das Gefühl in sich auf, das dieses Haus ihr bescherte. Selbst die Hitze war hier nicht unangenehm, sondern schien genau richtig zu sein. Obwohl der große Raum im Erdgeschoss sich nicht verändert hatte, war es für Leonie wieder, als betrete sie ihn zum ersten Mal. Er empfing sie, wie eine Mutter ihr Kind. Der Berg aus Kartons in seiner Mitte hatte sich unmerklich verformt, doch Leonie konnte problemlos diejenigen finden, die ihr Hab und Gut beinhalteten. Diese allerdings aus der Menge zu fischen war in etwa so einfach wie der letzte Zug eines Jenga-Spiels und sie benötigte mehrere Anläufe, um einige der schwieriger zu erreichenden Kisten aus dem Berg zu klauben. Als würde man umgekehrt Tetris spielen, dachte sie, und zog und schob behutsam, hier ein wenig und dort ein wenig, bis sie schließlich fünf ihrer wertvollen Kartons befreit hatte. Stolz packte sie den ersten entschlossen und mit beiden Händen und scheiterte kläglich an dem Versuch, ihn anzuheben. »Was ist da denn drin?«, seufzte sie leise und öffnete ihren mit unnötig viel Packband umwickelten Feind. Im Inneren fand sie vorwiegend Bücher und ihre Filmsammlung, im Grunde nur Papier und rechteckige Plastikhüllen, die aber auf engstem Raum komprimiert ein gewaltiges Gewicht besaßen. Perfekt, sie würde also ungefähr tausendmal hoch und runter laufen müssen, um all ihre Sachen in ihr Zimmer zu bugsieren, denn ihr Vater würde ihr sicher nicht dabei helfen, die Kartons zu tragen. Falls er denn überhaupt dazu in der Lage gewesen wäre, was Leonie irgendwie bezweifelte. Sie fluchte innerlich, als hinter ihr plötzlich ein Schatten auftauchte und eine Stimme sagte: »Miss Fitzpatrick?«

Das Mädchen fuhr so schnell herum, dass sie das Gleichgewicht verlor und wie ein Sack Reis unbeholfen auf den Karton plumpste, über den sie sich Sekunden zuvor noch geärgert hatte. Vor ihr, mitten in der Tür stand Chief Richmond, in seiner bescheuerten Uniform und dem seltsamen aufgeregten Blick, der keine Ruhe zu finden schien. Im totalen Gegensatz dazu sprach er mit seiner gelangweilt freundlichen Stimme: »Ich habe Sie doch nicht etwa erschreckt?« Er wollte ihr aufhelfen, doch Leonie winkte ab und schwang sich wenig elegant zurück auf ihre Füße.

»Nein, überhaupt nicht, Officer«, antwortete sie sarkastisch, doch Richmond wusste entweder nicht was Sarkasmus war, oder ignorierte ihn gekonnt. Leonie hätte sich nicht entscheiden können, was davon wahrscheinlicher war. Völlig geschockt darüber, wie leicht er sich hatte anschleichen können, brauchte sie einen Moment um die Situation zu verarbeiten. Hinter dem Mann erkannte Leonie auf der Straße einen Polizeiwagen, sowie einen Kollegen Richmonds, der am Steuer saß und zu warten schien. Leonie hatte wenig Freude daran, allein mit dem seltsamen Cop zu sprechen und versuchte möglichst schnell herauszufinden, was er wollte. »Also, die Tür ist doch offen. Haben wir noch was vergessen?« Sie versuchte diesmal weniger schroff zu klingen. Für sie stand fest, wenn heute ein Fitzpatrick von diesen Herren verhaftet würde, dann würde das nicht sie sein. Und Sophie wohl eher auch nicht.

»Nein, nein, diesmal war ich es, der etwas vergessen hat.« Er griff in seine Tasche und zog einen Briefumschlag hervor, den er ihr reichte.

Leonie nahm ihn wortlos an und Richmond schenkte ihr ein Lächeln, ehe er seine Mütze aufsetzte und sich der Tür zuwandte. Leonie blickte auf den weißen Umschlag, den die wenigen Worte zierten:

Zu Händen von M. Fitzpatrick und Töchter

Richmond hatte den Ausgang bereits erreicht, als Leonie ihn irritiert fragte: »Von wem ist der?« Sie hatte eigentlich fragen wollen Und bei wem dürfen wir uns bedanken?, aber wie so oft hatte das was man wirklich sagte, nichts mit dem gemein, was man gerne gesagt hätte.

Richmond sah sie noch einmal an und antwortete mit unverkennbarem Stolz in seiner Stimme: »Von unserem Bürgermeister natürlich, Miss Fitzpatrick. Willkommen in Balling's Cape.« Dabei lüftete er seine Mütze ein wenig. Dann trat er hinaus ins Sonnenlicht und ließ Leonie, die inzwischen wieder auf den Karton gesunken war, allein zurück. Dort saß sie und starrte stumm auf den Umschlag in ihren Händen.

Die Kirchturmuhr schlug fünf und der Klang der Glocken tanzte leise über die Dächer der Stadt.


3

Wenig später, als ihr Vater zu ihr stieß, saß Leonie noch immer auf ihren Büchern und Filmen und war voll-kommen ratlos. Michael sah sie kurz an, zwängte sich aber ohne ein Wort an ihr vorbei in die Küche und begann mit den Geräten dort – die offenbar auch ein Einzugsgeschenk waren – augenblicklich einen Lärm zu veranstalten, der nicht von dieser Welt war. Mit den Schlüsseln war er geschickter, dachte Leonie abwesend und erhob sich langsam, um ihrem Vater den Brief zu zeigen, der ihm offenbar überhaupt nicht aufgefallen war. Und vielleicht auch ein bisschen, um ihn davon abzuhalten, das nagelneue Besteck um sich zu werfen.

»Wir haben Post, Dad.« Sie setzte sich auf den Küchentisch, so dass sie ihren Vater beobachten konnte, der gerade die Funktionsweise des Herds erforschte und wedelte den weißen Umschlag wie einen Fächer vor sich hin und her, in der Hoffnung Michaels Aufmerksamkeit zu erregen. »Hat mir dieser Polizist gegeben«, ergänzte sie etwas genervt, da er sie scheinbar ignorierte, oder zumindest nicht die Notwendigkeit darin sah, sich seiner Tochter zuzuwenden.

»Ach was, tatsächlich? Und was schreibt er?«, nuschelte er schließlich, abgelenkt von seinem andauernden Versuch, sich die Technik der Küche Untertan zu machen. Leonie hatte nicht das Gefühl, dass er verstanden hatte.

»Er schreibt gar nichts. Der ist vom Bürgermeister, hat er gesagt. Ist das nicht komisch? Hat der Polizeichef hier so wenig zu tun, dass er Postbote spielen muss, um über die Runden zu kommen?«, fragte Leonie nachdenklich. Sie hatte den Umschlag inzwischen auf ihrem Schoß abgelegt, die Hände neben sich auf den Tisch gestützt und musterte nun ihren Vater, der noch immer nicht zu verstehen schien, was seine Tochter ihm mitzuteilen versuchte.

Ihr schwirrte außerdem noch eine andere Frage im Kopf herum: Wieso hatte Richmond den Brief überhaupt dabei gehabt? Wäre er sowieso aufgetaucht, auch hätten Leonie und Michael nicht gegen das »Gesetz« verstoßen, weil er eben tatsächlich nichts anderes zu tun hatte, als Briefe zu verteilen und Neuankömmlinge zu begrüßen? Er hatte behauptet, er habe lediglich vergessen, ihn bei seinem ersten Besuch zu überbringen, also konnte er ihn auch nicht erst hinterher erhalten haben. So oder so war Leonie ziemlich neugierig, was sich in diesem Umschlag nun eigentlich befand, der da auf ihren Beinen ruhte.

Diese Frage sollte sich aber nicht jetzt beantworten, denn Michael erkannte gerade einen elementaren Fehler in seiner Planung, als er die Küchenschränke inspizierte. »Wir haben nichts zu essen«, sagte er, als wäre es ihm zu jeder Zeit bewusst gewesen. »Wir müssen erst einkaufen gehen.« Er stellte den Herd wieder ab und eilte an Leonie vorbei, nicht ohne ihr einen finsteren Blick zuzuwerfen und sie in eisernem Tonfall, der so gar nicht zu ihm passte, anzuweisen: »Runter vom Tisch!«

So langsam gehst du mir ganz schön auf den Keks, Daddy, dachte Leonie, sprach es aber nicht aus und folgte ihm schweigend. Den Brief ließ sie auf dem Esstisch liegen. Sie würden ihn eben später lesen, trotz aller Wissbegierde. Wenn sie ihren Magen befragte, hatte sie gegen Abendessen eigentlich auch überhaupt nichts einzuwenden und das Papier würde ihnen ja schließlich nicht davonlaufen.

Sie wartete am Fuß der Treppe auf ihren Vater, der mit seinem Portmonee in der Hand und einem kleinen Mädchen auf dem Arm hinunter gehastet kam. Wäre Leonie einfach dort stehen geblieben, hätte Michael es in seiner Eile wahrscheinlich erst bemerkt, nachdem er sämtliche Einkäufe getätigt und sich dann perplex nach jemandem umgesehen hätte, der ihm all die Sachen nach Hause tragen würde. Sophie hätte ihn lustig angesehen. Doch Leonie hatte durchaus Lust, die wunderschöne kleine Stadt einmal genauer unter die Lupe zu nehmen und folgte ihm durch die Tür, die er gewissenhaft unverschlossen ließ, worüber seine Tochter nur erneut den Kopf schütteln konnte. Na ja, immerhin würde niemand Umzugskartons stehlen. Oder?

Ihr Verdacht von vorher bewahrheitete sich, die Stadt hatte tatsächlich auch am Nachmittag etwas von einem Sonnenuntergang. Leonie konnte ein breites Grinsen nicht unterdrücken, als sie die niedlichen Wetterhähne auf den Dächern bemerkte, die ab und an im kaum vorhandenen Wind tanzten. Die blankpolierten Autos, die sie ein wenig blendeten, aber reglos in den Einfahrten der Häuser warteten und nicht die klare Luft verpesteten, schienen ihr fast wie Wüstenspiegelungen. Und vor allem die Ruhe, die noch immer in den Straßen herrschte, beeindruckte das Mädchen sehr. Hier und da hörte man ein Kinderlachen oder das Bellen eines Hundes, aber vom Trubel und Lärm der Großstädte schien man hier nie auch nur etwas gehört zu haben.

Das Einzige, was Leonie hier zusetzte, hatte sie selbst mitgebracht: Ihren Vater.

Michaels Eile war nervenaufreibend. Während Leonie am liebsten langsam durch die kleinen Straßen geschlendert wäre und den frischen Meeresduft genossen hätte, der in der Luft lag, schien Michael den Entschluss gefasst zu haben soviel Unruhe aufkommen zu lassen, wie es ihm nur möglich war. Wenn er könnte, würde er mich wahrscheinlich an die Leine nehmen, überlegte Leonie. Das hatte sie sogar wirklich schon mal jemanden tun sehen. Das arme Kind.

Ihre Vermutung war nicht besonders abwegig. Michaels wiederholte Kommentare »Beeil dich doch mal« und »Komm, wir haben nicht viel Zeit«, die immer dann Verwendung fanden, wenn Leonie ihren Schritt verlangsamte, unterschieden sich im Tonfall nicht sonderlich von einem beherzten »Bei Fuß!«. Wenigstens schien Sophie diesen Ausflug unterhaltsam zu finden, die ihre große Schwester über Michaels Schulter hinweg daumenlutschend ansah und in seinen Armen im Rhythmus seiner Schritte auf und ab wippte. Auch wenn Leonie den verwirrten Blick, den sie von sich selbst kannte und stets aufsetzte, wenn Michael sich seltsam verhielt – also oft – auch in Sophies großen, kugelrunden Äuglein wiederzufinden meinte, die im Übrigen mit ihren eigenen und denen ihrer Mutter identisch waren.

Seine Aufregung war aber durchaus nachvollziehbar, denn im Gegensatz zu den Geschäften in den Großstädten, die zum Teil rund um die Uhr geöffnet hatten, war es normalerweise üblich um fünf Uhr Nachmittags zu schließen, was bedeuten würde, dass sie bereits zu spät dran waren. Auch wenn Supermärkte ab und an auch in kleineren Städten von dieser Regel ausgenommen waren, stand nicht fest, dass für dieses verschlafene und allgemein ziemlich ungewöhnlich wirkende Städtchen dasselbe galt. Michael fürchtete vermutlich vor verschlossenen Türen zu stehen und ohne Essen ins Bett zu müssen. Leonie war nie ohne Essen ins Bett geschickt worden, weder von ihrer Mutter, geschweige denn von Michael. Sie wollte auch ungern herausfinden, wie das so wäre und beschleunigte ihren Gang dementsprechend, wenn auch widerwillig. Denn den Spaziergang genießen konnte sie nun natürlich nicht mehr.

Eines musste sie Michael immerhin lassen, er kannte den Weg. Woher, das konnte Leonie nur raten, doch sie vermutete, dass er die wichtigsten Adressen zuvor bei Google Maps oder sonst wo nachgeschlagen hatte. Das war ja sein Stil. Dem widersprach zwar die Tatsache, dass er nicht im Stande gewesen war, sich seine eigene Adresse zu merken, doch Michaels Gedankengänge logisch zu nennen wäre so oder so gewagt gewesen.

Zielstrebig führte ihr Vater sie durch die gemütlichen Gassen und kleinen Straßen, gefüllt mit Bäumchen und Beeten, auf eine Einkaufspromenade, die sie schon nach wenigen Minuten erreichten. Hier wiesen die Gebäude kleine Unterschiede zu den Wohnhäusern auf – wie zum Beispiel große Schaufensterscheiben und Schilder über den Türen – waren aber im Großen und Ganzen derselbe Typ Haus.

Während im Wohngebiet Menschenleere geherrscht hatte, hielten sich hier einige Leute auf, Männer, Frauen und Kinder, mit Sonnenbrillen, Hüten und Kappen bewehrt, um sich vor der knallenden Sonne zu schützen, während sie die letzten Einkäufe des Tages tätigten. Sie wirkten nicht, als wären sie in Eile. Die ersten Geschäfte schienen jetzt erst zu schließen, sodass etwas Hoffnung in Michael aufkeimte, was ihn seine Schrittgeschwindigkeit zu Leonies Leidwesen allerdings nur noch anziehen ließ.

Die drei Fitzpatricks passierten eine Apotheke, eine Bank und allerlei kleine Geschäfte. Leonie hätte gerne das eine oder andere betreten, doch Michael schien Scheuklappen zu tragen und ließ keine Kursänderung zu. Er steuerte unablässig auf den Supermarkt zu, der geradeaus immer näher kam. Ein kleiner Laden im Erdgeschoss eines zweistöckigen Gebäudes. Es schien nicht eigens für seinen Zweck erbaut worden zu sein, wie die meisten Läden hier, eher so, als hätte man ein Wohnhaus einfach umfunktioniert. So kam es zu keinem Bruch in jenem Stadtbild, das Leonie sehr gefiel und Platz sparte man noch zusätzlich. Das Städtchen wirkte dadurch noch gemütlicher.

Michael sprintete jetzt regelrecht und Leonie hatte Mühe Schritt zu halten, was vor allem Sophie zu amüsieren schien, die sie glubschäugig ansah. Leonie war sich sicher, Schadenfreude darin zu erkennen, auch wenn es wohl eher der verdutzte Blick eines süßen kleinen Mädchens war. Was hat man es gut als Baby, überlegte Leonie. »Du wirst schon noch sehen«, sagte ihr eigener Blick.

Auf einem Schild über der altmodischen Holztür des Supermarktes war »Bill's Grocery Store« zu lesen. Der Laden war klein und verwinkelt, zwei lange Regalreihen führten mittig hindurch, dazu gab es zu Pyramiden aufgetürmte Dosen und Einmachgläser und Packungen und eine mit Kleinigkeiten überfüllte Kassentheke, fast wie in Amerika, wie Leonie es aus dem Fernsehen kannte.

Der Besitzer, den Leonie als »Bill« vermutete, war nicht zu sehen. Er befand sich wohl irgendwo im hinteren Bereich seines Ladens und schien mit irgendetwas zu ringen, das sich seinem Willen widersetzte, denn wiederholtes Poltern und genervte Seufzer dekorierten die Klangkulisse des Raumes.

»Ich komme sofort!«, schrie er plötzlich, obwohl Michael, Sophie und Leonie den Laden quasi geräuschlos betreten hatten. Ohne Worte drückte Michael Leonie ihr Schwesterchen in die Arme. Sophie gluckste fröhlich und Leonie murmelte: »Mann, du bist ganz schön fett geworden, Kleine.« Wenn sie so darüber nachdachte, richtete sich ihr Unmut aber eher gegen ihren Vater als gegen ihre etwas zu pummelige Schwester und sie knuddelte das Mädchen wie zur Entschuldigung.

Michael machte sich derweil auf den Weg in die Richtung, aus der die angestrengte Stimme gekommen war. »Kann ich vielleicht helfen?«, rief er und verschwand hinter einem der Regale. Daraufhin unterhielten sich die Männer leise, sodass Leonie sie nicht mehr verstehen konnte. Sie wollte aber auch gar nicht zuhören. Was hätte sie schon aus so einem Dialog gelernt? Sie fühlte sich allein gelassen. Obwohl ihr Vater ihr auf die Nerven ging, konnte sie es nicht leiden, wenn er einfach verschwand. Genauso war es ihr in der vorherigen Nacht an der Tankstelle gegangen.

Sie setzte Sophie auf die Kasse und versuchte doch um das Regal herum zu lugen um zu sehen welche Schlacht dort geschlagen wurde, als sie, nunmehr zum zweiten Mal an diesem Tag, eine Stimme zusammenfahren ließ.

»Guten Tag, die Damen.«

Wann immer sie zuvor jemanden »Guten Tag« sagen hören hatte – was man hier ständig hörte – war es die müde, nasale, australische Fassung des Grußes gewesen. Leonie selbst beherrschte sowohl den australischen, als auch den irischen Akzent, sodass sie jeweils ihren Vater oder ihre Mutter damit aufziehen oder sie einfach dann benutzen konnte, wenn sie nicht verstanden werden wollte. Als Fan der hiesigen Sprechweise hätte sie sich allerdings trotzdem nicht bezeichnet.

Diese Stimme aber, australischer Akzent hin oder her, klang angenehm und war die freundlichste der Welt, wie sie bereits wusste.

Leonie fuhr herum und erblickte eine Fata Morgana. Das war die einzige logische Erklärung. In der Tür stand niemand anderer als Daniel Donovan, wie er leibte und lebte. Leonies Gedanken explodierten schlagartig: Donovan ist hier in dieser Stadt? Was macht er hier? Wohnt er hier? Arbeitet er hier? Wie kann so ein Zufall möglich sein? Ich dachte ich sehe ihn nie wieder.

Und: Verdammt, warum hab ich nur diese Klamotten angezogen?

Anmerken ließ das Mädchen sich seine Aufregung aber überhaupt nicht. Sie setzte ihr (hoffentlich) schönstes Lächeln auf, lehnte sich (hoffentlich) elegant gegen die Kasse und antwortete euphorisch: »Doctor Donovan! Was machen Sie denn hier?« Hinten polterte es geräuschvoll und Bill und Michael fluchten im Chor, was den Moment zerstörte und Donovan veranlasste, die Situation auszukundschaften. Er bedeutete Leonie mit einer Geste und seinem typischen Lächeln, sie solle einen Moment warten und lugte seinerseits um die Ecke. Leonie tat wie geheißen und beobachtete Donovan eingehend, als er sich hinter die Regale verdrückte. So lange, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor, als sie sich immer weiter nach hinten über die Theke lehnte um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Es gelang ihr gerade so sich zu fangen und sie saß eine kleine Weile gemeinsam mit Sophie die Holzfläche warm, über die täglich so ziemlich alle Lebensmittel Balling's Capes wanderten, und wartete.

Sie überlegte fieberhaft, worüber sie mit Donovan sprechen könnte, doch ihr fiel nichts Vernünftiges ein. Was aber keine Rolle spielte, da sie in seiner Gegenwart sowieso kein Wort herausbekam, von belanglosem »Hallo« und »Tschüss« einmal abgesehen.

Es vergingen wenige Minuten, bis alle drei Männer in den vorderen Teil des Ladens zurückkehrten. In dieser Zeit kam niemand herein und einige andere auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatten ihre Türen bereits geschlossen. Die Sonne stand inzwischen recht tief am Himmel und tauchte Leonies Umgebung in orangerotes Licht. Sie hoffte, dass sie einigermaßen ansehnlich aussah, ja, sie betete regelrecht dafür.

Donovan, der das Trio anführte, warf ihr jedenfalls einen Blick zu, den sie nicht recht interpretieren konnte. Sie entschied sich aber, ihn als einen anzunehmen, den man einer schönen Frau schenkte und nicht als einen, den man einem sechzehnjährigen Mädchen zuwarf, das unhöflicherweise auf der Kasse hockte. Letzteren bekam sie dafür von Michael und sie rutschte, bedacht darauf, eine gute Figur zu machen, zurück auf ihre Füße.

Als Bill, ein übergewichtiger Mann in zu engen Klamotten und lichtem dunklen Haar, sich hinter seine Kasse begab, fragte sie in die Runde »Was war denn los?«, wünschte sich aber insgeheim, dass drei der fünf anwesenden Personen im Erdboden versinken oder sonst wie verschwinden würden, sodass sie mit der verbleibenden allein sein konnte.

Das geschah natürlich nicht.

Stattdessen antwortete ein stark schwitzender Bill außer Atem: »Kleine Schwierigkeit im Lager.« Er massierte seine Brust mit dem Handballen.

Und ein ebenso erschöpfter Michael fügte hinzu: »Alles wieder in Ordnung. Waren nur ein paar Kisten umgekippt.«

»Die Fleischlieferung«, bestätigte Bill nickend, als wäre es wichtig und tupfte sich den Schweiß mit einem Tuch von der Stirn. Er bemühte sich zu lächeln, aber sein Gesicht sah seltsam aus, wie aus Knete modelliert – von einem Kunstschüler, bar jeglicher Ambitionen.

»Na, ein Glück, dass ich da war, sonst hätten Sie noch Sophie engagieren müssen, was Michael?« Donovan gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken und Michael hätte wahrscheinlich gelacht, wenn er nicht noch immer stoßweise geatmet hätte. An Donovan aber schien die Anstrengung abgeperlt zu sein, was Leonie nicht sonderlich überraschte. Michael war schon immer ein halbes Hemd gewesen und dieser Bill schien eher dick als stark zu sein. Donovan dagegen hätte vermutlich beide Männer gleichzeitig tragen können, ohne eine Miene zu verziehen.

Leonie bemerkte, dass sie ihn anstarrte und suchte sich schnell ein alternatives Ziel für ihren Blick. Das war aber gar nicht so einfach, denn auf ihre Augen wirkte er magnetisch. Sie sammelte sich und versuchte endlich ein Gespräch zu beginnen, das ihre Fragen beantworten würde. »Arbeiten sie hier in Balling's Cape, Doctor Donovan?«, fragte sie.

Er antwortete mit einem fragenden Blick, der Leonie das Gefühl gab etwas Falsches gesagt zu haben. In diesem Moment begann Sophie wie am Spieß zu schreien. Leonie sah zu ihr herüber, konnte aber den Grund für ihr Geplärre nicht ausmachen. Donovan begab sich zu dem Kleinkind und kam Leonie dabei sehr nahe und erschien ihr dabei sogar noch größer. Er sah Sophie in die Augen und nahm sie dann auf den massigen Arm um sie hin und her zu wiegen.

»Na, haben Sie denn meinen Brief nicht bekommen?«, fragte er zurück, während er zwischen Leonie und ihrem Vater hin und her blickte. Wäre Leonies Leben ein Comic (und sie glaubte manchmal, das wäre es), wäre ihr Kiefer auf den Boden geklatscht oder ihre Augen aus den Höhlen gesprungen. Stattdessen machte sie in etwa das Gesicht, das Sophie wohl machen würde, versuchte man ihr das Sonnensystem zu erklären.

Donovan war Bürgermeister von Balling's Cape? Und noch viel wichtiger, er hatte ihr, Leonie, einen Brief geschrieben? Das musste nun wirklich ein Scherz sein. Michael schien ebenfalls überrascht. »Sie haben uns einen Brief geschrieben? Wir haben aber keinen Brief bekommen.« Der Stolz in seiner Stimme glich dem, den Leonie auch bei Chief Richmond gehört hatte. Viel erstaunlicher fand sie aber, dass sie sich vorhin in der Küche offenbar mit der Luft unterhalten hatte.

»Doch haben wir, Dad. Ich hab ihn dir gezeigt, schon vergessen?«

»Hast du nicht«, antwortete er, in einem Tonfall, als würde er feststellen, dass Leonie rotes Haar hatte. Es schien ihm sehr peinlich zu sein, also beließ es Leonie bei seiner Version, die für sie nunmehr nicht besonders angenehm war. Vor ein paar Stunden noch war sie sicher gewesen, Donovan nie wieder zu sehen und nun hatte sie einen Brief von ihm in der Hand gehalten und es versäumt ihn zu lesen. Aber das war ja eigentlich Michaels Schuld gewesen, nicht wahr?

Bevor ihre Gedanken wieder verrückt spielen konnten, meldete sich Donovan selbst zu Wort: »Nun ja, das können Sie ja immer noch.« Er legte Leonie ihre Schwester in die Arme. Dabei berührte er Leonie flüchtig und sie hätte das Kind beinahe fallen gelassen. Dann wandte er sich dem, inzwischen etwas trockeneren, Verkäufer zu.

»Bill, sag, hast du eine Flasche Sullivan's Cove für mich?« Bill antwortete gar nicht erst, sondern watschelte eilig an Michael vorbei zu einem der Regale und kam mit einer Flasche Whiskey zurück, die er Donovan direkt in die Hand drückte.

»Danke sehr, Bill. Schreib am besten gleich noch ein paar Flaschen auf, ja?« Er drückte ihm ein paar Dollar in die Hand, die Bill nickend in seiner Hosentasche verschwinden ließ und wandte sich erneut Sophie zu, die noch immer schrie, als ginge die Welt unter, und sah sie nachdenklich an. »Sie wird doch nicht krank sein?« Dabei sah er Michael an, der aber nur den Kopf schüttelte. »Nun, falls doch, keine Sorge. Wir haben einen fantastischen Arzt in Balling's Cape. Doctor Steward.« Er streichelte das Kind und fügte hinzu: »Sie können ihn auch den Hirten nennen«, lachte er und sah den Verkäufer an, der mit einfiel. »Er züchtet Schafe«, erklärte Donovan, auf Leonies und Michaels verwirrte Blicke. Dann sprach er in feierlichem Tonfall, doch sein Blick verriet, dass es nur ein Spaß sein sollte: »Also dann, mir als Bürgermeister dieser Stadt, ist es eine große Ehre, Sophie, Leonie und Michael Fitzpatrick in Balling's Cape willkommen heißen zu dürfen.« Als er ihre Namen aufzählte, sah er sie nacheinander an und Leonies Blick traf den seinen, was jeden Gedanken und jede Frage, die sie gehabt hatte, augenblicklich aus ihrem Gehirn wischte. Als hätte er das geahnt, sagte Donovan: »Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, finden Sie mich im Rathaus. Eigentlich finden Sie mich da immer.«

Er wandte sich dem Ausgang zu und am liebsten hätte Leonie ihn aufgehalten, ihr fiel aber nicht ein, wie – außer ihm ihre weinende Schwester hinterher zu werfen, und das war nun wirklich keine Art, zu sagen: »Warte, ich will nicht, dass du gehst!«

Michael kam ihr ohnehin zuvor. Er wies sie unmissverständlich an, endlich das Baby zu beruhigen, unterhielt sich im Flüsterton mit Donovan und verabschiedete ihn mit einem Händedruck, ehe dieser endgültig den Laden verließ. Es kam Leonie vor wie ein vorgespultes Video. Donovan war so plötzlich wieder verschwunden wie er gekommen war. Enttäuscht widmete sie sich ihrer Aufgabe, wiegte Sophie auf und ab, erreichte aber keine Besserung, das Mädchen schrie und schrie.

»Geh mit ihr vor die Tür, ich erledige die Einkäufe«, rief ihr Vater Leonie über das Gebrüll zu und das Mädchen schlurfte mit Sophie auf die Straße.

Sie suchte mit Argusaugen nach Donovan, blickte die Einkaufsstraße auf und ab, konnte ihn aber nicht entdecken. Dabei konnte er eigentlich noch nicht weit gekommen sein. Ermattet setzte sich Leonie auf die kleine Treppe vor »Bill´s Grocery Store« und platzierte Sophie auf ihrem Schoß, die urplötzlich zu weinen aufhörte.

»Braves Mädchen«, sagte Leonie mehr zur Luft als zu ihrer Schwester und beobachtete das abnehmende Sonnenlicht. Inzwischen war niemand mehr auf der Promenade, die Geschäfte waren alle geschlossen. Sie saß vor der einzigen geöffneten Tür der Straße und fragte sich, unter welchem Vorwand sie wohl das Rathaus aufsuchen könnte, als Michael mit zwei riesigen Tüten in der Tür erschien. Eine davon drückte er Leonie in die Hand, während er Sophie umständlich wieder an sich nahm. Dann sprach er Bill seinen Dank aus und machte sich auf den Weg zurück.

Leonie folgte ihm nicht gleich. Sie wartete, bis er außer Hörweite war und fragte dann Bill, der gerade im Begriff war die Ladentüre zu schließen: »Äh, Mister ... Bill? Könnten Sie mir sagen wo das Rathaus ist?«

Er sah sie amüsiert an und erwiderte: »Nur Bill, bitte. Und das Rathaus ist genau im Zentrum der Stadt, oben auf dem Hügel. Willst wohl auch bei Doctor Donovan anfangen, wie?« Dann stutzte er und sah über Leonie hinweg auf die andere Straßenseite. Seine Augen wurden plötzlich schmal, seine weichen Züge hart und jede Freundlichkeit verschwand schlagartig aus seinem Gesicht. Leonie drehte sich um 180 Grad, sah aber nur eine leere Gasse, voller Schatten. Als Bill wieder sprach, schien es, als wäre das überhaupt nicht geschehen. »Ist nicht schwer zu finden. Glaub mir, du wirst es erkennen.« Beim letzten Satz kicherte er ein wenig. Aber er schien mit seinen Gedanken trotzdem noch in der Gasse zu sein. »Ach ja. Wenn irgendetwas fehlt, das ich nicht habe, dann kommt einfach her und tragt es in die Liste da ein.« Er deutete auf ein großes Stück Papier, das von außen an die Tür geheftet war. Leonie war es beim Reinkommen gar nicht aufgefallen. Es hatte endlos viele Spalten, in denen in allen möglichen Handschriften Namen nebst Bestellungen eingetragen waren. In eine Zeile hatte jemand dreimal »Coca Cola!« geschrieben, fett unterstrichen. »Wenn Doctor Donovan einverstanden ist, kauft er es ein. Das funktioniert übrigens bei allen anderen Läden genauso.« Er deutete mit einer Bewegung auf die umliegenden Geschäfte. »Alles klar?«

Leonie konnte gar nicht anders, als zu nicken, obwohl ihr Verstand noch daran arbeitete zu verstehen. Bill lächelte, schloss die Tür und ließ Leonie ein wenig verwirrt und mit entsprechendem Blick zurück.

Bei Donovan anfangen. Weiter war sie noch nicht gekommen. Was sollte das denn heißen?

Sie sah noch einmal zu der Gasse hinüber, konnte aber nichts als Schatten erkennen. Was hatte Bill dort nur gesehen?

Aber das Gespräch hatte sie schon wieder vergessen, als ihr plötzlich Michael wieder einfiel. Sie musste sich beeilen, um ihren Vater einzuholen und folgte ihm zurück in ihr neues Heim, in der neuen Stadt, die einfach mit jeder Minute besser zu werden schien. In Gedanken war sie schon im Rathaus, obwohl sie es noch nicht einmal gesehen hatte. Aber das musste sie auch nicht, um zu wissen, dass sie unbedingt dort hin wollte. Leonie hoffte inständig, wenn das ein Traum war, dann möge sie bitte nie daraus erwachen.

»Was wolltest du eigentlich vorhin von Doctor Donovan?«, fragte sie, als die drei an ihrer Haustür angelangt waren, denn die Frage beschäftigte sie und im Gegensatz zu ihren meisten Fragen konnte Michael diese sogar beantworten. Tat er aber nicht. Er schwieg einfach, während er in den Tiefen seiner Hosentasche nach dem Schlüssel kramte. Leonie traute ihren Augen nicht, ging langsam zur Tür und stieß sie ganz einfach auf.

»Sag nichts!«, war alles, was Michael dazu einfiel und Leonie konnte ein Lachen nicht unterdrücken.

Als sie gemeinsam durch die Tür traten und sich in die Küche begaben, erstarb dieses Lachen aber, denn sowohl Leonie als auch Michael erblickten den weißen Umschlag, der einsam auf dem großen Esstisch ruhte. Sie stürzten sich darauf, als ob ihr Leben davon abhinge, die Worte Daniel Donovans zu lesen. Michael legte seine Tüte auf einem der Stühle ab und Leonie tat es ihm gleich. Sophie setzte er auf den Tisch und erreichte den Brief trotzdem noch vor seiner Tochter und nahm ihn behutsam an sich, sodass er ein wenig aussah wie Harrison Ford in Indiana Jones, der versucht, die kleine goldene Statue zu stehlen, ohne die Fallen auszulösen.

Leonie spähte an die Decke, um nach etwaigen Fallen und Steinkugeln Ausschau zu halten.

Michael öffnete den Umschlag und entnahm zwei Blätter, die ordentlich gefaltet waren und handschriftlich geschriebene Texte zeigten.

Er setzte sich auf den letzten freien Stuhl und las, ohne auf Leonie zu achten, die verzweifelt versuchte über seine Schulter zu spicken. Nach einigen endlosen Minuten ließ er die Zettel sinken und stopfte sie, wie um Leonie zu foltern, in den Umschlag zurück. Dann sprang er auf und lief die Treppe hinauf, ohne ein Wort zu sagen.

Leonie riss den Umschlag vom Tisch und den Brief heraus und nahm gierig jedes Wort in sich auf, das Donovan in einer beeindruckend kunstvollen Handschrift verfasst hatte.

Liebe Familie Fitzpatrick,

ich, Dr. Daniel J. Donovan, heiße Sie als Bürgermeister im Namen der Gemeinde Balling's Cape und ihrer Mitglieder in dieser Stadt willkommen.

Es ist immer eine Freude neue Gesichter zu sehen, was zu meinem Leidwesen viel zu selten vorkommt. Wir wohnen eben am Rand des Randes, und wie Sie sicher schon festgestellt haben, ist Balling's Cape dementsprechend klein. Mit nicht viel mehr als Elfhundert Einwohnern sind wir nicht gerade eine Metropole, doch ich kann Ihnen versichern, dass Sie sich hier wohlfühlen werden. Die Menschen sind freundlich und glücklich, das werden Sie bald feststellen. Ehrlich gesagt, habe ich in den sieben Jahren, in denen ich hier praktiziere und meiner Zeit als Bürgermeister nicht eine einzige Beschwerde erhalten. Darauf möchte ich mich natürlich nicht ausruhen und tue noch immer alles, um das Leben hier für alle so angenehm wie möglich zu gestalten, doch ich finde, dieser Umstand spricht für die Stadt. Und vielleicht auch ein wenig für mich.

Ihnen wird bereits aufgefallen sein, dass es in Balling's Cape »Regeln« gibt, die Ihnen vielleicht ungewöhnlich erscheinen. Dafür bin ich verantwortlich. Vermutlich denken Sie, eine Stadt ohne verschlossene Türen führt zur Kriminalität, doch sicher hat Ihnen unser eifriger Chief Richmond bereits gesagt, dass es, genau im Gegenteil, zu mehr Vertrauen führt. In Indien gibt es eine Stadt, in der es überhaupt keine Türen gibt. Als ich das vor vielen Jahren hörte, fragte ich mich ebenso, welchen Zweck das haben soll und habe mich eingehend mit diesem Thema befasst. Und es funktioniert tatsächlich. Seit Einführung der Vorschrift ist es hier zu keinem Diebstahl oder Einbruch mehr gekommen. Deshalb bitte ich Sie, sich im gegenseitigen Vertrauen auch an diese und die anderen Regeln zu halten, auch wenn Sie sie zunächst nicht verstehen sollten.

Wann immer Sie Fragen haben, bin ich natürlich bereit, Ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Das ist schließlich mein Beruf.

Michael, wenn Sie noch immer einen Termin wünschen, finden Sie mich im Rathaus, Gabriel Road 1 (oder folgen Sie einfach der Hauptstraße, den Hügel hinauf. Alle Wege führen nach Rom, wie man so schön sagt).

Hatte Michael sich also darüber mit Donovan unterhalten? Wenn Leonie es recht bedachte, hatten die beiden wohl schon gestern auf dem Rastplatz darüber gesprochen, doch erst jetzt erinnerte sie sich wieder daran. Das musste aber bedeuten, dass ihr Vater bereits gewusst und ihr eiskalt verschwiegen hatte, dass Donovan in ihrem neuen Zuhause lebte.

Damit konnte sie sich jetzt aber nicht aufhalten.

Leonie, falls du irgendwelche Schwierigkeiten hast, dich einzuleben, stehe ich selbstverständlich auch dir zur Verfügung. Doch sei versichert, dass diese Stadt dir viel Freude bereiten wird.

»Na darauf kannst du Gift nehmen«, sagte Leonie laut und Sophie bekam einen Schluckauf. Leonie sah ihre Schwester kurz verblüfft an, ehe sie weiter las.

Es ist sicherlich eine Herausforderung, ein Mädchen wie dich zu unterhalten, doch Balling's Cape und ich werden unser Bestes dafür tun.

»Ein Mädchen wie dich.« Leonie las diesen Satz drei Mal hintereinander. Sie sah das Ende des Briefes unvermeidlich auf sich zu kommen und wollte die Worte noch länger auskosten, doch vor allem beflügelte sie dieser Satz einfach. Ein Mädchen wie dich. Wie meinte er das nur?

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch einen schönen ersten Tag und hoffe, dass ihr neues Heim Ihnen zusagt. Anbei finden Sie eine Art »Reiseführer« für Balling's Cape, obwohl ich diese Bezeichnung eigentlich ablehne. Er enthält all die Dinge, die Sie wissen müssen.

Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Willkommen in Balling's Cape!

Dr. D. J. Donovan

Leonie legte den Brief sehr langsam auf den Tisch, als bestünde er aus Porzellan und nahm dann das zweite Blatt aus dem Umschlag. Es war tatsächlich eine Art Reiseführer, wie sie fand, nur dass es darauf ausdrücklich hieß: »Balling's Cape, Ihr neues Zuhause«. Nichts mit Reisen, sondern mit Bleiben. Was Leonie als Allererstes ins Auge sprang, war das Foto von Donovan, im schicken, schwarzen Anzug, das sie anlächelte, sowie einige Bilder der Stadt, unter anderen sogar eine Luftaufnahme. Darunter befand sich eine ganze Liste, die den Titel »Anleitung zum Erhalt des gegenseitigen Vertrauens« trug und zehn aufgeführte Punkte zählte. Leonie kam aber nicht dazu, sie zu lesen – noch nicht jedenfalls –, denn sie wurde von Sophie aus ihren Gedanken gerissen, die plötzlich erneut zu brüllen begann und nach dem Brief in Leonies Händen hieb.

»Ach, komm schon«, seufzte Leonie und nahm das Baby vom Tisch. Sie ging die Treppe nach oben in den ersten Stock und suchte ihren Vater. Als sie ihn zunächst nicht finden konnte, rief sie: »Dad? Wo steckst du, Sophie nervt schon wieder!« Michael kam aus seinem Schlafzimmer und rannte den Stuhl um, den Leonie zuvor als Türschloss für das Badezimmer missbraucht und im Flur stehen gelassen hatte. Offenbar war Michael vorhin einfach daran vorbei gelaufen, ohne ihn zu bemerken. Ups, dachte sie. Allerdings war Michaels Kunststück ganz schön witzig. Leonie grinste, Sophie kicherte und hörte auf zu schreien. »Ziel erreicht, gut gemacht Dad«, lachte Leonie, wandte sich um und ging die Treppe wieder hinunter.

Michael kam wieder auf die Beine, fuhr sich ratlos durchs Haar und murmelte: »Was macht denn der Stuhl hier?« Dann folgte er seiner Tochter. Dabei murmelte er immer wieder verwirrt: »Ein Stuhl, hier oben?«

Leonie kicherte.


4

Anleitung zum Erhalt des gegenseitigen Vertrauens

Folgende Maßnahmen werden von Dr. Daniel J. Donovan dringend angeraten und sind von Rechtswegen zu befolgen:

1. Sonntägliche Messen sind aufzusuchen (so-fern nicht durch Krankheit verhindert). Die Messe ist mindestens einmal im Monat zu besuchen. Sie findet wöchentlich um 12 Uhr Mittags auf dem Rathausplatz statt.

2. Ihrer Arbeit ist nachzugehen. Schüler haben die Schulen aufzusuchen.

3. Jegliche Beschwerden sind an Dr. Donovan zu richten. Im allgemeinen Interesse ist seine Hilfe anzunehmen. Öffentliche Unmutsbekundungen werden in jedem Fall polizeilich unterbunden.

4. Bei psychologischen Problemen sind Sitzungstermine bei Dr. Donovan verpflichtend.

5. Kriminelle Handlungen sind untersagt.

6. Sämtliche juristische Entscheidungen werden von Geschworenen der Gemeinde getroffen. Den Vorsitz aller gerichtlichen Verhandlungen hat Dr. Donovan inne. In Ausnahmefällen ist die Polizei von Balling's Cape berechtigt, zu entscheiden.

7. Boshafte und abfällige Äußerungen gegen Mitmenschen sind sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum untersagt. Jede solche Äußerung ist Dr. Donovan unverzüglich zu melden.

8. Das Verlassen der Stadt Balling's Cape ist bei Dr. Donovan anzumelden.

9. Einladungen an Auswärtige zu richten ist untersagt, solange nicht von Dr. Donovan genehmigt.

10. Sämtliche Türen in privaten wie öffentlichen Gebäuden müssen zu jeder Zeit unverschlossen sein.

Bei Fragen zu einem oder mehreren der oben aufgeführten Punkte ist Dr. Donovan aufzusuchen: Rathaus, Gabriel Road 1

Bürgermeister Dr. Daniel J. Donovan behält sich das Recht vor, jede der oben genannten Bestimmungen jeder Zeit außer Kraft setzen zu können.

Willkommen in Balling's Cape

Keine Sekunde nachdem Leonie fertig gelesen hatte, hatte Michael sich die Liste unter den Nagel gerissen und war nun damit beschäftigt, mit einem dicken Filzstift auf ein großes Blatt Papier zu kritzeln, das er aus seinem Schlafzimmer geholt hatte. Dabei studierte er immer wieder aufmerksam die zehn aufgeführten Punkte. Er sah aus wie ein Schuljunge, der eifrig seine erste Hausaufgabe erledigt, bevor ihm auffällt, dass das eigentlich überhaupt keinen Spaß macht und dass er ungefähr die nächsten zehn Jahre seines Lebens darunter leiden wird.

Leonie musterte ihn belustigt, denn so hatte sie Michael noch nie erlebt. Da er aber eine neue Beschäftigung für sich entdeckt hatte, blieb es an Leonie hängen, das Abendessen zuzubereiten – oder wenigstens etwas Ähnliches. Dabei dachte sie nicht weniger intensiv über die Liste nach als ihr Vater.

Einiges war einfach zu verstehen. Klar, man durfte eben nicht kriminell werden. Hab ich eigentlich nicht vor, überlegte sie. Man durfte niemanden einladen. Na ja, Balling's Cape war sowieso zu weit von allem entfernt, als dass Leonie ihre Freundinnen herbestellt hätte und ihre Mutter würde wohl niemals den Weg antreten, solange Michael unter den Lebenden weilte. Allerdings fragte Leonie sich, was mit den »Messen« gemeint war, im Besonderen verwirrte sie dabei der Ort der Veranstaltung. Messen hatten doch eigentlich was mit Kirche zu tun, aber dieses Rätsel würde sich bestimmt auch noch lösen lassen.

Zunächst würde sie sich einen Kakao machen, sagte sie sich, denn wozu die Eile? Michael war ja sowieso beschäftigt und hätte im Moment auch einen Bombeneinschlag ignoriert. So sah er zumindest aus.

Mit dem Geräusch eines kleinen Glöckchens verkündete die Mikrowelle wenig später, dass Leonie sie öffnen konnte. Sie nahm die Tasse heraus und genoss den ersten Schluck, der, wie sie fand, immer der beste war. Dann schaltete sie, genüsslich schlürfend den Herd ein.

Von Michael hörte sie immer wieder Gemurmel. Das meiste davon verstand sie nicht, doch hin und wieder war sie sicher, den Namen zu hören, der ihr selbst im Kopf herumschwirrte. Was nicht verwunderlich war, da er in der zehn Punkte zählenden Liste, geschätzte zwanzig Mal genannt wurde. Den Umstand, dass sich eine ganze Stadt an Donovans Regeln hielt, beeindruckte sie schon, auch wenn ihr eben nicht alle einleuchteten. Viele waren wahrscheinlich sowieso nur Richtlinien, an die man sich nur lose halten musste, wie sie es aus Fluch der Karibik gelernt hatte. Und Donovan war Psychiater. Der musste Bescheid wissen, oder? Sie hatte sich fest vorgenommen, bald mit ihm zu sprechen und wenn sie ihn über die Bedeutung dieser Liste ausfragen konnte, würden sie immerhin schon mal ein Gesprächsthema haben.

Endlich erhob sich Michael von seinem Platz und hielt ehrfürchtig sein nunmehr beschriftetes Blatt Papier in die Höhe. Er ging zum Kühlschrank und befestigte es mit den kleinen Magneten, die wie Buchstaben aussahen und das Wort »Willkommen« bildeten, an der Tür. Ein weiteres kleines Einzugsgeschenk. Wahrscheinlich auch vom unterforderten Polizeichef angebracht, lächelte Leonie in sich hinein, seltsam, dass ich die jetzt erst bemerke. Denn eigentlich war sie eine große Liebhaberin von Kühlschränken. Es hatte wohl einfach daran gelegen, dass er leer gewesen war.

Michael trat einen Schritt zurück und Leonie konnte erkennen, was er verfasst hatte:

TÜREN NICHT ABSCHLIEßEN SONNTAG 12 UHR GABRIEL ROAD 1 TÜREN NICHT ABSCHLIEßEN TERMIN DIENSTAGS 17 UHR TÜREN NICHT ABSCHLIEßEN

Der Merkzettel war in so unnötig großen Buchstaben verfasst, dass Leonie beinahe laut losgelacht hätte. Dabei wäre sie aber den Schluck Kakao, den sie gerade im Mund hatte, mindestens zur Hälfte wieder losgeworden und sie entschied sich stattdessen für Beherrschung, was gar nicht so leicht war. Michael aber schien stolz wie ein Hund, der zum ersten Mal erfolgreich einen Ball apportiert hatte und betrachtete entspannt sein Werk, als er sagte: »So. Jetzt vergessen wir es bestimmt nicht mehr.«

»Bestimmt nicht«, bestätigte Leonie, bemüht, möglichst ernst zu klingen und fügte dann hinzu: »Herrchen ist bestimmt stolz auf dich.« Schon in der nächsten Sekunde fragte sie sich, warum sie das gesagt hatte, schließlich konnte Donovan ja nichts für Michaels übereifriges Verhalten, oder? Sie erntete einen finsteren Blick ihres Vaters und machte sich wortlos ans Kochen, während Michael sich zu Sophie an den Tisch setzte, die mittlerweile wieder unbekümmert ihren Plüschhund knuddelte.

Nach einer Weile brutzelten Würstchen in der heißen Pfanne. Leonie war keine besonders begabte Köchin, was vor allem daran liegen mochte, dass sie sich noch nie ausgiebig mit diesem Hobby befasst hatte, schrieb es aber ihrem mangelnden Talent zu, eben um zu verhindern, dass sie zum Kochen verdonnert wurde. Das hatte immer gut geklappt, aber Michael hatte sich herausgeredet – so war es seiner Tochter jedenfalls vorgekommen –, ihre Mutter war sonst wo und Sophie würden sie wohl kaum an den Herd setzen. »Tja, man muss nehmen, was man kriegen kann«, murmelte Leonie leise.

Wenig später war das eher dürftige Mahl fertig, zumindest ging die Köchin davon aus und wenn nicht, auch nicht schlimm, dann würde sie in Zukunft zumindest nicht mehr kochen müssen.

Michael hatte sich in der Zwischenzeit wenigstens ansatzweise nützlich gemacht und das Geschirr aus einem der Kartons gefischt, die immer noch den halben Raum verdunkelten. Leonie tischte auf. Michael sah erst die Würstchen und dann seine Tochter skeptisch an.

»Was?«, fragte Leonie in genervtem Tonfall, war aber eigentlich immer noch ziemlich gut gelaunt und erwartete ein schönes kleines Wortgefecht mit ihrem Vater.

» ... ist das?«, ergänzte Michael ihre Frage, hob seinen Teller einen Finger breit in die Luft und ließ ihn wieder auf den Tisch fallen. Das Scheppern ließ Sophie urplötzlich voll konzentriert von ihrem Kuscheltier aufsehen, als ob ein Schuss in einem Westernduell gefallen wäre und sie sehen wollte, wer getroffen zu Boden ging.

»Abendessen. Wie würdest du es nennen?« Leonie setzte die trotzigste Miene auf, die ihr Repertoire hergab und lehnte sich mit verschränkten Armen in ihrem Stuhl weit zurück.

»Nichts, was ich essen würde«, antwortete ihr Vater und schob seinen Teller demonstrativ von sich weg. Dann erhob er sich und ging in Richtung Küche. Leonie vermutete, dass er sich lieber selbst etwas machen wollte und fand diese Reaktion beinahe beleidigend, so schlimm konnte ihr Essen ja nun auch nicht sein. Okay, die Würstchen waren vielleicht etwas schwarz, aber das passierte schon mal, oder?

Auf halbem Wege hielt Michael jedoch inne. Einen kurzen Moment stand er nur da und blickte auf einen seiner Kartons, die ihre Mutter so treffend beschriftet hatte. Dann drehte er sich um, kehrte auf seinen Platz zurück, murmelte »Entschuldige« und begann zu essen.

Als sein Teller leer war, saß Leonie noch immer mit offenem Mund da. Sie verzehrte ihre nicht mehr wirklich warmen Würstchen, während Michael Sophie fütterte und warf ihrem Vater unentwegt misstrauische Blicke zu, was ihn aber nicht weiter zu stören schien. Sie vermutete einen Witz oder etwas ähnliches und wartete auf die Pointe, die nicht kam. Ihr Vater hatte sich tatsächlich bei ihr entschuldigt und gegessen, was sie gezaubert hatte – nun ja, was auf dem Tisch stand. Das war praktisch unmöglich, aber es war passiert. Gut war das Essen tatsächlich nicht, aber Leonie hatte das auch nicht erwartet und es spielte auch absolut keine Rolle mehr. Trotzdem war es erstaunlich, dass Michael keine Miene verzogen und es zu allem Überfluss auch noch abschließend mit »Sehr lecker« kommentiert hatte. Leonie hatte immer mehr das Gefühl, nicht ihren Vater vor sich zu sehen, doch an dieses seltsame Verhalten seinerseits hätte sie sich sogar gewöhnen können.

Nachdem Michael den Tisch abgeräumt und Sophie ins Bett gebracht hatte, die nach dem sonderbaren Vorfall bald einschlief, widmete sich Leonie wieder ihren Umzugskartons, die ihr, ohne dass sie darum gebeten hatte von ihrem Vater die Treppe hinauf bugsiert wurden.

»Danke«, sagte sie kleinlaut, aber er antwortete nicht. Stattdessen verzog er sich in sein Zimmer und hinterließ eine nachdenkliche Leonie. Sie hörte durch die Wände gedämpft, wie er seine Tür schloss und plötzlich schien es um sie unheimlich still zu sein. Sie fühlte sich allein. Etwas niedergeschlagen sah sie sich in ihrem Zimmer um, das sie bisher überhaupt noch nicht in Augenschein genommen hatte.

In zwei Wänden gab es Fenster, jeweils gegenüber befanden sich das Bett und die Tür. Neben dieser stand ein großer Kleiderschrank und unter einem der Fenster ein Schreibtisch. Alle Möbel waren strahlend weiß, ebenso die Vorhänge, die Leonie zu zog, nachdem sie einen Blick hinaus geworfen hatte. Das Sonnenlicht war inzwischen verschwunden und sie schaltete die elektrische Deckenlampe ein, die den Raum in ein warmes Orange tauchte. Dann widmete sie sich endlich ihrer eigentlichen Aufgabe, dem Öffnen der Kartons und der Erforschung ihres Inhalts.

Sie fand natürlich ihre Bücher und Filme, aber auch CDs, Klamotten und viel Krimskrams, an den sie sich nicht einmal wirklich erinnerte. Dinge wie eine unnötig große Sonnenbrille, einen Anspitzer, der aussah wie eine Katze und einen dieser Rätselwürfel, mit den vielen Farben, deren Name ihr nie einfallen wollte. Ein paar Kopfhörer, ihr Tagebuch, in das sie zuletzt vor acht Jahren etwas geschrieben hatte, und ein Foto ihrer Eltern, auf dem ihr Vater ihre Mutter glücklich im Arm hielt.

Es fühlte sich an, als sei das eine Ewigkeit her.

Auf einmal fragte sich Leonie, was ihre Mutter wohl gerade tat. Ob sie wohl noch wach war? Sie wollte es herausfinden. Leonie suchte und fand ihren Laptop, der sofort höchste Priorität erlangte. Alles andere warf sie einfach aufs Bett. Sie stöpselte das Kabel in eine Steckdose, die sie neben ihrem Bett fand. Sehr komfortabel. Dann schaltete sie ihn ein und wartete ungeduldig auf das blaue Licht, das sie empfing. Die kleine digitale Uhr teilte ihr mit, dass es bereits nach elf war.

Sofort klickte sie auf den kleinen, roten Fuchs auf ihrem Desktop; sie hatte früher schon während Klassenfahrten über Facebook mit ihrer Mutter kommuniziert, denn die arbeitete ohnehin meist im Büro und hatte fast stündlich erfahren müssen, was Leonie so erlebte. Leonie hatte das damals wahnsinnig genervt. Nun vermisste sie es.

Das Fenster, das sich auf Leonies Bildschirm öffnete, zeigte aber nicht das erwartete weiße Suchfeld, sondern die Meldung:


[Fehler: Server nicht gefunden]

Sie wiederholte den Versuch, doch nichts geschah. Das Internet war tot. Vielleicht gab es keinen Anschluss und es musste erst noch eingerichtet werden. Wer auch immer zuvor hier gewohnt hatte, musste wohl ohne Internetverbindung ausgekommen sein. Wie das möglich sein sollte, war Leonie zwar schleierhaft, doch sie begnügte sich für den Moment damit, denn ihr Handy würde so oder so funktionieren, sie würde die Tradition eben einmal brechen müssen. Manchmal vergaß sie, dass Facebook nicht die einzige Form der Kommunikation war.

Leonie langte in ihre Hosentasche und zog es hervor, doch zu ihrem Entsetzen war auf dem Display kein einziger der kleinen Balken zu sehen. War das Netz etwa auch tot?

Das kann nicht sein, dachte sie, öffnete die Tür, durchquerte mit großen Schritten den Flur und hämmerte an Michaels Tür. Sie wartete nicht einmal bis er Antwort gab, sondern marschierte einfach hinein.

Er saß im Dunkeln auf seinem Bett und versuchte hastig zu verstecken, was er gerade, im schummrigen, gelben Schein der Straßenlaternen, der durch sein Fenster fiel, angesehen hatte. Er ließ es in der obersten Schublade seiner Kommode verschwinden, doch Leonie wusste längst worum es sich handelte. Michael hatte in etwa dieselbe Entdeckung gemacht wie seine Tochter. Das Foto ihrer Mutter hatte im Wohnzimmer gestanden, solange sie denken konnte, auch wenn es alle paar Jahre durch ein neues ersetzt worden war.

Das war neu für Leonie. Sie war bislang davon ausgegangen, dass sich ihre Eltern zu gleichen Teilen hassten und quasi gemeinsam ihrer Trennung entgegengefiebert hatten, wie einem besonders lange erwarteten Urlaub, der für immer andauern würde. Aber damit hatte sie ganz offensichtlich falsch gelegen. Er wollte sich also gar nicht scheiden lassen?

Als er sie ansah, konnte Leonie Tränen in Michaels Augen erkennen und sein Blick war der traurigste, den sie je gesehen hatte. Und sie hatten mal einen Hund gehabt, Candy, der hatte diesen Blick echt drauf gehabt. Candy war irgendwann gestorben, aber die Ehe von Michael und Jennifer hatte vielleicht doch noch eine Chance. Ein Grund mehr, schnell Kontakt zu ihrer Mutter aufzunehmen, dennoch, das Internet war für Leonie gerade völlig zweitrangig geworden.

Sie setzte sich behutsam auf die Bettkante, neben ihren Vater und umarmte ihn, so wie er sie in der Nacht zuvor auf der Motorhaube seines Wagens in den Arm genommen hatte, als sie beide für einen schrecklichen Moment dachten, sie würden Sophie nie wieder sehen. Michael legte einen Arm um seine Tochter und sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. Wortlos saßen sie eine ganze Weile da, denn es gab nichts zu sagen, was sie nicht beide schon wussten.

Irgendwo auf der Straße erklang Katzengesang. Das schwarze Fell des Tieres war im Dunkel der Nacht kaum zu erkennen, doch Leonie hätte sich ohnehin nicht die Mühe gemacht, hinauszusehen und nach der Katze Ausschau zu halten. Nach einer Weile war das Tier verschwunden. Leonie hörte das Geräusch nie wieder.

Später in der Nacht, als sie in ihrem eigenen Bett lag, dröhnte ihr der Kopf. Sie schien zu viele Gedanken auf einmal zu denken und hatte so viele Fragen, dass sie nicht wusste wo sie anfangen sollte. Einschlafen konnte sie schon gar nicht, auch wenn sie eigentlich nichts dagegen einzuwenden gehabt hätte. Sie schwitzte, obwohl sie schon in nicht viel mehr als Unterwäsche schlief, und die Schatten an der Decke lenkten sie noch zusätzlich ab. Nicht weil sie sich fürchtete, sie war ja kein kleines Kind mehr, sondern weil Leonie das Gefühl hatte, darin Formen zu erkennen. Gesichter, die sie beobachteten und alle möglichen Tiere, ganz so als läge sie auf einer Wiese und schaute den Wolken zu, die ständig ihre Form änderten und langsam unter dem großen Blau dahin trieben.

Nachdem sie sich scheinbar seit Stunden von einer Seite auf die andere und wieder zurück gewälzt hatte, beschloss sie aufzustehen und einen Schluck zu trinken. Solche Nachtspaziergänge hatten ihr in der Vergangenheit schon beim Einschlafen geholfen und würden es bestimmt immer noch, außerdem hatte sie ja gerade nichts anderes vor.

Sie schlüpfte aus dem Bett und öffnete vorsichtig die Tür, denn sie wollte weder Sophie noch ihren Vater aufwecken, für den sie mittlerweile wieder ein wenig Mitgefühl hegte. Sie schlich durch den Flur und ging auf Zehenspitzen die Stufen hinunter in die Küche; an ihren nackten Füßen war der kühle Holzboden ein angenehmer Kontrast zur selbst in der Nacht noch warmen Tropenluft, und die stille Dunkelheit, in der die Dinge nur als Silhouetten zu existieren schienen empfand Leonie als fast ebenso wohltuend wie das gleißende Sonnenlicht, das den Raum am Tag noch erfüllt hatte.

Zu ihrer Freude hatte Michael Milch gekauft und sie genehmigte sich ein Glas. Fast so gut wie Kakao, dachte sie. An den Tisch setzte sie sich nicht, aus Angst, sie könnte beim Stühlerücken zu viel Lärm verursachen. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen und ihr kam eine andere Idee.

Die Terrasse war nicht sehr groß, aber ihre – natürlich unverschlossenen – Türen öffneten sich geräuschlos und als sie von hier in den Nachthimmel schaute, konnte Leonie alle Sterne erkennen, denn Balling's Cape war nachts kaum beleuchtet und warf kein künstliches Licht in die Höhe, wie es Großstädte taten. Ein Stückchen Heimat, dachte Leonie, egal wohin wir gehen, der Himmel über uns bleibt immer derselbe. Wo hatte sie das noch gleich gehört? Ob ihre Mutter vielleicht gerade auch die Sterne beobachtete? Oder vielleicht Daniel? Leonie fiel gar nicht auf, dass sie ihn in Gedanken inzwischen beim Vornamen nannte. Ganz bewusst fragte sie sich allerdings, wie wohl sein zweiter Vornahme lautete. Wofür konnte »J« stehen? Daniel Jacob, Daniel Jonathan? Sie würde ihn danach fragen, ganz bestimmt.

Eine Brise fegte über die Terrasse und umspielte sanft Leonies Arme und Beine. Sie atmete tief ein, setzte sich auf einen der Gartenstühle, die an die Wand gelehnt auf ihre Verwendung warteten, und trank ihre Milch. Danach verweilte Leonie noch an der milden Nachtluft. Bis ich endlich müde werde und einschlafen kann, überlegte sie sich und beobachtete die schweigende Häuserfront vor ihr, die Straße, deren Anfang und Ende sich in der Dunkelheit verloren und auf der sich nichts und niemand regte. Seltsamerweise empfand sie hier überhaupt kein Unbehagen, nicht, wie es ihr auf dem Rastplatz ergangen war und wo sie Daniels Mercedes mit toten Scheinwerferaugen so angestarrt hatte. Was für ein blöder Gedanke, dachte sie. Angst vor einem Auto zu haben – und dann hatte es bei ihrem Glück natürlich auch noch ausgerechnet Daniels sein müssen.

Irgendwo, oben auf dem Hügel, würde Daniel jetzt sein, fantasierte sie. Ob er wohl schlief? Er wirkte jedenfalls nicht, als fehle ihm ein gesunder Schlaf. Im Gegensatz zu Michael, der in letzter Zeit mehr und mehr zu einem nervösen Wrack geworden war, mit dunklen Ringen unter den Augen, strubbeligem Haar und müdem Blick. Ihn so sehnsüchtig um ihre Mutter weinen zu sehen, hatte Leonie beinahe das Herz gebrochen.

Sie dachte an die Zeit, als sie ein kleines Mädchen gewesen war. Damals waren Michael und Jennifer die besten Freunde, hatten Witze gemacht und gelacht und sich verhalten wie verliebte Teenager. Heute wäre es Leonie wahrscheinlich peinlich gewesen. Aber peinliche Eltern waren immer noch besser als geschiedene, oder nicht?

Sophies Geburt hatte die Familie natürlich angestrengt. Leonie wäre aber nie auf die Idee gekommen, dem Baby die Schuld an der Scheidung zu geben. Daran konnte es auch nicht gelegen haben. Gestresst waren ihre Eltern gewesen, ja, aber auch überglücklich eine zweite Tochter zu haben. Und wie ähnlich sie Leonie sah, war schlichtweg erstaunlich.

Zwei Jahre lang waren sie die fröhlichste Familie der Welt gewesen.

Dann hatten die Streitereien begonnen.

Den eigentlichen Grund dafür kannte Leonie nicht, aber im Gegensatz zu ihrer anfänglichen Vermutung, schien Michael nicht der Verantwortliche zu sein. Ganz offensichtlich liebte er Jennifer wie eh und je. Vielleicht stritten sie auch, gerade weil sie sich so liebten? Leonie seufzte. Sie hatte keine Ahnung von diesen Dingen.

Zum ersten Mal seit ihrem Auszug tat Michael ihr wirklich leid und sie glaubte verstehen zu können, wie er sich fühlte. Natürlich war sie nie verheiratet, aber mit sechzehn Jahren schon das ein oder andere Mal verliebt gewesen. Ein Mädchen wie Leonie fiel in der Regel jedem auf, der sehen konnte und deshalb hatte sich auch der eine oder andere Junge in sie verschossen. Etwas daraus geworden war aber nie. Der Höhepunkt ihres Liebeslebens war ein heimlicher Kuss mit Wendell Simmons, einem Jungen aus der vierten Klasse gewesen und das auch nur, weil sie gute Freunde gewesen waren und er nach der Grundschulzeit umziehen und die beiden getrennte Wege hatten gehen müssen.

»Wenn ich groß bin, dann komme ich zurück und wir heiraten«, hatte Wendell ihr damals versprochen, als sie an einem heißen Sommertag zu zweit auf einem Spielplatz gesessen und Händchen gehalten hatten, bis die Sonne untergegangen war. Den ganzen Tag hatte sie darauf gewartet, dass Wendell sie endlich einmal küssen würde, aber er hatte es nicht getan. Als wäre sie giftig. Am Ende hatte Leonie also ihn geküsst. Ein Akt der Gnade. Jungs konnten solche unfassbaren Idioten sein.

Leonie hatte Wendell danach nie wieder gesehen. Wirklich verliebt in ihn war sie aber sowieso nie gewesen.

Gegen Sandkastenliebe hatten ihre Eltern nichts gehabt. Doch sobald sie begonnen hatte sich ernsthaft für Jungen zu interessieren (und umgekehrt), hatten sie Leonie für zu jung erklärt, wann immer das Thema »Freund« aufgekommen war. Dabei waren ihre Eltern stets einer Meinung gewesen. Weshalb Leonie versucht hatte, es wenn möglich zu umgehen. Als sie letzten Endes selbst entschieden hatte, dass sie endlich »alt genug« war, hatten alle Jungs, die sie einmal gemocht hatte, bereits Freundinnen gehabt. Also war Leonie allein geblieben, hatte den ach so aufregenden Geschichten ihrer Freundinnen über ihre Erlebnisse und Beziehungen gelauscht und musste lächelnd Kommentare wie »Du brauchst endlich auch mal einen Freund!« ertragen müssen. Dabei hatte sich Leonie lange Zeit überhaupt keinen gewünscht. Seltsam, dass die Leute immer meinten, die Menschen lesen zu können wie Bücher, vor allem wenn es um die Liebe ging.

Mit Daniel hatte sich die Sache allerdings geändert.

Leonie erinnerte sich an den Tag mit Wendell auf dem Spielplatz. In ihrer Vorstellung verwandelte sie sich in ihr sechzehnjähriges Ich und der kleine Junge in Daniel Donovan, der ihr tief in die Augen blickte, sie fest an sich zog und küsste. Das würde anders sein als mit Wendell, dachte Leonie, und beobachtete eine Sternschnuppe, die über den Himmel huschte.

Ganz anders. Das stand fest.

Langsam aber sicher wurde sie schläfrig, konnte sich aber nicht motivieren, aufzustehen und ihr Bett aufzusuchen. Tatsächlich bemerkte Leonie eigentlich gar nicht, dass sie müde wurde. Der Stuhl war schließlich auch ganz in Ordnung, eigentlich. Wenn man sich richtig hinsetzte, war er sogar ganz gemütlich.

Eigentlich.


5

Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf Leonies Gesicht und die Wärme und Lärm weckten sie unsanft. Sie blinzelte verschlafen und verspürte plötzlich einen Schmerz im ganzen Körper, denn, wie sie bemerkte, hatte sie die ganze Nacht zusammengerollt auf einem Stuhl verbracht. Sie bewegte alle Glieder einzeln und sehr langsam, setzte erst den einen Fuß auf den Boden, dann den anderen, erhob und reckte sich und erinnerte sich erst hinterher, wo sie sich gerade befand.

Mehr oder weniger mitten auf der Straße stand ein sechzehnjähriges, leicht bekleidetes Mädchen, während der morgendliche Trubel an ihm vorüberzog. Auch wenn man in Balling's Cape nicht wirklich von Trubel sprechen konnte, eher von einer Art »entspannter Aufregung«.

Als Leonie sich ihrer Situation bewusst wurde, erstarrte sie für Sekunden und sah sich von Menschen beobachtet, die vor ihren Türen die Morgensonne genossen und auf ihren Terrassen die Blumen gossen sowie den einen oder anderen Wagen, der vorüberfuhr und deren Insassen einen Blick auf Leonie erhaschten. Tatsächlich waren es wahrscheinlich nur drei oder vier gewesen, doch Leonie meinte mindestens hundert Augenpaare auf sich gerichtet zu spüren und stürzte ins Haus.

Die Küche war menschenleer, Michael schien also noch nicht aufgewacht zu sein. Leonie durchquerte in Rekordzeit den Raum, rannte die Treppe nach oben, rutschte aus, rannte weiter, den Flur entlang bis in ihr Zimmer und schmetterte die Tür ins Schloss. Außer Atem presste sie sich mit dem Rücken gegen die Tür, als erwartete sie, dass jemand versuchte sie einzutreten und pustete sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. Sie schaute auf ihr Bett, das sich natürlich exakt in dem Zustand befand in dem sie es verlassen hatte und es schien zu sagen: »Wo bist du denn die ganze Zeit gewesen?«

Etwas hatte sich aber doch verändert, denn auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch befanden sich Kleider, die Leonie noch nie gesehen hatte, aber sofort erkannte.

Eine Schuluniform.

Schlagartig erinnerte sich Leonie daran, dass Dienstag war und sie heute bereits den ersten Tag in der neuen Schule über sich würde ergehen lassen müssen. Sie verdrängte den Schock von gerade, gleich durch den nächsten.

Respektvoll und noch immer halb erstarrt bewegte Leonie sich langsam durch den Raum und inspizierte die Klamotten ehrfürchtig.

Ihre ehemalige Uniform hatte sie gehasst, die war in etwa so hübsch gewesen wie die der »Federal Police« und Leonie hielt das Babyblau der Hemden für eine Art Gift, zumindest wenn sie es tragen musste. Diese hier aber war weiß. Sie leuchtete geradezu, als Leonie sie emporhielt und inspizierte. Hat was von Klosterschule, dachte sie, ganz traf es das aber doch nicht. Zumindest die Länge des Rocks widersprach dem Gedanken gewaltig und erinnerte in Kombination mit dem Poloshirt weit mehr an eine Art Tennisdress. Fehlte nur das Stirnband. Eigentlich sogar ganz schick. Das Emblem der »Balling's Cape High School« war in blauer Schrift auf die Brust gestickt, aber damit würde sie leben können. Dieser Ton passte sogar zu ihren Augen. Ergänzt wurde das ganze durch weiße Sommerschuhe mit darin befindlichen Socken, die unter dem Stuhl platziert worden waren.

Blieb nur noch die Frage, wie die Sachen überhaupt in ihr Zimmer gefunden hatten. Leonie glaubte nicht an Wichtel, also blieben nur noch Michael oder der chronisch unterbeschäftigte Chief Richmond. Letztere Möglichkeit erschien ihr dann doch eher abwegig. Ganz zu schweigen von unheimlich.

Nachdem sie sich gewaschen, die Uniform übergezogen und ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebändigt hatte, klopfte sie, diesmal sehr zaghaft, an Michaels Tür. In ihrem neuen Outfit fühlte sie sich, dafür, dass es sich um eine Schuluniform handelte, überraschend wohl und die Schmerzen in ihren Knochen waren verflogen. Sie hatte ohnehin hervorragend geschlafen, Gartenstuhl hin oder her. Jetzt bin ich zu Hause, schoss es ihr durch den Kopf, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären wo dieser Gedanke hergekommen war.

Michael öffnete nicht.

Leonie klopfte erneut, diesmal lauter, doch im Zimmer blieb es still. Sie schaute hinein, da lag aber nur Sophie in ihrem Bettchen und schlummerte, unbehelligt vom Leben. »Na, hast du vielleicht Daddy gesehen?«, flüsterte Leonie. Wie erwartet antwortete das Kind nicht und lutschte weiter am Daumen.

Leonie schloss leise die Tür, zuckte die Schultern und lief beschwingt die Treppe hinunter um in der Küche nachzusehen. Doch von ihrem Vater fehlte auch dort weit und breit jede Spur. Immerhin hat er alle Kartons nach oben gebracht, stellte Leonie fest und begann sich ein Frühstück zu machen. Er würde schon wieder auftauchen. Und er war nicht der Typ, der sich aus Kummer etwas antun würde. Hoffte Leonie wenigstens.

Die Küche und die Zeit gaben zwar nur ein Sandwich her, aber Leonie war absolut zufrieden damit. Es war bereits nach acht, wie ihr die große Küchenuhr verriet, die Michael, wann auch immer, angebracht hatte und deren Platz schon in Canberra stets der über dem Kühlschrank gewesen war, wo sie sich auch jetzt wieder befand. Da Leonie weder Michaels Zeitplanung, noch seinen Aufenthaltsort kannte, verkniff sie sich ein ausgiebiges Frühstück. Außerdem fühlte sie sich in ihren weißen Kleidern leicht, schlanker denn je und pudelwohl. Ein Englisches Frühstück könnte dieses Gefühl zerstören. Ein Sandwich dagegen wohl kaum.

Mampfend saß sie am Küchentisch, die Morgensonne im Rücken, und schaute auf ihr Handy, um festzustellen, dass der Empfang noch immer nicht vorhanden war. Sie hatte ja auch noch keine Beschwerde eingereicht. Also was soll´s, dachte sie und verschlang ihr Essen. Für Leonies Verhältnisse war das ein sehr diplomatischer Gedankengang. Noch vor ein paar Tagen wäre sie zur Furie geworden, wenn das Internet nur für eine Minute ausgefallen wäre. Heute dagegen störte es sie so gut wie überhaupt nicht. Auch dass sie ihre Mutter hatte anrufen wollen, war längst schon wieder vergessen.

Als Michael um halb neun noch immer nicht aufgetaucht war, beschloss Leonie kurzerhand einfach aufzubrechen. Sie würde die Schule schon finden und Balling's Cape wirkte, als könnte man in einer halben Stunde von einem Ende der Stadt zum anderen gelangen, also sollte Leonie Zeit satt haben und pünktlich um neun Uhr zum Unterricht erscheinen können. Sie holte ihre Schultasche aus ihrem Zimmer, überlegte kurz, ihr Bett zu machen, erklärte es sich selbst als zu anstrengend und flitzte die Treppe hinunter. Sie war schon im Begriff das Haus zu verlassen, als ihr etwas einfiel. Sie kehrte um, nahm einen Stift aus ihrer Tasche und schrieb, in noch größeren Buchstaben als es ihr Vater getan hatte, auf den Zettel am Kühlschrank:

DAS BABY NICHT VERHUNGERN LASSEN

Zufrieden und mit einem Grinsen im Gesicht ließ sie die Haustür hinter sich ins Schloss fallen.

»Entspannte Aufregung« war tatsächlich der richtige Ausdruck um Balling's Cape am Morgen zu beschreiben. Die Straßen waren zwar nicht menschenleer, aber in etwa so überfüllt wie der wolkenlose Himmel über Leonies Kopf, von dem die Sonne bereits jetzt gnadenlos hinunter brannte. Das Stillleben, das die Stadt am Vortag noch gewesen war wachte allmählich auf. Hier und da rollte langsam ein Auto dahin und der ein oder andere Passant ging vorüber. Einen Bürgersteig gab es nicht, die ganze Stadt schien eine große Fußgängerzone zu sein und man ging und fuhr unbehelligt mitten auf der Straße. Wenn sich einmal eines der wenigen Autos näherte, gab es weder ein Hupen, noch ein überstürztes Ausweichmanöver oder einen Streit, sondern nur ein Lächeln und eine freundliche Begrüßung, ehe man gelassen beiseite trat.

Beeindruckt tat Leonie es ihren neuen Nachbarn gleich. Schlendernd wählte sie zunächst dieselbe Strecke, die sie am Vortag in die Innenstadt geführt hatte. Einige Radfahrer passierten sie und Leonie drückte sich an den Straßenrand, um einen Wagen vorbei zu lassen, dessen Fahrer ihr freundlich winkte. Leonie lächelte zur Antwort und ging weiter. Da sie aber eigentlich blind einem Weg folgte, an dessen Ende sich ihr Ziel womöglich gar nicht befand, steuerte sie nach einer Weile einen Mann an, der in einem flauschig aussehenden Bademantel auf seiner Terrasse saß, die Beine übereinandergeschlagen, und genüsslich einen Kaffee schlürfte. Neben ihm in der Einfahrt seines Hauses parkte ein makellos polierter silberner Rolls Royce. Leonie hatte eine Schwäche für schöne, alte Autos. Vielleicht fragte sie deswegen gerade diesen Herrn. Sie traute sich nicht, die Stufen der kleinen Treppe hinauf und einfach auf sein Grundstück zu spazieren, sprach ihn also vom Straßenrand aus an.

»Entschuldigen Sie, Mister?« Der Mann blickte zu ihr hinunter und musterte sie. Er hatte dunkles Haar, das langsam aber sicher heller zu werden schien. Eine filigrane Brille, die ihm ständig von der markanten Nase zu rutschen drohte schob er regelmäßig mit einem Finger zurück in Position. Er erwiderte nichts, bedeute ihr aber mit einer wohlwollenden Handbewegung ihre Frage zu stellen. »Können Sie mir erklären, wo ich die Schule finde? Balling's Cape High?«

»Balling's Cape High«, sagte er bestätigend, trank einen großen Schluck Kaffee und blickte in den Himmel, als würde er sich seine Antwort gerade ausdenken. »Hab ich mir fast gedacht.« Er deutete auf Leonie. Klar, natürlich kannte er die Uniformen. Wie blöd von mir, dachte sie. »Da folgen Sie der Straße, Miss, bis zur zweiten Kreuzung. Dann gehen Sie links.« Er nahm geräuschvoll noch einen Schluck und stellte seine Tasse auf einem kleinen Holztisch ab. Dann stand er auf und untermalte die Wegbeschreibung, indem er die Straße hinunter deutete. »Dann an der Kirche vorbei und geradeaus. Dauert keine zehn Minuten bis Sie da sind, Miss.«

Ich hab´s gewusst, dachte Leonie, sagte aber: »Vielen Dank.«

»Ich hab Sie hier noch nie gesehen«, bemerkte der Mann, als Leonie schon im Begriff war dem beschriebenen Weg zu folgen. Er musterte sie neugierig, mit in den Manteltaschen vergrabenen Händen. Seinen Kaffee schien er vergessen zu haben.

»Ich bin gestern erst angekommen. Wir sind neu in der Stadt.« Leonie bemühte sich um Höflichkeit.

Der Mann beäugte sie einen Moment und warf einen kurzen Blick die Straße hinauf, als würde er nachdenken. »Na dann herzlich willkommen, Miss. Ein hübsches Kind wie Sie tut der Stadt sicher gut«, strahlte er sie an, mit einem Lächeln, das in seiner Jugend vermutlich einmal charmant gewesen war, Leonie aber an ihren Großvater erinnerte. Den, der immer Dinge sagte wie »Du musst mehr essen, du fällst noch vom Fleisch, Mädel« oder »Zieh was Anständiges an, willste wie eine Dame von Welt aussehen, oder wie ein Flittchen aus der Gosse?«, worauf ihre Großmutter sich verschluckte und ihn anklagend und nach Luft schnappend ansah, insgeheim aber genau dasselbe dachte wie er. Leonie konnte beide nicht leiden. Zum Glück lebten sie in Irland und sie traf sie nicht allzu oft, ein Umstand, für den sie sehr dankbar war.

Man musste ihrem Nachbarn aber zugutehalten, dass er längst nicht so alt war, wie ihr Großvater. Leonie wollte ihn dennoch nicht zum Freund.

»Danke Ihnen«, wiederholte sie höflich und ging etwas peinlich berührt die Straße hinunter. Sie wusste genau, dass der Kerl sie weiterhin beobachtete.

Seine Wegbeschreibung war trotz allem einwandfrei. Es dauerte nicht lange, bis Leonie das Wohngebiet verlassen und eine weniger dicht besiedelte Zone erreicht hatte, in deren Mitte sich die Kirche mit ihrem hoch aufragenden Turm befand, umgeben von einem kreisrunden Rasen von saftigem Grün, der von mehreren Gehwegen durchzogen war. Sie passierte das Gotteshaus, dessen Türen und Fenster aus irgendeinem Grund mit großen Holzbrettern vernagelt waren. Wurde die Kirche renoviert? Wurden die Messen deshalb auf dem Rathausplatz abgehalten? Bestimmt, dachte Leonie und wandte ihren Blick von dem, auf merkwürdige Art und Weise traurig wirkenden, weißen Gebäude ab.

Die Schule war schon aus einer gewissen Entfernung zu erkennen. Wie alle Gebäude in Balling's Cape, sah sie rustikal, aber einladend aus und war vor allem überraschend klein. Leonie schätzte, dass nicht allzu viele Schüler hineinpassen würden. Sie bewegte sich auf den Hof zu, auf dem bereits eine ganze Meute auf den Unterrichtsbeginn wartete, allesamt in weiße Uniformen gekleidet. Noch bevor Leonie sie aber erreicht hatte, strömten sie durch die Eingangstüren, über denen derselbe Schriftzug angebracht war, den Leonie nun auf der Brust trug. Sie hatte keine Uhr bei sich, nutzte stattdessen die Kirchturmuhr, die trotz des schlechten Zustands der Kirche genau zu gehen schien. Leonie wurde in ihrer Vermutung bestätigt, dass es exakt neun war. Sie nahm die Beine in die Hand, hastete die Straße hinunter über den Schulhof und durch die große hölzerne Doppeltür hinein.

Gleich hinter dem Eingang begegnete ihr ein wohlbekanntes Gesicht. Vor der gegenüberliegenden Wand stand eine überlebensgroße Bronzestatue von Daniel J. Donovan, die fast bis zur Decke reichte. Sein Name war in den Sockel eingraviert und darauf lagen zig Blumensträuße aufgehäuft, sodass seine Füße nicht mehr zu sehen waren. Er stand aufrecht, die Arme hinter dem Rücken verschränkt und strahlte Kraft und Sympathie aus, wie im wahren Leben. Sogar sein Lächeln war perfekt getroffen, erkannte Leonie und ertappte sich dabei, wie sie ihre Hand auf die Attrappe legte. Das Metall war kühl, unnachgiebig und sie schaute ehrfürchtig in die bronzenen Augen, die unbeweglich über sie hinweg sahen. Nach einer Weile trat sie widerwillig einen Schritt zurück und inspizierte ihre weitere Umgebung, nicht ohne noch ein oder zwei Blicke auf die Fälschung zu werfen.

Zu beiden Seiten, hinter und neben der Statue befanden sich jeweils eine Treppe und ein Flur, mit Eingängen zu mehreren Klassenzimmern. Im Stockwerk darüber sah es vermutlich ganz genauso aus. Allein würde sie die richtige Klasse garantiert nicht finden, ohne sich durch diverse peinliche Situationen, frei nach dem Motto »Entschuldigung, falscher Raum« winden zu müssen. Abgesehen davon wusste sie nicht einmal welche Klasse die ihre war, da Michael es versäumt hatte sie zu informieren. Ganz abgesehen davon, dass er gar nicht anwesend gewesen war. Also entschied sich Leonie dafür, das Sekretariat zu suchen, da würde man sicher Bescheid wissen. Obwohl selbst Leonie wusste, dass die Organisation von Schulen durchaus zu wünschen übrig lassen konnte.

Sie lief den rechten Flur hinunter, kehrte erfolglos zurück und überprüfte den linken. Alle Räume waren mit einzelnen Buchstaben markiert. Alle bis auf einen. Der allerletzte Raum zu Bronze-Donovans Linken trug den Namen »Direktorin«. Tja, das kam dem Sekretariat am nächsten. Besuchen wir eben den Boss, seufzte Leonie in sich hinein.

Auf ihr Klopfen hörte sie drinnen ein fragendes »Herein?« erklingen. Sie öffnete langsam die Tür und steckte den Kopf in das Büro, das sich dahinter verbarg. Ein gigantischer Eichenschreibtisch, der in Leonie die Frage weckte wie er durch die Tür gepasst hatte, oder ob die Schule darum herum gebaut worden war, beherrschte den kleinen Raum. Leonie räusperte sich und trat ein. Eine dicke Frau mit dunkelblonden Locken, in einer hässlichen violetten Bluse glotzte ihr entgegen, bei der es sich laut Namensschild auf dem Tisch um »Direktorin Christa Elvas« handelte. Leonie musste ihren Gesichtsausdruck beherrschen, was ihr nur unter Schwierigkeiten gelang. Die Frau faltete erwartungsvoll die fleischigen Hände und grinste so heftig, dass jede ihrer zahlreichen Falten hervortrat und wirkte wie der Grand Canyon.

»Hallo.« Leonie überlegte noch, was sie sagen sollte und wünschte in ihrem schönsten australischem Akzent einen »Guten Tag« hinterher, um Zeit zu gewinnen. Bei diesem irren Blick war es ohnehin schwierig, sich zu konzentrieren. »Ich bin neu hier«, entschied sie sich schließlich zu sagen. »Ich suche meine Klasse. Tut mir leid, dass ich spät dran bin.«

»Ach, aber das macht doch nichts!« Zu allem Überfluss sprach die Frau auch noch drei mal lauter als notwendig gewesen wäre. Leonie fühlte ihre Ohren dröhnen. Das Geräusch erinnerte sie an Donnergrollen. »Du bist also«, Elvas durchforstete einige Papiere auf ihrem Schreibtisch, »Eleonore Fitzpatrick.« Sie grinste über beide Ohren.

Leonie schüttelte es. »Leonie«, sagte sie. Sie hasste nichts mehr, als bei ihrem vollen Vornamen genannt zu werden. Sie fand das war ein Name für alte Schachteln.

»Natürlich, natürlich, Leonie also.« Die Dicke zog aus dem Nichts einen Stift hervor, den sie mit einer ausholenden Bewegung auf ihren Zettel setzte und darauf herumkritzelte. »Dein Vater sagte schon, dass du dich wahrscheinlich verspäten würdest.«

Was hatte die Frau gerade gesagt? Wann hatte sie denn mit Michael gesprochen? »Mein Vater?«

Elvas sah sie an. »Du bist doch die Tochter von Michael Fitzpatrick, oder nicht?« Die Frau durchbohrte Leonie mit ihren bernsteinfarbenen Augen. Das Mädchen nickte. »Dein Vater sagte heute morgen du hättest womöglich nicht gut geschlafen und würdest wohl später kommen.«

Zwei Fragen. Erstens, woher wusste Michael, wie Leonie geschlafen hatte und zweitens, was hatte er hier in der Schule verloren? »Und wieso war mein Vater hier? Nur um Ihnen zu sagen, dass ich am ersten Tag verschlafe?« Leonie versuchte nicht zu verwirrt zu klingen. Sie fühlte sich in diesem winzigen Raum gerade wie Alice, im Reich der Herzkönigin.

»Nein, er arbeitet doch hier, Dummerchen.« Wer sagte denn bitte heute noch »Dummerchen«? Augenblick, dachte Leonie, was hatte sie gerade gesagt? Leonies Blick sprach Bände und Elvas ergänzte: »Er unterrichtet hier. Wusstest du das denn nicht?«

Nein, das wusste Leonie nicht. Das war auch völlig absurd. Ihr Vater war kein Lehrer, sondern Schriftsteller – oder bezeichnete sich zumindest gerne so. Eigentlich war er Journalist bei einer kleinen Zeitung, der einen einzigen einigermaßen erfolgreichen Roman herausgebracht hatte. Der hieß Bergfieber, oder zumindest so ähnlich, und es ging um einen Mord auf einer Wanderung. Den Täter kannte man schon am Anfang, wie bei Columbo, was alle Spannung abtötete. Auch sonst war die Geschichte nicht gerade ein Hit. Deshalb hatte Leonie das Buch auch nie zu Ende gelesen.

Das hatte sie Michael allerdings nicht erzählt.

»Was?« Leonie wäre gern eine geistreichere Antwort eingefallen, aber das blieb ihr verwehrt. Elvas schien langsam die Geduld mit ihr zu verlieren, erhob sich (Leonie war sicher den Stuhl erleichtert aufatmen zu hören) drückte sich an ihrem übergroßen Tisch vorbei und geleitete das Mädchen vor die Tür.

Als sie gemeinsam den Flur entlanggingen, beantwortete die dicke Frau Leonies Frage. Oder versuchte es zumindest. »Dein Vater unterrichtet seit heute an dieser Schule Englisch.« Sie klang, als würde sie über das Wetter sprechen. Ach du scheiße, jetzt sag bloß, mein Dad ist mein Lehrer, fürchtete Leonie. Das war so ziemlich das Letzte, was sie sich jemals gewünscht hätte. Doch Elvas war noch nicht fertig. »Die jüngeren Klassen natürlich, er ist ja kein ausgebildeter Lehrer.« Leonie war nicht ganz sicher ob sie den logischen Zusammenhang hinter dieser Aussage begriffen hatte, aber erleichtert war sie dennoch.

Trotzdem: Michael war Lehrer?

»Aber meine kleine Schwester ist ganz allein zu Hause«, stellte Leonie aufgeregt fest. Sie wollte nicht noch einmal für Sophies Verschwinden, oder Schlimmeres, verantwortlich sein.

»Da mach dir mal keine Sorgen, dein Vater hat einen Nachbarn gebeten, auf sie aufzupassen, hat er gesagt.« Das beruhigte Leonie zwar nur oberflächlich, aber so war es immerhin nicht ihre Schuld, wenn das Kind verhungerte. Das war trotzdem kein schöner Gedanke.

Sie passierten die Statue und erreichten die Treppe rechts von ihr, Elvas warf einen verehrenden Blick auf den Mann aus Metall, der genauso gut von Leonie hätte stammen können. Dann konzentrierte sie sich wieder auf ihre neueste Schülerin. »Erster Stock, Raum L. Wie Leonie.«

Leonie konnte nicht fassen, dass diese Frau diesen Satz gerade wirklich ausgesprochen hatte, reagierte aber nicht darauf. Sie stieg hinauf, nachdem Elvas ihr einen kräftigen Schubs gegeben hatte, der absolut nicht notwendig gewesen wäre. Als Leonie sich noch einmal umdrehte war die Dicke schon wieder verschwunden. Wie schnell sie sich bewegen kann, rätselte Leonie. Ihre ganze Person erinnerte sie an eine schrullige Frau aus einem Zeichentrickfilm. Fehlte nur noch, dass sie anfing ein Lied zu schmettern.

Kopfschüttelnd erklomm das Mädchen die Stufen.

Raum »L« verfügte über die gleiche Eichentür wie alle anderen Räume auch. Sie kam Leonie riesengroß und einschüchternd vor. Sie klopfte drei mal, ehe sie die Klinke betätigte. Diesmal waren wirklich diverse Augenpaare auf sie gerichtet und sie dankte Gott, dass sie in diesem Moment angezogen war. Bitte lass' das wirklich den richtigen Raum sein, flehte sie und schloss bedächtig die Tür hinter sich, ehe sie sich vorstellte. Sie schaute dabei auf den Boden. »Hallo, ich bin Leonie Fitzpatrick. Misses Elvas hat mich her geschickt.« Sie hob unsicher eine Hand zum Gruß und dann ihren Blick. Sämtliche Schüler zeigten ein interessiertes Lächeln, aber die waren zweitrangig.

Leonie hatte eine Art Déjà-vu.

Vorgestern hatte sie gedacht einen griechischen Gott vor sich zu haben – diesmal erblickte sie Venus höchstpersönlich. Die war zwar römisch, aber das war irrelevant. Die Frau, die aussah wie gemalt, richtete das Wort an das schweigende rothaarige Mädchen in der Tür: »Guten Tag, Leonie, schön, dass du da bist.« Ihre Stimme war Musik und ihr Haar – das sie zu einem eleganten Zopf geflochten hatte – war so golden, wie die Sonne über dem Meer in der Karibik, dessen Blau dem ihrer Augen glich. So blau, wie Ozeane. Wie der Himmel. So glänzend, wie Saphire. Dort stand die schönste Frau, die Leonie je gesehen hatte. Die irgendjemand je gesehen hatte. Das Mädchen musste sich das eingestehen – wohl oder übel. »Mein Name ist Anna, Leonie, und du kannst mich ruhig so nennen, wir nennen uns hier alle beim Vornamen.« Sie blickte in die Klasse. »Stimmt´s?«

»Ja, Anna!«, erklang ein eher erbärmlicher Chor aus neun Stimmen, einer sehr kleinen Klasse, wie Leonie fand, doch ihr Blick war noch immer an die Lehrerin geheftet. Anna war in einen schwarzen Bleistiftrock, der ihr nicht ganz bis zu den Knien reichte, und eine ärmellose Bluse gekleidet, deren obersten Knöpfe nicht geschlossen waren, sodass ein hübsches Halsband zu erkennen war. Das Band in ihrem Haar war schwarz – wie die Ränder ihrer Augen. So elegant, geschweige denn sexy, kleidete sich nicht einmal Leonies Mutter, die als Anwältin nicht unbedingt bekannt dafür war, in Mausgrau bei ihren Prozessen aufzukreuzen. Michael hatte Leonie einmal versichert, einige Leute ließen sich nur verklagen um Jennifer Fitzpatrick anschauen zu können, während sie sie hinter Gitter brachte. Ihre Mutter hatte gelacht und ihn geküsst.

Leonie musste ein paar mal blinzeln, um aus dieser Erinnerung in die Gegenwart zurückzukehren.

Als wäre Anna nicht schon schön genug gewesen, hatte sie lächerlich lange, schlanke Beine, einen unwahrscheinlich wohlgeformten Körper, weiche, rosige Wangen und ein so süßes Lächeln, dass es schon beinahe redundant war. Gott musste vergessen haben die Flügel anzubringen und hatte die Frau versehentlich zur Erde geschickt, anstatt sie über die Menschen wachen zu lassen.

Unter anderen Umständen hätte Leonie Anna womöglich für sympathisch gehalten, aber irgendetwas, was sie nicht recht erklären konnte, hinderte sie daran.

Die junge, blonde Frau, die leicht für zwanzig durchgegangen wäre, deutete auf einen freien Platz neben einem dunkelblonden Mädchen, das freudig ein Gesicht machte, das Leonie an einen hechelnden Hund erinnerte. »Nimm doch neben Rachel Platz«, sagte Anna. Wenn sie sprach, dachte man an eine sanfte Gitarrenmelodie.

Leonie tat wie geheißen. Sie bahnte sich rasch einen Weg vorbei an den wenigen Tischen und plumpste auf den leeren Stuhl. Als sie sich nach links wandte, sah sie sich von den größten Glubschaugen, die sie je gesehen hatte, angestarrt.

»Rachel?«, fragte Leonie und zog ihren Pferdeschwanz über die Schulter nach vorn. Das Mädchen, dessen Haar wie glattgebügelt aussah, nickte energisch, hielt sich dann aber grinsend einen Finger vor die Lippen. Hat sie mir gerade gesagt, ich soll den Mund halten?, fragte Leonie sich selbst.

Anna nahm den Unterricht nicht gleich wieder auf, stattdessen suchte sie den Dialog mit ihrer neuen Schülerin. Leonie wusste noch nicht, wie sie das fand. »Möchtest du uns etwas über dich erzählen, Leonie?«

Wenn ich etwas zu erzählen hätte, bestimmt, dachte sie, doch ihr fiel nichts ein, was in irgendeiner Form interessant gewesen wäre. »Ich komme aus Canberra. Ich bin mit meinem Vater hergezogen.« Sie sah sich um, alle Augen waren gespannt auf sie gerichtet. Sie fühlte sich durchleuchtet. Anna setzte sich auf ihr Pult, während Leonie erzählte und legte im Schoß die weichen Hände übereinander. »Wir sind gestern erst angekommen. Mein Vater arbeitet jetzt wohl hier.« Leonies Stimme wurde immer dünner, doch es schien erwartet zu werden, dass sie mehr erzählte, also fügte sie alles hinzu was ihr in den Sinn kam. »Ich hab' eine kleine Schwester, Sophie, die ist zwei – und schläft den ganzen Tag – « Anna lachte. Leonie stutzte. Es war ein fürchterlich herrliches Geräusch. Wie Glockenklang im Wind. Das Mädchen fuhr fort. »Unser Haus gefällt mir gut ... darf ich fragen, welches Fach wir eigentlich gerade haben?« Jetzt lachte die ganze Klasse. Ihre Sitznachbarn schienen es als Witz aufgefasst zu haben, also fiel Leonie nach einem Moment mit ein und sie kicherten alle gemeinsam. Das fühlte sich gar nicht schlecht an.

Es stellte sich heraus, dass sie sich im Englischunterricht befanden. Zumindest war das der Schluss, zu dem Leonie kam. Sie erhielt einen schlicht gestalteten Band mit dem Titel Die schönsten Märchen von A bis Z, der alle erdenklichen Geschichten enthielt, die Leonie als Kind geliebt hatte, aber auch solche, von denen sie noch nie gehört hatte. Sämtlich Kindergeschichten, begriff Leonie nicht gleich, was damit zu tun war. Sie vermutete eine stundenlange Analyse, philosophische Deutungen oder sonst was, die einem den ganzen Spaß an den schönen Geschichten nahmen. Leonie stellte sich bei solchen Aufgaben stets eine Sektion vor. Aber Anna verlangte nichts dergleichen. Anstatt den Inhalt des Buches zu zerreden, taten sie nichts anderes, als darin zu lesen. Mal abwechselnd laut, mal leise für sich und dann sollten sie einige Lieblingszitate heraussuchen, aber auch damit war nichts weiter anzustellen.

Während Anna selbst einen Auszug aus »Rotkäppchen und der böse Wolf« vorlas – und jedes Hörbuch hätte von ihr gelesen werden sollen, wie Leonie feststellte – erklang ein Klingeln und unterbrach die Lehrerin unhöflich. In einer synchronen Bewegung erhoben sich neun von nunmehr zehn Schülern. Nur Leonie blieb natürlich auf ihrem Stuhl kleben, die sich fragte was geschah. Anna winkte sie mit einem gütigen Lächeln zur Tür. Eine Strähne rutschte ihr in die Stirn und sie schob sie hinter ihr Ohr zurück. Selbst das macht sie viel anmutiger, als ich, dachte Leonie und folgte den anderen hinaus.

Sie hätte erwartet, dass auf den Gängen, oder spätestens auf dem Hof der für Schulen typische Lärm losbrechen würde, dass die Schüler in Gelächter verfallen und sich lautstark unterhalten würden und die Jüngeren Fangen oder mit einem Ball spielen würden. Nichts davon trat ein. Langsam, ohne jede Aufregung verließen die Schüler schweigend das Gebäude. Leonie sah sich in alle Richtungen um, doch weder Anna, noch die dicke Direktorin, auch nicht ihr Vater waren mit hinaus gekommen. Ohne die Aufsicht einer Autoritätsperson wäre an ihrer alten Schule die Apokalypse ausgebrochen. Aber hier? War das normal? Leonie blieb nichts anderes übrig als abzuwarten.

Klassenweise standen sie dort und schwiegen noch immer. Langsam wurde es Leonie zu bunt. Sie lehnte sich zu Rachel hinüber und flüsterte: »Hey, sag mal, was machen wir denn hier?« Das Mädchen warf ihr den ausdruckslosesten Blick zu, den Leonie je gesehen hatte. Waren das dieselben Augen, die sie vorhin im Unterricht noch freudig geweitet angestarrt hatten? Rachel legte erneut ihren Finger an die Lippen, diesmal jedoch ohne jedes Lächeln und zischte ein einziges Wort: »Geduld.« Nun, das traf sich nicht gerade gut, Leonie war kein sehr geduldiger Mensch. Vor allem dann nicht, wenn sie keine Ahnung hatte, worauf sie wartete.

Die nächsten Minuten erschienen ihr wie Tage und die brennende Sonne machte es nicht besser. All die weißen Uniformen sahen aus, als leuchteten sie von selbst, doch jedes Leben war aus ihren Trägern gewichen. Die Schüler standen merkwürdig steif und blickten stur vor sich hin. Leonie konnte das nicht. Sie verschränkte ihre Arme, mal vor der Brust, mal hinter dem Rücken, wippte auf und ab und sah sich permanent um, begierig darauf, irgendetwas zu tun.

Nach einer Ewigkeit erklang wieder ein Klingeln, diesmal läutete es zweimal hintereinander. Na toll, gehen wir jetzt wieder rein?, war Leonies erster Gedanke, doch im selben Moment erwachten all die anderen um sie herum aus ihrem Delirium und Rachels Augen verwandelten sich wieder zurück. Sie packte Leonie am Arm und zog sie mit sich. »Jetzt können wir reden!«, freute sie sich und isolierte Leonie von den anderen Schülern, die sich jetzt allesamt ausgelassen unterhielten. Die kleinen Kinder spielten etwas miteinander.

Als sie etwas abseits schließlich wieder losgelassen wurde fragte Leonie: »Was war das denn?«

»Ich sagte doch, Geduld. Wir dürfen nicht reden, vom ersten Klingeln, bis zum zweiten. Wir sollen üben geduldig zu sein.«

»Im Ernst? Das hab ich ja noch nie gehört«, antwortete Leonie und rieb sich den Arm, den Rachel umklammert hatte. Das Mädchen hatte ganz schöne Griffkraft.

»Aber es hilft, glaub mir. Wenn du geduldig bist, bist du viel gelassener.« Sie dehnte ihre Worte schwärmerisch und setzte den manischen Hundeblick auf, der Leonie so langsam unheimlich wurde.

»Dauert das denn immer so lange, bis es das zweite Mal klingelt?« Sie fragte sich, wie lange sie es noch ausgehalten hätte, ehe sie, laut kreischend, kreuz und quer über den Schulhof gerannt wäre, nur um sich endlich zu bewegen.

»Nein, das ist ja das Lustige daran!« Rachels Stimme überschlug sich beinahe, »Das ist immer unterschiedlich! Manchmal müssen wir nur ganz kurz warten. Und manchmal klingelt es nicht nochmal bis wir schon wieder im Unterricht sitzen!«

»Ach was. Und da dürft ihr dann auch nicht reden?« Rachel nickte. »Und die Lehrer, wie finden die das?«

»Die dürfen ja dann auch nicht reden, das ist ja das Tolle daran!«

Was hast du denn geraucht, Süße?, dachte Leonie, wobei der Gedanke an schweigende Lehrer nicht zu den schlechtesten gehörte, wie sie fand. Sie erwiderte aber nichts. Rachel ließ ihr auch gar keine Gelegenheit dazu. Sie holte tief Luft und plapperte drauf los: »Jetzt erzähl doch mal! Wie gefällt es dir hier? Findest du die Stadt schön? Wie findest du die Uniformen? Hast du schon Doctor Donovan getroffen?« Die letzte Frage interessierte Leonie sogar und so ging sie darauf ein. Dass Rachel den Namen Donovan selbst für ihre Verhältnisse besonders schwärmerisch in die Länge zog, überging sie bewusst.

»Ja. Ja, hab ich, sag mal, warum steht da eigentlich eine Statue von ihm in der Schule?«

Wäre Rachel wirklich ein Hund gewesen (und Leonie war noch nicht hundertprozentig sicher, ob es nicht so war) hätte sie jetzt die Ohren niedergeschlagen und gewinselt. »Gefällt sie dir etwa nicht? Wir haben alle zusammengelegt und den besten Künstler beauftragt und der war nicht mal von hier!« Sie klang flehentlich, offenbar verstand sie Leonies Frage als persönliche Beleidigung. Das konnte das Mädchen aus Canberra sich überhaupt nicht erklären.

»Nein, sie ist toll!«, antwortete sie beschwichtigend und ließ Rachels Gesicht aufleuchten. »Wirklich gut getroffen.«

»Ja, oder?« Rachel verdrehte die Augen und faltete die Hände, wie zum Gebet. »Ist er nicht fantastisch?« Leonie war sich nicht sicher, ob sie noch von der Statue sprachen. Sie hatte schon geahnt, dass Donovan noch weitere Verehrerinnen haben musste, allein die Blumen am Fuße seiner Statue sprachen Bände. Wenn sie Rachel aber so ansah, dann fragte sie sich, wen von ihnen es eigentlich schlimmer erwischt hatte.

Sie hatte noch nicht antworten können, da griff Rachel plötzlich nach ihrem Pferdeschwanz. »Ist das echtes Rot?« Original irisch, dachte Leonie unbehaglich, nickte aber nur zur Erwiderung. »Echt schön. Färben ist nämlich Täuschung, sagt Doctor Donovan.« Sie erhob einen Finger, als würde das ihre Worte wahrer machen.

»Im Ernst?« Leonie glaubte zwar nicht, dass das eine echte Regel war, womöglich wollte Rachel sie sogar nur aufziehen. Dennoch wurde sie mit jeder Minute gespannter darauf, all diese Dinge einmal selbst von ihm zu hören. Nicht zu vergessen vielleicht auch ein paar Dinge, die nur Leonie von ihm hören würde.

»Ja, genau, und Täuschung ist schlecht.« Rachel sprach wie eine schlechte Schauspielerin in einer Kinderserie, doch Leonie achtete gar nicht darauf. Sie musste an Anna denken, bei der sie sich ziemlich sicher war, dass sie so blond gar nicht sein konnte. Musste die Frau sich denn nicht an die Regeln halten?

Rachel mochte etwas älter sein als Leonie, achtzehn, vielleicht auch neunzehn – die Klassen waren, was das Alter betraf teilweise recht bunt zusammengewürfelt, wie Leonie erkannte, als sie sich auf dem Hof umsah, aber bei so wenig Schülern und so wenig Platz war das nicht verwunderlich (wie konnte es schon um eine Schule bestellt sein, wenn man Michael Fitzpatrick als Lehrer einstellte) – aber sie tat alles daran, als Kleinkind rüberzukommen. Rachel quasselte und quasselte und tänzelte um Leonie herum, bis die Pause mit einem weiteren Klingeln beendet wurde.

Genauso geordnet wie sie es verlassen hatten, betraten die Schüler das Gebäude nun wieder und verteilten sich schweigend auf die Klassenräume. Leonie setzte sich wieder auf ihren Platz neben Rachel, die ihr nun, wann immer sie sich ansahen, ein übertriebenes Grinsen schenkte. Leonie versuchte es so gut wie möglich zu erwidern, doch so ein Gesicht würde sie im Leben nicht hinkriegen.

Der Mensch gewordene Engel Anna kam wieder hereingeschwebt und setzte den Unterricht fort. Wie Rachel Leonie erklärte, wurde ihre Klasse ausschließlich von Anna unterrichtet. Auch das war neu für Leonie. Wieder konnte sie nicht entscheiden, was sie davon hielt.

In der nächsten Stunde zeichneten sie Motive aus dem Märchenbuch, aber Leonies Bilder waren erbärmlich. Anna nickte zwar lieblich darüber und Rachel lächelte sie ebenfalls an, aber Leonies Rotkäppchen war ein Unfall. Vom Wolf mal ganz abgesehen.

Später am Tag folgte eine weitere Pause, die in etwa genauso verlief wie die erste, doch die Wartezeit, bis man sich wieder unterhalten durfte, war diesmal tatsächlich kürzer. Rachel erzählte und erzählte, aber noch einmal kam das Thema Donovan nicht zur Sprache. Leonie berichtete ihrerseits von ihrem Einzug (ließ die unangenehmen Details, wie den Besuch des Polizeichefs, aber aus) und Rachel hörte gebannt zu, als könnte jeden Moment der Täter überführt werden.

Als der Unterricht um halb vier beendet war, wünschte Anna allen mit einem Lächeln (das leicht die Sonne hätte ersetzen können) einen schönen Tag und Leonie verließ an der Seite von Rachel den Raum.

Eigentlich hatte sie vorgehabt auf ihren Vater zu warten und ihn zur Rede zu stellen, doch ihre neue Freundin hatte eine ganz andere Idee. Sie scharrte alle Mitglieder der Klasse um sich und tuschelte aufgeregt mit ihnen, ehe sie sich wieder an Leonie wandte, mit einem verschlagenen Gesichtsausdruck. »Komm mit!« Ohne dass Leonie eine Chance zu widersprechen gehabt hätte, wurde sie die Straße entlanggeschleift, dicht gefolgt vom Rest ihrer Klasse, der sich an Rachels Fersen heftete. Werde ich gerade entführt?, fragte sich das Mädchen, musste sich aber darauf konzentrieren, Schritt zu halten.

Hätte sie jetzt zurück und durch die geöffneten Eingangstüren geschaut, hätte sie gesehen, wie Anna die zahllosen Blumensträuße vom Sockel der Statue klaubte und mit sich nahm. Während sie den Berg aus Blumen in den Armen zu balancieren versuchte, lächelte sie schöner und ihre Augen glänzten hübscher denn je.


6

Leonie fand sich selbst vor der Kirche wieder. Zehn Mädchen und Jungen schlugen sich geradezu um sie; jeder wollte der Erste sein, der ihr erzählte, was als nächstes geschehen würde. Das Mädchen war neugierig geworden. Die Angst um Sophie und die Verwirrung über Michaels neuen Beruf waren verflogen. Wenigstens für jetzt. Was hatte es mit dem geschlossenen Gebäude nun auf sich? Letzten Endes war es, trotz aller Mühen der anderen, natürlich Rachel zugefallen, Leonie aufzuklären. Wie soll man jemandem auch widersprechen, der ununterbrochen reden kann? Leonie verstand sich mit Rachel bereits recht gut, auch wenn sie ihr ziemlich seltsam vorkam, abgesehen davon war es ihr ohnehin gleichgültig, wer ihr was erzählte. Sie ließ sich, inmitten einer Schar aus Schülern, die in ihren weißen Uniformen von weit oben betrachtet vermutlich wie verirrte Schafe ausgesehen haben mochten, über den Rasen vor die mächtigen, versperrten Doppeltüren leiten. Ehrfürchtig blickte Leonie an dem Gebäude hinauf, das aus der Nähe betrachtet noch viel größer wirkte als schon von außerhalb der Stadt. Sie erinnerte Leonie entfernt an die St. Christopher´s Cathedral in Canberra. Sie Maß zwar nur die Hälfte, wenn überhaupt, war aber immer noch riesig genug, damit Leonie sich fragte, was eine so große Kirche in einer so kleinen Stadt machte.

»Darf ich vorstellen, die St. Balling's Church!«, präsentierte Rachel wie eine Radiomoderatorin, die versuchte ein wenig überzeugendes Produkt zu bewerben. Leonie hatte eigentlich nie viel für Architektur, alte Gebäude und vor allem Religion übrig gehabt, aber diese Kombination aus all diesen Dingen faszinierte sie dennoch. Auch wenn die Kirche aussah wie auf den Sperrmüll geworfen.

»Warum ist sie geschlossen?« Sie richtete die Frage bewusst an alle, aus Angst, Rachel könne sie erneut komplett missverstehen und möglicherweise sogar beleidigt Reißaus nehmen, doch der Rest der Gruppe hatte sich anscheinend mit Rachels Herrschaft über den Dialog abgefunden und wartete, bis sie antworten würde.

»Pfarrer Carlow hat hier früher gepredigt. Aber er lebt hier nicht mehr. Eines Tages war er einfach weg.« Rachel schien deshalb aber keineswegs traurig zu sein. Sie sagte es, in etwa demselben Tonfall, in dem Leonie gesagt hätte Oh, mein Schuh ist offen.

»Also habt ihr keinen Pfarrer«, stellte Leonie fest.

»Richtig. Und wir brauchen auch keinen!« Rachel packte sie bei den Schultern und sah ihr tief in die Augen. Leonie hatte sich selten unbehaglicher gefühlt. »Doctor Donovan sagt, Religion ist eine Ausrede. Für all die Menschen, die sich vor Verantwortung drücken wollen, ist Gott da, sagt er. Für die, die sich nicht selbst hassen wollen, ist Gott da, sagt er.« Sie legte eine theatralische Pause ein. »Für uns ist das nichts, sagt er. Wir brauchen keine Ausreden. Denn: Wir stellen uns dem Leben und kämpfen für das Glück!« In den letzten Satz fielen alle mit ein und sprachen im exakt selben, euphorischen Tonfall, was Leonie einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

»Aber was ist mit den Messen?« Offensichtlich hatte sich ihre ursprüngliche Überlegung gerade als falsch herausgestellt. Balling's Cape hielt nichts von Religion. Damit hatte Leonie zwar erst einmal kein Problem, es erschien ihr aber als sehr ungewöhnlich. In jedem Städtchen gab es doch immer mindestens einen gottesfürchtigen alten Mann, genauso wie einen rassistischen, einen perversen und einen griesgrämigen, der dem Stadtpfarrer den letzten Nerv raubte. Der Menschenschlag eben, den Clint Eastwood spielen würde. Aber vielleicht suchte man in dieser Stadt einfach vergeblich nach Klischees jeglicher Art. Das musste ja nicht unbedingt schlecht sein, oder?

»Die hält natürlich Doctor Donovan.« Rachel klang, als hätte Leonie gefragt, wie viel eins plus eins ist. Auf ihren verwirrten Blick sagte sie: »Wirst du am Sonntag sehen. Das kann man nicht erklären, das muss man erleben.«

Leonie wusste nicht, ob sie mit dieser Antwort zufrieden sein sollte und stellte die offensichtliche Frage: »Was machen wir dann überhaupt hier?« Und das wissende Lächeln huschte erneut über Rachels Gesicht.

»Pass auf!«, sagte sie und Leonie Fitzpatrick brach zum ersten Mal in ihrem Leben in ein Gotteshaus ein.

Der Haupteingang war mit dicken Brettern vernagelt und einem Riegel versperrt, aber einen kleinen Seiteneingang blockierten lediglich einige dünne Holzlatten, die von den Schülern fachkundig entfernt wurden. Offensichtlich hatten sie das schon oft getan, denn in dieser Arbeit war eine gewisse Routine zu erkennen. Auch die Stelle hatten sie bewusst ausgewählt, vermutete Leonie, denn sie lag abseits der Straße und konnte von Passanten kaum eingesehen werden. Einer nach dem anderen gingen sie hinein, nur Leonie blieb wie angewurzelt stehen. Was taten sie da? Diese Stadt nahm alle Regeln so ernst, aber diese Kinder brachen einfach so, am hellichten Tag, in eine Kirche ein? Rachel gab ihr einen sehr überzeugenden Schubs und Leonie stolperte hinein. Sie hatte keine Wahl.

Die für Kirchen typische, symbolische Stille empfing sie und ihr Blick wanderte an den Wänden hinauf zu dem Gewölbe, das sich hoch über ihren Köpfen erstreckte. Auch von innen wirkte die Kirche wie aus einem einzigen, gigantischen Block Marmor geschlagen. Die Fenster hinter dem Altar waren nicht vernagelt worden. Durch das bunte Glas fiel das gleißende Sonnenlicht und spielte auf dem makellosen Weiß des Bodens und der Wände. Auf dem Altar selbst lagen keine der bekannten Utensilien, keine Kerzen, keine Bibel, kein Brot und kein Wein, ja nicht einmal das Deckchen, das den kalten Stein von diesen Dingen getrennt hätte. Die Kanzel wachte über die zahllosen Bänke, als wartete sie sehnsüchtig darauf, genutzt zu werden.

Den Gefallen tat ihr Rachel. Sie erklomm die Stufen, präsentierte sich stolz und blickte auf die anderen hinunter. »Freunde, warum sind wir hier?«, fragte sie und breitete die Arme aus. Für einen Moment fürchtete Leonie, sie wäre total übergeschnappt und würde versuchen zu fliegen, doch dann legte sie die Hände auf das kleine Pult vor ihr, offenbar sehr zufrieden mit ihrer Position und fuhr fort. »Ich sag´s euch: Um unserer neuen Freundin Leonie Fitzpatrick zu zeigen, wofür diese Dinger wirklich gut sind!« Sie umrahmte den Raum mit einer Geste – mit den »Dingern« waren demnach Kirchen gemeint. Dann deutete Rachel über Leonie und die anderen hinweg auf das andere Ende der Halle. Als Leonie sich umwandte, erblickte sie oben, auf der Empore über dem Eingang, einen der Jungen, die eben noch neben ihr gestanden hatten. Abgesehen von ihm befand sich dort auch eine gigantische Orgel, deren silberne Pfeifen im gebrochenen Sonnenlicht glänzten und die sie wie Flügel auszubreiten schien – ähnlich wie Rachel ihre Arme, überlegte Leonie. »Leg los, Tony!«, schrie das Mädchen in der Kanzel.

Ein ohrenbetäubendes Dröhnen entfuhr dem Instrument, als der Junge die Tasten betätigte. Würden sie Kirchenlieder singen wollen? Das wäre problematisch gewesen, Leonie konnte sich mit Mühe gerade mal den Text von Amazing Grace merken, was eigentlich schade war, denn das Lied gefiel ihr sehr.

Doch Kirchenlieder spielte Tony nicht. Stattdessen erklang das mächtigste Jazz-Solo, das Leonie in ihrem ganzen Leben je gehört hatte und je hören würde. Wer sagte, eine Kirchenorgel könne man nicht zum swingen bringen, hatte Unrecht. Tony konnte es. Leonie hätte das selbst nie für möglich gehalten, aber der schwere, drückende Klang, den sie mit dieser Art Instrument bisher immer verbunden hatte blieb aus. Der Rhythmus, der durch die heiligen Hallen hämmerte war unwiderstehlich und Leonie musste sich unwillkürlich dazu bewegen. Als sie sich umsah, bemerkte sie, dass sie mit diesem Verlangen nicht allein war. Rachel hatte die Kanzel und die anderen den Bereich vor dem Altar bereits in ihre ganz eigenen Tanzflächen verwandelt. Einige von ihnen begannen im Takt zu klatschen, doch bei so wenigen Händen musste das Geräusch im wenig sakralen Klang der zahllosen Pfeifen unweigerlich untergehen. Leonie konnte nicht besonders gut tanzen, aber das war ihr in diesem Moment vollkommen egal. Sie verlor sämtliche Hemmungen und ihre Beine taten was sie wollten. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Tony holte alles menschenmögliche aus dem Wunderwerk der Handwerkskunst heraus und machte den Moment zum genauen Gegenteil eines langweiligen Gottesdienstes. Rachel kam tanzend zu ihr herunter und strahlte sie an. Leonie strahlte zurück. So merkwürdig ihr das ältere Mädchen auch vorgekommen war, für dieses Erlebnis hätte Leonie sie küssen können. Im Gegensatz zu ihr wusste Rachel genau, wie man sich zu dieser Musik bewegte. Sie machte einen Schritt nach dem anderen, als wäre es so einfach wie zu atmen und vollführte gekonnt eine Drehung, bei der sich der Rock ihrer Uniform gefährlich weit hob. Irgendeiner der Jungs pfiff anerkennend, dankbar für den Einblick. Rachel lachte über Leonies Blick und nahm sie bei der Hand. Gemeinsam versuchten sie eine Art Paartanz, der vermutlich nicht besonders elegant aussah, Leonie dafür aber umso mehr Spaß bereitete. Die anderen bildeten einen Kreis um sie und klatschten anfeuernd in die Hände. Leonie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so vergnügt hatte. Wäre es nach ihr gegangen, hätte es ewig so weiter gehen können.

Nach einer ganzen Weile legte Tony schließlich eine Pause ein, was absolut nachvollziehbar war; Leonie konnte sich nicht einmal vorstellen, wie er nach diesem Spiel noch immer über zehn Finger verfügen konnte. Nachdem er das Lied mit einem dramatischen Schlussakkord beendet hatte und die Orgel schwieg, fielen Leonie und Rachel erschöpft auf die vorderste Bank und atmeten auf. »Macht ihr das öfter?«, fragte sie und hoffte insgeheim, das von jetzt an täglich tun zu können. Rachel erwiderte mit einem energischen Nicken. Ihrem schweren Atem nach zu urteilen war sie noch nicht wieder in der Lage zu sprechen. »Und man hat euch noch nie erwischt?«

»Noch nie. Die Orgel hört man draußen so gut wie nicht und in die Kirche kommt nie jemand. Außer uns natürlich.« Rachel röchelte noch immer; derjenige, der Leonies Frage beantwortet hatte, war Tony gewesen, der plötzlich in der Reihe hinter ihnen saß. Er war ein schlanker, dunkelhaariger Junge mit braunen Augen, der in dem weißen Poloshirt und der Stoffhose ein wenig aussah wie ein langgezogenes Marshmallow. Aber er hatte ein nettes Lächeln.

»Das war übrigens großartig«, sagte Leonie an-erkennend und zeigte auf die Orgel in seinem Rücken.

Er winkte ab, als wolle er kein Lob hören und erzählte ihr stattdessen seine Lebensgeschichte: »Ich hab damals bei Pfarrer Carlow schon gespielt, aber nur das Kirchenzeug. Als er weg war, bin ich ab und zu her gekommen und hab gespielt was ich wollte. Tja und dabei hat mich Rachel eines Tages erwischt. Aber Rachel, was wolltest du damals überhaupt hier?« Rachel und er lachten, wie alte Bekannte, die sich an etwas erinnerten, was vor sehr langer Zeit geschehen war.

»Seitdem machen wir das, wann immer wir Lust dazu haben«, ergänzte Rachel und lächelte den anderen zu, die sich mittlerweile auch zu ihnen gesellt hatten, sodass die erste Bankreihe komplett gefüllt war. Wenn alle hier Rachels Überzeugung teilten, würde bei einem spontanen Gottesdienst in Balling's Cape wohl nicht einmal diese Anzahl zusammenkommen, vermutete Leonie.

Sie konnte nicht anders, als noch eine Frage zu stellen: »Und Dan … ich meine, Doctor Donovan? Was würde der davon halten?«

Rachel sah zu Tony hinüber. »Solange wir hier nicht auf den Knien herumrutschen und den Herrn anbeten, wird´s ihn schon nicht stören, schätze ich.« Er zeichnete bei dem Wort »Herrn« Gänsefüßchen in die Luft und Rachel und die anderen kicherten.

Ihr Großvater, überlegte Leonie, der jeden Sonntag in die Kirche ging, obwohl er morgens kaum aus dem Bett kam und sich ständig über seine schlimme Hüfte beklagte, hätte ihn dafür wahrscheinlich umgebracht. Über diesen Gedanken musste Leonie unweigerlich lachen und machte es den anderen nach.

Sie saßen noch eine ganze Weile in der Kirche und Leonie verstand sich mit jeder Sekunde besser mit ihren neuen Klassenkameraden. So schnell hatte sie noch nie zuvor Freunde gefunden. Auch wenn Rachel, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war, erneut die Unterhaltung dominierte und fast mehr mit sich selbst als mit den anderen zu reden schien, fühlten sich dennoch alle wohl. Sie lauschten gerne ihren übertriebenen Kommentaren und wenn Leonie ganz ehrlich sein sollte, fand auch sie die inzwischen ganz schön witzig.

Leonie wurde genötigt, noch einmal von ihrer seltsamen Ankunft zu berichten, ganz so, als könnten die anderen nicht genug über die Stadt hören, in der sie ihr Leben verbrachten. Diesmal machte ihr das überhaupt nichts mehr aus. Sie berichtete sogar von Chief Thomas Richmonds Besuch, plötzlich erschien er ihr als wichtiger Bestandteil der Geschichte.

»Und er stand plötzlich einfach hinter dir?« Rachels Hundeaugen waren Leonie schon gigantisch vorgekommen, doch die grünen von Miriam, einem dunkelhaarigen Mädchen, das immer zu starren schien, egal was sie ansah, übertrafen alles.

»Ja«, antwortete sie. »Ich hab überhaupt nicht gehört, wie er reingekommen ist.«

»Chief Richmond, wie er leibt und lebt. Nach einer Weile sieht man den gar nicht mehr. Er ist wie ein Schatten!« Tony machte eine raubtierhafte Geste in Rachels Richtung, die gespielt zurückschreckte und schauspielerisch seufzte.

Ein blonder, unscheinbarer Junge mit grauen Augen namens Jack warf Leonie einen wohlwollenden Blick zu. »Der spinnt.« Er deutete auf Tony, der ihm ein Nicken schenkte, als würde er diese Aussage bedenkenlos unterstützen. »Wegen Richmond muss man sich wirklich keine Sorgen machen.«

»Genau, der ist zahm wie ein Hund«, witzelte Rachel, während sie von Tony gekitzelt wurde.

Die Ironie, die darin lag, dass sie gerade diesen Vergleich wählte brachte Leonie erneut zum Schmunzeln. »Hat der hier überhaupt Arbeit? Ich meine, er sagte hier gab´s seit fünf Jahren keine Einbrüche mehr«, rief sich Leonie in Erinnerung und klang sehr nachdenklich als sie sprach.

»Stimmt. Überhaupt keine Verbrechen. Genau so lange, wie Doctor Donovan hier ist.« Der Stolz in Rachels Stimme, den jeder in Balling's Cape an den Tag zu legen schien, wann immer Daniel erwähnt wurde, war unverkennbar.

»Viel passiert hier wirklich nicht. Richmond hockt meistens mit Doctor Donovan im Rathaus.« Jack schien das witzig zu finden.

»Die sind beste Freunde, wenn man so will.« Tony legte einen Arm um Rachel. »Genau wie wir, nicht wahr, Kleines?« Sie tat so, als versuche sie sich zu entwinden, doch jeder erkannte sofort, dass sie sich Tonys Berührung nur zu gerne gefallen ließ.

Leonie musste darüber lächeln. Dann dachte sie darüber nach, was gerade gesagt worden war. Eine Stadt ohne jegliche Kriminalität hätte sie nie für möglich gehalten. Wenn wirklich Daniel dafür verantwortlich war, dann musste er ein wahres Genie sein.

Diesen Gedanken äußerte sie prompt und Tony antwortete ihr: »Man wird ja auch nicht einfach so Ehrenbürgermeister von Balling's Cape. Natürlich ist er ein Genie.«

»Das größte auf der Welt!«, sagte Rachel.

»Gleich nach mir, versteht sich«, ergänzte Tony und Rachel gab ihm einen spielerischen Klaps auf den Arm.

Spätestens jetzt konnte Leonie es kaum mehr erwarten, persönlich (und allein) mit Daniel zu sprechen. Sie wollte alles erfahren, was er tat und wie, welche Rolle die Regeln spielten, die er aufgestellt hatte, wie er es schaffte, alle Menschen in Balling's Cape so glücklich zu machen und gleichzeitig den Frieden der Stadt zu wahren und, vor allem, wie er gedachte, sie, Leonie, glücklich zu machen. Sie dachte an die Worte in seinem Brief. »Ein Mädchen wie dich«. Ein angenehmes Gefühl durchfuhr sie. Jetzt musste sie nur noch einen Weg finden, ihr Ziel auch zu erreichen. Schließlich konnte sie nicht einfach so, ohne guten Grund ins Rathaus spazieren, oder? Sie spielte schon mit dem Gedanken, eine Straftat zu begehen um von Richmond vielleicht wenigstens in Daniels Nähe gebracht zu werden, aber das wäre wahrscheinlich kein guter Start in eine Unterhaltung gewesen. Wobei – die erste Verbrecherin in fünf Jahren zu sein, hätte schon was, überlegte sie. Auf die eine oder andere Weise zumindest.

Darüber würde sie später nachdenken müssen, denn Rachel war aus dem Nichts aufgesprungen und hatte Leonie am Arm von der Bank gerissen. »Apropos Rathaus.« Leonie erinnerte sich nicht einmal mehr, wer von ihnen davon gesprochen hatte, und als sie auf die recht inhaltslose Aussage mit verständnislosem Gesicht antwortete, wiederholte Rachel: »Das Rathaus! Hast du das schon gesehen?« Leonie schüttelte den Kopf. Rachel warf einen Blick in die Runde, den alle zu verstehen schienen. Mit Ausnahme von Leonie natürlich. Diese Art Blick schien gerade in Mode zu sein.

Sie wurde wie zuvor an einem Arm durch die halbe Kirche und durch eine kleine Tür geschleppt, die Leonie noch gar nicht bemerkt hatte. Sie befand sich unter der Empore, auf der die Orgel schlummerte. Dahinter lag ein kleiner Raum mit einer weiteren Tür, hinter der sich wiederum ein Treppenhaus offenbarte, dessen Stufen sich spiralförmig hinauf wanden. Ganz oben, unter der Decke, konnte Leonie eine der Bronzeglocken erkennen, die sie alle zerschmettert hätte, wäre sie in diesem Moment hinuntergestürzt. Warum so morbide Gedanken, Leonie?, fragte sie sich selbst und folgte Rachel die Treppen hinauf, verfolgt von ihrer Eskorte, bestehend aus Tony, Miriam, Jack und den übrigen, die offenbar keine andere Beschäftigung kannten, als Rachel zu folgen, wohin auch immer sie ging.

Oben angelangt, erblickte Leonie ein Quartett solcher Glocken, die in einem auf sie nicht hundertprozentig sicher wirkenden Glockenstuhl über dem Boden gehalten wurden. Leonie sorgte sich stets, wenn sie mit ansehen musste, wie alte Dinge schwere Dinge trugen. Genau wie ihr Großvater, wenn er ächzend ein Fass oder eine Kiste durch die Gegend bugsierte und dabei jegliche Hilfe von jüngeren Männern vehement ablehnte. Seltsamerweise musste sie heute oft an ihn denken. Wahrscheinlich lag das ganz einfach daran, dass sie sich hier so weit von ihm entfernt vorkam wie noch nie zuvor. Wenn sie ehrlich sein sollte, war sie darüber ziemlich glücklich.

Die Gruppe kraxelte an den Glocken vorbei und kroch unter den Holzbalken hindurch, um eines der Kirchturmfenster zu erreichen. Aufgrund der Holzabdeckungen boten die nur wenig Ausblick. Auch dieses Problem schien bereits in der Vergangenheit gelöst worden zu sein, denn mit ein oder zwei Handgriffen entfernte Tony den Sichtschutz und Leonie bot sich ein atemberaubender Anblick, den sie immer in Erinnerung behalten sollte. Ob sie nun wollte oder nicht.

War Balling's Cape schon eine Schönheit von einer Stadt, wenn man durch ihre Straßen ging, so war sie von oben betrachtet ein wahres Juwel. Wie ein Mosaik aus Rubinen erstreckten sich die strahlend roten Dächer über den ganzen Hügel, auf dem sie erbaut war. Hindurch zogen sich die malerischen Gassen und kleinen Straßen, wie ein Muster, das in einen kreisrunden Platz auf dem Gipfel mündete, in dessen Mitte majestätisch ein wunderschöner Baum stand. Dahinter befand sich das prächtigste Gebäude, das Leonie je gesehen hatte. Mit drei Stockwerken und jeweils einem Dutzend rechteckiger und einem zentralen, runden Fenster, mit filigranen Verzierungen und einer schmiedeeisernen, weißen 1, die direkt über dem Eingang angebracht war. Das Rathaus von Balling's Cape erinnerte sie an den Buckingham Palace in London, nur glänzte es in der untergehenden Sonne, und reflektierte wie ein Glas Wein, was der königliche Palast der Briten nie getan hätte.

»Das ist das Rathaus?«, fragte Leonie, dabei handelte es sich aber um eine rhetorische Frage, es war völlig offensichtlich. Weshalb ihr auch niemand antwortete. Das also hatte der Verkäufer, Bill, gemeint, als er gelacht und gesagt hatte, sie werde es schon erkennen. In der Ferne war das Meer zu sehen, dessen Oberfläche glitzerte wie in einem Märchen und obwohl sie es nicht wirklich hören konnte, war es für Leonie, als brandeten die Wellen gleich neben ihr an die Klippen und als spürte sie die kühle Gischt auf ihrer Haut. Es war überwältigend. Doch Leonie konnte trotzdem nicht umhin, noch etwas anderes zu bemerken. Neben dem Hügel, auf dem sich Balling's Cape ausbreitete – wie ein Meer aus Rosen in einer phantastischen Geschichte, die sie mal gelesen hatte – lag noch ein zweiter, etwas kleinerer, im Süden der Stadt. Sie konnte aus ihrem Blickwinkel nicht viel davon erkennen und kletterte zum Fenster rechts von ihr. Skeptisch dreinblickend, als wüsste er nicht, was es auf dieser Seite zu sehen geben sollte, befreite Tony Leonie zuliebe dennoch auch dieses Fenster. So konnte sie eine Straße erkennen, die durch ein kleineres Tor im Zaun aus der Stadt hinaus führte, sich in einer schmalen Landstraße verlor und um den kleineren Hügel herum schlängelte, um dahinter zu verschwinden.

»Was ist denn dahinten?«, fragte Leonie neugierig und aufgeregt wie ein kleines Mädchen, das ein pinkes Pony entdeckt hatte. Auch wenn Leonie nie eine richtige Pferdenärrin gewesen war und Pink auch nicht gerade zu ihren Lieblingsfarben zählte. Überhaupt sprengte Leonie stets die Vorurteile. Vor allem stand ihr Pink aber einfach nicht.

Tony war offenbar im Begriff, etwas zu antworten, aber Rachel brachte ihn mit einem missmutigen Blick zum Schweigen. Leonie wiederholte die Frage: »Da hinten, hinter dem Hügel. Was ist da?« Sie deutete aus dem Fenster, aus Sorge, vielleicht nicht verstanden worden zu sein. Tony setzte die Abdeckung zurück in den Fensterrahmen. Währenddessen gab Rachel die wirklich sehr unbefriedigende Antwort: »Da? Ach, da ist nichts.« Leonie war verwirrt. Sie dachte, es könnte sich vielleicht um einen ihrer Scherze handeln.

»Wie, nichts?«, fragte sie. »Da ist doch eine Straße, was meinst du – « Rachel packte sie bei den Schultern, wie sie es vorhin schon getan hatte um ihr mit verschwörerischem Blick mitzuteilen, dass man Gott in dieser Stadt zum Teufel jagen konnte. »Da ist nichts hinter diesem Hügel. Und lass dir ja nichts erzählen, hörst du.« Dabei sah sie an Leonie vorbei Tony an, der entwaffnend die Hände in die Höhe hob, als wollte er sagen: Ich bin ja schon ruhig. Er nickte stumm und als Leonie ihn verwirrt ansah, zuckte er nur die Schultern. In sein Gesicht stand eine Mischung aus Ernst und Enttäuschung geschrieben, die Leonie nur noch mehr verwirrte.

In der Regel gab sich Leonie mit solchen Antworten zwar nicht zufrieden. Aber ihre Frage schien so viel schlechte Stimmung hervorgerufen zu haben, dass sie doch davon abließ, sie noch einmal zu stellen. Sie wollte den Nachmittag, der bisher so großartig gewesen war, ja auch nicht ruinieren. Geschweige denn einen Streit zwischen Rachel und Tony auslösen.

Es war eine Frage mehr, die sie Daniel stellen konnte, wenn es soweit war. Wieder etwas, was sie auf andere Gedanken brachte und vergessen ließ, was eben passiert war.

Mit einem Mal verschwanden die letzten Sonnenstrahlen und um die Kinder wurde es dunkel. Leonie hatte überhaupt nicht auf die Zeit geachtet. Plötzlich drängten sich Dinge wie Familie, Sophie und Michael zurück in ihren Verstand. »Ich glaub ich muss so langsam nach Hause«, sagte sie enttäuscht, erhielt aber verständnisvolles und zustimmendes Nicken. Immerhin war das Eis damit wieder gebrochen und das betretene Schweigen endete. »Danke für den Nachmittag«, erklärte sie, als sie alle gemeinsam die Stufen hinunterstiegen. »Können wir das noch mal machen?«

Tony lachte. »Wann immer du willst. Wir tun sowieso nichts anderes.« Darauf stimmten sie wieder alle in das Lachen mit ein, als hätte es die seltsame Unterhaltung eben, oben im Glockenstuhl, nie gegeben.

Leonie war das egal. Sie freute sich jetzt schon auf das nächste Mal. Auch wenn die anderen es nicht so sahen, hatte sie das Gefühl, an etwas Verbotenem Teil zu haben. Und auch wenn es Daniels Gesetze waren, gegen die sie hier verstießen, konnte sie nicht anders, als dieses Gefühl zu genießen. Es faszinierte sie. Auch das war etwas vollkommen Neues für Leonie. Das letzte Mal, dass sie gegen das Gesetz verstoßen hatte, war gewesen, als sie sich, acht Jahre alt und süß wie Zuckerwatte, eine Fahrt in einem Karussell für umsonst erschlichen hatte, indem sie der Frau im Kassenhäuschen das niedlichste Lächeln gezeigt hatte, das man sich vorstellen konnte. Michael hatte ihr, als sie sich gewundert hatte, dass er nicht bezahlte, zwar versichert, dass das vollkommen in Ordnung gewesen sei. So ganz sicher war sie sich da aber trotzdem nie gewesen.

Unten am Ausgang warf sie noch einen sehnsüchtigen Blick auf Tonys Orgel, die beinahe so aussah, als ziehe sie sich still in die sich ausbreitenden Dunkelheit zurück. »Bald wieder, Kleines, bald wieder«, lächelte Tony und kassierte einen weiteren Knuff von Rachel, die sich anscheinend viel darauf einbildete, als Einzige »Kleines« von ihm genannt zu werden. Es war im Übrigen auch eine zweifelhafte Ehre, auf die Leonie getrost verzichten konnte. Sie überlegte stattdessen, was für Namen Daniel Donovan ihr womöglich beizeiten geben würde. Das war ebenfalls ein sehr faszinierender Gedanke.

Sie schlichen genauso unbemerkt hinaus wie sie hineingekommen waren und Tony und Jack verwischten sämtliche Spuren des Einbruchs. Leonie verabschiedete sich bei allen und die Klasse verteilte sich in alle Himmelsrichtungen. Sie stoben auseinander, als wären sie vor etwas auf der Flucht.

Allein folgte sie dem Weg, den sie am Morgen noch nicht gekannt hatte, als wäre sie ihn schon hunderte Male gegangen. Als wäre die Stadt schon immer ihr Zuhause gewesen. Sie schaute hinauf zum Himmel, an dem langsam die Sterne hervortraten und sich das große Blau in das große Schwarz verwandelte. Während sie dahinschlenderte, dachte sie über ihren ersten Schultag nach und über alles, was sie an diesem langen Tag erlebt hatte. Sie dachte an den ruhigen, kein bisschen anstrengenden Unterricht, an die Pausen, in denen nicht gesprochen wurde, an Anna, die viel zu schön war, um sie zu mögen und viel zu liebenswert, um es nicht zu tun. An die verrückte Rachel, den netten, talentierten Tony, an Miriam, Jack und die anderen. An den Tanz in der Kirche, der ihr die größte Freude seit langem beschert hatte. An die fantastische Aussicht vom Glockenturm, auf die zahllosen Zinnen der Dächer Balling's Capes und das Meer, das zum Greifen nah schien. Und an die Straße, die um den Hügel führte, und was auch immer dahinter liegen mochte.

Natürlich und vor allem anderen, dachte sie an Donovan.


7

Vor ihrem Haus wartete ein Polizeiwagen, der sein Blaulicht lautlos durch die Nacht warf. Leonie erschrak. Michael hatte sie doch nicht gleich als vermisst gemeldet, nur weil sie mal einen Nachmittag nicht zugegen gewesen war, oder? Konnte er so übervorsichtig sein? Schließlich war er es gewesen der am Morgen ohne ein Wort gegangen war, ohne seine Tochter auch nur darauf hinzuweisen, dass sie sich, um auf der Terrasse zu schlafen, vielleicht etwas anziehen sollte. Das war nur eines der Dinge, die er sehr bald würde erklären müssen.

Die Beifahrertür stand offen und ein uniformierter Polizist lehnte an der Motorhaube, stand im gemischten Licht des Wagens und einer Straßenlaterne und rauchte eine Zigarette. Leonie erkannte durch den Qualm den Partner von Thomas Richmond, der ihn am Vortag bereits begleitet hatte, um ihr den Schock ihres Lebens zu verpassen. Er hatte Glück, dass sie daran nicht gestorben war, überlegte sie, sonst hätte Richmond sich gleich selbst verhaften können.

Als sie sich näherte, schien sie der Fremde zu ignorieren, was ihr nur gelegen kam. Er schenkte ihr aber einen abschätzenden Blick, fast als witterte er ein Unrecht und Leonie musste unwillkürlich an ihren Einbruch denken. Sie war doch nicht beobachtet worden, oder? Sie schluckte und ging durch die offene Tür ins Haus.

Irgendwie erwartete sie einen wütenden Richmond mit Handschellen oder auf sie gerichteter Waffe, der ihr mitteilte, sie sei verhaftet und Michael, der etwas unnötig dramatisches sagte wie: »Du bist nicht mehr meine Tochter!«

Die Szene, in der sie sich nun aber wiederfand, sah ganz anders aus. Richmonds Mütze lag auf dem Küchentisch, ihr Besitzer umklammerte eine Kaffeetasse (interessanterweise genau die, aus der Leonie zuvor ihren Kakao getrunken hatte) und hatte ihr den Rücken zugewandt. Michael war schick angezogen, mit Hemd und Krawatte, die er allerdings bereits gelockert hatte. Sein Blick war eine bizarre Mischung aus Anstrengung und Vergnügen, mit dem er ein edles, hölzernes Schachbrett musterte, das sich zwischen den beiden Männern befand. Leonie verstand nichts vom Spiel der Könige, aber soviel wusste sie schon; ging sie richtig in der Annahme, dass Richmond die schwarzen Figuren bewegte und Michael die weißen, sah es für ihren Vater ganz schön schlecht aus.

»Hallo Dad,... «, begann Leonie, wusste aber eigentlich gar nicht was sie sagen sollte. Michael bemerkte sie nicht mal richtig. Er hob eine Hand wie um ihr zu winken, fuhr sich dann aber durchs dunkle Haar, als habe er vergessen, wofür er die Bewegung ausgeführt hatte.

Richmond genehmigte sich in aller Ruhe einen Schluck und setzte die Tasse auf dem Tisch ab. »Guten Abend, Miss Fitzpatrick. Setzen Sie sich doch, ihr Vater liefert gerade eine fantastische Partie ab.« Er wandte sich nicht um, als er mit ihr sprach. Michael äußerte ein nervöses Lachen, blieb aber ebenfalls auf die Spielsituation fixiert. Leonie setzte sich, weniger aus Interesse an der »fantastischen Partie«, als an der erneuten Anwesenheit des Polizeichefs in ihrer Küche. Der weiße König war umzingelt von Springern, Bauern und Läufern der gegnerischen Farbe. Richmond schien sehr zufrieden damit. »Ziehen Sie denn heute noch, Mister Fitzpatrick?«, fragte er nach einer Weile und seine stets umherwandernden Augen zuckten zwischen Michael und dem Spiel hin und her. »Oder warten Sie auf den nächsten Gottesdienst?« Darüber musste wiederum Leonie unweigerlich glucksen. Sie hatte schon mehr über die Stadt gelernt und war Teil von ihr geworden, als sie es sich selbst eingestanden hätte.

Michael machte schließlich seinen Zug, was seine Lage aber nicht verbesserte. Richmond antwortete in einem Bruchteil der Zeit, die sein Gegner gebraucht hatte und der verfiel augenblicklich wieder in konzentriertes Schweigen. Da ihr Vater für einen Dialog offenbar nicht abkömmlich war, entschloss sich Leonie mit seinem übermächtigen Gegenüber vorlieb zu nehmen.

»Darf ich fragen, was Sie herführt, Chief Richmond?« Das »schon wieder« ließ sie bewusst unausgesprochen. Richmond schwieg eine Weile und trank noch den ein oder anderen Schluck Kaffee, so dass Leonie beinahe genervt noch einmal gefragt hätte.

Gerade als sie ansetzte, antwortete er aber doch. »Ich habe Ihren Vater nach Hause gefahren und er hat mich zu einer Partie eingeladen. Das konnte ich unmöglich ausschlagen.« Dann sah er sie an, sein Blick war ihr ein wenig unangenehm. »Vorhin wirkte er aber noch überzeugter von sich selbst.« Er lachte. Kein besonders angenehmes Lachen, wie Leonie fand. Es klang irgendwie wie ein Raubtier.

»Sie spielen wohl sehr gut«, gab sie diplomatisch zurück. Tatsächlich glaubte sie aber, dass selbst ein Huhn Michael hätte besiegen können. Vor diesem Tag wäre sie nicht einmal davon ausgegangen, dass Michael überhaupt wusste, was Schach ist.

»Ich habe auch vom Meister gelernt.« An Richmonds Tonfall konnte Leonie genau erkennen, von wem er sprach. Inzwischen hatte sie genügend Stimmen, alle mit dieser Bewunderung darin, über Daniel Donovan sprechen hören. Schach konnte er also auch noch spielen. Konnte der Mann eigentlich irgendetwas nicht?

Leonie antwortete nicht. Sie wartete und beobachtete. Als die Glocken läuteten kam ihr der Kirchturm wieder in den Sinn und ohne darüber nachzudenken platzte es aus ihr heraus: »Chief Richmond, was ist eigentlich hinter diesem anderen Hügel? Dem, um den die kleine Straße führt.« Sie deutete in verschiedene Richtungen, bis sie die fand, von der sie glaubte, dass es die richtige war.

Richmond sah sie plötzlich, für den Bruchteil einer Sekunde so irritiert an, dass Leonie erschrak. Dann, ebenso plötzlich, wandte er sich wieder ab und sagte beiläufig: »Felder, wieso?«

»Felder?«, fragte sie verdutzt.

»Ja, Schafe grasen da. Du weißt schon.« Er sprach, als interessierten ihn seine Worte selbst nicht besonders. »Unser Doctor Steward hält dort seine Herde.«

Leonie hatte etwas Spektakuläreres erwartet. Warum hatten Rachel und Tony so seltsam reagiert? Eine Schafherde war nun wirklich nichts, was man verstecken musste, oder? Auf kuriose Weise enttäuscht, wandte sich Leonie wieder der Spielsituation zu, an der sich während des gesamten Gesprächs nichts geändert hatte. Wenn man es überhaupt »Spiel« nennen wollte. Eigentlich war es eher ein Gemetzel. Die letzten Figuren ihres Vaters wurden gnadenlos vom Brett gestoßen, wie über den Rand einer Klippe. Es dauerte keine fünf Minuten mehr, bis Michael geschlagen war. Richmond hatte nicht einmal die Hälfte seiner Figuren eingebüßt, als er als Sieger her-vorging. »Das war unterhaltsam«, sagte er, sich vom Stuhl erhebend, nachdem er endgültig seinen Kaffee geleert hatte. Er schien jedes Mal nur genippt zu haben, andernfalls war es unmöglich so lange für eine einzige Tasse zu brauchen. Leonie musste zugeben, dass er bei der Dauer von Michaels Zügen mit Rationierung durchaus gut beraten war.

»Eine Revanche?«, fragte Michael hoffnungsvoll, während in seiner Tochter jede Hoffnung starb, heute noch eine Unterhaltung mit ihm führen zu können.

Zu ihrem Glück antwortete Richmond aber: »Ein andermal gern«, klaubte seine Mütze vom Tisch und versteckte sein wirres, dunkles Haar darunter. »Das heißt, falls Sie sich trauen.« Er schüttelte Michael die Hand und ging. In der Tür fügte er leise hinzu: »Auf Wiedersehen, Miss Fitzpatrick« und war verschwunden. Draußen hörte Leonie einen Motor und das Geräusch eines davon fahrenden Autos. Erleichterung überfiel sie. Michael saß zusammengesunken vor seinem Schachbrett und stellte fein säuberlich alle Figuren zurück auf ihre Plätze.

Leonie sah ihre Chance gekommen. Sie hätte mit allen möglichen Vorwürfen und aufgeregten Fragen beginnen können, entschied sich aber für die gelassene Variante. »Wie war dein Tag, Daddy?« Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch, den Kopf auf die Hände und setzte einen Blick auf, der möglichst danach aussehen sollte, als würde sie die Antwort auf diese Frage tatsächlich erfahren wollen.

Ihr Vater hätte, ebenso wie sie, alles aufzählen können, seinen plötzlichen und ziemlich unhöflichen Aufbruch am Morgen, die Tatsache, dass er auf einmal den Beruf gewechselt hatte, oder den Umstand, dass der Polizeichef, der diesen Titel wohl nur zu dekorativen Zwecken trug, ihn herumchauffierte. Aber all das sagte Michael nicht. »Ich war bei Doctor Donovan.« Er deutete auf den Zettel auf dem Kühlschrank, auf dem sein Termin vermerkt war. Darauf hatte Leonie bisher gar nicht geachtet, wie ihr jetzt auffiel.

Der Termin, natürlich. Über all das Gerede über den Bürgermeister hatte sie vollkommen ausgeblendet, dass er eigentlich ein Arzt war. Da zermarterte sie sich das Hirn über einen guten Vorwand, um Daniel besuchen zu können und was war die einfachste Möglichkeit, einen Arzt zu treffen? Einen Termin zu machen und sich behandeln zu lassen! Sie hätte den Kopf auf den Tisch zimmern können.

»Und, wie war´s?«, fragte sie und versuchte die unfassbare Neugierde in ihrer Stimme zu verbergen.

Michael sah sie mit einem neuen Blick an, den sie überhaupt noch nicht an ihm gesehen hatte. Bei Rachel allerdings schon. Und eine Variation sogar bei Thomas Richmond. »Eine Offenbarung, Leonie. Es war unglaublich«, sagte Michael und erzählte.

Die Tür öffnete sich und der Mann betrat das geräumige Büro, im zweiten Stock des Rathauses. Der andere Mann, der vor dem großen, kreisrunden Fenster an der Wand gegenüber stand, durch das das Licht sich seinen Weg hinein bahnte, wandte sich um und begrüßte ihn freundlich. Bücherregale zierten die Wände und ein großer, dunkler Schreibtisch trennte einen gemütlich wirkenden Sessel für den Gast von dem des Gastgebers. Der bedeutete dem Besucher, sich zu setzen und tat es ihm gleich. Das große Glas befand sich nun neben ihnen und das Licht stach Michael in den rechten Augenwinkel. Donovan blinzelte nicht einmal. Er musterte seinen neuen Patienten. »Schön, dass Sie gekommen sind, Mister Fitzpatrick. Haben Sie den Umzug gut überstanden?«

»Ich denke schon. Danke«, entgegnete Michael.

Donovan lächelte. »Ich sage Ihnen, was wir heute tun werden.« Er öffnete eine Schublade, aus der er einen aus Holz gefertigten Gegenstand, bedeckt mit schwarzen und weißen Quadraten, hervorholte und mittig auf dem Tisch platzierte. Michael holte im Gegenzug lediglich einen verständnislosen Blick hervor. »Schach. Wissen Sie, wie man es spielt, Mister Fitzpatrick?« Donovan öffnete eine Klappe an der Unterseite des Brettes und ließ eine ganze Armee aus winzigen Bauern, Türmen, Springern, Läufern und zwei Königsehepaaren herausfallen.

Michael war verwirrt. Wieso wollte er Schach mit ihm spielen? War das hier nicht eine Therapiesitzung? Michael hatte das letzte Mal vor gefühlten hundert Jahren gespielt – gegen seine Frau. Sie war sehr gut darin gewesen. Er weniger. Aber das war gewesen, bevor alles zu Bruch gegangen war. Ihre Liebe zu ihm, ihre Familie, einfach alles. »Die Grundlagen vielleicht. Nicht sehr gut, ehrlich gesagt«, murmelte er.

Donovan schien das absolut gleichgültig zu sein. Er platzierte sein Heer und bedeutete Michael, dasselbe mit seinem zu tun. An die Aufstellung konnte dieser sich immerhin noch erinnern, nur die richtigen Positionen des Königs und der Dame wollten ihm nicht einfallen. Stand nun der König links oder rechts? Donovan bemerkte seine Ratlosigkeit. »Die Dame liebt ihre Farbe«, erinnerte er Michael. Der stellte also seinen weißen König auf das schwarze Feld und die Dame auf das weiße. So standen sie den schwarzen von Donvoan genau gegenüber und das Spiel konnte beginnen. »Weiß zieht zuerst, aber warten Sie noch einen Moment, Mister Fitzpatrick.« Er entledigte sich des braunen Jacketts, das Michael für einen Therapeuten sowieso etwas klischeehaft fand, und krempelte die Ärmel seines dunklen Hemds über seine kräftigen Unterarme. Mit nun deutlich erkennbaren Muskeln wirkte er überhaupt nicht mehr wie ein Therapeut. Eher wie ein Berufsboxer. »Ich erkläre Ihnen jetzt die Regeln. Abgesehen davon, dass wir hier klassisches Schach spielen – ich denke die Regeln werden Ihnen während des Spiels klar werden, wenn Sie sich nicht mehr erinnern –, habe ich noch eine weitere.« Er öffnete die Vitrine an der Wand hinter sich, die von dicken Schmökern umrahmt war und holte zwei Gläser und eine volle Flasche Whiskey heraus. Er schenkte beiden ein und fragte erst danach: »Wollen Sie?« Michael trank selten, Scheidung hin oder her, und Whiskey war ihm immer zu stark gewesen, doch es erschien ihm unhöflich das gefüllte Glas abzulehnen.

»Gern. Danke.« Er trank, schluckte schwer und hustete. Donovan verzog keine Miene, er behielt sein konstantes Lächeln bei. »Die Regel?«, krächzte Michael, der nun sehr gerne zu spielen beginnen wollte, bevor er zu noch einem Schluck genötigt würde. Er fühlte sich unsicher. Er vertraute Donovan zwar über alle Maßen. Aber was genau hatte er mit ihm vor?

»Natürlich«, sagte der Arzt, entfernte selbst einige Milliliter aus seinem Glas und sprach danach unbeeindruckt weiter, was Michael ein wenig neidisch machte. »Folgendes. Wann immer eine Figur geschlagen wird, beantwortet der Verlierer dem Gewinner eine Frage. Egal um welche Figur es sich handelt und egal wie die Frage lautet. Kein Wahrheit oder Pflicht. Verstehen Sie? Wenn Sie eine schwarze Figur schlagen, dann beantworte ich Ihnen etwas und wenn ich eine von Ihnen schlage – «

»Verrate ich Ihnen etwas. Ja, das leuchtet mir ein.« Michaels Interesse war geweckt. Immerhin musste er nicht auf einer Couch liegen und sich weinend über sein trauriges Leben beklagen, wie sie es in den amerikanischen Fernsehserien immer taten.

»Und nicht vergessen, es muss die Wahrheit sein«, ermahnte der Psychiater. Michael nickte. Donovan lächelte. »Hervorragend. Weiß beginnt.«

»Ihr habt den ganzen Tag Schach gespielt?«, Leonie konnte nicht glauben was sie da hörte. So einfach konnte es doch nicht sein, oder? Sie würde nur Schach lernen müssen? Das war alles? Verwirrt und glücklich zugleich unterbrach sie ihren Vater, als er gerade im Begriff war zu antworten. »Los, erzähl weiter!« Das tat er.

»Wie alt sind Sie, Doctor?«, forderte Michael sein Recht ein, nachdem er den ersten Bauern vom Feld gejagt hatte und ihm gerade keine bessere Frage einfiel.

Der Psychiater zögerte keinen Moment. »Dreiunddreißig. Seit einer Weile.« Michaels Triumph währte allerdings nicht lange. Seine Figuren wurden bald niedergestreckt und er musste eine Frage nach der anderen beantworten. Damit hätte er eigentlich rechnen müssen, war aber dennoch enttäuscht. »Wie lautet der Name ihrer Frau?«, fragte Donovan.

»Jennifer Fitzpatrick«, nuschelte Michael.

»Wie lange sind Sie verheiratet?«

»Siebzehn Jahre.«

»Lieben Sie sie?«

»Ja. Mehr als mein Leben.«

»Das heißt also, Sie würden für sie sterben?«

»Ja.«

Bei der nächsten Figur wartete Donovan eine Weile ehe er fortfuhr. »Wissen Sie was Sucht ist, Michael? Was eine Droge ist?«

Michael fiel gar nicht auf, dass der Arzt ihn plötzlich nicht mehr beim Nachnamen nannte. »Natürlich.«

»Kennen Sie die Symptome, die beim Verzicht auf eine Droge auftreten?«

»Ja, Entzugserscheinungen.«

»Richtig. Haben Sie ihren Zustand jemals mit solchen Symptomen verglichen, Michael?«

Er zögerte. »Nein. Ich schätze nicht.«

»Beschreiben Sie ihren Zustand. Erzählen Sie mir, wie Sie sich fühlen, wenn Sie an ihre Frau denken.« Das war technisch gesehen keine Frage, aber Michael tat dennoch wie geheißen. Auf dem Schachfeld standen nur noch die engsten Angehörigen von Michaels weißem König der feindlichen Übermacht gegenüber.

»Ich werde traurig. Ich stelle mir vor sie im Arm zu halten. Ich versuche mich an alles, was wir zusammen erlebt haben, zu erinnern. So ähnlich wie in einem Fotoalbum – so kann man es sich vorstellen. Ich werde ganz unruhig, wenn ich glaube, etwas davon vergessen zu haben. Ich fühle mich dann schuldig.« Er kämpfte gegen eine Träne. »Ich will einfach so sehr bei ihr sein.«

»Tut es weh?« Donovans Blick verengte sich.

»Nun, ich komme mir vor – «

Er fiel Michael ins Wort: »Nein, ich meine, verursacht es Ihnen körperliche Schmerzen? Tut es weh?«

Michael überlegte. »Ja«, antwortete er dann. Das tat es tatsächlich. Er konnte manchmal kaum atmen, er konnte nicht aufstehen, er wurde müde, wenn er traurig war und umgekehrt. Er zitterte und ihm wurden die Knie weich. Wenn er darüber nachdachte hatte Donovan recht. Jennifer war eine Art Droge. Und die Trennung war sein Entzug.

»Sie sehen selbst, was ich Ihnen zu sagen versuche, oder, Michael?«

Er hatte es verstanden. Der Mann, der ihm gegenüber saß, hatte ihm die Augen geöffnet. Dennoch fürchtete er sich vor dem, was er ihm raten würde. Deshalb wollte er es lieber selbst aussprechen, als es von jemand anderem hören zu müssen. »Sie macht mich kaputt. Wie ein Gift«, sagte Michael tonlos.

»Von Drogen muss man loskommen, ehe es zu spät ist«, bestätigte Donovan mit einem Nicken. Sie hatten das Schachspiel inzwischen eingestellt. »Was Sie Liebe nennen, ist eigentlich eine Obsession. Ein ungesundes Verlangen.«

»Lieben Sie niemanden?«, entgegnete Michael hoffnungsvoll. Vielleicht gab es ja doch noch eine andere Möglichkeit. Einen Kompromiss vielleicht.

»Ich bin nicht an der Reihe zu antworten, Michael.« Donovan lächelte nicht mehr. »Hören Sie zu. Es kann sehr einfach sein. Dass Sie Abstand halten und hierher gekommen sind, ist ein guter erster Schritt. Als nächstes möchte ich, dass sie alles, was Sie an ihre Frau erinnert aus ihrem Haus werfen. Fotos, Geschenke, Erinnerungsstücke. Alles.«

Michael schluckte. »Ich soll sie vergessen«, stellte er fest.

Donovan leerte sein Glas und versetzte seine Dame auf dem Feld. »Schachmatt« war alles was er sagte.

Leonie war mehr und mehr in sich zusammengesunken, während sie zugehört hatte. Michael berichtete noch, dass es Donovans Wunsch gewesen war, dass Richmond Michael nach Hause kutschierte. Das Schachspiel hatte er geschenkt bekommen und die Sitzung beschrieb er als eine großartige, befreiende Erfahrung.

Das konnte sich Leonie allerdings nicht erklären.

Zum einen liebte Michael Jennifer noch immer, das wusste Leonie spätestens seit dem gestrigen Abend und die Trennung hatte Michael aus der Bahn geworfen wie nichts jemals zuvor. Deshalb erschien es auch unlogisch, dass ihm die Zeit bei Daniel gefallen zu haben schien. Obwohl, wenn sie so darüber nachdachte, wäre es Leonie an Michaels Stelle wohl nicht viel anders ergangen. Wie konnte Daniel aber einem verzweifelt Liebenden die Scheidung einreden?

Leonie dachte nach.

Natürlich war Jennifers Meinung bei alldem völlig außen vor gelassen worden, überlegte sie. Was wenn sie ihren Mann wirklich nicht mehr liebte? Dann wäre dieser Rat von Daniel nachvollziehbar – einseitige Liebesbeziehungen waren zerstörerisch. Die Kartons mit der Aufschrift »Arschloch« sprachen jedenfalls Bände.

Leonie kannte ja auch den Grund für die Trennung überhaupt nicht. Sie hatten sich eben gestritten, wie Eltern das so taten. Worüber hatte sie aber nie erfahren. Und ehrlich gesagt, hatte es sie auch nie wirklich interessiert. Leonie wusste nicht, ob sie sich dafür jetzt schämen sollte. Wenn Daniel der Meinung war, dann würde es mit großer Wahrscheinlichkeit wirklich keine Möglichkeit geben die beiden wieder zusammenzubringen.

Außerdem hatte das Ganze natürlich auch Vorteile.

Schließlich war Leonie Daniel erst durch das ganze Umzugstohuwabohu begegnet und zufällig in seine Stadt gezogen. Diese Fügung war einmalig und die Chance würde sie weiß Gott nicht für eine Ehe aufs Spiel setzen, die wahrscheinlich sowieso ihr Ende erreicht hatte.

Leonie war alles in allem sehr zufrieden mit der Einstellung ihres Vaters. So oder so, je länger sie in Balling's Cape blieben, desto besser.

»Kann ich auch so einen Termin bekommen?«, fragte sie in den Raum, mit einem Mal wieder vollkommen auf ihr Ziel fixiert.

Michael, der es sich auf seinem Stuhl gemütlich gemacht hatte, fuhr hoch und starrte seine Tochter mit geweiteten Augen an, die im gelblichen Licht der Deckenlampe funkelten. Sie befürchtete, er würde sie anschreien und hysterisch rhetorische Fragen stellen, warum eine sechzehnjährige zum Psychiater rennen sollte, und so weiter und so fort. Doch dann breitete sich ein gewaltiges Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Ja. Ja! Natürlich! Unbedingt!« Er sah aus, als würde er gleich wie Rumpelstilzchen um das Feuer tanzen. Nur gab es kein Feuer und tanzen konnte er vermutlich noch weniger als seine Tochter. Wie dem auch sei, die Sache schien geklärt. »Ich sag ihm gleich morgen früh Bescheid, versprochen«, erklärte er, als er sich halbwegs beruhigt hatte.

»Warum rufst du ihn nicht gleich an? So spät ist es noch nicht«, empfahl Leonie, obwohl sie noch gar nicht auf die Uhr geschaut hatte. Sie erhoffte sich davon schlichtweg einen möglichst baldigen Termin.

Michael sah sie verdutzt an. »Kann ich nicht. Wir haben kein Telefon.«

Stimmt, da war ja was, fiel ihr ein. »Und das Internet?«

»Auch nicht.« Michael schob sich ein wenig nervös auf seinem Stuhl herum, Leonie bemerkte das aber überhaupt nicht. Sie war mit ihren Planungen bereits einen Schritt weiter und überging das Nichtvorhandensein der Kommunikationsmittel leichtfertig.

»Du kannst jetzt Schach spielen?«, fragte sie.

Michaels Blick wurde ernst. »Was heißt hier jetzt?«

Seine Tochter schenkte ihm einen Blick der Variante Genau, red' dir das nur weiter ein und beide mussten darüber lachen. »Bringst du´s mir bei?«, bat sie. Michael nickte und schob das vorbereitete Brett zu ihr herüber.

Es dauerte nicht lange, bis Leonie die Regeln verinnerlicht hatte. Sie gab sich auch alle Mühe, schließlich wollte sie gegen Daniel spielen und sich nicht, wie ihr Vater, von ihm ausziehen lassen.

Obwohl...

Es war erstaunlich einfach, Michael zu schlagen. Er war wirklich nicht besonders gut. Den ganzen Abend saßen die beiden sich gegenüber und genossen das gemeinsame Spiel, eine Vater-Tochter-Aktivität, die schon viel zu lange überfällig gewesen war. Während sie sich im elektrischen Licht der Küchenlampe mit hölzernen Heeren Schlachten lieferten und dabei immer wieder in Gelächter verfielen – wenn Leonie die Regeln brach, oder Michael einen dummen Zug machte –, erzählten sie einander von ihrem Tag.

Leonie berichtete von ihrer Klasse, von Rachel und ihren anderen neuen Freunden. Den Besuch in der Kirche ließ sie aus, schließlich war der nicht so ganz legal gewesen. Sie erfand eine kleine alternative Geschichte, in der die anderen sie in der Stadt herumgeführt und ihr die Gegend gezeigt hatten, eine Geschichte, die erstaunlicherweise viel von dem Gefühl wiedergab, das sie tatsächlich gehabt hatte. Sie berichtete auch vom Meer, aber in ihrer Version hatte sie es durch den Zaun am anderen Ende der Stadt gesehen und den Wind gespürt, der von der Küste her wehte. Ein Bild, in das sie sich schlagartig verliebte. Sie würde bald schon genau dort hingehen. Das nahm sie sich fest vor.

»Es gibt keine Zeitung in Balling's Cape«, erklärte Michael ihr, auf die Frage, warum er plötzlich eine neue Karriere eingeschlagen hatte. »Und Englisch hab ich ja früher schon mal unterrichtet, deswegen dachte ich, das klappt schon.« Leonie erinnerte sich. Er hatte ihr oft von der Zeit erzählt, bevor er ihrer Mutter begegnet war. Damals hatte er einige Zeit im Ausland gelebt und sich als Lehrer durchgeschlagen. Das klang in seinen Geschichten immer wie ein Abenteuer der Extraklasse, doch Leonie stellte es sich sterbenslangweilig vor. Es musste in etwa so aufregend gewesen sein wie sein Roman. Der Umstand, dass es keine Zeitung gab, irritierte sie nicht. Sie hatte noch nie in ihrem Leben eine gelesen. Ihre Informationen zog sie, wenn nötig, aus dem Internet. Da sie auch das gerade nicht besonders vermisste, sah sie absolut kein Problem darin, wie abgeschnitten diese Stadt eigentlich vom Rest der Welt war.

Das Rathaus beschrieb ihr Vater genauso wie Leonie es getan hätte. Sie brannte förmlich darauf es aus der Nähe zu sehen. Vor allem aber Daniels Büro, mit dem riesigen Fenster, und ihm darin gegenüber zu sitzen.

Nach der Sitzung war Thomas Richmond aufgetaucht, der wohl wirklich, wie Tony berichtet hatte, nie weiter als einen Steinwurf von Daniel Donovan entfernt zu sein schien. Der Arzt hatte ihn darum gebeten, Michael nach Hause zu begleiten (warum der am Morgen nicht den Wagen genommen hatte war selbstverständlich, die Wege in Balling's Cape waren in etwa so weit wie Leonie einen Baseball werfen konnte) und das hatte in dessen Niederlage auf dem Schachfeld geendet, genau wie es nun seine Erzählung tat, nur mit einer anderen Gegnerin.

Leonie beförderte seine Dame vom Brett und umstellte seinen König. »Schachmatt«, grinste sie.

»Du spielst jetzt schon besser als ich«, räumte ihr Vater ein und lächelte sie an. Dann murmelte er: »Jeder noch so große König ist nichts, ohne seine Königin.«

Leonie blinzelte einige Male. Sie sah ihn nachdenklich an.

Es klopfte an die Tür. Michael blickte auf und rief: »Herein!« Er hatte sich bereits daran gewöhnt, nicht mehr öffnen gehen zu müssen. Doch die Tür rührte sich nicht. Vater und Tochter erhoben sich gleichzeitig vom Tisch und Michael ließ Leonie den Vortritt. Sie öffnete und erblickte nichts als die menschenleere, nächtliche Straße, auf der eine kühle Brise wehte. Zu ihren Füßen lag ein Umschlag. Sie fühlte sich an Daniels Brief erinnert und hoffte schon, es wäre derselbe Absender, doch es stand nicht ein einziges Wort darauf geschrieben. Auf ihren fragenden Blick nickte Michael ihr zu, sie riss ihn auf und zog ein Blatt hervor. Darauf waren mit einer Schreibmaschine einige Zeilen getippt worden, auf die beide nun verwirrt starrten:

Vor ihm her verzehrt das Feuer, und nach ihm lodert die Flamme, vor ihm ist das Land wie der Garten Eden, und nach ihm eine öde Wüste, und auch keine

Entronnenen lässt es übrig.

Donovan

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