Mein Walk of Fame
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Dieter Wahl. Mein Walk of Fame
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Foto 1 - Foto 11: Marion Wahl. Foto 12: Elke Güldner. Foto 13: Marion Wahl. Foto 14: Dieter Wahl. Foto 15: Photo Simonis Wien. Foto 16: Birgit Koschella
Ein Brief als Vorwort. Liebe Leserin, lieber Leser, ich schreibe Ihnen den Prolog zu meinem Buch als Brief, weil dies der individuellen, persönlichen Note meiner Geschichten am ehesten gerecht wird. Nun zur Sache – oder besser zum Menschen: Haben Sie nicht auch schon Leute kennengelernt, die Sie beeindruckt oder gar fasziniert haben?! Menschen, die Ihnen im Gedächtnis blieben und sie angeregt haben – zum Nachdenken, zum Nacheifern und zum Weitererzählen. Und eben das möchte ich auch: weitererzählen. Ich hatte in vierzig Journalisten-Jahren das Vielfachglück bemerkenswerter Bekanntschaften in Ost- und Westeuropa, davon rund drei Jahrzehnte im Ausland. In der spannenden Zeit meiner TV- und Zeitungsarbeit in Berlin, Paris, Moskau und Brüssel traf ich auch Persönlichkeiten mit dem Protokoll-Etikett „VIP“ – „Very Important Person“, definiert in einschlägigen Lexika als Personen, denen durch ihren privilegierten Status eine besondere gesellschaftliche Bedeutung zukommt. Dazu gehören in westlichen Gefilden die viel zitierten Reichen und Schönen des Gesellschaftsadels, Großindustrielle und Staatslenker, hochrangige Militärs und Prominente von Leinwand, Theater und Showbühne. Einige von ihnen habe ich in beruflicher Mission kennengelernt. Manche von ihnen habe ich bewundert, manche nicht. Jene, die in meinem Gedanken-Refugium den Sonderstatus der Unvergesslichkeit besitzen, möchte ich Ihnen auf den folgenden Seiten vorstellen. Es sind keine medial aufgepumpten Möchtegerne, sondern echte Weltstars der Musik-, Literatur-, Film- und Showbranche. Mit Charles Aznavour hat einer von ihnen sogar einen Stern auf dem „Walk of Fame“ von Hollywood bekommen. Sterne für meine anderen Favoriten findet man dort nur deshalb nicht, weil sie mit wenigen Ausnahmen die hauseigene Domäne der Amerikaner sind. Den so vernachlässigten europäischen Kulturberühmtheiten und ihrem Hollywood-Platzhalter Aznavour möchte ich deshalb mit diesem Buch einen ganz persönlichen „Walk of Fame“ widmen
Mein Walk of Fame … Mein Walk of Fame … Mein Walk of Fame … Mein Walk of Fame … Mein Walk of Fame. Peter Ustinov. wurde berühmt als Oscar-dekoriertes Multitalent, Entertainer und Leinwand-Detektiv Poirot. Vorsichtig kurve ich den Chaillot-Hügel an den Trocadéro-Gärten hinauf, obwohl hier im tiefen Pariser Herbst weder überfrorene Straßen noch Schneekrümel lauern. Aber ich will in der leichten morgendlichen Nebelsuppe an den Uferterrassen der Seine und auf ihrem raureifglitschigen Pflaster nichts riskieren. Denn das Rendezvous, dem wir entgegenfahren, ist mir heilig. Im Kofferraum hat Kameramann Eberhard Güldner unser Filmequipment verstaut mit jeglicher Art von technischem Zubehör, obwohl wir nicht wie gewöhnlich 500 Kilometer nach Genf oder Straßburg oder 300 Kilometer nach Brüssel brettern. Im Gegenteil, von unserem Korrespondentenbüro im Pariser Vorort Boulogne-Billancourt bis hierher zum Palais de Chaillot gegenüber dem Eiffelturm ist es ein Katzensprung. Aber Eberhard hat das gesamte Arsenal an Produktionsutensilien eingepackt, um auf alles vorbereitet zu sein. Denn die Gelegenheit zu diesem Prominententreff ist zu einmalig. Auch meine Frau Marion ist mit von der Partie, um sich um Ton, Licht und Fotos zu kümmern. Ich kann es immer noch nicht so recht glauben, dass wir ihn in wenigen Minuten treffen sollen. Aber Peter Ustinov hat es mir fernmündlich hoch und heilig versprochen, nachdem ich ihn mit telefonischer Ausdauer ein gutes halbes Jahr kreuz und quer durch Europa verfolgt habe. Nun also soll das Interview mit ihm am heutigen Montagvormittag, dem 20. Oktober 1986, Realität werden. Vereinbart ist 10 Uhr. Noch bleiben 20 Minuten, was reichen müsste, wenn wir hoffentlich schnell eine Parkmöglichkeit finden. Von der Unrast des Suchens und dem Glück des Findens. Gottlob sind die alles überschwemmenden Touristenströme des Sommers weitgehend versiegt und plätschern nur noch in verhaltener Gruppenstärke dahin. Ich erblicke nur noch vereinzelte regenschirmschwingende Fremdenführer an den imposanten architektonischen Besuchermagneten mehrerer Pariser Weltausstellungen. Für sie entstand auch hier oben 1878 das Trocadéro-Palais, das dann für eine weitere Weltausstellung 1937 zum Palais de Chaillot umgebaut wurde. Die Freifläche zwischen den beiden Seitenpavillons ermöglicht einen atemberaubenden Panoramablick hinunter zu der an einer Seine-Schleife 324 Meter in den Himmel strebenden Stahlpyramide des Eiffelturms, hochgezogen zur Weltausstellung 1889. In einem der beiden Museen des Chaillot hat der französische Historiker Henri Langlois 5000 geschichtsträchtige Filmraritäten zusammengetragen und damit einen einmaligen Fundus der Kinematografie geschaffen. Vom Drachen aus dem Nibelungenstreifen eines Fritz Lang über das Kettenhemd Iwans des Schrecklichen aus dem Zweiteiler Eisensteins bis zu Requisiten von Agatha Christies schrulligem belgischem Detektiv Hercule Poirot, dem Peter Ustinov zu bleibender Leinwand-Berühmtheit verhalf. Nicht minder überzeugend gebärdete er sich als verrückter Kaiser Nero im Monumentalstreifen „Quo vadis“. Dafür wurde er als „Bester Nebendarsteller“ für den Oscar nominiert, bekam ihn aber nicht. Dafür erhielt er den begehrten Academy Award gleich in doppelter Ausführung für seine genial gespielten Charakterrollen in zwei anderen Hollywood-Produktionen – zum einen als sadistischer Sklavenhändler in Stanley Kubricks Historien-Epos „Spartacus“ und zum anderen als Kleinkrimineller in Jules Dassins Agenten-Komödie „Topkapi“. Ustinov, der weltgewandte Grandseigneur der Unterhaltungskunst in all ihren Facetten. Ein Virtuose der Wandlungsfähigkeit, dessen breite Palette er in jede Richtung mit Glaubwürdigkeit ausgefüllt hat – ob als scharfsinniger Polizist, trotteliger Ganove oder mörderischer Imperator. Das geht mir durch den Kopf und nötigt mir nochmals gehörigen Respekt ab, während ich den „Audi 100“ in eine Parklücke der Avenue Georges Mandel einrangiere und den Automaten füttere. Es ist Viertel vor zehn. Zur vollen Stunde erwartet er uns hier auf dem herbstblättrig geschmückten nebelfeuchten Platz über den Dächern von Paris. Dunst, der vom Fluss weiter unten in seidenzarten Schleiern heraufweht und sich in hauchdünner Bescheidenheit aufs Pflaster legt. Sollte der Treff missglücken, hätte das keine redaktionellen Folgen. Es ist kein geforderter Pflichttermin, sondern eine hausgemachte Kür. Denn zum knallharten täglichen Brot der Berichterstattung über die aktuelle Politik in unserem weiträumigen westeuropäischen Länderbereich hatte ich begonnen, mir und dem Fernsehpublikum einen selbst gestellten Auftrag zu erfüllen. Ich hatte mir eine Liste ausgeknobelt mit Namen hochkarätiger internationaler Persönlichkeiten, die ich aus der Welt von Kunst, Literatur, Politik, Film, Theater- und Showbühne verehre und näher kennenlernen und befragen wollte – nicht über den letzten Skandal oder die vorletzte Liebschaft. Nein, ich wollte ihre Intelligenz nicht durch Lappalien beleidigen, sondern ihre Meinung zu substanziellen Themen erfahren. Das machte den Reiz meiner Idee aus, deren Verwirklichung ich mir allerdings leichter vorgestellt hatte. Zugute kam mir dabei ein Bonus, den ich voll ausspielte: Als Mann des DDR-Fernsehens war ich inmitten der Westpresse ein Exot, auf den oft auch ein West-Prominenter neugierig war. Da traf Neugier auf Neugier. Anfangs griff ich mir aus meinem Wunschzettel diesen und jenen Kandidaten heraus, den ich glaubte, problemlos vor die Kamera zu bekommen, weil er unter demselben Himmel in Paris wohnte. Schnell aber dämmerte mir, dass ein Multigenie und Kosmopolit wie Peter Ustinov als Weltbürger in ganz Europa zu Hause ist und man ihm von Paris bis Genf hinterherrecherchieren muss. Das habe ich monatelang immer mal wieder getan, wenn Luftlöcher in der Arbeit es gestatteten. Ihn zu suchen, war eine strapaziöse Telefon-Odyssee – ihn gefunden zu haben, eine überreichliche Belohnung. Über zahlreiche Umwege hatte ich mir Ustinovs private Telefonnummer von seinem Haus in Bursins zwischen Genfer See und Jura-Gebirge besorgt. Damit begann eine wochenlange Durststrecke vergeblicher Versuche. Nach intensivem Schweigen ließ sich plötzlich die Stimme einer Haushälterin vernehmen und es entspann sich ein nerviger Dialog: „Herr Ustinov ist unterwegs.“ „Wo?“ „Diesmal in Europa.“ „Könnten Sie das bitte präzisieren?“ „Fragen Sie in seiner Filiale in Boulogne-Billancourt nach. Das ist bei Paris.“ Ich konnte es nicht fassen. Da horchte ich in aller Welt herum und direkt neben mir nur einige Straßen weiter saß sein Management. Wenigstens hatte ich seine Agentin auf Anhieb an der Strippe. Madame Coutourie hörte sich mein Begehr geduldig an und gab bereitwillig Auskunft: „Monsieur Ustinov ist derzeit in England.“ „In London?“ „Ja, in einem Hotel in London. Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen.“ Das war schon etwas Genaueres. Ich schöpfte wieder Mut. Nach weiteren Kreuz-und-quer-Recherchen in Ustinovs Freundeskreis kannte ich schließlich seine Bleibe in der Themse-Stadt. Pech: Der Weltenbummler hatte bereits das Hotelzimmer geräumt. Glück: Der beherzte Portier erwischte ihn noch in der Empfangshalle, wo ihn eine Gruppe von Autogrammjägern umzingelt und damit aufgehalten hatte. Ich bin ihnen dafür heute noch dankbar. Bange Warteminuten erschienen mir wie eine Ewigkeit, aber schließlich war er am Telefon. Endlich! Der Druck des Suchens wich dem Glück des Findens. Ja, es war die filmbekannte Stimme von Peter, dem Großen. Als ich mich als Deutscher oute, wechselt er mühelos vom tadellosen Englisch ins tadellose Deutsch. Statt Adresse ein Winksignal. Meine von mir dramatisch ausgeschmückte Verfolgungsjagd auf seinen Spuren amüsierte ihn sichtlich. Das war auch spürbar am Tonfall, der in wohlwollender Modulation durch die Leitung drang. Ja, übermorgen sei er in Paris. „Ein Treffen und ein Interview fürs Ostfernsehen? Ein Novum! Warum nicht?“ „Wo und wann?“ „Kommen Sie gegen zehn zum Trocadéro-Platz, zu der kleinen leicht abschüssigen Straße links hinter dem Palais de Chaillot. Dort warte ich.“ „Welche Hausnummer, Herr Ustinov?“ „Ist nicht nötig. Ich schaue von der obersten Etage aus dem Fenster und winke mit meinem Schal.“ Ich glaubte mich verhört zu haben, fragte ungläubig und verdattert zurück: „Am Fenster?“ Ich spürte förmlich durch den Hörer, wie er die Situation genoss: „Ja, Sie sehen mich oben am Fenster. Ich werde winken.“ Damit verabschiedete er sich und ließ mich mit meiner Verblüffung allein. Auf die Minute genau erscheint er Punkt zehn im Obergeschoss eines unauffälligen Altpariser Reihenhauses im Fensterrahmen und wedelt mit einem Schal. Echt Ustinov! Das ist sein Auftritt! Wenn keine Bühne da ist, schafft er sie sich selbst. Gagverliebt, wie ihn alle beschreiben, die ihn erlebt haben. Wir nun auch. Ein Erzkomödiant mit fanatischem Sinn fürs Ausgefallene. Ein geistreicher Gaukler, der seine Zeit kritisch auslotet, ihre Krankheiten mit der Präzision eines Skalpells seziert und mit erbarmungsloser Satire geißelt. Ein Tänzer auf vielen Hochzeiten – und auf einem dünnen Seil über dem Abgrund, wenn er die Mächtigen dieser Welt für ihre Todsünden sowohl mit beißender Satire als auch mit beiläufigem Spott überzieht. Nie laut und polternd, sondern mit leisem, feinsinnigem Humor. Nie Hiebe mit der Axt oder dem Säbel, sondern Pikser mit der Nadel oder Stiche mit dem Florett. Dafür hasst ihn die Schar der Angegriffenen und liebt ihn der Rest der Welt. Ein kreativer Intellektueller und 14-facher Ehrendoktor, ausgestattet mit der Gabe des unverbesserlichen Optimismus. Sein Motto: „Humor ist einfach eine komische Art, ernst zu sein.“ Extrem ungewöhnlich ist er seit jeher, der Sohn eines deutschen Journalisten und einer französischen Malerin, der zudem noch russische und äthiopische Vorfahren hat. Er weiß selbst nicht so recht, was er eigentlich ist. Auf jeden Fall aber ein begnadeter Theater-, Film- und Selbstdarsteller, Regisseur und Schriftsteller, Maler und Karikaturist, Bühnenbildner, Entertainer und Alleinunterhalter, der sein Publikum mit geistreichen Pointen überschüttet. Sie sprudeln nur so aus ihm heraus, als wir zum Café Kleber am Rande des kopfsteingepflasterten Rondells schlendern. Er parliert mit uns in fließendem Deutsch, beherrscht aber mit derselben verbalen Leichtigkeit weitere sieben Sprachen: Englisch, Russisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Griechisch und Türkisch. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass der stets bestens informierte Haudegen der alten Schule sich unterwegs an einem Kiosk mit Zeitungen aus aller Herren Länder eindeckt. Er ist 65 Jahre alt und Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Weißhaarig, gelbgemusterte Krawatte zum hellgrün gemuschelten Seidenschal, weißes Hemd unter dunklem dickwolligem Wintermantel. Ich vermisse das Presseklischee, er habe es immer eilig. Sollte es so sein, woran ich nicht zweifle, merkt man es ihm nicht an. Er ist die personifizierte freundliche Ruhe und Ausgeglichenheit eines Mannes, der mit sich selbst, seinem Leben, seinem Standpunkt und Stehvermögen im Reinen ist. Ein älterer Herr, der weiß, was er ist, kann und will, wenngleich er sich schon wieder zwischen zwei stressigen Terminen befindet. Neulich, so berichtet er, habe er in der kirgisischen Hauptstadt Frunse den kommunistischen Schriftsteller Tschingis Aitmatow besucht, der mit seiner verfilmten und vielfach übersetzten Erzählung „Djamila“ berühmt wurde. Später, in der Perestroika-Zeit, war er Berater Gorbatschows, letzter Botschafter für die Sowjetunion in Luxemburg und anschließend für Kirgisistan in Frankreich und den Beneluxtaaten. Vor unserem Treffen, so plaudert Ustinov in offener, unverblümter Art weiter, habe er in Washington einen Empfang von Ronald Reagan moderiert. Seine Miene wird verschmitzt. Er habe sich gewundert, dass der Präsident immer als Letzter über seine Witzeleien gelacht habe – bis er mitbekam, dass der Boss des Weißen Hauses wohl schwerhörig sei. Daraufhin habe er ihm sicherheitshalber die Pointen seiner Scherze noch einmal ins Ohr geflüstert. Der Anflug eines schelmischen Lächelns gleitet über sein Gesicht. Obwohl leichtes Frösteln in der Luft liegt, hat der Wirt vom Café Kleber noch Korbstühle draußen gelassen, wenngleich sie niemand benutzt – außer Peter Ustinov. Wir setzen uns zu ihm und laden ihn zu einem Espresso ein. Der Kellner verschwindet und erscheint mit einem Gästebuch und der Bitte nach einem Autogramm. Es wird gut drei Jahre später noch wertvoller werden, nachdem Frankreich Monsieur Ustinov mit der höchsten Würde beglückt, die einem Ausländer zuteilwerden kann. Die „Académie française der Schönen Künste“ nimmt den England-Schweizer Anfang 1989 in ihren erlesenen Kreis der „Unsterblichen“ auf. Das ist schon für einen Franzosen eine kaum vorstellbare Ehre, für einen Fremdling kommt es einer Heiligsprechung gleich. Und noch ein Jahr weiter wird Ustinovs Autogramm bestimmt glasgerahmt einen Ehrenplatz im Café Kléber erhalten, denn 1990 schlägt ihn Königin Elisabeth II. zum Ritter und adelt ihn mit dem Titel „Sir“ Ein vermisster Trabi. Der künftige England-Adlige und Franzosen-Heilige hat seinen Zeitungsstapel mit sehr irdischer Bedächtigkeit auf einem Stuhl abgelegt und es sich in seinem flauschigen Mantel bequem gemacht. Während der Kellner dienstbeflissen den Kaffee bringt, macht Eberhard in gewohnter Professionalität die Kamera klar und drückt mir ein Mikrofon in die Hand. Unser Interview auf dem Plateau über den Ufern der Seine kann beginnen. Typisch Ustinov: Die erste Frage stellt er selbst: „Warum sind Sie nicht mit dem Trabi gekommen?“ Wieder ein Angriff aufs Zwerchfell. „Weil“, erkläre ich ihm, „weil der Trabant zwar ein rustikaler DDR-Volkswagen ist, der aber zu klein ist für die zentnerschwere Fracht von Kamera, Filmbüchsen, Tongeräten, Halogenbeleuchtung, Stativen und vielerlei anderem Zubehör, zumal er uns ja auch nochmitschleppen muss – und das bei Überlandfahrten quer durch Europa. Da ist die große Westkutsche Audi 100 schon geeigneter.“ Das leuchtet ihm ein, dem unsteten Weltreisenden, der selbst immer genug persönliches und berufliches Gepäck mit sich herumschleppt „Trabant“-Kenner Ustinov vor dem Trocadéro-Café Kléber über den Dächern von Paris: „Ich bin ein Gratwanderer.“ Foto: Marion Wahl
Mireille Mathieu. eroberte als „Spatz von Avignon“ im rasanten. Höhenflug die Showbühnen rund um den Globus. Dass sie mir einst ein kleines Privatkonzert gegeben hat, erscheint mir noch heute unwirklich. Und doch ist es wahr. Ebenso wahr wie eine erste ungewöhnliche Begegnung mit ihr. Sie pflanzte sich als Anekdote in meine Erinnerungen und schlägt einen weiten Bogen zu dem späteren persönlichen Ständchen, das mir die französische Primadonna des Schlagers in einem Pariser Fernsehstudio gab. Halten wir die Chronologie ein und wenden uns zunächst der vorausgegangenen Anekdote zu. Es war an der afrikanischen Atlantikküste. Im September 1970 hatte es mich journalisten-beruflich nach Guinea verschlagen. Ich wohnte am Rande der Hauptstadt Conakry in einem Hotel, das mit seinem gedrungenen Flachbau eher an einen großen Backstein-Bungalow erinnerte. Es war ein Nobelhaus im Vergleich zu den überaus bescheidenen Gebäuden, mit denen nur wenige hundert Meter weiter der ärmliche Arbeitervorort der Millionenmetropole begann. Einst war sie mit ihren feinsandigen Palmenstränden ein Mekka des internationalen Geldadels. Der verzog sich in profitablere Gefilde, nachdem der sozialismus-orientierte Ahmed Sékou Touré 1958 erster Präsident des unabhängigen Landes geworden war. Nachdem ich die quirlige City erkundet hatte, interessierte mich das Leben abseits der attraktiven Exotik der Hafenstadt. Also schlenderte ich nach getanem Tagewerk auf der Suche nach irgendeiner Form von Gastronomie durch den nahen Arbeitervorort und danach durch das ebenfalls peripher gelegene Armenviertel, dem weitläufigen Hinterhof der Stadt, auf dem sich ein Wellblechdach ans andere reihte. Ich durchschritt staubgraue Gassen mit zumeist heruntergekommenen Fassaden, mit Holperpflaster und langen Holzstützen, an denen ein chaotisches Gewirr von Stromkabeln baumelte. Ich fand weder ein Lokal noch eine imbissähnliche Straßentheke, passierte aber bei meinem Bummel in abendlicher Kühle einige kleine, schon geschlossene Verkaufsläden. Meine Aufmerksamkeit galt einem rissigen, arg verwitterten Schild mit dem handgemalten Schriftzug „Musik- und Souvenirshop“ Neugierig inspizierte ich die Auslagen hinter dem milchig-matten Glas eines Schaufensters und staunte über ihre bunte Vielfalt inmitten trister Ärmlichkeit. Angepriesen wurden vornehmlich traditionelle einheimische Musikinstrumente. Urige Trommeln, wie die sogenannten Bongas und Talking Drums, Rhythmusinstrumente wie das dem Xylofon ähnliche Balafon sowie Hörner und Flöten in verschiedenen Größen und Ausführungen, wie sie von den Hirten in afrikanischen Savannen gespielt wurden. Besonders angetan hatte es mir die souvenirtaugliche Miniaturausgabe eines Zupfinstruments mit hauchdünnen angelschnurartigen Saiten, die über einen geschnitzten Holzsteg gespannt waren und am fellüberzogenen Resonanzkörper einer halben Kokosnuss endeten. Dieser Verlockung einer optischen Erinnerung in der interessanten Form eines Banjos konnte ich nicht widerstehen, sodass ich mir vornahm, sie am nächsten Tag sofort nach Ladenöffnung zu kaufen – zusammen mit der Souvenirvariante einer ebenfalls reizvollen kleinen Buschtrommel, der traditionellen Djembé mit einem Naturholzkorpus. Das breite Angebot der Musikinstrumente hinter der schlierigen Scheibe wurde durch eine spärliche Kollektion von Schallplatten komplettiert. Zwischen die Singles-Scheiben mit afrikanischer Folklore hatte sich eine einsame Plattenhülle mit ausländischer Prägung verirrt. Unter dem Titel „Mon Crédo“ las ich die Zeile „Mireille Mathieu chante l’amour“. Natürlich war mir das auf dem Cover abgebildete sehr feminine Konterfei mit unverwechselbarer markanter Pagenfrisur, schwungvollen dunklen Augenbrauen und einem konturenstarken grellen Rotmund vertraut. Schließlich besaß ich eine Autogrammkarte von ihr und auf meinem „KB-100“-Tonband waren alle Songs verewigt, die ich bis dato über Radiowellen ergattern konnte – von „Hinter den Kulissen von Paris“ über „Martin“ bis „Das Wunder aller Wunder ist die Liebe“. Was mir fehlte, war ihr erster großer Hit „Mon Crédo“, den ich nun im Tonrillen-Format in der afrikanischen Abgeschiedenheit einer verwahrlosten, slumähnlichen Gegend an der Peripherie von Conakry entdeckte. Die Platte würde – so kam mir in den Sinn – in meinem Mathieu-Archiv die Sammlung von Vinyl-Scheiben ergänzen, die beim DDR-Label „Amiga“ erschienen waren. Ich musste sie haben, nahm mir vor, sie anderentags zu kaufen. Zudem wäre sie das Pendant zu einer Originalität, die ich durch eine ebenso ungewöhnliche Quelle erstanden hatte. In meiner Moskauer Korrespondentenzeit hatte ich immer mal wieder einen exzellenten „Gramplastinki“-Musikladen auf dem Kalinin-Prospekt frequentiert, um in einem erstaunlich weltoffenen Fundus von aktuellen Platten-Schätzen der Pop- und Schlagerszene zu kramen. Dort entdeckte ich auch eine LP mit dem Titel „Merveilleuse Mireille“ – „Wunderbare Mireille“, herausgebracht von der sowjetischen Plattenfirma „Melodija“ als Gestattungsproduktion von „Ariola“. Eine wertvolle Bereicherung, denn die meisten Songs darauf kannte ich nicht. Nun also die Chance, die nächste Rarität zu ergattern und damit eine weitere Lücke im Mathieu-Fundus zu schließen. Als ich am nächsten Tag im Musikladen auftauchte, konnte ich zwar die begehrten Afrika-Variationen von Trommel und Banjo mitnehmen, nicht aber die „Crédo“-Platte. Sie war weg. Ein anderer Käufer war schneller. Und das war auch kein Wunder, denn das Schaufenster-Exemplar war zugleich auch das einzige. Als schlagerverrückter Tonbandnarr hatte ich die Französin mit ihrer glockenhellen Stimme von Anfang an in das Beuteschema meiner Schlagerstars eingereiht, deren Songs ich möglichst lückenlos besitzen wollte. Ich habe noch lange nach meiner Teenagerzeit die gängigsten Schlagersendungen in Ost und West verfolgt und Glanznummern auf Tonband und später Kassette festgehalten – ob in UKW-Qualität bei der montäglichen „Schlagerrevue“ von Radio DDR mit Heinz Quermann oder mit schwankender Kurzwelle bei der Samstag-„Hitparade“ von Radio Luxemburg mit Camillo Felgen. Das war für mich bedenkenlose friedliche Koexistenz im Äther. Alles, was ich zudem an Informationen über meine Stars erfahren konnte, wurde notiert oder abgeheftet oder aufgeklebt. So wusste ich denn auch, dass „Mon Crédo“ ihr zum ersten Spitzenplatz in der französischen Hitparade verholfen hatte und sie mit 1,7 Millionen verkaufte Exemplare ihren ersten weltweiten Erfolg landen konnte. Der gefühlvolle Titel war ein Glaubensbekenntnis an die Kraft der Liebe, die sie künftig in hundertfachen Chanson- und Schlagerversionen beschwören sollte – in mehr als fünfzig Karrierejahren und rund 1200 Liedern in elf Sprachen. Für sie wurde die erste Zeile von „Mon Crédo“ zum ewigen Leitspruch: „Ja, ich glaube, dass ein Leben mit einem Wort der Liebe beginnt.“ Dass mir Mireille Mathieu an abgelegenen afrikanischen Armenviertel-Gestaden des Atlantischen Ozeans als einzige Ausländerin unter einheimischen Interpreten begegnete, fand ich bemerkenswert. Wäre es der Amerikaner Elvis Presley oder der Engländer Tom Jones gewesen, hätte es mich weniger erstaunt. Aber dass es eine Französin ist, war ungewöhnlich, denn Frankreich als ehemalige Kolonialmacht war in Guinea nicht sonderlich beliebt. Da machte Mireille wohl eine Ausnahme. Im bundesdeutschen TV hatte sie schon 1969, ein Jahr vor meiner Conakry-Plattenentdeckung, eine eigene ZDF-Show mit dem Titel „Rendezvous mit Mireille“. Und ich wusste von Kollegen der Unterhaltungsredaktion meines Stalles, dass auch das DDR-Fernsehen fürs Jahresende 1970 als erste Farb-Stereosendung einen Galaabend mit ihr aus Leipzig vorbereitete. Das war dann auch so und nach meiner Rückkehr aus Conakry verfolgte ich ihren Auftritt via Bildschirm und schwor mir, sie bei ihrem nächsten DDR-Gastspiel unbedingt live zu erleben. Dass sie mir mal ein persönliches Ständchen bringen würde, wäre damals ein völlig absurder Gedanke gewesen. Und doch ist es 17 Jahre später passiert. Auf Spurensuche. Die Geschichte spielt im Mai 1987. Da erhielt ich von ihrem Management die langersehnte Mitteilung, dass Madame Mathieu dem Wunsch des Pariser DDR-Fernsehkorrespondenten nach einem Interview zustimme. Man bitte aber um Verständnis, dass wegen ihres übervollen Terminkalenders Ort und Zeit nur kurzfristig mitgeteilt werden könnten. Da war sie nun endlich, die erhoffte Zusage auf meine Bitte, die ich monatelang erneuert hatte. Aber im Pariser Büro mit gefalteten Händen auf den Termin zu warten, war realitätsfremd. Denn der Aktionsradius unserer aktuellen Berichterstattung ging weit über unser Gastland Frankreich hinaus, erstreckte sich auch auf Italien, Benelux und die Schweiz. So katapultierte uns das politische Tagesgeschehen denn auch wieder kurzfristig aus Paris und Frankreich hinaus nach Oberitalien. Also zogen wir los nach dem oft praktizierten Prinzip „Nachts Auto fahren und am Tag arbeiten“ und ich betete, der Termin mit der Mathieu möge bitte nicht in diese Zeit unserer Paris-Abwesenheit fallen. Zugleich kam mir die Idee, auf der Rückfahrt mit einem kleinen Umweg in ihrer südfranzösischen Geburtsstadt Avignon Station zu machen. Der Chef unseres außenpolitischen Magazins „Objektiv“, Paul Rummel, hatte Interesse bekundet und ich wollte diese zuschauerfreundliche Gelegenheit nicht nur für ein stereotypes Interview nutzen, sondern es in ein Porträt des Weltstars einordnen. Gerade recht kämen da Bilder aus ihrem Heimatort, in dem sie Kindheit und Jugend verbracht hatte. Sie hat ihn ja sogar noch besungen – und das auch auf Deutsch: „An einem Sonntag in Avignon. spielt la musique in Avignon. Dazu im Kreis dreht sich das Karussell, bist Du noch traurig, steig ein und das ändert sich schnell.“ Was sie mit stimmgewaltiger Strahlkraft in den Schlager-Olymp hochgejubelt hat, erlebe ich nun mit Kameramann Eberhard Güldner tatsächlich im prosaischen Alltag dieser mediterran angehauchten altehrwürdigen Papststadt am Unterlauf der Rhône. Als wir eintreffen, gibt es zufällig, wie für uns arrangiert, ein turbulentes Markttreiben mit Karussell und Liebespärchen – just wie im Schlager beschrieben, der sich damit authentisch bebildern ließe „An einem Sonntag in Avignon“ hatte sich 1970 ganze 13 Wochen in den bundesdeutschen Charts behaupten können. Tatsächlich wurde ein Sonntag die entscheidende Wende im Leben der Mireille Mathieu. Ihr alles bestimmender Tag aber war zunächst ein Montag in Avignon. Da erblickte sie am 22. Juli 1946 als Tochter des Steinhauers Roger Mathieu und der Hausfrau Marcelle-Sophie das Licht der Welt – eine matte Funzel in einer bescheidenen familiären Welt. Ein ärmliches, beengtes Zuhause, das sie samt spärlicher Kost mit ihren 13 jüngeren Geschwistern teilen musste. Vielleicht war es diese Ärmlichkeit, weshalb die Adresse ihres Geburtshauses, in dem sie auch aufwuchs, später nicht publik werden sollte. Nirgendwo habe ich sie gefunden. Auch ihr Manager Johnny Stark hatte sie mir verweigert. Seinem erfolgsverwöhnten Schützling sollte wohl nicht nachgesagt werden, aus primitiven, nahezu asozialen Verhältnissen zu kommen. So hatten wir auf den vier Rädern unseres „Audi 100“ Norditalien erfolgreich mit Südfrankreich verbunden, standen unter dem Zeitdruck der sofortigen Weiterreise nach Paris in ihrer Geburtsstadt und hätten gern gewusst, wo sich in dieser 65 Quadratkilometer großen Provence-Metropole ihr früheres Elternhaus versteckt. Was blieb mir übrig, als vor Ort zu recherchieren. Einwohnermeldeamt? Datenschutz! Der rettende Hinweis kam per Zufall, als ich Taxifahrer befragte. Einer von ihnen meinte: Ja, er wisse Bescheid, weil seine Frau mit Mireille in die Schule gegangen sei. Sie habe im Arbeiterviertel „La Croix des Oiseaux“ gewohnt – am Boulevard Georges Clemenceau 29 in einem tristen Mietshaus, das noch heute existiere. Aber das wolle heute kaum jemand mehr wahrhaben, denn die prominenteste Bürgerin der Stadt würde man gern als unbefleckte Vorzeige-Diva präsentieren. Das erinnerte mich an meine Begegnung mit ihr in Afrika. Dort im Arbeiterviertel von Conakry, hier im Arbeiterviertel von Avignon. Der Taxifahrer sollte natürlich auf seine Kosten kommen. Deshalb ließ ich mich hinchauffieren – im Schlepptau hinter uns Eberhard mit unserem technikbestückten Dienstwagen. Mich überfiel die unangenehme Frage: Würde es noch jemand in diesem uralten Wohnblock geben, der sich an die weltberühmt gewordene Mitbewohnerin erinnert? Glücksfall einer Nostalgie-Plauderei. Ich klingelte aufs Geratewohl an einigen Türen auf verschiedenen Etagen und bekam entweder niemanden zu Gesicht oder keine Antwort. Dann der berühmte Lotto-Glückstreffer. Eine alte Dame hatte die Familie Mathieu noch kennengelernt, hatte nebenan gewohnt, war sogar mit ihr befreundet. Nun gab sie bereitwillig und mit sichtlichem Stolz Auskunft. Aber, bat sie sich aus, ohne zu filmen und ohne ihren Namen zu nennen, der auf dem Klingelschild stand. Ich habe ihr strikte Diskretion zugesagt und sie auch bis heute eingehalten. Für mich war sie „die alte Dame“ – und die legte mit einem überraschend offenherzigen Wortschwall los. Da sprudelte plötzlich eine Fontäne an Eindrücken und Informationen. Ja, sie erinnere sich noch sehr lebhaft an Mireille, die schon als Kleinkind von sich reden gemacht habe. Als Vierjährige habe sie erstmals in aller Öffentlichkeit gesungen und damit für ein Stadtgespräch und viel Lob gesorgt. Initiator sei damals ihr Vater Roger gewesen, der selbst eine wohlklingende Tenorstimme gehabt habe. Als die, so erfuhr ich, wieder mal bei einer Mitternachtsmesse in Avignon gefragt war, bat Papa um die gesangliche Begleitung seines ältesten Kindes Mireille. Die habe ihm die Schau gestohlen, erzählte die alte Dame mit vergnügtem Unterton und plauderte über die Ambitionen von Vater Mathieu. Er träumte in jungen Jahren von einer Opernkarriere. Was ihm seine Eltern verwehrt hatten, wollte er nun seinem Kind gestatten, an dessen Talent er glaubte. Er animierte die Tochter zum Vorsingen und achtete auf eine präzise Artikulation, die sie später perfektionierte. Den Teenager Mireille, so berichtete die alte Dame weiter, habe sie oft Gitarre spielend und singend auf dem Hinterhof angetroffen, umringt von Kindern aus der Nachbarschaft. Angetan hatten es ihr Lieder der Chanson-Königin Edith Piaf, die sie in jeder Weise zu kopieren versuchte bis hin zu ihrer Vorliebe für schwarze Kleider. Sie ahmte ihre Stimme nach, trainierte sie in diese Richtung. Mireille, so sagte mir die frühere Nachbarin, habe ihr immer ein wenig leidgetan. Sie wäre ein sympathisches, lebensfrohes und aufgeschlossenes Mädchen gewesen, obwohl sie in besonders harten und schwierigen Verhältnissen aufgewachsen sei. Als ältestes Kind habe sie sich mit Hingabe um ihre anderen dreizehn Geschwister gekümmert. Damit immer etwas Ess- und Trinkbares auf dem Tisch stand, habe sie mit dazuverdienen müssen. Deshalb blieb keine Zeit, eine Lese- und Rechtschreibstörung zu korrigieren. Die familiäre Notlage zwang sie, schon mit 14 Jahren die Schule ohne Abschluss zu verlassen, um als Hilfskraft in einer Konservenfirma und einer Papierfabrik mitzuhelfen, das schmale Familienbudget aufzubessern. Es muss, so vermutete die alte Dame, eine stupide Arbeit gewesen sein. Einen ganzen Tag lang am Fließband stehen oder Briefe falten. Aber es sei eben auch eine Existenzfrage gewesen. Als Ausgleich zur beruflichen Perspektivlosigkeit und zur harten Doppelarbeit daheim und im Betrieb seien Musik und Gesang wohl ihre ständige Stütze gewesen, meinte die alte Dame. „Sie sind doch vom Fernsehen?“ vergewisserte sie sich. Und als ich bejahte, regte sie an: „Wenn Sie wollen, können Sie ihre Schule filmen. Sie steht noch. Nicht weit von hier in der Rue Verdun.“ Beginn einer Märchenkarriere. Die alte Dame hielt kurz inne und es war, als husche ein Sonnenstrahl über ihr Gesicht. Mitten in der Tristesse, so meinte sie, habe die Glückssträhne begonnen. Es sei ihr wie das Märchen vom Aschenputtel vorgekommen, als plötzlich der kometenhafte Aufstieg des Mädchens zur Schlager-Ikone und Pop-Prinzessin begonnen habe. Mireille hatte mit dem Piaf-Chanson „La vie en rose“ einen lokalen Gesangswettbewerb gewonnen – und damit eine Einladung nach Paris zum Vorsingen für die Teilnahme an einem musikalischen Wettstreit in der überaus populären Fernsehsendung „Télé Dimanche“ – „Tele-Sonntag“. Als sie sich dafür qualifiziert hatte, war das wie eine Freikarte zum Weg nach oben. Sie könne sich, sagte die alte Dame, noch gut darauf besinnen, wie die gesamte Familie zu Mireilles 19. Geburtstag ihr sauer Erspartes zusammengelegt habe, um ihr auch diese zweite Reise nach Paris zu ermöglichen. Diesmal ging es um keinen Eignungstest, sondern um alles oder nichts. Würde sie in der landesweiten Live-Übertragung vor einem Millionenpublikum bestehen können? Als die Familie Mathieu die älteste Tochter an einem Sonntag zum Bahnhof begleitete, war an das Lied vom Sonntag in Avignon noch nicht zu denken. Vielleicht aber hat Mireille eben diesen „Telesonntag“ noch einmal durchlebt, wenn sie später die Zeilen gesungen hat: „An einem Sonntag in Avignon, da kommt die Liebe nach Avignon. Da ist die Einsamkeit vorbei. oh c’est si bon, oh c’est si bon. und es geschieht so allerlei. an einem Sonntag in Avignon.“ Ja, an diesem denkwürdigen Sonntag ist in der Tat so allerlei geschehen. Das Ereignis habe sich in der Stadt wie ein Lauffeuer herumgesprochen, erinnerte sich die alte Dame. Da sie selbst noch keinen Fernseher besessen habe, sei sie damals zu Bekannten gegangen, um diese Premiere nicht zu verpassen. Ganz Avignon saß vor der Röhre und erlebte mit, was auf einer Showbühne in der Landeshauptstadt passierte. Da trat die junge Mitbürgerin Mireille vor die Livekameras, um sich in der Sendung „Le jeu de la Chance“ – zu Deutsch „Glücksspiel“ – gegen einen Schwarm von Mitbewerberinnen zu behaupten. Avignon drückte alle verfügbaren Daumen. Es half. Wir folgten einer einladenden Geste der alten Dame, sie vom Treppenhaus in die gute Stube zu begleiten. Dort kramte sie in einer Schublade und legte ein Blatt der Pariser Tageszeitung „France Soir“ vom 22. November 1965 auf den Tisch. Es war die Titelseite mit dem Schwarz-Weiß-Foto einer mit dem Schmelz der Jugend beschenkten Frau. Auffällig sofort eine brave Pony-Frisur und eine Halskette mit Kreuz. Vor ihr ein Mikrofon als einziges Requisit, zu erahnen außerhalb des Bildes eine Fernsehkamera. Im Text darunter lese ich: „In einem schwarzen Kleid hat Mireille Mathieu, 19 Jahre und 1,50 Meter groß, gestern die Zuschauer von ‚Télé Dimanche‘ mit dem Lied ‚Jezabel‘ und einer grandiosen Stimme beeindruckt.“ Mit diesem einen Song ihres großen Vorbildes Edith Piaf und ihrer intensiven Vortragsweise überzeugte sie, wurde sie zur Siegerin gekürt, nachdem auch ihre stärkste Konkurrentin, die beliebte Chansonette Georgette Lemaire, kapituliert hatte. Mireille wurde schlagartig bekannt, bekam plötzlich Fanpost aus Calais im hohen Norden Frankreichs ebenso wie aus Marseille im tiefsten Süden. Damit begann am Sonntag, dem 21. November 1965, eine der steilsten Karrieren in der internationalen Unterhaltungskunst. Mireille ließ zwar später ihre Körpergröße von 1,50 Meter auf offiziell 1,53 Meter korrigieren, was aber nicht nötig gewesen wäre. Denn dass sie zu einer der Größten ihrer Showbranche wurde, haben selbst ihre ärgsten Kritiker nie angezweifelt. Wir bedankten uns bei der alten Dame und rollten mit dem Auto die 700 Kilometer von Avignon nach Paris zurück, die Mireille einst mit der Bahn und viel Herzklopfen und Lampenfieber gefahren war. Im Gepäck Filmrollen mit originellem Stadt-Kolorit von Avignon. Das Drumherum hatten wir also im Kasten. Nun fehlten nur noch Aufnahmen mit ihr selbst. Und die kamen schneller als gedacht. Ein Konzert im Zeitraffer. Auf meinem Schreibtisch finde ich die Notiz über einen Telefonanruf von Manager Johnny Stark. Er teilt in einem nüchternen Satz mit, dass Madame Mathieu uns morgen in den Pariser „Gabriel“-Fernsehstudios unweit von den Champs-Élysées erwarte. Eine zeitliche Punktlandung. Nun wird es ernst und ich bereite mich den ganzen Abend auf das Interview vor, während Eberhard schon wieder die Kameratechnik klarmacht. Anderentags sind wir pünktlich zur Stelle und platzen in eine Probe zu ihrer nächsten Abendgala. Johnny Stark empfängt uns, bittet um etwas Geduld und verfrachtet uns in eine hintere Stuhlreihe des Saales, während Mireille vorn in der knalligen Helligkeit von Bühnenspots einige Liedtöne ihres Mottos anstimmt: „Meine Welt ist die Musik.“ Sie diskutiert mit dem Regisseur, redet mit Assistenten und Aufnahmeleitern, Kameraleuten, Statisten und Technikern, prüft die Dekoration, macht Ton- und Stellproben, stets aufmerksam überwacht von ihrem Johnny, der im Beruf und Leben der Mathieu eine nicht wegzudenkende Rolle spielt. Der umtriebige Geist hatte sie Ende 1965 im Pariser Olympia-Theater erlebt und ihr enormes künstlerisches Potenzial erkannt. Seither war er immer an ihrer Seite – und, wie gemunkelt wurde, nicht nur als Manager. Zuvor schon hatte er Edith Piaf betreut und auch seine anderen Landsleute Yves Montand, Françoise Hardy, Johnny Hallyday und Sylvie Vartan zu internationalen Stars aufgebaut. Er hatte auch dafür gesorgt, dass sein neuer Schützling aus Avignon einen ersten Plattenvertrag bekam, schnell aus dem fremdbestimmten Schlagschatten der Piaf ins Rampenlicht einer breiten Öffentlichkeit trat und ein eigenständiges Repertoire bekam. Dabei halfen vor allem der Komponist und Musikproduzent Christian Bruhn und der Schlagertexter Georg Buschor. Das westdeutsche Kreativ-Team schneiderte der Mathieu rund hundert Lieder auf den Leib, von denen viele im Westberliner Ariola-Tonstudio produziert wurden. Dazu gehört auch ihr Hit „Hinter den Kulissen von Paris“. Da Deutsch damals für Mireille noch ein Wörterbuch mit sieben Siegeln war, orientierte sie sich sprachlich an Demonstrationsbändern, auf denen ihr Katja Ebstein den Text vorgesungen hatte. Nach Stunden endloser Geduld war die Tonaufnahme fertig. Entschädigt wurde die Mathieu mit vorderen Chart-Plätzen, mit denen sie 1969 den deutschsprachigen Raum eroberte. Nun sehe ich, wie die zierliche Musikantin aus Avignon auf der Studiobühne einige Musiktitel improvisiert. Andere spielt sie mit Gestik, Mimik und ihrer voluminösen, klangreinen Stimme von Anfang bis Ende durch, darunter ihr „Akropolis Adieu“, mit dem sie erstmals eine Plattenmillion erreichte. Sie schmilzt dahin bei ihrem größten kommerziellen Erfolg „La Paloma adé “, der sich ganze 27 Wochen in den deutschen Charts behauptete und auf Platz eins landete. Dass Monsieur Stark uns in die Warteschleife geschickt hat, empfinde ich nun eher als Gnade. Ich hätte in diesem Mäuschen-Modus gern ewig ausgeharrt. Denn so erleben wir in der einzigartigen Kurzfassung eines Mathieu-Konzertes eine gute halbe Stunde lang ihr damals schon breit gefächertes Repertoire und ich stelle mit Befriedigung fest, dass ich all ihre bisherigen großen Erfolge auf meinem „KB 100“ versammelt habe: „Martin“ und „Es geht mir gut, Chéri“ und „Ganz Paris ist ein Theater“, „Korsika“ und „Roma“, „Pariser Tango“ und „Der Zar und das Mädchen“, „Die Glocken von Notre-Dame“ und natürlich „Mon Crédo“ und „An einem Sonntag in Avignon“. Klassiker aus ihren Best-of-Alben. Dann muss ich mich revidieren, denn ein Hit von ihr fehlt in meiner Sammlung. Sie probiert einen mir unbekannten Song mit dem Titel „Kinder dieser Welt“. Es geht nicht um das gängige Klischee von Herz und Schmerz, sondern um das Recht aller Kinder für eine Zukunft ohne Angst und Krieg. Eine brandneue Produktion, wie ich später erfahre, gerade erst in Rillen gepresst. Nach der euphorisch vorgetragenen Hymne „Das Wunder aller Wunder ist die Liebe“ und den schwungvollen Rhythmen von „Hinter den Kulissen von Paris“ sind es nun leise, nachdenkliche Töne: „Kinder dieser Welt sollen nie mehr wieder Helden werden, Kinder weinen Tränen, die die Mächtigen versteh’n, wenn sie ihren Kindern in die Augen sehen.“ Danach Verblüffendes. Als ich gerade zu der festen Überzeugung gekommen bin, dass die lebhaft vor den Kameras agierende Sängerin uns total vergessen hat, ruft sie ihren Partnern zu: „Pause. Ich arbeite jetzt mit den Ostdeutschen!“ Dann kommt sie ohne Zäsur in energiegeladener Eile schnurstracks auf uns zu, begrüßt uns liebenswürdig wie gute alte Bekannte und bittet uns in ihre Garderobe, einen engen Raum voller Schlichtheit, in dem ein Filmteam schon mal Platzangst bekommen kann. Eine Herausforderung für Kameramann Eberhard Güldner. Denn was nützt das beste Fernsehinterview, wenn der Fokus nicht stimmt! Während er wieselflink Licht, Ton und Handkamera einrichtet, mir das Mikrofon reicht und sofort aufs Knöpfchen drückt, freut sich Mireille über einen taufrischen Rosenstrauß, den wir unterwegs erstanden haben. Blumen und Musik, sagt sie, sind ihre Leidenschaften. Es ist 17 Jahre her, dass ich ihr Gesicht in Conakry erstmals auf einer westlichen Plattenhülle gesehen habe. Das jetzige Konterfei in natura hat an Wirkung nichts eingebüßt. Die einprägsame Erscheinung ist geblieben. Seit über zwanzig Jahren die immer gleiche dichte schwarze Pagen-Frisur mit Innenrolle, die an den Haarschopf von Prinz Eisenherz erinnert und für Generationen junger Mädchen ein unverwechselbares Leitbild prägte. Dazu ein zarter Porzellan-Teint. Dunkelschattige, ausdrucksstarke Augen unter elegant geschwungenen Brauen und markante, konturenstarke rote Lippen verstärken den Eindruck, dass die Zeit scheinbar spurlos am Wachstum ihres Lebensbaumes vorübergegangen ist
Jean Marais. kämpfte sich als Degenheld, Fantomas und. Graf von Monte Christo in die Filmgeschichte. Im August 1987 machte in Paris ein Gerücht die Runde, das unglaublich klang, obwohl die Franzosen von ihrem Jean Marais schon einige aktionsreiche Überraschungen gewohnt waren. Auch ich war mir nicht sicher, ob es nicht ein PR-Gag für seinen neuesten Mantel- und Degenfilm war. Aber eigentlich brauchte er weder Reklame noch Werbekampagnen, hatte er sich doch durch seinen genialen „Graf von Monte Christo“, den Kino-Mehrteiler „Fantomas“, das Fantasiemärchen „Die Schöne und das Biest“ und unzählige Leinwand-Abenteuer als Ritter ohne Furcht und Tadel längst in die allererste Reihe der französischen Zelluloid-Stars gespielt. Glaubte man der unglaublichen Geschichte, die sich später als wahr erwies, so hatten Nachtschwärmer in der Rue Norvins auf dem Montmartre-Hügel nach Mitternacht Seltsames beobachtet: Eine Gestalt, die an der Fassade des Hauses 22 eine gefährliche Kletterpartie ins obere Stockwerk wagte, in schwindelnder Höhe einen Fensterladen aufbrach und im Inneren der Villa verschwand. Klarer Fall: ein Einbrecher! Die Passanten alarmierten flugs die Polizei. Die drang ins Haus ein, stellte den tollkühnen Fassadenkletterer und staunte nicht schlecht, als sie Monsieur Marais erkannte. Er entschuldigte sich für die Ruhestörung und erklärte den verblüfften Beamten, dass er leider seinen Haustürschlüssel in der Wohnung vergessen habe – und da die unteren Fenster vergittert seien, habe er sich eben nach oben begeben müssen. Immer an der Wand entlang bis zu einer Einstiegsmöglichkeit im oberen Stock. Die Flics schüttelten fassungslos den Kopf, ließen sich von dem vergesslichen Filmstar Autogramme geben und wünschten eine gute Nacht. Die inzwischen angesammelte Gruppe der Neugierigen applaudierte begeistert. Damals war der bereits zum Mythos gewordene Schauspieler 73 Jahre und schreckte offensichtlich nicht davor zurück, seine spektakulären artistischen Filmkunststücke auch im wahren Leben zu vollführen, wenn es unerlässlich ist und die Situation erfordert – getreu seinem Prinzip: Was ich an gewagten Dingen anpacke, erledige ich ohne Double und Trick höchstselbst. Dass er als verwegener Filmabenteurer seine Stunts in Eigenregie meisterte, erhöhte seine darstellerische Glaubwürdigkeit beim Publikum, das ihm dafür doppelte Anerkennung zollte. Seinen eindeutigen Standpunkt dazu hatte er schon in einem früheren Dokumentarfilm so formuliert: „Wenn man ein Drehbuch liest, in dem gefährliche Szenen vorkommen und glaubt, diese Szenen nicht bewältigen zu können, dann muss man diese Rolle ablehnen oder sie eben selbst spielen. Ich finde, das gehört zum Beruf.“ So war es für ihn selbstverständlich, sogar in einer Doppelrolle wie die des geheimnisvollen Maskenmannes Fantomas für zwei zu fechten. Deshalb traute ich dem durchtrainierten Sportsmann sein nächtliches Kletterkunststück an der Hauswand seiner Villa durchaus zu. Zudem wurde es durch eine seriöse Quelle bestätigt. Frankreichs Nachrichtenagentur AFP berichtete darüber in genüsslicher Ausführlichkeit und erhob damit das Gerücht in den Rang einer Tatsache. Das signalisierte mir, dass er sich wieder mal in Paris aufhielt. Das war nicht selbstverständlich, drehte er doch auch noch im hohen Alter Filme im In- und Ausland, war begehrter Gast auf Filmfestspielen in aller Welt und weilte oft auf seinem Anwesen in Vallauris an der Côte d’Azur, wo er in gleich drei Ateliers mit Töpferei, Malerei und Bildhauerei den wichtigsten seiner künstlerischen Hobbys frönte. In vielen Sätteln zu Hause. Dass der Unruhegeist selten in seinem Domizil an der Seine zu Hause war, hatte ich schon eine geraume Zeit beobachtet. Denn jedesmal, wenn ich mit Marion 130 Meter über Paris auf der „Butte de Montmartre“ die Basilika Sacré-Cœur und die Maler auf der Place du Tertre besucht habe, gingen wir noch einige Schritte weiter zur imposanten Stadtvilla des Kinostars, die sich wie das massive Festungsgemäuer einer altehrwürdigen Burg stolz über die Dächer der pittoresken Altstadt erhebt. Stets waren die Jalousien heruntergelassen und das Palais machte einen verwaisten, unbewohnten Eindruck. Nie habe ich abends den Lichtschimmer einer Außenlampe wahrgenommen. Zudem hielt ein fest verschlossenes, schweres schmiedeeisernes Tor ohne Glocke und Klingel ungebetene Gäste auf Distanz. Da wusste ich jedesmal, dass ich meinen sehnlichen Wunsch nach einem Interview mit dem prominenten Filmfranzosen wieder vertagen musste. Nun aber war er endlich mal wieder in greifbarer Nähe und ich wollte ihn nicht wieder entkommen lassen. Aber es gelang ihm auch diesmal. Erst zweieinhalb Jahre später, Anfang 1990, eröffnete sich eine reale Chance, als er über einen längeren Zeitraum in Paris war. Da gab er zu Ehren des verstorbenen französischen Poesie-Gottes Jean Cocteau im Renaud-Barrault-Theater nahe den Champs-Elysées eine Reihe literarischer Abendvorstellungen. Sollte es mir bei Beibehaltung meiner Hartnäckigkeit nun endlich im fünften Jahr meiner journalistischen Frankreich-Zeit gelingen, ihn vor Mikrofon und Kamera zu bekommen? Von diesem Gedanken war Marion noch begeisterter als ich. Nachdem sie als blutjunges Mädchen den französischen Tausendsassa als Grafen von Monte Christo in ihrem Erfurter Kino gesehen hatte, war sie hin und weg. Aus dem DEFA-Programmheft zum Film hatte sie sein Konterfei ausgeschnitten, eingerahmt und auf ihren Jungmädchen-Nachttisch gestellt. Da stand er nun und sah mit Zylinder, Spazierstock und vornehm gräflichem Cape so strahlend schön aus, dass ihn seine Verehrerin samt Nachttisch gleich noch einmal ablichtete. Das hatte er auch verdient, der unverwüstliche Kinomann mit der üppigen Haarwelle, dem markanten Kinn, den kühn geschwungenen Augenbrauen über einer ausdrucksstarken blauen Pupille im scharfkantigen Männergesicht. Wenn auch platonischer Natur, so war er doch ihre erste große Liebe, der edelgesichtige, streitbare Haudegen, der für Recht und Gerechtigkeit durch die Lande galoppiert, alle Duelle gewinnt und die Damenherzen im Sturm erobert. Auch das von Marion. Deshalb musste Herwig, ihr erster Freund in der Erweiterten Oberschule, auch ein Degenfechter sein, der es sogar bis zum DDR-Meister brachte – ob angespornt von seinem berühmten Rivalen, bleibe dahingestellt. Der elegante Abenteurer wurde ihr Dauerschwarm. Sie wollte keines seiner Degen-Kunststücke verpassen – am liebsten solche in Filmen mit royal verklärter Romantik. „Der Geliebte der Königin“, „Ritter der Nacht“, „Mein Schwert für den König“, „Der Graf mit der eisernen Faust“, „Im Zeichen der Lilie“, „Des Königs bester Mann“ oder „Die eiserne Maske“ – Marion kannte sie alle, konnte nicht genug davon bekommen. Dass der athletische Draufgänger schon damals und lange vor einem Belmondo die meisten gefährlichen Actionszenen in seinen nahezu siebzig Filmabenteuern ohne den doppelten Boden personeller oder technischer Trickserei selbst durchstand, erhob die Heldenverehrung ins Reich der Vergötterung. Komplettiert wurde die breite Palette seiner Schauspielkunst zusätzlich zu seinen Kostümstreifen durch Paraderollen in opulent ausgestatteten Historien- und Liebesfilmen wie „Napoleon“, „Versailles – Könige und Frauen“, „Austerlitz – Glanz einer Kaiserkrone“, „Geliebte um Mitternacht“, „Die Ritter der Tafelrunde“ oder „Weiße Margeriten“. Noch mit 60 Jahren meisterte Monsieur Marais im deutsch-französischen Fernseh-Dreiteiler „Cagliostro“ eine halsbrecherische Situation, indem er mit Muskelkraft und akrobatischem Geschick eine hohe Schlossmauer erklomm.Auch das überraschte mich nicht, weil der Grandseigneur der französischen Kinematografie sowohl im Film als auch in der Realität immer mal wieder gewagte Sprünge machte. So kletterte er als durchtriebener Schurke und mysteriöser Maskenmann mit dem Geisternamen „Fantomas“ in schwindelnder Höhe von einem Kranarm auf eine am Hubschrauber hängende Strickleiter und flog dem tollpatschigen Kommissar Paul Juve alias Louis de Funès mit wehenden Rockschößen davon. Da konnte Marais voll ausspielen, was er sowohl an Stunt-Festigkeit als auch an komödiantischem Talent draufhatte. Weil’s allen gefiel, gab es gleich zwei Fortsetzungen der Kriminalkomödie – nicht zuletzt wegen der sportlichen Einlagen seines Hauptdarstellers, der bei den Dreharbeiten auch schon über 50 war. Das erstaunt nicht, wenn man weiß, dass er selbst noch mit 76 beim Musketier-Festival in der Gascogne eine flotte Klinge schlug. Seine darstellerische Vielfalt scheint auch in den verschiedenen Genres der Leinwandkunst unerschöpflich. Sie reicht von der Verkörperung des Bösen in der Person des römischen Präfekten Pontius Pilatus in dem Sandalen-Spektakel „Statthalter des Grauens“ über die Figur des heiratswütigen Königs in dem Erwachsenen-Märchen „Eselshaut“ bis zu dramatisch-seriösen Rollen in so anspruchsvollen Streifen wie Bertoluccis „Gefühl und Verführung“ oder Viscontis Dostojewski-Adaption „Weiße Nächte“ gemeinsam mit Marcello Mastroianni. Dass er nicht nur auf dem Rücken der Pferde zu Hause war, sondern in vielen Sätteln, bewies er als künstlerisches Multitalent. Er hatte sich neben Bühne und Kino einen Namen gemacht als Regisseur, Choreograf, Bühnen- und Kostümbildner, Buchillustrator, Grafiker, Maler, Zeichner, Architekt, Töpfer, Designer, Lithograf, Schriftsteller und Bildhauer. Als solcher hatte er sogar einer romantischen Ecke von Montmartre seinen Stempel aufgedrückt. Da preist ein ungewöhnliches Kunstwerk seinen Meister: Aus einer mit hellen Quadern geschichteten Wand ragen ein männlicher Oberkörper mit Kopf, ein voranschreitendes rechtes Bein und eine linke Hand. Eine geteilte Bronzefigur auf dem Platz des Literaten Marcel Aymé, dessen Novelle „Ein Mann geht durch die Wand“ die Gestaltungsidee lieferte. Geschaffen wurde die Skulptur – wie eine kleine Tafel ausweist – von Jean Marais, der seinem Kunstwerk zudem die Gesichtszüge des Schriftstellers gegeben hat. Nur logisch, dass der Skulpteur Marais nun nach 57 Jahren rastloser Kino- und Bühnenpräsenz in das historische Filmgewand des von ihm verehrten französischen Bildhauer-Riesen Auguste Rodin schlüpfen will. Das – so wird er mir bei unserem Treffen sagen – sei seit jeher einer seiner sehnlichsten Wünsche. Beeindruckt hatte er mich auch durch seine humanistische Gesinnung. Es war bei einem Massenmeeting gegen die Apartheidpolitik des Botha-Regimes in Südafrika. In einer Zelthalle auf dem Marsfeld am Fuße des Eiffelturms wurde ein Ende der Rassentrennung und die sofortige Freilassung von Nelson Mandela gefordert. Auch Politiker und Künstler waren aufgerufen, im wahrsten Sinne des Wortes Farbe zu bekennen. Jean Marais war durch Dreharbeiten verhindert, ließ es sich aber nicht nehmen, sein Plädoyer für die Gleichberechtigung zwischen Schwarz und Weiß per Video zu halten. Ohne Starallüren und ohne Honorar. Da war mir endgültig klar, dass der Filmgraf von Monte Christo kein abenteuerlicher Schönling und Schwerenöter ohne Gehirn war, sondern ein lebenskluger Zeitgenosse, auf dessen nicht filmische reale Person, Denkweise und Charakterstruktur ich nun noch neugieriger wurde. Ich wollte ihn mir selbst, seiner Verehrerin Marion und unserem Fernsehpublikum liebend gern nahebringen. Geschocktes Frankreich: Cocteau als Intimfreund. Um ihm nicht nur im Leinwandformat, sondern im Original zu begegnen, gab es nun also endlich eine Gelegenheit. Mitten in Paris, im Renaud-Barrault-Theater nahe den Champs-Elysées, würdigte Jean Marais den 100. Geburtstag seines einstigen Freundes, Förderers, Arbeits- und Lebenspartners Jean Cocteau. Der 1963 verstorbene literarische Kreativ-Geist und universelle Künstler mit poetischem Glanz und ästhetischer Federführung genoss vor allem als genialer Schriftsteller, Romancier, Dichter, Dramatiker, Filmemacher, Schauspieler, Theatermann, Regisseur, Bildhauer, Zeichner und Maler Wertschätzung weit über die Landesgrenzen hinaus. Er war „Kommandeur der französischen Ehrenlegion“, Ehrendoktor der University of Oxford und gehörte zu den sogenannten Unsterblichen, wie die auf Lebenszeit berufenen Mitglieder der Pariser Académie française heißen, eine Gemeinschaft streng auserwählter Intellektueller, die eine der ältesten und prestigeträchtigsten Institutionen im geistigen Leben Frankreichs repräsentieren. Jeder Franzose wusste, dass Marais mit Cocteau eng zusammengearbeitet hatte und unter seiner Regie Filme von Weltgeltung entstanden waren – allen voran die Fantasie-Fabel „La Belle et la Bête“, bekannt als „Es war einmal“ oder „Die Schöne und das Biest“, ein klassisches Meisterwerk des poetischen Kintopps, eine märchenhafte Parabel über die Kraft der Liebe, ein Vorläufer des Fantasyfilms, in dem Jean Marais die Doppelrolle des Prinzen und der Bestie verkörpert. Es war beileibe kein Geheimnis, dass der hochbegabte Cocteau den bislang namenlosen Mimen in enger Vertrautheit in seine vom Genius der schönen Künste beflügelte Geisteswelt eingeführt hatte. Trotzdem ging ein Schrei der Überraschung durchs Land, als Marais 1975 in seiner Autobiografie „Geschichte meines Lebens“ in einer freimütigen Lebensbeichte bekannte, dass er als Intimfreund des Poesie-Genies 25 Jahre lang nicht nur das Interesse für Film und Theater mit ihm geteilt hat, sondern auch Tisch und Bett. Jean Marais bezeichnete als wichtigsten Tag in seinem Leben jenen im Juli 1937, an dem die produktive Zweisamkeit mit dem doppelt so alten Jean Cocteau begann. Der hatte den 24-jährigen attraktiven Adonis als Anfänger auf der Bühne gesehen und fand ihn auf Anhieb äußerst beeindruckend, hingerissen von seinem betörend ebenmäßigen Gesicht, seinem kraftvollen Körper und seiner ästhetischen männlichen Gesamterscheinung. Er ließ dem Jüngling ausrichten, er möge ihn schnellstens in seinem Hotel de Castillo auf der Place de la Madeleine aufsuchen. Dort eröffnete er dem 24 Jahre jüngeren Marais: „Es ist etwas Schreckliches passiert. Ich habe mich in Sie verliebt.“ Dieses Geständnis sei seine „zweite Geburt“ geworden, wird Jean Marais mir im Interview sagen. Wörtlich: „Ich bin 1913 geboren, aber ich denke, dass ich eigentlich 1937 geboren wurde, als ich Cocteau begegnet bin.“ Damit wurde „Jeannot“, wie der Meister ihn liebevoll nannte, sein Zögling, dem er maßgeschneiderte Paraderollen auf den Leib schrieb. Cocteau, der auch Maler und Bildhauer war, modellierte einen Künstler nach seinem Bilde. Für den recht unbedarften Jüngling war es ein Quantensprung seiner Entwicklung, der ihn in den Folgejahren nicht nur in den Olymp der beliebtesten französischen Film- und Bühnenschauspieler katapultierte, sondern auch international zu Ruhm, Geld und Ehren verhalf. Allein in Deutschland erhielt er viermal den Medienpreis „Bambi“ als beliebtester ausländischer Filmstar. Traumatische Kindheit. Nun bewunderte ich den Mut und die Kraft des alten Herrn auf schmuckloser Bühne, die nur seine alleinige Anwesenheit füllte. Ich sehe noch heute im Rückspiegel der Zeit, wie er mit seinen damals 76 Jahren das Publikum zweieinhalb Stunden in seinen Bann zog – mit gedankentiefen Rezitationen der besten Cocteau-Texte. Ein von ihm selbst ausgesuchtes Repertoire bekannter und auch unveröffentlichter Werke, in deren Aussagen er sich und seinen nicht mehr gegenwärtigen Partner im seelischen Gleichklang wiederfand. Eine Textmontage, mit der er eine Art harmonische Personenverschmelzung herstellte – nicht nur deklamierend, sondern bravourös schauspielernd, tanzend, gestikulierend, erzählend, im Dialog mit dem Publikum und dem Verstorbenen. Mein Eindruck war: Er spielte Cocteau nicht, er war es. Mit Leichtigkeit und Schwermut, mit Freude und Traurigkeit, in Prosa und Poesie. Ein – wie er es nannte – „Mono-Drama“, in dessen weitem Universum alles um die Sonne Cocteau kreist. Seit 1983, da er diese Laudatio erstmals aufführte, ist er dafür mit Preisen überhäuft worden. Was ihm Cocteau wirklich bedeutete, nämlich alles, begriff ich in seiner Totalität erst nach und nach und immer deutlicher, je mehr ich mich mit dieser Männerfreundschaft und Künstlerehe befasste. Frankreichs Dichterfürst hatte dem Jungen aus der nordfranzösischen Normandie-Hafenstadt Cherbourg gegeben, was er von Kindesbeinen an vermisste: Liebe, Fürsorge und Bildung, die eine frühe Trennung seiner Eltern und schulische Misserfolge verhindert hatten. Der kleine Jean, Sohn eines Tierarztes, litt unter einer traumatischen Kindheit, geprägt von herben Rückschlägen, die ihm mit mehrfachem Schulausschluss und der Ächtung durch seinen Vater arg zusetzten. Er war erst fünf, als seine Eltern sich trennten. Die Mutter hatte die fatale Veranlagung zu einer Kleptomanin, deren wiederholtes zwanghaftes Stehlen sie des Öfteren hinter Gitter brachte. Aufgezogen wurde er deshalb gemeinsam mit seinem Bruder Henri auch von Tante und Oma. Die Mutter war äußerst streng und hatte ihn anfangs abgelehnt. Trotzdem verehrte er sie. Obwohl sie eine begeisterte Kinogängerin war, fand sein sehnlichster Berufswunsch, ins Schauspielgewerbe einzusteigen, familiär keine Gegenliebe. Die nächste Enttäuschung kam, als nach Fotografenlehre und anschließender Arbeit als Foto-Retuscheur ein heißersehntes Studium an der Akademie der Schönen Künste durch eine verpfuschte Aufnahmeprüfung scheiterte. Er jobbte als Golfgehilfe, Kunstmaler und Statist. Erst als es gelang, an der Pariser Theaterschule des einflussreichen Schauspielers und Regisseurs Charles Dullin Fuß zu fassen, bekam er erste Bühnenchancen. Der Wechsel zum Film kam, als Drehbuchautor und Filmproduzent Marcel L’Herbier ihm kleinere Rollen verschaffte, die aber durch ihre Bedeutungslosigkeit von einem größeren Publikum unbemerkt blieben – bis sich Frankreichs angebeteter Erfolgsautor Cocteau seiner annahm. Der Meister prägte ihn, feilte am Talent des Kinoneulings und gab ihm einen sensiblen Nerv für Theater und Film, für die beide Koryphäen ihres Metiers Bleibendes schufen. 1990 konnte ich dabei sein, wie im Pariser „Théatre des Champs Élysées“ Amerikas Kino-Spartacus Kirk Douglas als Präsident eines nächtlichen Live-Spektakels zum 15. Mal den „César“ verlieh – ein Filmpreis, der für Frankreichs Nation dem Hollywood-„Oscar“ gleicht. Nachdem Philippe Noiret seine Kür zum „besten Schauspieler“ mit cleverem Humor quittiert hatte, wurde der Clou der Festveranstaltung präsentiert: ein Zusammenschnitt der 40 weltbesten Filme aus 65 Jahren Kinogeschichte seit Eisensteins „Panzerkreuzer Potjomkin“. Mit dabei: „Die Schöne und das Biest“, Hauptrolle Jean Marais, Buch und Regie Jean Cocteau. Die verwunschene Prinzen-Bestie mit ihrer Kraft der Liebe zu einem jungen Mädchen beamte ihren Darsteller schon 1946 in die Spitzengruppe der französischen Leinwand-Elite. Neben dem mit 36 Jahren an Krebs verstorbenen Husaren-„Fanfan“ Gérard Philipe avancierte er zur Kultfigur des tollkühnen Draufgängers und unwiderstehlichen Frauenhelden, der mit der Liebe zu seinem Mentor die Doppelrolle seines Lebens fand. Cocteau hat es seinem Schüler nie übel genommen, wenn er mit Ritter- und Kostümfilmen nicht auf der intellektuellen Höhe des Meisterpoeten blieb, sondern sich auch in weniger anspruchsvolle, aber sehr erfolgreiche Niederungen begab, für die ein breites Publikum ihn liebte. Dabei ließ er sich nicht in Schubladen stecken, sondern spielte den „Ritter der Nacht“, den Geheimagenten Stanislas oder den „frechen Kavalier“ Fracasse ebenso überzeugend wie den Orpheus im gleichnamigen Spielfilm, den Ruy Blas in „Der Geliebte einer Königin“ nach Victor Hugos historischem Roman oder den Malcolm in Shakespeares „Macbeth“ Wie ein Markenzeichen wurde es zu einem festen Begriff, das Gespann Cocteau-Marais, ein Garant für Erfolg auf niveauvoll hohem Level. Cocteau-Marais – das klang wie ein Doppelname, der kurz und bündig das Wesentliche ausdrückte. Deshalb wurde er auch zum beziehungsreichen Titel einer Hommage des Schülers an seinen Lehrer. Er wurde geehrt mit dem Bühnenstück „Cocteau-Marais“, bei dem der Schauspieler dieser Liaison mit dem Wort- und Lebenskünstler auch noch 27 Jahre nach dessen Tod gedenkt. Als ich ihn auf der Bühne agieren sah und hörte, war ich ergriffen. Ein großes Wort, aber was ich da erlebte, war Ausdruck einer zutiefst verinnerlichten Beziehung zu einem nicht mehr existenten Menschen, die zu Herzen ging. Da stand Abend für Abend ein nicht müde werdender Marais auf der Bühne, am Sonnabend sogar zweimal. Für ein Interview mit ihm also eine einmalige Gelegenheit, wozu aber zunächst die Frage zu beantworten wäre: Wie kann man ihm mit Mikrofon und Kamera nahekommen? Vor der Vorstellung, während er sich auf seinen Marathon-Auftritt konzentriert, wäre das sicher eine Belästigung. Und danach, wenn sich der 76-Jährige nach fast drei Stunden harter Gedanken-Folter erholen möchte, wäre dies erst recht eine Zumutung. Also wie herangehen, was wann wie tun? Endlich ER! Jahrelang hatte ich seine Reiserouten verfolgt, wusste immer, wo in aller Welt er gerade war – und wenn er zufällig mal wieder in Paris auftauchte, war er ebenso schnell auch wieder weg. Als sich andeutete, dass er hier länger bühnensesshaft werden würde, hatte ich schon Monate vorher per Telefon versucht, Kontaktbrücken zu ihm aufzubauen. Zuerst über seine Managerin Madame Marsil, dann über die Pressechefin seiner Pariser Spielstätte, Madame Meynial, und nun über seine persönliche Assistentin Madame Brada. Monat für Monat, Woche für Woche, Tag für Tag verstrich, in denen ich zwischen Paris, Brüssel, Genf, Luxemburg und Straßburg meiner Tagesarbeit nachging, aber immer auch nachfragte, ob denn endlich ein Termin mit unserem Mann möglich sei. Und nun war die Gelegenheit da: Er huldigte jeden Abend nur wenige Kilometer entfernt von unserem Büro mit eiserner Kondition und Disziplin seinem Liebsten. Und das in einem schlichten Einmannstück ohne Bühnendekoration – und trotzdem ständig vor ausverkauftem Haus. Ich ließ mich anstecken von seinem Durchhalte- und Stehvermögen, ließ mich weiterhin unverschämt viele Male von seinem Management vertrösten, variierte festgefahrene Dialoge, war unermüdlicher Bittsteller und permanenter Quälgeist, überstand mit dem Hörer am Ohr manche Wortscharmützel und siegte schließlich, weil meine Adressaten am anderen Ende der Telefonleitung vermutlich endlich ihre Ruhe haben wollten. Ich habe den täglichen Gewohnheitsanruf von Freitag, dem 16. Februar 1990, protokolliert, weil er ein besonderer war. Im Ohr ist mir heute noch die längst vertraute nüchtern-sachliche Beamtenstimme von Marais-Assistentin Brada: „Morgen ist der vorletzte Tag für Monsieur Marais am ‚Renaud-Barrault‘. Rufen Sie bitte Frau Presse-Attaché René Fernandése an. Sie hat mir einen Termin in letzter Minute versprochen. Viel Glück!“ Nachdem ich mit überschwänglichem Dank unter dem Siegel der Verschwiegenheit die Top-Secret-Telefonadresse der Pressegewaltigen erhalten hatte, wählte ich – ohne den Hörer aus der Hand zu legen – ihre Nummer. Die geheimnisvolle Auskunft: „Heute nach 19 Uhr rufe ich Sie an.“ Auch das notierte ich mir akribisch in meinem Terminkalender. Tatsächlich meldete sie sich 19.40 Uhr mit feierlich-wichtiger Stimme und der Nachricht des Jahres: „Monsieur Marais ist einverstanden und würde Sie morgen am vorletzten Tag seines Gastspiels vor seiner Aufführung empfangen. Da seine Vorstellung 20.30 Uhr beginnt, bittet er Sie, ihn anderthalb Stunden vorher im Theater aufzusuchen.“ Damit war nach einer langen Gratwanderung der Weg frei zu einem Film- und Theatermimen von Weltformat. Anderntags sind wir Punkt 19 Uhr zur Stelle und werden zur Theaterklause geleitet. Dort erwartet er uns bei einem Glas Tonic. Blaues Jackett, schwarzer Schlips, blütenweißer Kragen. Ich stelle unsere Dreier-Fernsehcrew mit Aufnahmeleiterin und Fotografin Marion, unserem Kameramann Wolfgang Groth und mir als Journalisten vor. Er nimmt einen letzten Schluck Tonic, drückt seine allgegenwärtige Zigarette in den Aschenbecher und führt uns in seine Theatergarderobe. Es ist ein sonniger 17. Februar 1990, für mich ein Erntedankfest, an dem nun endlich die Frucht mühevollen Ackerns gereift ist und eingefahren werden kann
Marina Vlady. verzauberte als „blonde Hexe“ der Leinwand und. litt unter einer Liebe zwischen zwei Welten. Ich mache mir Vorwürfe. Ich beschimpfe mich. Ich stelle mich an den Pranger, lege mir Daumenschrauben an, geißele mich. Und weiß doch, dass es nichts hilft, denn die Uhr am Armaturenbrett neben dem Lenkrad ist unbestechlich und weist mit unerbitterlicher Bosheit darauf hin, dass wir uns verspäten werden. Hochnotpeinlich! Da war ich der von mir verehrten Filmdiva jahrelang auf den Fersen, habe nun endlich seit einer Woche für den 11. September 1990 die Zusage für ein Interview in der Tasche, habe diesen Tag in meinem Kalender dick angekreuzt, bin nun auf vier Rädern unterwegs zu diesem langersehnten Termin und beschneide mich selbst in der genehmigten Zeit von ohnehin nur einer Stunde. Den Zeiger des Tachos kann ich nicht höherschrauben, denn wir schaukeln über unebenes Gelände und auch die Federn einer Westkarosse haben Belastungsgrenzen. Würden sie ihre Biegsamkeit aufgeben, wäre das der Super-GAU. Dann schon lieber das kleinere Übel einer Verspätung. Pünktlichkeit ist die Höflichkeit des Journalisten, die ich nun gröblichst verletze. Und das IHR gegenüber! Ein gruseliger Gedanke, eine Katastrophe! Eigentlich sah alles unproblematisch aus. Denn Marina Vlady wohnt in Maisons-Laffitte, einer Gemeinde mit gut 22 000 Einwohnern und nur 20 Kilometer nordwestlich vor den Toren von Paris am linken Ufer der Seine. Eine exakte Angabe. Ein Ort, der nicht zu verfehlen ist. Trotzdem sei der Anmarsch zu ihr nicht unkompliziert, hatte sie mich am Telefon wissen lassen, denn das Terrain sei recht weitläufig und sei eingemeindet in ein größeres Waldgebiet, den Forêt de Saint-Germain-en-Laye. In eben diesem scheinen wir herumzuirren, obwohl sie ihren Hinweis noch mit einer deutlichen Warnung versehen hatte: „Mein Anwesen ist etwas schwer zu finden. Seien Sie bitte pünktlich, denn mein Zeitkontingent ist knapp, weil ich zu Dreharbeiten nach Malta muss und wir deshalb nur eine Stunde haben.“ Diesen Hinweis begriff ich als freundschaftlichen Rat, rechtzeitig loszufahren. Das hatten wir auch getan – und nun holpern wir über unwegsame Pisten, gesäumt von Nadel- und Laubbäumen und die Uhr tickt unaufhaltsam dem Termin entgegen. Zuvor schon waren wir eine gute halbe Stunde in einem Labyrinth dörflicher Wald- und Wiesenwege herumgekurvt. Eine im wahrsten Sinne des Wortes verfahrene Kiste. Ein Königreich für ein Navigerät! Aber damals, 1990, war die PKW-Satellitennavigation erst im Kommen, sodass Kameramann Horst Rudolph als Beifahrer verzweifelt versuchen musste, unsere Position auf der Karte zu orten und den Weg zum Ziel zu finden. Für die Romantik einer mit Sonnengelb dekorierten Natur fehlte momentan der dazu passende Nerv. Es war mittlerweile 15 Uhr – und damit bereits die vereinbarte Stunde, zu der wir hätten ankommen sollen. Nun ergebe ich mich dieser misslichen Laune des Schicksals und verwerfe alle schon durchdeklinierten Ausreden, denn es gibt keine einzige einigermaßen plausible und glaubhafte. Stattdessen lege ich mir die Worte für eine ehrliche demütige Entschuldigung zurecht. Ich hasse Unpünktlichkeit, bin bislang nie zu einer Pressekonferenz oder irgendeinem Termin zu spät gekommen. Und ausgerechnet mit IHR passiert mir das! Aber schneller fahren geht auch nicht, denn den glatten Asphalt des Ring-Boulevards um Paris, den Périphérique, haben wir längst verlassen und zuckeln nun im erzwungenen Schneckentempo über eine ländliche Holperpiste, die ungeduldige Autopiloten mit verführerischer Hinterhältigkeit zu einem Achsbruch einlädt. Während ich kraterhaften Bodenwellen ausweiche, malträtiere ich mein Gewissen weiter mit Vorwürfen: Warum bin ich nicht noch eher losgefahren? Ich hatte ja schließlich auf der Karte gesehen, dass sie nicht im Ortskern, sondern weitab davon und möglicherweise in ländlicher Abgeschiedenheit zu Hause ist. Eine einsame grüne Idylle als Lebensraum hatte sie ja auch in ihrem berühmten „Hexen“-Film bevorzugt. Meine Schwärmerei für die aparte Hauptdarstellerin hatte ich mir erhalten. Die schönste Filmhexe der Welt. Damals, in meinen beginnenden Teenagerjahren, war sie für mich von einer Leinwand-Ikone zu einer angebeteten Realfigur geworden. Da lief 1957 im Mansfelder „Capitol“ das französisch-schwedische Gemeinschaftsdrama mit dem geheimnisvollen Titel „Die blonde Hexe“ und dem verlockenden Zusatz „Das Mädchen aus dem Wald“. Schon auf dem Plakat der Schaukästen bezauberte mich das Mandelaugengesicht der Französin, ihr jungfraureiner Unschuldsblick, umrahmt von hüftlang wallendem Blondhaar. Angekündigt war der Anderthalbstunden-Film für die Abendvorstellung, wozu nur Erwachsene ab 14 Jahren Zutritt hatten. Ich war erst 12 und die Sitten waren streng. Ganz Mansfeld stand Schlange und meine Mutter gehörte dazu. Ich hatte so lange steinerweichend gebettelt, bis sie mich auf älter frisierte und auch meine Garderobe auf Jugendweihe trimmte. Da sie als Verkäuferin im Mansfelder Stoffkonsum auch die Dame an der Kinokasse zu ihren Kunden zählte, glaubte selbige der Altersbürgschaft von Mutter Maria für ihren Sohn, verzichtete auf das Vorzeigen eines Personalausweises, den ich nicht hatte, reichte zwei Tickets durchs Schalterfenster und ließ uns passieren. Es wurde für mich als zwölfjährigen Erwachsenen ein faszinierendes Erlebnis. Die spannende Handlung der romantischen Filmnovelle fesselte mich ebenso wie das lebensechte Spiel der schönen Blondine in der Titelrolle. Welch eine ans Herz gehende Romanze zwischen dem scheuen, geheimnisvollen Waldmädchen Ina in einer einsamen Schweden-Wildnis und dem sympathischen französischen Bauingenieur Laurent Brulard, der sie als Stadtmensch in die Zivilisation einführen will und am brutalen Aberglauben unwissender primitiver Fanatiker scheitert. Inas einziger Glaube ist eine von Liebe diktierte Gutgläubigkeit, die ihr zum Verhängnis wird. Die Frauen des Dorfes wollen die naive, unbedarfte Schöne lynchen, weil sie den Ingenieur angeblich verhext hat. Den Gemeinschaftsmord kann ihr Geliebter noch verhindern, nicht aber einen einzelnen, heimtückisch geworfenen Stein, der sie tödlich verletzt. Erschüttert und fassungslos stellt sich der junge Mann die beklemmende Frage, warum eine solch barbarische Tat in der modernen Welt des 20. Jahrhunderts noch möglich ist. Ähnliches fragte ich mich noch im Jahre 1990, als eine landesweite Umfrage in Frankreich ergab: 37 Prozent der Befragten glauben an den Teufel – also mehr als ein Drittel. Bei den praktizierenden Katholiken waren es mit 66 Prozent sogar weit mehr als die Hälfte, die sich vor Satan fürchtete. Die schönste Filmhexe der Welt wurde zum Idol einer ganzen Generation junger Mädchen. Sie prägte ähnlich wie Brigitte Bardot ein Schönheitsideal, eine Frisur, eine Mode. Auch mich als Jungen hatte sie im Mansfelder Kino verzaubert. Da habe ich mich nicht über ein paar heimliche Tränen der Rührung und des Mitleids für die Totgesteinigte geschämt. Zugleich war ich ein wenig verwirrt, denn ich spürte als Zwölfjähriger ein ähnlich starkes Gefühl für die junge Frau auf der Leinwand wie für meine fast gleichaltrige Kinderfreundin Edith. Da ich meine Empfindungen für sie für Liebe hielt, muss ich dann wohl auch das Kino-Mädchen geliebt haben. Mit dem kleinen Unterschied, dass die eine in der Hettstedter Straße nebenan nur zwei Häuser weiter wohnte und die andere im fernen Paris, von dem mich Welten und gleich mehrere Westgrenzen trennten. So war mein Fremdgehen mit Marina also rein platonischer Natur, das ich Edith nicht unbedingt beichten musste. Oh naive, reinherzige, harmlose Seligkeit eines romantisch veranlagten Kindergemütes! Nun, 33 Jahre später, darf ich meinen Kinderschwarm aus der Welt des Zelluloids persönlich kennenlernen und verwünsche den Umstand, dass er ähnlich wie in der Bildergeschichte abseits der großen Straßen und modernen Infrastrukturen im Naturgrün einer schlichten Einsiedelei lebt. Diese Einfachheit wiederum kann ich mir schwerlich vorstellen eingedenk ihrer mondänen Erscheinung als verwöhnte Primadonna. Ich habe ihre Karriere verfolgt, die mit extremen Amplituden zurechtkommen musste und wie das Fieberthermometer eines Börsenkurses steil nach oben kletterte und ebenso rapide wieder absackte. Ein Leben zwischen Erfolgen und Abstürzen. Als wir Marina Vlady damals suchten und schließlich fanden, war sie 52 Jahre und wieder ganz oben. Gerade erst gab es eine viel beachtete Premiere. Ein Fernsehfilm über die Französische Revolution mit dem Titel „Condorcet“, benannt nach einem Philosophen und Wortführer der Jakobiner. Sie spielt die Pensionsbesitzerin Vernet, die den gesuchten Marquis versteckt, doch er will sie nicht gefährden, weil ihr dann die Guillotine sicher wäre. Sie lässt den Freund widerstrebend ziehen und erfährt kurz darauf erschüttert von seinem Tod. Ihre Landsleute haben dem Drama und seiner Aktrice applaudiert. Zuvor hatte sie an der Seite von Marcello Mastroianni in „Splendor“ brilliert, einem Meisterwerk des italienischen Starregisseurs Ettore Scola, der mit diesem Streifen über den Existenzkampf eines Provinzkinos dem Filmtheater auf tragisch-komische Weise ein Denkmal gesetzt hat. Ein kühler Empfang. Die Quälerei der zerrigen, umständliche Anfahrt scheint beendet. Ich atme auf. Wir haben auf dem Gebiet von Maisons-Laffitte endlich die peripher gelegene bescheidene Dorfstraße erwischt, die den hochtrabenden Namen „Avenue“ trägt. So diktiert es uns das Schild an einer Wand aus Feldsteinen: „Avenue Marivaux“. Wenig später halten wir an der Hausnummer 3. Ein größeres Anwesen im rustikalen Stil eines Gutshofes in einem noch hochsommerlich wirkenden blattgrünen Versteck, ringsum eingezäunt von einem massiven Steinwall. Das überrascht mich. Was ich erwartet hatte, war ein pompöser Bau in einem abgeschiedenen Luxus-Resort. Denn Maisons-Laffitte ist einer der nobelsten und teuersten Pariser Vororte, der bekannt ist für seine promibesuchte Pferderennbahn, seine großzügig angelegten prächtigen Alleen und seine komfortablen Glamour-Villen auf sorgsam gepflegten parkähnlichen Grundstücken. Ein Ort der Reichen und Schönen. Was ich nun aber sehe, ist statt eines opulenten Prunkpalastes auf gestyltem Wimbledon-Rasen eine mit Straßenstaub überzogene Mauer. Dahinter ein Gehöft mit dem Patina-Charme eines altehrwürdigen Landsitzes, der schon die Ritterzeit erlebt haben könnte. Um sich dieses einer historischen Filmkulisse ähnliche Bild mit Wonne ins Gedächtnis zu tackern, bleibt keine Zeit. Die bedrohliche Stellung der Uhrzeiger zwingt zur Eile. Horst Rudolph holt mit geübtem Griff die Filmtechnik aus dem Kofferraum, reicht mir Tongerät und Mikrofon, schultert die Kamera und drückt sofort den Auslöser. Auch ich will den Ton von Anfang an mitlaufen lassen, um nichts zu verpassen. Das ist nicht ganz fair, weil es ein überfallartiger Drehbeginn ist, aber ich entschuldige es mit unserer Zeitknappheit. Denn ich stehe mit nunmehr zehnminütiger Verspätung und einem schlechten Gewissen vor der eisenbeschlagenen Pforte des altertümlichen Gemäuers und bediene die Strippe einer halbverrosteten antiken Zugglocke ähnlich der einer Bimmelbahn. Nichts. Kein Geräusch außer dem knisternden Zellophan um den imposanten Rosenstrauß in meinem Arm. Von dem riesigen Bouquet erhoffe ich mir Absolution für den Eklat unserer Verspätung. Ich möchte die Blumen gern abliefern, aber die Schotten bleiben dicht. Also noch mal die Glocke. Es ist mehr ein Scheppern als ein Schellen. Dann Schritte. Torknarren. Zuerst erscheint ein Dackel, gefolgt von weiteren Vierbeinern, die an meinen Schuhen vorbei nach draußen laufen. Dann steht vor mir die Frau, für deren Film ich damals in Mansfeld mehr Reklame gemacht habe als alle Kinoplakate zusammen. Das muss sie nie erfahren haben, denn sie sagt in unwilligem Ton: „Beeilen Sie sich! In einer dreiviertel Stunde muss ich weg.“ Genauso barsch ruft sie ihre fünf Hunde in den Hof zurück. Ein wenig Charme hatte ich – ehrlich gesagt – schon erwartet. Aber natürlich verstehe ich ihre Verstimmung, zumal wir eigenmächtig ohne Vorwarnung gleich drauflos gefilmt haben. Aber jede Bild- und Tonminute ist jetzt wertvoll. Nun kann ich endlich meine Entschuldigung samt Blumenstrauß loswerden
Pierre Richard. trieb als „großer Blonder“ eine Kinogeneration. ins Lachkoma und ist Fan von Che Guevara. Das kann doch nicht wahr sein! Und es ist wahr – und ich habe es eigentlich geahnt. Irgendwas musste faul sein an seiner Ansage, ihn ausgerechnet hier am glitschigen Kai der Seine zu treffen. Eine kuriose Situation, die einem seiner dreißig urkomischen Filme entlehnt sein könnte. Die Rede ist von Pierre Richard, der als „großer Blonder mit dem schwarzen Schuh“ mit einer zwerchfellstrapazierenden Leinwandposse über Nacht weltberühmt wurde und damit eine internationale Filmkarriere startete, die ihn in die Everest-Höhen cineastischen Ruhms klettern ließ. Hier also an diesem ungemütlich wässrigen Ort will er uns ein Interview geben? Das kann wirklich nicht wahr sein! Ich stehe mit meinem Kameramann Wolfgang Groth an der Seine und blicke etwas hilflos auf den bewegungsträgen, in zwei Pariser Stadtufer eingezwängten Fluss, den mir der berühmte Spaßfranzose hier in der Nähe der Concorde-Brücke als Treffpunkt genannt hat. Bis ich ihn dazu bewegen konnte, war eine Menge Vorarbeit nötig. War sie vielleicht umsonst, denn er ist weit und breit nicht zu sehen, obwohl Ort und Zeit stimmen. Hat er uns veralbert? Gottlob nein, aber der Reihe nach. Ein denkwürdiges Telefonat. Seit Anfang September 1988 war ich wochenlang fast täglich seiner Sekretärin Véronique Gillet in seinem Pariser Büro telefonisch auf die Nerven gegangen, um diesen Termin mit ihm zu bekommen – nicht zuletzt von der Neugier-Frage getrieben, ob der Lachmuskel-Athlet des Kintopps auch im wirklichen Leben ein Spaßvogel ist. Als seine Vorzimmerdame bei einer nicht nachlassenden Anrufserie eine hoffnungsvolle Mischung aus Mitleid und Anerkennung für meine Hartnäckigkeit spüren ließ, versuchte ich diese Sympathie auszunutzen, um etwas zu seinem Elternhaus zu erfahren und über diese familiäre Schiene vielleicht näher an ihn heranzukommen. Gut, dass ich damals das kurze, aber äußerst hilfreiche Telefongespräch mit einem überraschenden Ende protokolliert habe: „Sagen Sie bitte, Madame Gillet, man erfährt darüber nichts in der Presse: Leben die Eltern von Pierre Richard eigentlich noch?“ „Der Vater ist gestorben und die Mutter wohnt 50 Kilometer von Paris in der Gemeinde Rambouillet.“ „Hat er noch Geschwister?“ „Ja, eine Schwester.“ „Wo könnte ich sie finden?“ „In Paris.“ „Und wo genau?“ „Hier, in seinem Büro.“ „Könnten Sie mir ihren Namen sagen?“ „Véronique Gillet.“ „Sie??“ „Ja, ich.“ „Darf ich Sie mal im Büro besuchen?“ „Morgen am frühen Vormittag ginge es.“ Damit war eine wichtige personelle Verbindung geknüpft, ein verwandtschaftlicher Faden zu dem Filmstar. Anderntags stand ich in Schlips und Kragen zur vereinbarten Zeit in der vierten Etage der Rue Troyon 18 in Sichtweite des Arc de Triomphe. Das Büro war mit Plakaten seiner Leinwandstücke tapeziert. Darunter auch schüchterne Anfangswerke wie „Alexander, der Lebenskünstler“, „Die Dirne und der Narr“, „Teresa“ und „Der Zerstreute“. Daneben „Alfred, die Knallerbse“ aus dem denkwürdigen Jahr 1972, in dem Pierre Richard als der „große Blonde“ mit den unschuldigen blauen Augen in die Kinogeschichte einging dank einer phänomenal gespielten Agentenposse, über die ganz Europa Tränen lachte. Der mit zerbrechlich dünner Statur sanftmütig und schüchtern ins Leben gebaute Geigenspieler François wird urplötzlich aus seinem beschaulichen, geregelten Musikerdasein herausgerissen und durch eine fatale Verwechslung ein von Agenten gejagter angeblicher Meisterspion. Durch das Zusammenspiel von witziger Geschichte und personellem Glücksgriff schuf Regisseur Yves Robert einen Klassiker, in dem der bislang wenig bekannte Künstler sein komödiantisches Talent voll ausspielen konnte. Damit war er auf die Rolle seines Lebens festgenagelt als zerstreuter, liebenswerter Träumer, dem die Boshaftigkeit einer bösen Welt nichts anhaben kann, auch wenn sie um ihn herum im Chaos von Kugelhagel und Massenschlägerei versinkt. Dass man ihm nach dem Leben trachtet, ihn attackiert, demütigt und missbraucht, scheint ihn nicht zu interessieren. Seine Aufmerksamkeit gilt nicht den irdischen Querelen und Aggressionen seiner um sich schlagenden Mitmenschen, sondern seiner Herzensdame Paulette, die im selben Kammerorchester die Harfe zupft und ihn, den Ersten Geiger, in stürmischer Leidenschaft verehrt, bewundert und liebt. Der Stolperweg zum Zwerchfell-Akrobaten. Schon der kleine Pierre Richard wollte zum Film, aber keineswegs in eine scherzintensive Ecke. Sein Kindheitstraum war es, wie dazumal Johnny Weissmüller als erster Tarzan der Filmgeschichte den Wald und seine Tiere zu beherrschen und als Herr des Dschungels berühmt zu werden. Berühmt geworden ist er wirklich – und das mit seinem Normalmaß von 1,78 Meter Gott sei Dank nicht als Tarzan. Zu Weissmüllers Gardemaß von 1,91 Metern fehlten ihm 13 Zentimeter und fünf goldene Olympiamedaillen im Rekordschwimmen. Véronique Gillet plaudert aus dem Nähkästchen: „Mein Bruder hat schon als Schulkind seine ausgeprägte Fähigkeit zum Gestikulieren und Grimassenschneiden entdeckt und sie zum Gaudi seiner Mitschüler kräftig eingesetzt. Ich habe mitgelacht und ihn bewundert. Er war ein Genie im Imitieren von Leuten, hat sofort ihre charakteristischen Eigenheiten erkannt und sie in parodistischer Perfektion nachgeäfft. Dass er nach dem Abitur eine Schauspielschule absolvierte und es ihn zum Kabarett, Theater, Fernsehen, Film und sogar zur Oper zog, war für unseren Vater – einen angesehenen Industriellen – nicht gerade die Erfüllung seiner Wünsche. Wenigstens Wissenschaftler, Lehrer oder Advokat sollte er werden. Aber Pierre konnte nicht anders. Er sagt von sich selbst, dass er allein mit seinem linken Auge eine ganze Schulklasse zum Lachen bringen konnte. Dieses Naturtalent kam ihm dann in seinem Beruf reichlich zugute. Er muss die komischen Rollen nicht spielen, es ist sein Naturell.“ Véronique verwaltet ihres Bruders Firma, gegründet im Juli 1974 als Produktionsgesellschaft „Fideline Films“. Er betreibt sie als Generaldirektor in Zusammenarbeit mit seinem Freund Gérard Depardieu, bis heute einer der eigenwilligsten und bedeutendsten Charakterdarsteller der französischen Kinematografie. Véronique zeigt auf großflächige knallbunte Filmplakate an den Wänden und kommentiert: „Das Clown-Image des geigenden Superspions wird er nicht mehr los, was ihn mitunter sehr nervt. Anfangs hat er diese Rolle abgelehnt. Ausgerechnet er, der sich für Tennis und Jazz begeistert, aber nie für Spionageromane interessiert hat, sollte einen verkannten lächerlichen Top-Agenten mimen. Dann las er das Drehbuch, spielte zu Hause vor dem Spiegel einige Szenen durch und war der erste, der über Pierre Richard lachte. Die Paraderolle des sympathischen Tollpatsches war ihm auf den Leib geschneidert. Sie verhalf ihm zu einem furiosen Aufstieg und den nachfolgenden Produktionen zumindest zu Achtungserfolgen, bis es zu diesem Thema kaum mehr originelle Variationen gab.“ Die Poster illustrieren ihre Worte, belegen die Fortsetzung der Pechvogel-Geschichte in Serie: „Der große Blonde kehrt zurück“, „Der Blonde mit dem blauen Auge“, „Der lange Blonde mit den roten Haaren“, „Der große Blonde auf Freiersfüßen“. Gedacht waren diese Streifen nicht zuletzt als Parodie auf die anschwellende Welle der James-Bond-Thriller – allerdings nicht mit der Lizenz zum Töten, sondern zum Totlachen. Véronique hatte mir eine Viertelstunde eingeräumt, es wurde eine volle Stunde, in der ich wichtige Personalien erfuhr. Geboren wurde der Spross der wohlhabenden gutbürgerlichen Familie Defays am 16. August 1934 im nordfranzösischen Valenciennes mit fünf Vornamen, von denen er die ersten beiden zu seinem Künstlernamen machte: Pierre Richard Maurice Charles Léopold. Als wir ihm nachspürten, war er 54, sprühte vor Projektideen, stand im Zenit seiner Karriere und gehörte zu den erfolgreichsten europäischen Filmkomikern. Auch als Drehbuchautor und Regisseur hatte er sich einen Namen gemacht und seine Honorare standen denen eines Belmondo oder Alain Delon kaum nach. Dass der Nobody plötzlich kometenhaft aus der Versenkung filmischer Mittelmäßigkeit auftauchte, war kein so großer Zufall. Pierre Richard füllte eine personelle Lücke, die in der Garde prominenter Spaßmacher des französischen Kinos entstanden war. Nachdem Fernandel, der filmische Don Camillo mit dem Pferdegebiss, an Lungenkrebs gestorben war, nahm der schiefnasige Bourvil seinen Platz ein. Als dessen Stern verblasste, eroberte der permanent unter Strom stehende aufgeregte Zappelphilipp Louis de Funès die europäische Leinwand, auf der er stets an der Grenze eines Nervenzusammenbruchs agierte. Als ihn ein sehr realer Herzinfarkt vorübergehend außer Dienst setzte, fürchteten die Franzosen um einen würdigen Nachfolger. Da kam der „große Blonde“ angestolpert und der ungelenke Lockenschopf Pierre Richard avancierte im Handumdrehen zum neuen Liebling in der Katastrophenwelt zwerchfellstrapazierender Bildergeschichten, für die immer wieder Nachschub produziert wurde, nachdem der musizierende Agent ausgegeigt hatte. Die Werbung dafür ziert in plakativer Vielfalt die Bürowände der „Fideline Films“ im 17. Pariser Arrondissement. Bei einigen signalisiert schon das Etikett des Werkes, was in ihm steckt. So lese ich Titel wie „Ich weiß von nichts und sage alles“, „Ein Tolpatsch auf Abwegen“, „Eine Wolke zwischen den Zähnen“, „Der Sanfte mit den schnellen Beinen“, „Zwei Kamele auf einem Pferd“, „Ich bin schüchtern, aber in Behandlung“ und „Zwei irre Spaßvögel“, womit Pierre Richard und Gérard Depardieu gemeint sind – ein depressiver Ex-Lehrer und ein grobgehobelter Journalist, die auf der Suche nach einem entlaufenen Jungen sind, den jeder von ihnen für seinen Sohn hält – nicht ahnend, dass die Mutter des Jungen sie sehr eigennützig auf dessen Spur hetzt. Véronique meint es gut mit mir, holt Zeitungsausschnitte aus ihrem Pressearchiv. „Pierre und Gérard“, sagt sie, „waren nicht nur Filmpartner, sondern sind enge Freunde, die auch im wahren Leben zusammenhalten. Im Kintopp haben sie gemeinsam so manche verrückten Abenteuer bestanden oder eben auch Chancen vermasselt.“ Das belegen weitere Erfolgskomödien mit beiden Stars. Sie gelangen Regisseur Francis Veber mit „Der Hornochse und sein Zugpferd“ und „Les Fugitifs“ von 1986, bekannt unter den deutschen Titeln „Die Flüchtigen“ und „Zwei irre Typen auf der Flucht“. In dieser mit Sozialkritik gespickten Gaunergeschichte ist die Situation unseres Helden wie immer zum Verzweifeln. Als Arbeitsloser überfällt er eine Bank und muss einsehen, dass er für den Coup eine viel zu ehrliche Haut ist, um sie für geklautes Geld zu Markte zu tragen. Pierre spiele diesen Unglücklichen so urkomisch hilflos, dass man ihm die Daumen drücken möchte, hatte Regisseur Veber geurteilt. Man sollte eigentlich über die Sache selbst heulen; aber wie man mit ihm bangen und sich gleichzeitig über die unfreiwillige Situationskomik amüsieren könne, das – meinte Veber – hinterlasse völlig gewollt in der Kombination von Tragik und Drolligszenen eine besinnliche Art von Nachdenklichkeit. 1975 jubelte die Presse über „das komischste Liebespaar, das man je auf der Leinwand gesehen hat“. Gespielt hat es der „lange Blonde“ mit Jane Birkin in „Der Tolpatsch mit dem sechsten Sinn“. Der beweist als ehrgeiziger Bankangestellter Pierre seine Liebe zur Friseurin Janet sogar mit einem verbotenen Griff in den Banksafe. Mein Studium der Pressekritiken und Filmplakate ist beendet. Sie repräsentieren auf einen Blick die steile Karriere eines Superstars und zugleich eine ganze Epoche des französischen Films. Bevor ich mich von der sympathischen Véronique verabschiede, verspricht sie mir, sich bei ihrem berühmten Bruder für ein Fernsehinterview einzusetzen. Ein Treffen auf schwankendem Parkett. Knapp vier Wochen später ruft Véronique an und teilt mir gleichermaßen Erfreuliches wie Verblüffendes mit. Ihr Bruder sei einverstanden und erwarte mich samt Kameramann am 10. 10. um 10.10 Uhr am rechten Ufer der Seine 200 Meter stromabwärts von der Concorde-Brücke gegenüber dem Parlamentsgebäude. Ich bin perplex und versuche, Konkreteres zu erfahren, aber Véronique bedauert, dass sie mir exakt dies ausrichten solle und nicht mehr. Voila! Dann schiebt sie verschmitzt hinterher: „Gehen Sie einfach hin, dann werden Sie mehr wissen.“ Sie zögert, dann noch ein Nachsatz: „Er erwartet Sie auf der Seine.“ „Auf der Seine?“ „Ja, das sagte er. Mehr nicht!“ Nun stehe ich zur verabredeten Zeit am verabredeten Ort mit meinem Kollegen Wolfgang Groth, der mit geschulterter, einsatzbereiter Kamera ebenfalls geduldig und neugierig der Dinge harrt, die da in Gestalt von Pierre Richard kommen sollen. Es ist der 10. 10. Punkt 10.10 Uhr. Wir stehen wie angewurzelt stur und steif wie Wachfiguren am rechten Ufer der Seine 200 abgeschrittene Meter von der Concorde-Brücke entfernt gegenüber dem Palais Bourbon, dem Sitz der französischen Nationalversammlung. Zur Rechten der Eiffelturm, dessen Höhe etwa dem Stapel der jährlichen Verehrerpost von Pierre Richard entspricht. Von ihm selbst nichts zu sehen. Wird er wie einst Jesus übers Wasser zu uns wandeln oder in welcher Form wird der Meister spaßiger Überraschung uns erscheinen? Situationskomik wie in einem seiner lachmuskulösen Kintoppabenteuer. Dann geht mir das berühmte Licht auf und erhellt blitzartig mein Gehirn. Denn vor uns wiegt sich auf den Wellen ein Hausboot mit dem in unübersehbaren Lettern bemalten Namen „Eintracht“. Natürlich, Eintracht und Frieden stiften inmitten eines heillosen Chaos – das ist das Credo seiner Filmfigur! Noch hänge ich diesem Gedanken nach, da turnt er schon aufs Deck, winkt uns auf seinen Kahn und begrüßt mich leutselig, während mein Kameramann schon den Finger auf dem Auslöser hat. Nach bangem Warten ein furioser Start. Also ein Treffen auf schwankendem Parkett. Fürwahr, schon sein Äußeres ist filmreif: sich kräuselnde kurzgeschorene Lockenpracht, giftgrüner Pulli, lila Socken, Barfußbeine, die in einer dunklen Trägerhose stecken. Pierre freut sich über den mitgebrachten Berliner Spielzeugbären, den er in neckischem Herumalbern hin und her wiegt, worauf das knuddelige zottige Wappentier zu seinem Entzücken eine Altberliner Weise spielt. Es ergänzt seinen Zoo aus Stofftieren, wozu auch ein an der Kajütendecke schaukelnder Papagei gehört. Darunter ein Klavier, auf dem einige seiner Filmmelodien entstanden sind. Während seine Frau, die Showtänzerin Murielle Dubrulle, in der engen Kombüse einen Kaffee braut, zeigt uns der Kapitän sein Schiff, dessen Oberdeck mit viel Grün dekoriert ist. Uns begleitet seine Katze Toupi, die mit dem Pyrenäenhund Attila gut Freund ist. Ein mit sich und der Welt zufriedener Glückspilz, der zum sympathischsten Pechvogel des Kinos wurde, gefeiert in der Presse als „Champion der Zwerchfell-Massage“. Dass er diesen Nimbus trotz einiger seriöser Charakterrollen zwischendurch nicht mehr los wird, damit hat er sich wohl oder übel abgefunden. Und er hat dafür eine durchaus plausible Entschuldigung:
Charles Aznavour. kam als Napoleon des Chansons zu gleichem. Weltruhm wie seine geniale Mentorin Edith Piaf. Am 24. August 2017 kabelte die in Los Angeles versammelte Weltpresse eine Promi-Meldung mit Ausrufezeichen an ihre Heimatredaktionen. Die Schlagzeile hieß: „Französische Showlegende Charles Aznavour erhielt einen Stern auf dem ‚Walk of Fame‘ von Hollywood.“ Das war ungewöhnlich, denn die Ruhmessterne auf dem berühmtesten Gehweg Kaliforniens sind im Wesentlichen die hauseigene Domäne der Amerikaner und eine Nabelschau für die Größen ihrer Unterhaltungsindustrie. Wenn Ausnahmen gemacht wurden, dann meist mit Pop- und Rockstars aus dem englischsprachigen Ausland. Dass aber ein Chanson-Franzose im Herzen der Filmmetropole Los Angeles mit einem Stern verewigt wird, ist sensationell. Andererseits ist Aznavour hier kein Fremder. Von seinen rund 80 Filmen entstanden nicht wenige in der Kinofabrik Hollywood. Dafür wurde ihm nun gut ein Jahr vor seinem Tod eine besondere Auszeichnung zuteil. Nachdem der rastlose Troubadour im Vorjahr eine Nordamerika-Tournee absolviert hatte, war er hier am Hollywood Boulevard im „Pantages Theatre“ aufgetreten, einst Veranstaltungsort der Oscar-Verleihungen. Es wirkte wie eine zusätzliche Verbeugung vor dem 1,64 Meter kleinen und doch so übergroßen Mann aus Paris, dass seine Sternenplakette just hier einzementiert wurde vor dem Eingang dieses historischen Theaters, das nun eine Musikbühne ist. Nun war er also wieder da für eine ungewöhnliche Einweihungsfeier, auf der kein Geringerer die Laudatio hielt als Peter Bogdanovich, amerikanischer Schauspieler, Regisseur, Filmproduzent und Drehbuchautor. Er verneigte sich vor einem 93-jährigen Weltstar mit einer 70-jährigen Erfolgskarriere ohnegleichen. Dass mir Charles Aznavour davon eine winzige Unze seiner Lebenszeit geschenkt hat, habe ich nie als Selbstverständlichkeit empfunden. An der Begegnung mit ihm möchte ich Sie gern teilhaben lassen. Deshalb versetzen Sie sich bitte mit mir ins Jahr 1987 und damit in meine Zeit als Frankreich-Korrespondent des DDR-Fernsehens. Natürlich hat das Ganze auch eine Vorgeschichte. Le grand Charles. Die Spatzen pfiffen es von den Dächern. Die Radio- und Fernsehnachrichten brachten es als Spitzenmeldung. Die Zeitungen verkündeten es auf ihren Titelseiten. Die Litfasssäulen an der Seine informierten darüber in plakativer Großaufmachung. Schließlich wussten es alle und stürmten die Kassen des Pariser Kongresspalastes, um Karten für eine mehrwöchige Jahresend-Gala mit ihm zu ergattern. Schließlich war ihr weltberühmter Sohn nach langer Paris-Abstinenz wieder einmal in seiner Geburtsstadt und niemand wusste, ob er mit nunmehr 63 Jahren nicht vielleicht demnächst seine legendäre Karriere beenden würde. Keiner und nicht einmal er selbst konnte damals die verwegene Ahnung haben, dass es ihn trotz mehrerer Abschiedstourneen immer wieder auf die große Bühne ziehen würde und er seinen letzten umjubelten Auftritt kurz vor seinem Tod mit begnadeten 94 Jahren in der japanischen Hafenstadt Osaka haben würde. Da hatte Charles Aznavour ein künstlerisches Erbe vorzulegen, das seinesgleichen sucht: weltweit rund 200 Millionen verkaufte Tonträger, 800 auf Platten verewigte Chansons und Schlager. Über tausend Lieder hat er selbst geschrieben, darunter für Edith Piaf, Maurice Chevalier, Eddie Constantine, Juliette Gréco, Nana Mouskouri und Gilbert Bécaud „Le grand Charles“, wie ihn die Franzosen ehrfürchtig nennen, hatte sich für seine Landsleute nun also vom 29. September bis zum 8. November 1987 Zeit für ein ausführliches Gastspiel genommen. Kaum war die Ankündigung heraus, war die gut einmonatige Gala im großen Amphitheater des Kongresspalastes mit seinen über 3700 Sitzplätzen im Handumdrehen ausverkauft inklusive einiger noch zusätzlich erbettelter Stehplätze. Der zum Chanson-König gekrönte Franzose armenischer Herkunft stand längst auf meiner Liste begehrter Interviewpartner aus der Kunst- und Kulturszene, aber den umtriebigen singenden Globetrotter jemals vor unsere Fernsehkamera zu bekommen, hatte ich mittlerweile aufgegeben. Nun sah ich eine Chance, obwohl da sicher einige Hürden zu überwinden waren. Ich wusste, dass sein Ruhm mittlerweile einen Schutzgürtel um ihn herum aufgebaut hatte wie bei einem Staatspräsidenten – und mit einem Staatsbegräbnis wurde er auch am Ende seiner 94 Jahre währenden Lebenslinie am 19. September 2018 beigesetzt. Ich habe im März 2005 selbst miterlebt, wie ihn eine motorisierte Polizeistaffel auf Promi-Tour durchs belgische Lüttich eskortiert hat. Nachdem dort der Stargast mit seinem Privatjet eingeschwebt war, gab es schon vor den Toren des Forum-Showpalastes in der Rue du Pont d’Avroy ein Schwitzbad in der Menge, bei dem Bodyguards und ein Großaufgebot von Sicherheitsbeamten vergeblich versuchten, allzu aufdringliche Autogrammjäger auf Distanz zu halten. Aznavour wurde in der wallonischen Großstadt wie ein alter Bekannter gefeiert, obwohl er zur Präsentation seiner künftigen September-Vorstellung nur dürftige 35 Minuten blieb. Der rastlose Fahrensmann in Sachen Musik hatte zwar ein großes Herz für sein Publikum, aber niemals Zeit. Er geizte bis zum Schluss mit jeder Lebensminute, die er mit seinen Liedern füllen wollte. Und nun dachte ich, dass diese zeitgeizige Berühmtheit uns einen Platz in ihrem knallvollen Terminkalender einräumen könnte. Andererseits hatte ich immer wieder von seiner Bodenhaftung gehört, die keine Hochnäsigkeit zuließ – von seiner Sympathie für den Mann auf der Straße mit einem Nerv für die kleinen Leute und ihr Milieu, aus dem er selbst kam und dem er viele seiner Lieder gewidmet hat. Nicht wenige davon erschienen auch bei der DDR-Plattenfirma Amiga, was ihm nicht verborgen geblieben sein dürfte. Vielleicht hatte ich auch bei ihm das Glück des Ostexoten unter der Schar von Westjournalisten, deren Andrang er gewöhnt und vielleicht sogar überdrüssig war. Ein TV-Mann aus Ostdeutschland hatte für ihn möglicherweise Seltenheitswert. Das war mein Bonus. Auf Promi-Jagd: Bruchlandung und Neustart. Einen hoffnungsvollen Versuch hatte ich bereits in Genf gestartet, als ich zwischen zwei Terminen der sowjetisch-amerikanischen Abrüstungsverhandlungen mitbekam, dass die Uraufführung eines Films über die Schweizer UNO-Metropole bevorstand. Zur glanzvollen Premiere sollte auch Aznavour kommen, der in dem Stadtporträt einen Gesangspart übernommen hatte. Der Großmeister des Chansons, der zudem Ehrenbürger von Genf ist, hatte den Titelsong komponiert und sich damit auf eine bislang unbekannte Weise vorgestellt: als Liedermacher und Interpret für einen Dokumentarfilm. Da ich als Frankreich-Korrespondent auch eine zweite Länderakkreditierung für die Schweiz besaß, bekam ich mit meiner Pressekarte problemlos eine Einladung und zudem noch eine VHS-Videokassette mit dem 45-Minuten-Kinostreifen. Es gab nur ein Problem: Ich war da, aber Aznavour nicht. Pech! Trotzdem genoss ich seinen Auftritt in „Genève“, wie der französische Regisseur François Reichenbach seinen Streifen schlicht und einfach genannt hatte. Die ersten Bilder zeigen, wie im Frühjahr plötzlich der Genfer See explodiert und mit einer 150 Meter hohen Wassersäule das imposante Wahrzeichen der Konferenzstadt modelliert. Dann schweben nicht nur die Verliebten in den Wolken, sondern auch die Politiker, deren stets wiederkehrendes Reiseziel dieses Zentrum internationaler Begegnungen ist. Aznavour besingt es, während er ebenfalls über den Wolken dem Häusermeer an der Rhone vor der spektakulären Naturkulisse des Mont Blanc entgegensegelt. Typisch für ihn als Song-Fabulierer ist, dass er mit dem philosophisch angehauchten Text poetisch, aber schnörkellos seinen Standpunkt ausdrückt: „Ich akzeptiere im Disput der Zeit nur eine Entscheidung: die für das Leben, für das Glück.“ Er klettert aus dem Flugzeug und betritt heimatlichen Boden, denn hierher nach Genf hat der Chansonnier, Liedtexter, Komponist und Filmschauspieler seinen Wohnsitz verlagert, ist er vor dem einnehmenden Wesen des französischen Fiskus geflüchtet. Der damit verbundene Fehltritt brachte ihm negative Schlagzeilen wegen eines Steuerskandals in Frankreich, an den sich danach am liebsten niemand mehr erinnern möchte. Während das Verfahren wegen Steuerhinterziehung 1980 im Sande verlief, war er drei Jahre zuvor mit einer Anklage wegen Verletzung der Zoll- und Devisenbestimmungen nicht so glimpflich davongekommen. Die Richter verurteilten ihn zu einer deftigen Geldstrafe von umgerechnet fast anderthalb Millionen Euro. Eine einjährige Haftstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Viele Jahre später, Ende 2008, wird dem gebürtigen Franzosen als Kind von Einwanderern aus Armenien auch die armenische Staatsbürgerschaft verliehen – eine Voraussetzung dafür, dass er ein Jahr danach armenischer Botschafter in der Schweiz werden konnte und damit auch in der Lage war, das Land seiner Vorfahren am Genfer UNO-Sitz zu vertreten. Zudem wurde er Armeniens Repräsentant bei der UNICEF in Paris. Als Bürger und sogar Ehrenbürger von Genf ist er hier öfter als in seiner Geburtsstadt an der Seine. Erst 58 Jahre, nachdem er in Paris als Charles Aznavourian das Licht der Welt erblickte, erhielt er die amtliche Erlaubnis für seinen nur wenig geänderten berühmten Künstlernamen Aznavour. Während ich enttäuscht über seine Abwesenheit bei der Filmpremiere in mein Genfer Standardhotel „Grand-Pré“ zurückschlenderte, berichteten die Medien, dass er auf rastlosen Tourneen schon wieder Hallen und Arenen in aller Welt füllt. Daran erinnere ich mich nun, als in Paris der Sturm auf die Konzerttickets einsetzt und ich mir über vertrauliche Quellen Name und Telefonnummer seines Managers beschaffe. Herr Lewen Sayan hört sich meine Bitte in merklicher Gestresstheit an, verspricht mir aber, darüber mit dem Meister zu reden. Ich hatte das Aznavour-Projekt über der Tagesarbeit fast schon zu den Akten gelegt, als Herr Sayan mich nach einer Woche anruft. Er teilt mir mit, dass Monsieur Aznavour versuchen werde, sich für ein Interview mit dem Ostfernsehen eine halbe Stunde abzuknapsen. Das ginge allerdings nur vor Beginn eines Konzertes im „Palais des Congrès“ am 29. Oktober. Ich möge also Punkt 18.30 Uhr in seiner Garderobe erscheinen und sie spätestens 19 Uhr verlassen, damit Monsieur Aznavour ebenso pünktlich seinen Auftritt um 19.30 beginnen könne. Er werde sich bemühen, diesen Termin zu halten. Herr Sayan merkte wohl, dass ich ihn durch einen wortreichen Dank für uns einzunehmen versuchte und fügte an: „Bleiben Sie optimistisch. Ich versuche mein Bestes.“ Vom schwierigen Werdegang eines Phänomens. Die lange Wartezeit hatte andererseits einen nicht zu unterschätzenden Vorteil. Neben unserer tagesaktuellen Berichterstattung aus Westeuropa nutzte ich nun jede freie Minute, um möglichst alles über den Troubadour des französischen Chansons zu erfahren. Ich wollte ihm maximal vorbereitet begegnen. So beließ ich es nicht bei jedweder Lektüre über den Franzosen-Armenier, sondern beschnüffelte auch in Paris alle Ecken, in denen er seine Kindheit und Jugend verbracht hat – vor allem im Studentenviertel Quartier Latin, wo er am 22. Mai 1924 als Charles Aznavourian in der Rue du Temple zur Welt kam. Als Kind bettelarmer armenischer Eltern, die 1915 aus ihrer Heimat geflohen waren, um dem türkischen Völkermord an den Armeniern im damaligen Osmanischen Reich zu entgehen. Erst 1947 wurden sie in Frankreich eingebürgert. Der Vater war Textdichter und die Mutter Schauspielerin. Ihr mangelhaftes Französisch hinderte sie, ihre Berufe in bare Münze zu verwandeln. Der Patron hielt die Familie als Gastwirt über Wasser – und mit neun Jahren mussten Charles und seine ein Jahr jüngere Schwester Aid das kleine Bistro mitfinanzieren und das Existenzminimum sichern. Trotzdem wurde nicht Trübsal geblasen, sondern musiziert. Mutter und Schwester klimperten auf dem Klavier, der stimmbegabte Vater sang und Charles strich die Geige. Es wurde getanzt, gespielt, getrunken – oft auch in gemeinsamer Geselligkeit mit anderen Ausländern. Es waren meist schwermütige, melancholische Lieder, die Charles tief beeindruckten. Dass es nicht nur armenische, sondern auch französische und russische Balladen und Chansons waren, inspirierte den Jungen, seine Songs später in fünf Sprachen zu interpretieren. Darin beschrieb er diese Zeit der Armut trotz ständiger Sorge ums tägliche Brot als freie und glückliche Kindheit, in der er Musik inhalierte wie tägliche Mahlzeiten. Gerade mal fünf war er bei seinem ersten öffentlichen Auftritt mit armenischen Volksliedern auf einem Emigrantenfest. Der Vater förderte seine künstlerischen Neigungen und Ambitionen und brachte ihn bei einer laienhaften Fortbildungsschule für Gesang und Schauspiel unter. Dank seines komödiantischen Talents konnte der Sprössling schon als Neunjähriger Kinderrollen wie die des Franzosenkönigs Heinrich IV. übernehmen und so ein paar Francs zum schmalen Familienbudget beisteuern. Mit 14 konzentrierte er sich auf die Musik, mit 17 begann er zu komponieren und zu texten, um dann als Interpret seiner Lieder durch die französische Provinz zu tingeln, allerdings mit mäßigem Erfolg. Fachleute beanstandeten ausgerechnet den Zustand seiner Stimme, mit der er sich später Weltruhm ersang. Sie sei kratzig, schwach und so fragil wie sein Körperbau. Dazu Gesichtszüge, die nicht nach Mitteleuropa gehörten. Er war alles andere als ein Senkrechtstarter. Es dauerte geraume Zeit, bis sich die Allgemeinheit an seine etwas brüchige Stimme und seine äußerlich bescheidene Bühnenerscheinung gewöhnte. Sein Gesang wurde durch mangelnde Stimmbandvibration als eigentümlich fremd empfunden – und mit seiner filigranen Kleinheit von nur 1,64 Meter machte er auch nicht gerade die stattliche Figur eines präsidialen Ehrengardisten im Élysée-Palast. Die Gegensätze muteten geradezu grotesk an: Ein unscheinbares Männlein mit Fremdlingswirkung und dem überheblichen Anspruch auf öffentliche Anerkennung. Eine skeptische bis ablehnende Presse fand es anmaßend, sich mit einer nach ständiger Erkältung klingenden Stimme und einem zwergenhaften Aussehen vor ein Publikum zu treten, zu singen und noch Beifall zu erwarten. Nicht selten kam es vor, dass er ausgelacht, ausgebuht, ausgepfiffen wurde. Die Häme war groß. Es ging mehr bergab als bergauf. Der so Gedemütigte blieb hartnäckig auf Kurs, pflegte weiterhin eine trotzige Eitelkeit, war aber auch Realist genug, um sich selbst zu gestehen, dass er „nicht besonders gut aussehe“, eine „ausgefallene Stimme“ habe und ein „Allerweltsgesicht“ zur Schau trage. Das wurde auch nicht anders, als er sich seine auffällige Nase operieren ließ. Den unbeirrbaren Glauben an sich selbst und an seine Fähigkeiten verlor er dadurch nicht. Überzeugt vom richtigen Weg, schloss er seinen inneren Frieden mit sich und konstatierte: „Ich habe mich an mich gewöhnt.“ Frankreich wird „aznavourisiert“ Die Ära von Zweifel und Ablehnung versank in einem glücklichen Zufall, als ihn Edith Piaf in einem drittklassigen Vorstadt-Café hörte. Sie ging auf ihn zu und befand: „Ich mag, wie Sie singen. Sie beißen in die Worte, wie ich es auch tue.“ Wie die zupackende Intensität an musikalischer Intonation sah die stimmgewaltige, aber ebenfalls kleinwüchsige Chansonette in dem schmächtigen, zerbrechlich wirkenden Jungen auch noch andere Parallelen zu ihrer eigenen Beschaffenheit und Biografie, die sie aus der Gosse und einem Bordell als ihrem kindlichen Zuhause zunächst zum Zirkus und Straßengesang führte. Sie glaubte, dass eine ähnliche Karriereleiter durch Ehrgeiz, Talent und Fleiß auch für Charles bereitstehen könnte. Für sie, die Burschikose, Ordinäre und zugleich Zartbesaitete, Einfühlsame war Aznavour „le petit Charles“ und „mein kleines beklopptes Genie“, das sie beschützen wollte. Nach der schicksalglücklichen Begegnung mit der Chanson-Göttin war der herumvagabundierende Sänger als ihr ständiger Tourneebegleiter engagiert, wurde ihr Chauffeur, Sekretär, Kofferträger, Beleuchter, Beichtvater, Freund und Vertrauter und bald selbst Akteur mit kleineren Gesangseinlagen im Vorprogramm ihrer Gastspiele im In- und Ausland. Immer drastischer fiel ihm auf, dass die exzentrische Diva vor sich selbst Schutz brauchte, denn die für ihr eigenes Leben selbst provozierten Gefahren ignorierte sie. Ihr triumphaler wie dramatischer Weg nach ganz oben zu den Nobeltheatern des Showgeschäfts und auf die Leinwand wurde begleitet von Alkohol- und Drogenexzessen, Entziehungskuren, Zusammenbrüchen, Operationen, Unfällen, dem Tod ihres Kindes und ihrer großen Liebe sowie einem suchtgetriebenen Männerverschleiß, in den sie auch den jungen Charles einbezog, was dieser allerdings stets bestritt. Er bewunderte seine Mentorin grenzenlos. Zugleich erschauerten ihn die traurigen Eskapaden, die sie als körperliches und geistiges Wrack im Alter von nur 47 Jahren dahinvegetieren und schließlich mit 57 sterben ließen. Bevor Aznavour selbst zum gefeierten Bühnen- und Filmhelden wurde, hatte er dieses Schicksal als Warnung vor Augen, erlebte aber zugleich mit, wie seine Gönnerin und Förderin Weltruhm erlangte mit Chansons wie „La vie en rose“, „Milord“ und vor allem mit dem unnachahmlich vorgetragenen „Non, je ne regrette rien“, mit dem sie trotzig alle Welt wissen ließ: „Nein, ich bereue nichts!“ Genervt von ihren exzentrischen Launen, Extravaganzen und ausgeflippten Auftritten, entließ er sich nach acht Jahren selbst aus ihren Diensten, blieb aber ewig ihr Verehrer, würdigte sie als großartigen, witzigen, hilfsbereiten Star mit kleinen Boshaftigkeiten und viel Humor – und vergaß ihr nie, dass sie ihn entdeckt und in schweren Anfangsjahren zu ihm gehalten hat. Seine Verehrung ging so weit, dass er auch nach ihrem Tod ein Duo mit ihr sang. Moderne Studiotechnik machte es möglich. Nachdem Charles aus dem Schatten der Diva ins Rampenlicht getreten war, erreichte seine Person im Laufe der Jahre einen ihr ähnlich legendären Status. Seine Beliebtheit explodierte. Die heimische Presse, die seine Kariere gebremst hatte, verfiel nun ins andere Extrem und rühmte ihn mit der Schlagzeile: „Frankreich ist aznavourisiert“. La France war sich einig, dass der Körperzwerg ein „Riese des internationalen Chansons“ sei und zwei der einflussreichsten US-Medien, der Fernsehsender CNN und das „Time Magazine“, kürten ihn gar zum größten Varietékünstler des 20. Jahrhunderts. Er kennt kein Tabu-Thema. Nun also wollte das Volk der Franzosen seinem weltberühmten Landsmann im Kongresspalast huldigen. Und wir würden ihn dort sogar aus nächster Nähe kennenlernen, denn sein Manager hat den Termin bestätigt. So ziehe ich mit Kameramann Wolfgang Groth am späten Nachmittag des 29. Oktober 1987 zur Spielstätte. Von unserem Büro im Pariser Vorort Boulogne-Billancourt ist es ein Katzensprung durch den angrenzenden Waldpark des Bois de Boulogne bis zum Maillot-Platz. Herr Sayan hat Wort gehalten. Während an der Vorderfront bereits eine Besucherschar zum Haupteingang drängt, öffnet sich nach sorgfältiger Überprüfung unserer Presseausweise eine Hintertür. Der Weg zur Garderobe des Meisters ist frei. Wir betreten sie pünktlich eine Stunde vor Beginn seines Konzerts. Dreißig wertvolle Minuten sind uns zugebilligt. Ich ärgere mich heute über TV- und Radiomoderatoren, die zur Aufwertung ihrer Sendung mit Superlativen wie „Weltstar“ leichtsinnig um sich werfen. Er ist wirklich einer. Aznavour kennt die Welt und die Welt kennt ihn. Er will sein Publikum nicht betrügen, singt live und ohne textvorgestanzten Teleprompter – jeder Auftritt eine spannende Einmaligkeit, ein unverwechselbares Unikat. Er verachtet das längst übliche routinierte Playback des Einspiels von Liedern, wozu der Interpret nur noch die Lippen bewegen muss, um anschließend die Hand aufzuhalten. Das sieht ein Könner wie Aznavour als Schummelei am Publikum. Der erste Anblick ist ernüchternd. Wir sehen den „Maître de chanson“ nicht in der Glitzergarderobe eines ganz Großen seiner Zunft, sondern im karierten Alltagshemd und nichtssagend grauer Hose. Er steht vor einem mit Glühbirnen eingerahmten Garderobenspiegel und liest seelenruhig Briefe, die zuhauf zwischen Schminknäpfen, Pinseln und Puderdosen verstreut sind. Stapelweise Fanpost, wie sie jeden Tag eintrifft, obwohl seine Anschrift nicht gerade auf dem Marktplatz verkündet wird. Nachdem er unser „Bonsoir Monsieur“ ebenso höflich erwidert hat, spreche ich ihn darauf an, frage, wer ihm bei der Bewältigung der Briefberge hilft und verweise auf seine Zeitknappheit. Er sagt schlicht und einfach: „Ich beantworte sie alle, wenn die Adressen leserlich sind.“ Wovon lässt er sich leiten bei den Aussagen seiner Lieder? Er muss nicht grübeln, hat die Erwiderung sofort parat:
Friedrich Dürrenmatt. war Europas Spötter und Dramatiker mit Literaturbezug. zu einem Richter und seinem Henker „Friedrich Dürrenmatt war neben Bertold Brecht der wichtigste Dramatiker deutscher Sprache nach dem Zweiten Weltkrieg.“ Literaturexperten in aller Welt teilen diese Ansicht der Theaterwissenschaftlerin und Journalistin Petra Kohse, die Werk und Wirken des Schweizers in der Berliner Zeitung vom 5. Januar 2021 in einem ganzseitigen Artikel würdigte. Er galt dem 100. Geburtstag des Weltliteraten, den Printmedien, Funk und Fernsehen mit Extra-Kolumnen und Sondersendungen ehrten – so, wie der deutsch-österreichisch-schweizerische TV-Kanal 3 SAT, der an einem „Dürrenmatt-Abend“ mit „Justiz“, „Das Versprechen“ und „Der Besuch der alten Dame“ gleich drei seiner Romanverfilmungen ins Programm genommen hatte. Mein Geburtstagsgeschenk für den Jubilar ist dieses Buchkapitel. Damit möchte ich ihm zugleich dafür danken, dass er mir an einem unvergesslichen Nachmittag ein Stück seiner Lebenszeit geschenkt hat. Auf dem Weg zu ihm hatte ich mir noch einmal seinen mit hintergründiger Ironie gespickten Krimi-Klassiker „Der Richter und sein Henker“ vorgenommen. Als die morgendliche Herbstsonne durchs Dickicht brach, beschien sie einen Toten. An der Twannbachschlucht, wo die Straße aus einem dichten Waldabschnitt des Schweizer Jura hervortritt, fand am Morgen des 3. November 1948 der Polizist Alphons Clenin den Polizeileutnant von Bern, Ulrich Schmied, mit durchschossenen Schläfen. Die gesetzeshütende Staatsmacht der Landeshauptstadt mausetot in einem blauen Mercedes am Straßenrand! Diese Ungeheuerlichkeit reißt das abgelegene, verschnarchte Tessenbergdorf Lamboing schlagartig aus seinem Dauerschlaf. Mit dieser dramatischen Situation beginnt eine verzwickte Tätersuche, beschrieben in einem Krimi seltener Güte, der in aller Welt mit einer Zwei-Millionen-Auflage erschien und mehrfach verfilmt wurde. Ich war gespannt, ob es den im Roman so detailliert skizzierten Tatort nur in der Fantasie des Autors Friedrich Dürrenmatt oder tatsächlich in der Realität gibt. Ich fand die Stelle exakt wie im Buch beschrieben – zwischen dem Ortseingangsschild von Lamboing und einem an die Straßenböschung geduckten Restaurant mit dem einfallslosen Namen „Schlucht“. Die spannende Handlung hatte der Schriftsteller in dichterischer Freiheit schon 1950 in acht Fortsetzungen für das Blatt „Schweizerischer Beobachter“ zu Papier gebracht, um sich mit dem damals noch kärglichen Honorar das tägliche Brot leisten zu können. Die überarbeitete Buchausgabe vom Richter und seinem Henker wurde ein Welterfolg. Damit war die Reihe der internationalen Bestseller eröffnet, die schon 1981 in nicht weniger als 30 Bänden erschienen und Dürrenmatt zu einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Dramatiker, Dramaturgen und Romanciers des 20. Jahrhunderts werden ließen. Für Montag, den 19. September 1988, bin ich mit ihm nach langwierigem Hin und Her zum Interview verabredet. Am Vortag rollt unser Büro-„Audi“ mit mir und meiner Filmcrew nach Dreharbeiten in Genf über die Nationalstraße „N5“ – jener Trasse, auf der die Romanfigur des braven Dorfpolizisten den Ermordeten einst im Nervenfieber zum Kommissariat chauffiert hat. Nachdem wir in Lamboing die zum Buch vorhandene Identität des Tatortes vorgefunden haben, fahren wir nun am Bieler See entlang, auf dessen Uferstraße nach Süden wir schon nach 20 Kilometern das französischsprachige Neuchâtel erreichen, zu Deutsch Neuenburg, Hauptstadt des gleichnamigen schweizerischen Kantons. Der reizvolle Flecken Erde am Nordufer des Neuenburger Sees ist bekannt als Anbauort eines guten Weines und als Wohn- und Arbeitsort des berühmten Mitbürgers Dürrenmatt, der sich hier und in aller Welt nicht nur als Theaterstück- und Buchschreiber einen Namen gemacht hat, sondern auch als Maler und gesellschaftskritischer Feingeist mit einem schier unerschöpflichen Repertoire an beißendem Spott, hintersinnigem Witz und deftigem Sarkasmus. Ihm gelang es, das Kernproblem seiner Zeit mit einem umwerfenden Satz auf den berühmten Punkt zu bringen: „Die Welt ist eine Pulverfabrik, in der das Rauchen nicht verboten ist.“ Bis heute ein Bonmot ohne Verfallsdatum. Während Kameramann Wolfgang Groth am Steuer sitzt, blättere ich noch einmal meinen Fragenkatalog fürs Interview durch und überdenke das breite Spektrum an literarischem Wissen, das man bei einem Dichter-Universum der Gattung Dürrenmatt parat haben muss. Neben der täglichen politaktuellen Arbeit unseres Pariser Fernsehbüros habe ich mich wochenlang in jeder freien Minute auf diese Begegnung vorbereitet, habe rundum in Ost und West recherchiert und noch einmal ein Maximalpensum seiner Werke studiert und konspektiert – darunter weitere Krimis wie „Der Verdacht“ und insbesondere „Das Versprechen“, mehrfach verfilmt und mit dem Titel „Es geschah am helllichten Tag“ in der Version mit Heinz Rühmann und Gert Fröbe als Klassiker in die Filmgeschichte eingegangen. Zu meiner Erstmals- und Nochmals-Lektüre gehörten ebenso seine brisanten und bizarren Bühnenstücke „Der Meteor“, „Der Besuch der alten Dame“ und „Die Physiker“, mit denen er sich in die Weltrangliste der Literaten hineingeschrieben hat. Und nicht zuletzt außergewöhnliche Erzählungen wie „Die Panne“, mit der er das Kunststück fertiggebracht hat, es auch als Hörspiel, Theaterkomödie und Fernsehspiel zu variieren. Durchforstet habe ich natürlich auch Archivbestände von gedruckten Endlosbetrachtungen über den Meisterpoeten und sein Werk. Selbst der im Westen als „Literatur-Papst“ verehrte Marcel Reich-Ranicki – bekannt für seine fast psychopathisch masochistische Lust an schmerzhafter Kritik – ringt sich Bewunderung ab. Er nennt Dürrenmatt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. 11. 1985 einen „weltberühmten Nichtnobelpreisträger“, der zu den „unverwechselbaren Figuren der europäischen Literatur nach 1945“ gehöre. Er sei ein „Prediger mit Pfiff“ und ein „professioneller Prophet, dem es gefällt, Schreckliches zu verkünden, und dem es gelingt, dabei niemandem die Laune zu verderben“. Seltenes weihevolles Lob aus höchst berufenem Munde. Anlauf mit Hindernissen. Inzwischen ist es Abend geworden. Die 125-Kilometer-Strecke von Genf liegt hinter uns. Wir haben uns im erstbesten Hotel in Neuchâtel einquartiert, stärken uns und besprechen den nächsten Tag. Bei aller Euphorie über die endlich gelungene Absprache mit Dürrenmatt hatte ich geknurrt, dass er uns erst 14.30 Uhr empfangen kann, womit wir in zeitliche Schwierigkeiten kamen. Denn noch am selben Tag müssen wir nach Paris weiterziehen, um anderntags fit zu sein für den nächsten Ausritt zum Europäischen Parlament nach Straßburg und endlich mal wieder eigene Betten zu fühlen. Und als Kraftfahrer im Nebenberuf sollte man schließlich ausgeschlafen sein. Denn die morgen zu bewältigende Strecke Neuchâtel-Paris und die übermorgen anstehende Distanz Paris – Straßburg fordern das annähernd gleiche Fahrpensum von jeweils 500 Kilometern. So gesehen finde ich nun den Nachmittagstermin ganz passabel, der uns ein wenig Zeit zum Ausruhen gibt – und mir zusätzlich die Chance, mich von einem gemeinen Schnupfen noch etwas auszukurieren. Niemand in Berlin hätte uns mit Vorwürfen traktiert, wenn der Beitrag ins Wasser des Neustädter Sees gefallen wäre, denn er war nicht Pflicht, sondern Kür, ein selbst gestellter Auftrag für unser außenpolitisches Magazin Objektiv. Redaktionsleiter Paul Rummel und Moderator Ulrich Makosch hatten einen Nerv auch für solche Beiträge mit kultureller Westprominenz, die zudem eine beachtliche Zuschauerresonanz auslösten. Das Problem bestand nur darin, dass ich nicht einfach aus meiner Tagesarbeit ausbrechen konnte, um wegen eines gesonderten Dürrenmatt-Sujets – obwohl eine kostbare Rarität – von Paris in die Schweiz zu preschen. Die Berichterstattung über die Aktualitäten hatte Vorrang. So übte ich mich immer wieder in der Kunst, den Zeitpunkt des Treffens mit einem außergewöhnlichen Interview-Partner in Einklang zu bringen mit den Terminen der großen Politik – in diesem Fall einen selten freien Kalenderplatz des viel beschäftigten Dürrenmatt in die Reihe zu bekommen mit den Terminen in Genf, die von UNO-Ausschuss-Tagungen bis zu Abrüstungsverhandlungen ein randvolles Programm umfassten. Nicht auszudenken, wenn – was öfter vorkam – in Genf ein plötzliches Zusatzereignis unsere Heimreise verzögert und damit unseren vereinbarten Unterwegs-Treff verhindert hätte. Ein Eklat der Sonderklasse. Das war oft mein Albtraum und mein Risiko – und es wundert mich heute noch, dass immer alles gut ging. Dabei denke ich mit Hochachtung an die Leistungen meiner über die Jahre wechselnden Kameramänner Eberhard Güldner, Wolfgang Groth, Horst Rudolph und Helmut Kessner, die oft unter extremem Zeitdruck sich einer plötzlich vorgefundenen Situation anpassen und aus dem Stand improvisieren mussten. Wenn beide Frauen im Büro beschäftigt waren und keine von ihnen bei der Produktion helfen konnte, hatte sich mein Kamera-Partner – während ich das Interview vorbereitete – gleichzeitig um Bild, Ton und Licht zu kümmern. So waren unsere Nebenbei-Produktionen mit schillernden Persönlichkeiten der westeuropäischen Kunst- und Kulturszene jedesmal ein Drahtseilakt mit dem Risiko eines plötzlichen Absturzes. Das aber durfte auch jetzt schon deshalb nicht passieren, weil ich viel zu lange um das Treffen mit dem kauzigen Meisterpoeten gekämpft und dabei viel Enttäuschung in Kauf genommen hatte. Dazu gehört auch eine arrogante Abfuhr von Charlotte Kerr, einer Schauspielerin, Regisseurin und Filmproduzentin, mit der Dürrenmatt in zweiter Ehe verheiratet war. Als ich ihr am Telefon höflich meine Bitte vortrug, meinte sie, ich möge mir erst einmal ihr vier Jahre zuvor gefilmtes „Porträt eines Planeten“ über ihren Mann ansehen. Dann könne ich untertänigst noch mal anfragen. Um drei Ecken bekam ich eines Tages heraus, dass sie für einige Tage nach Griechenland musste. Ich rief flugs an und hatte ihn persönlich am Rohr. „Nein“, wehrte er in seiner behäbig langsamen Sprechweise ab, „nein, das Wochenende 17. und 18. September geht überhaupt nicht. Sonnabend und Sonntag sind meine großen Arbeitstage.“ Dann das erlösende Wort: „Sagen wir mal am Montag, ja, das geht.“ Damit war der 19. September festgezurrt. Und Datum und Ort auch: 14.30 Uhr bei ihm zu Hause im „Chemin du Pertuis-du-Sault 76“, versehen mit einem Hinweis des Hausherrn: „Sie müssen da zu mir heraufsteigen, weil der Weg den Berg hochgeht.“ Das war eine Top-Information, denn den schmalen, steilen Geröllpfad hätte ich nie gelten lassen als Zugang zum Anwesen eines Weltmeisters der Literatur. Dass er sich den Wolken näher als seine Mitbürger im Tal eingerichtet hat – diese äußerliche Ortswahl schien mir symptomatisch auch für seine innere Position. Denn der produktive streitbare Philosoph und brillante Schreiber versucht, sich über Zeit und Raum und alle Ideologien und Klassen zu erheben, um unbeeinflusst, unabhängig, unbestechlich seine Umgebung und die Welt feinsinnig, hintersinnig und scharfsinnig zu analysieren. Nachdem er auf der Suche nach Wahrheit und Klarheit die Felsen seiner Gedanken hin- und hergewälzt hat, lässt er diese Welt dann auf seine satirische Weise mit erschreckend brutalen Metaphern ihren verkrüppelten Zustand wissen. Wer diesen der Gesellschaft vorgehaltenen Zerrspiegel aushält, wird Dürrenmatts oft schwarzhumorig überspitztes Abbild der Wirklichkeit mit Interesse, Selbstbesinnung und Dank für die vielen Kerzen der Erleuchtung zur Kenntnis nehmen. Abgrundböses als Verlockung des Kapitals. Zur sarkastischen Perfektion gebracht hat Dürrenmatt die wahnwitzige Überhöhung gesellschaftlicher Kapital-Realität mit scherenschnittartig deutlichen Konturen in seinem bitterbösen Drama „Der Besuch der alten Dame“. Die in der Ferne steinreich gewordene Claire Zachanassian kehrt in ihren Heimatort St. Güllen zurück und verlässt sich bei einem höchst privaten Rachefeldzug auf die Alleskäuflichkeit einer Kapitalwelt. Das funktioniert mit teuflischem Erfolg, denn eine ganze Stadt lässt sich nach anfänglicher Entrüstung für einen Milliarden-Scheck dazu verleiten, in einer gemeinsamen Aktion ihren einstigen Geliebten zu ermorden, der sie in jungen Jahren schändlich belogen und betrogen hat. Der Bürgermeister, der sich zunächst am meisten empört hat, führt das Exekutionskommando an. Claire verlässt die Richtstätte mit dem Rachestolz einer bewältigten Vergangenheit, mit der Verachtung für das Gesindel ihrer früheren Mitbürger und mit der Bestätigung: Moral und Gewissen sind käuflich und auch Gesetze lassen sich zurechtbiegen, wenn genug Geld dafür fließt. Alles ist möglich, wenn die Summe nur hoch genug ist. Gerechtigkeit durch ein Verbrechen. Pervers bis in jede Pore des gesellschaftlichen Korpus. Eine blutige Verlockung des Kapitals. Das diabolisch Deprimierende an dieser Fabel ist, dass man sich die Absurdität des Geschehens durch den logischen Ablauf der Handlung durchaus in der Realität vorstellen kann. Nicht zuletzt deshalb war die 1956 erstmals auf die Bühne gebrachte Satire eine Sensation, kam ins Kino und ins Fernsehen. So, wie das schrullige amerikanische Schriftsteller-Faktotum Truman Capote mit „Kaltblütig“ ein neues Genre des Tatsachenromans erfunden hat, schuf der schweizerische Herkules des Wortes die literarische Stilneuheit einer gesellschaftskritischen, von Tragik durchwobenen rabenschwarzen Groteske mit satirischem Krimi-Touch. Der Genre-Anachronismus einer karikaturenhaften Tragi-Komödie wurde damit zu seiner ureigenen schriftstellerischen Domäne. Sie reiht sich ein in den vielschichtigen Fundus von Dramen, Prosa- und Lyrik-Werken, in denen das Paradoxe im Verbund mit dem Absurden Triumphe feiert und damit dem normalerweise denkenden Lebewesen Mensch eine mögliche Unmöglichkeit seiner Wirklichkeit präsentiert wird. Ob er in der Lage ist, dieses Zerrbild nicht als Fantasterei, sondern als seine eigene verrückte Realität zu erkennen, wagte der Pessimist Dürrenmatt immer wieder zu bezweifeln. Der heutige Zustand der Welt mit ihrer kaputten Wirklichkeit bestätigt es ihm. Was der Meisterschreiber der Allgemeinheit über mehr als 45 Jahre an Theaterdichtung und Spannungsliteratur geschenkt hat, schwimmt heute immer mehr in der seichten Flüchtigkeit unserer Digitalwelt davon. Es trifft aber mit den weiter gewachsenen Ängsten, Ungewissheiten, Zweifeln und Unsicherheiten noch intensiver den warnenden Nerv eines Dürrenmatt, der sich Zeit seines Lebens vor menschlicher Ignoranz, Dummheit und Aggressivität fürchtete. Zu Recht, wie sich in fast zeitloser Erkenntnis herausstellt. Dürrenmatt hat die Frage umgetrieben: Ist der denkende Mensch auch zum Nachdenken fähig? Das müsste er heute umso mehr bei den untrüglichen Hinweisen des Literaten über den hilflos-katastrophalen Zustand der Erde. Ihre Bewohner, höre ich ihn sagen, müssten da doch weidlich ins Grübeln kommen. Müssten! Die unglaubliche Schmollphase eines Weltliteraten. Wir haben uns mithilfe der Stadtkarte am Bahnhof vorbei an den steil nach oben führenden Bergpfad herangepirscht. Er soll uns zu Dürrenmatts Wohn- und Arbeitsdomizil bringen. Zur Linken ansteigender Wald, zur Rechten der Neuenburger See. Dann erklimmen wir im motorisierten Schneckentempo und im Staub der Autoreifen Meter für Meter den steinigen Weg, im Kofferraum Filmkamera, Tongerät, Lichtkoffer und Stative. Wir, das sind mit mir Kameramann Wolfgang Groth, seine Frau Evelyn als Aufnahmeleiterin sowie meine Marion als – wie es offiziell im Arbeitsvertrag heißt – „Assistentin des Korrespondenten“. Zudem sind beide Frauen in Stress-Situationen „Mädchen für alles“ in unserem Viererteam. Es wurde wieder einmal in voller Besetzung in Genf gebraucht, weil wir auf mehreren Parallel-Hochzeiten der aktuellen Politik tanzen mussten. Nun haben wir auf der Rückreise nach Paris den geplanten Zwischenstopp eingelegt, um uns und allen Dürrenmatt-Lesern einen lang gehegten Wunsch zu erfüllen. Ich trete das Bremspedal. Endlich eine Hausnummer! Die 76. Also richtig! Das Glück einer Parknische im Grünen. Vor uns ein blättergetarnter Eingang an einer Hauswand in Hanglage. Eine Frau öffnet die Pforte, stellt sich als seine Sekretärin Frau Tannwälder vor und ist erschrocken: „Sie kommen zu viert?“ Auch der Meister begrüßt uns – gelinde ausgedrückt – mit verhaltener Freude. Offensichtlich ist er verärgert über meine Frechheit, statt zu zweit in doppelter Besetzung bei ihm einzufallen. Ein gezielter Boxhieb oberhalb der Gürtellinie und trotzdem ein Tiefschlag für mich, ein Schlag auf mein schlechtes Gewissen, das ich ohnehin schon im Vorfeld hatte. Fertiggebracht habe ich es trotzdem nicht, meinen Mitstreiterinnen das Erlebnis Dürrenmatt vorzuenthalten. Die Quittung bekomme ich jetzt. Der siegreiche Matador in der Arena der literarischen Weltklasse geht – gemäß seiner filigranen Denkart – nicht mit dem Säbel auf mich los, sondern mit dem Florett. Es schmerzt trotzdem, denn er trifft wunde Stellen. Ich fasse es nicht: Der große Dürrenmatt schmollt. Er schmollt auf Deutsch. Schon das zeigt seine verinnerlichte Oppositionshaltung, die er zumindest sprachlich sogar zu seinem Wohnort hat, denn im östlich dem Juragebirge vorgelagerten Neuchâtel spricht man Französisch. Aber nicht ein Dürrenmatt, der sich auch hier nicht einordnet, wie er sich überhaupt in keine Schublade stecken lässt. Ja, er spricht und schreibt Deutsch, aber das hört sich bei ihm eher an wie das Aneinanderreihen langgezogener Vokabeln, das ich „Deutscheln“ nennen würde. Dieses gemütlich-gamächlich-bedächtige „Deutscheln“ steht im krassen Widerspruch zu seiner Gottesgabe einer blitzgescheiten Auffassung mit ebensolch geschwinder Beurteilung, die sich wiederum vor überschneller Aburteilung hütet. Eine beneidenswerte Gabe. Er ist jetzt 67. Eine etwas füllige Gestalt mit einem breitflächigen, leicht teigigen Gesicht, das von einer großgläsrigen Viereckbrille mit auffallend dunklem Rahmen beherrscht wird. Ein weißfasriger Haarkranz gibt eine bis in den Hinterkopf gezogene Denkerstirn frei, die nun in Falten liegt. Er empfängt uns in salopp-chicer Tagesgarderobe. Hellkariertes Sakko, dunkle Weste über weißem Hemd, das mit offenem Kragen auf eine Krawatte verzichtet. Ich stelle uns in aller Form vor und bedanke mich für die Möglichkeit dieses Treffens. Er gibt auch den Damen die Hand, würdigt sie danach aber kaum mehr eines Blickes. Nicht der alleinige Ausdruck seines Ärgers, denn er bittet mich, ihm die Fragen des Interviews mitzuteilen. Ich entgegne ihm bass erstaunt, dass dies doch in der westlichen Pressepraxis nicht üblich sei. Er besteht darauf, was ich nunmehr als Schikane deute, sage mir aber, dass man solch launische Willkür einer Berühmtheit wie ihm zugestehen müsse – habe ich doch auch kapriziöse Überheblichkeiten bei DDR-Künstlern wie dem allseits verehrten Schauspieler Eberhard Esche erlebt, der sich bei einer Heine-Rezitation über mangelnde Presse-Aufmerksamkeit beschwerte und uns gleichzeitig deren Mitschnitt verbieten wollte. Also sehe ich es gelassen und sage Herrn Dürrenmatt eine meiner beabsichtigten Fragen, die sich auf eine doppelsinnige Stelle in einem seiner Theaterstücke bezieht und die ich gern näher erklärt haben möchte. Er behauptet sofort, dass er dies so nicht geschrieben habe. Ich bin sicher, dieses Zitat akribisch notiert zu haben und nenne ihm Buchausgabe, Erscheinungsjahr, Verlag und Seitenzahl. Er scheint verblüfft, taucht in eine monströse Regalwand seiner Bücherwelt ein, sucht und findet. Seine Stirnfalten glätten sich. Er beanstandet ein falsch gesetztes Komma, was ihm wohl selbst lächerlich vorkommt, und scheint besänftigt. Er registriert mit offensichtlichem Wohlwollen, wie intensiv ich mich mit seinem Schaffen auseinandersetze, zumal alle seine Hauptwerke auch im DDR-Verlag „Volk und Welt“ erschienen sind. Ich schiebe nach, dass im nächsten Jahr seine Novelle „Der Auftrag“ hinzukommt. Er wird schlagartig zugänglich und verzichtet auf die Bekanntgabe weiterer Fragen zum Interview, das ich schon in Gefahr gesehen habe. Der Meister des Dramas beherrscht also auch das Genre der undramatischen Deeskalation. Über die Wichtigkeit eines geräuschlosen Bleistifts. Auch von mir fällt die Spannung ab und ich sage mir: Er ist sogar für westliche Obrigkeiten ein respektloser sozial- und moralkritischer Provokateur; also warum sollte er es nicht erst recht für mich sein als ein für ihn kleiner DDR-Journalist. Er kredenzt uns allen einen Espresso, der – gemessen an der Menge arabischer Kaffeebohnen – kaum zu überbieten ist. Ab jetzt genieße ich die Sternstunde dieses Treffens und den phänomenalen Ausblick auf den See und die Alpen, die heute nur durch einen leichten Dunstschleier als Silhouette am Horizont zu erkennen sind. Dürrenmatt mag Tiere. Ich vermisse seinen berühmten weißen Kakadu Lulu, den ich auf Fotos bewundert habe. Dafür begrüßt uns nun das Prachtexemplar eines Schäferhundes, dessen Fell sein Herrchen liebevoll grault. Kaum ist mir das Wort „Herrchen“ entschlüpft, wiederholt er es mit brachialer komödiantischer Wollust. Nun erlebe ich in einer privaten Live-Vorstellung den spöttelnden Stegreif-Fabulierer: „Herrchen! Das ist so schön typisch Deutsch. Wenn schon nicht Herr, dann wenigstens Herrchen. Das ist gut. Bitte untertänigst um Verzeihung, mein Herrchen. Wunderbar!“ Er sonnt sich in der Entdeckung dieser sprachlichen Köstlichkeit. Sein Schmunzeln verrät diebische Freude. Ich frage ihn, was er von dem verbalen Paradoxon „Herrin“ hält. Im alten Rom war das sogar die offizielle Anrede für Kaiserin Messalina. Sie war „Herrin“ über Leben und Tod. Das gefällt ihm. Auch die deutsche Sprache, so meint er, treibe bisweilen drollige Blüten und die sollte man ruhig pflücken
Milva. glänzte als Pop-Diva und Schauspiel-Ikone, bis sie in einen Strudel der Selbstzerstörung stürzte. Im selbstkritischen Klartext gesprochen war es ein rüder Überfall, den ich auch mit jahrelangem Abstand zu damals nicht gutheiße. Wohl aber das Ergebnis. Der Weg zum Drehort war diesmal angenehm kurz. Das Musiktheater Châtelet war nur wenige Kilometer und einige Fahrminuten entfernt von unserem Fernsehbüro im Pariser Vorort Boulogne-Billancourt. Es war ein ungemütlich kaltwindiger, dunkelschattiger Vorwintertag, an dem wir über die Uferstraße an der Seine zum Objekt unserer Hoffnungen rollten. Der Himmel war so fest mit grauwolkigen Brettern vernagelt, dass die Sonne nicht die geringste Chance bekam und sich in ihren total weggesperrten Zustand fügen musste. Deshalb verschoben wir eine Außenaufnahme des imposanten Kuppelbaus auf himmelblaue, sonnigere Stunden, um seine reich verzierte Fassade mit den hohen Bogenfenstern ins bessere Licht zu setzen. Vor allem aber drängte uns der Termin für ein Treffen mit der Bühnen-Berühmtheit Milva, von dem sie selbst noch nichts wusste. Im Pariser Theaterplan für das kommende Jahr 1987 hatte ich gelesen, dass eine der Sensationen die Premiere einer viereinhalbstündigen Neufassung von Bertold Brechts „Dreigroschenoper“ sein würde, in Szene gesetzt von Georgio Strehler, einem namhaften italienischen Theaterregisseur. Als eine der Mitwirkenden wurde Milva genannt. Sie stand schon eine geraume Weile auf der Personalliste meiner journalistischen Begehrlichkeiten, war uns aber immer wieder entwischt. Wenn wir mal zur tagesaktuellen Berichterstattung in Italien aufkreuzten und hofften, sie in ihrer Heimat treffen zu können, war sie gerade dort, wo wir nicht waren. Nun aber absolvierte sie tagtäglich, wie ich erfuhr, eine Generalprobe zum Brecht-Stück, in dem sie die Seeräuber-Jenny spielte. Mehrfach hatte ich den Regisseur um ein Interview mit ihr vor, nach oder während der Probe ersucht. Ich wartete stets vergeblich auf eine Antwort. Entweder meine Bitte hatte ihn erst gar nicht erreicht oder er wollte keinen seiner Mitwirkenden bevorzugen, was vielleicht unnötig böses Blut bei den anderen geschaffen hätte. Das war verständlich, half mir aber nicht. Die Chance war greifbar nahe, zerbröselte aber am Widerstand des Chefs. Was tun? In solchen Situationen waren Ideen gefragt, mitunter auch ein gewagter Einfall oder eine vertretbare kleine Notlüge, die der Herrgott seinem ehemaligen Messdiener vielleicht als lässliche Sünde würde durchgehen lassen.Unser Bestreben musste es sein, auf irgendeine Weise während ihrer Proben ins Haus zu gelangen. Waren wir einmal drin, würde sich schon eine Möglichkeit finden, die Aktrice zu treffen. Also musste ein unverfänglicher Grund her, um mit Filmtechnik eingelassen zu werden – ein Grund, der nichts mit der „Dreigroschenoper“ und erst recht nichts mit Milva zu tun hatte, aber einleuchtend war. Also grub ich eifrig in den Archiven des Châtelet-Theaters nach wertvollem Material und fand Gold. Der größte Musentempel an der Seine wurde im April 1862 feierlich eingeweiht in der hochwohllöblichen Anwesenheit ihrer Majestät Kaiserin Eugénie de Montijo, die als Ehefrau Napoleons III. Frankreich als seine letzte Monarchin regierte. Da das Kalenderblatt den Monat November anno 1986 zeigte, war es also nicht mal mehr ein halbes Jahr bis zum 125. Jahrestag der Eröffnung des Festspielhauses. Also beantragte ich anlässlich dieses bevorstehenden Jubiläums bei der Presseabteilung Dreharbeiten, um das Theater in einem Fernsehbeitrag vorzustellen. Der Antrag wurde sofort genehmigt. Der Weg ins Ungewisse einer Milva-Bekanntschaft war frei. Wie immer mein Plan ausgehen würde – ich klopfte mir wie der Film-Egon von der Olsenbande selbst auf die Schulter und fand den Plan wie er „genial“, „todsicher“ und „mächtig gewaltig“. Ich hoffte nur, dass es mir nicht wie Egon Olsen mit seinen „raffinierten Tricks“ erging, die allesamt im Chaos endeten. Aber das Risiko wollte ich eingehen, weil ich einfach daran glaubte, dass die Diva uns verstehen würde und vielleicht auch ein wenig geschmeichelt wäre. Das ungewisse Warten auf eine gewisse Ikone. Zunächst war keine Gefahr im Verzug, denn auf unseren offiziellen Antrag und die offizielle Bestätigung hin wurden wir auch offiziell eingelassen. Nun folgte der illegale Teil, unbemerkt bis zu Milvas Garderobe vorzudringen. An meiner Seite Kameramann Eberhard Güldner, ein Meister seines Faches, der aber spektakuläre Aktionen verabscheute, was ich durchaus verstand. Schließlich wollten und sollten wir uns als DDR-Fernsehen von der Skrupellosigkeit und Rücksichtslosigkeit westlicher Paparazzi distanzieren, die eine Prinzessin Diana noch beim Todeskampf im Autowrack des Pariser Alma-Tunnels im Fokus gehabt haben sollen. In diesem Falle konnte ich den Ansatz zum Paparazzitum mit reinem Gewissen rechtfertigen, zumal es eine Softvariante war. Der journalistische Überfall brachte keine horrenden Geldsummen für Promi-Bilder und alle von mir bemühten Verantwortlichen hatten mich verraten, hatten mir am Telefon fest versprochen, sich bei der berühmten Italienerin für meine Bitte um ein Interview starkzumachen und mir schnellstmöglich Bescheid zu geben. Da dieses „schnellstmöglich“ nun schon zwei lange ergebnislose Wochen dauerte, redete ich mir die Berechtigung ein, das Heft nun selbst in die Hand zu nehmen. Außerdem sei zu meiner moralischen Rechtfertigung vermerkt, dass ich die als Vorwand benutzte Reportage zum Theater-Jubiläum später nachgeholt habe. So war ich denn mit harmloser List und Tücke, mit ein wenig Glück und meinem Presseausweis bis zu einer Garderobe vorgedrungen, auf deren Tür ich den in handschriftlicher Akkuratesse überdeutlich akzentuierten Namen „Milva“ buchstabierte. Zuvor hatte ich Pforten passiert mit den Namen „Heltau“ und „Sukowa“. Auch die waren mir ein Begriff und ebenfalls im Programmheft zu Bertold Brechts „Dreigroschenoper“ nachzulesen. Dort war unter der Rubrik „Darsteller“ annonciert, dass der Wiener Burgschauspieler Michael Heltau den Gaunerboss Mackie Messer gibt und seine heimlich angeheiratete Frau Polly von der westdeutschen Filmbekanntheit Barbara Sukowa verkörpert wird. Sie wurde im selben Jahr 1986 für ihre beeindruckende Darstellung der Rosa Luxemburg in Margarethe von Trottas gleichnamigem Film als beste Darstellerin sowohl bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes ausgezeichnet als auch mit dem bundesdeutschen Filmpreis in Gold geehrt. Die Dirnenrolle der Seeräuber-Jenny war in der Pariser Aufführung der italienischen Sängerin Milva vorbehalten. Auf sie warten wir nun. Dreharbeiten während der künftigen Abendvorstellungen, so wurde mir mitgeteilt, werden verboten sein. Die Premiere stand bevor, die Zeit drängte also, und ich wollte nicht länger auf die Nudel geschoben werden. Wenn es uns schon nicht möglich war, bei den Proben dabei zu sein, so wollte ich also zumindest eine unverhoffte Begegnung mit Milva versuchen, denn sie umgab das besondere Flair einer künstlerischen Vielseitigkeit, die ihr weltweite Anerkennung eingebracht hatte. Aber sie kommt nicht. Schon gut zwei Stunden lungern wir nun schon vor ihrer verschlossenen Garderobe herum und ich habe viel Zeit, über sie, die Brecht-Aufführung und meine Interviewfragen nachzudenken. Das Stück mit Musik von Kurt Weill war schon 1928 im Berliner Theater am Schiffbauerdamm uraufgeführt worden. Nun soll es unter der Regie des Brecht-Spezialisten Georgio Strehler in einer von vornherein viel beachteten Neuinszenierung mit Künstlern aus fünf Ländern im „Théâtre musical de Paris“ eine neuartige Inszenierung erleben. Der Ort war gut gewählt, ist doch die altehrwürdige, 1862 eröffnete Bühne an der Place Chatelet mit Opern, Konzerten und interessant gestalteten Neuauflagen klassischer Stücke berühmt geworden. Auch auf der Pressekonferenz von Strehler hatte ich versucht, Milva vor die Kamera zu bekommen. Vorsichtshalber war sie gar nicht erst erschienen. Ein Filmporträt über die schöne Südländerin oder zumindest eine Mikrofon-Plauderei hatte ich – wie gesagt – schon lange vor, denn ich bewunderte seit jeher die konsequente Eigenwilligkeit, mit der sich die international gefeierte Künstlerin sowohl der Filmeinseitigkeit als auch den üblichen musikalischen Schablonen entzieht und sich quer durch alle Genres unterschiedlichster Stilrichtungen singt. Sie arbeitete ebenso zusammen mit dem Erfinder des Sirtaki, dem griechischen Komponisten Mikis Theodorakis, wie mit dem Pionier des „Happy Partysound“, dem deutschen Orchesterchef James Last, und dem Begründer des „Tango Nuevo“, dem grandiosen argentinischen Bandoneon-Spieler Astor Piazzolla. Und sie glänzte mit Schlagern in den deutschen Hitparaden ebenso wie mit Piaf-Liedern im legendären Pariser „Olympia“ Die italienische Rothaar-Schönheit sang sich quer durch alle Musikgenres, integrierte unterschiedliche Stilrichtungen, trat in Musicals, Bühnenshows und Opern auf, begeisterte mit Vokalexperimenten und Volksliedern des Komponisten Luciano Berio auf diversen Alben und mit Konzerten klassischer Stücke an der Santory Hall in Tokio, der Mailänder Scala oder der Londoner Royal Albert Hall. Später gastiert sie an der Deutschen Oper in Westberlin wie auch im Friedrichstadtpalast in Ostberlin. Sie macht eine Neuauflage des klassischen Tangos populär und wird für ihre grandiose Interpretation der Stücke von Bertold Brecht und seinem Leib- und Magenkomponisten Kurt Weill gefeiert. Sie brilliert in ihrem satirischen Ballett „Die sieben Todsünden der Kleinbürger“ und präsentiert ihre Songs in einer einfühlsamen Weise, die ihr eine weltweite Reputation beschert. Nun erwarten wir sie auf gut Glück in diesem altehrwürdigen Gemäuer. Das im italienischen Stil gebaute Haus im Herzen von Paris atmet Geschichte. Es entstand in den Jahren um 1860 mit der imposanten Kapazität von 2000 Zuschauerplätzen und wurde in der Neuzeit in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Der freskengeschmückte Musentempel empfing Weltberühmtheiten wie die Tanz- und Showkönigin Josephine Baker, die „Grande dame de la chanson“ Juliette Gréco und den Musical-Meister Cole Porter. Große Komponisten wie Peter Tschaikowski, Gustav Mahler und Richard Strauss schwangen hier den Taktstock. Und auf der Châtelet-Bühne wurde auch Igor Strawinskys Ballett „Petruschka“ uraufgeführt. In diese großen Fußstapfen tritt nun also der italienische Theaterregisseur Giorgio Strehler. Dass der renommierte Brechtkenner Milva in seine Pariser Neuinszenierung der „Dreigroschenoper“ eingebunden hat, ist kein Zufall. Sie war 26 und hatte erste Anfangserfolge, als er sie 1965 an sein „Piccolo Teatro“ in Mailand holte. Strehler, der als Brecht-Spezialist von Format gilt, förderte und forderte sie, sodass sie sechs Jahre nach ihrem Theater-Einstieg mit ihrer Langspielplatte „Milva canta Brecht“ den deutschen Großmeister des epischen Theaters nach Italien brachte und zugleich internationales Aufsehen erregte. Der Grundstein für eine Weltkarriere war gelegt. Seither gilt sie als ideale Brecht-Interpretin gemeinsam mit Lotte Lenya, der Frau des Brecht-Komponisten Kurt Weill, und der DDR-Chansonette Gisela May, die Brechts „Friedenslied“ sogar im New Yorker UNO-Gebäude vortragen durfte. Das Geheimnis der feuerroten Haare. Ich verriegle den Fluss meiner Gedanken, denn als ich meine Waghalsigkeit fast schon bereue und zum Rückzug blasen will, kommt sie. Nicht wie auf den Schnappschüssen von kunterbunten Illustrierten mit Riesenhut und großer Brille, denn hier im Theater muss sie ihr Gesicht nicht vor einer sie bedrängenden Presse verstecken. Hier, in ihrem Musentempel, ist sie sicher vor Presseverfolgung, hat sie die Geborgenheit der Intimität. Dass ihr auch hier die Presse auflauert, erfasst sie mit einem ungläubigen Blick. Als ihr Schritt stockt, ist der Moment der Wahrheit da, den ich natürlich befürchtet und einkalkuliert habe. Nun wird es sich also zeigen, ob unsere Beharrlichkeit gnädiges Verständnis findet oder ob die Dame von Welt zetert und uns in hohem Bogen rauswirft. In diesem Fall wäre zu hoffen, dass sie nicht noch Sicherheitsbeamte holt und uns wegen Hausfriedensbruchs belangt. Das wäre ihr nicht zu verdenken, denn wegen dieser frechen Überrumpelung wäre ihre allseits bekannte impulsive Neigung zu temperamentvollen Gemütsausbrüchen der italienischen Art vollauf berechtigt. Ein reuevolles, schuldbewusstes Gesicht muss ich nicht aufsetzen, denn ich habe wirklich eins. Deshalb klingt es wohl auch sehr ehrlich, als ich uns vorstelle und mich für die unpassende Störung nach ihrer sicherlich anstrengenden Theaterprobe entschuldige. Aber ich hätte, so werbe ich um Verständnis, alle legalen Wege für ein Treffen mit ihr versucht und ein Interview sei im Prinzip auch schon zugesagt, weshalb wir hier schon ewig ausharren. Dann gehe ich mit aller gebotenen Vorsicht zum Angriff über und sage im höflichsten Französisch, dessen ich fähig bin, dass es meiner Ansicht nach nicht allzu vermessen sei, fürs Ostfernsehen um ein Interview zu bitten, nachdem das DDR-Level „Amiga“ schon seit fünf Jahren Platten von ihr herausbringt. Das scheint sie endgültig zu überzeugen. Der befürchtete Vulkanausbruch bleibt aus. Kein Vesuv, kein Zorn, keine Unwirschheit. Das Gegenteil tritt ein. Sie scheint einerseits gerührt von so viel praktizierter Hartnäckigkeit und andererseits verblüfft über so viel offen zugegebene Frechheit. Vielleicht ist sie auch ein wenig geschmeichelt, dass es einem Fernsehteam wert ist, sie so außergewöhnlich geduldig zu belagern und dabei das Risiko einer Anzeige oder zumindest einer Absage in Kauf zu nehmen. Oder hat sie sich resignativ der Situation ausgeliefert, um nach harter Arbeit einfach Ruhe zu haben? Das Ergebnis ist dasselbe. Sie schließt die Tür auf, winkt uns in ihre Garderobe. Geschafft! Im doppelten Sinne des Wortes. Der Anlauf ist geschafft und ich bin es auch. Aber heilfroh, dass es so glimpflich abgelaufen ist. Denn auch auf den Showbühnen der Welt hat die exotische Schönheit Beifallsstürme ausgelöst nicht nur durch ihre faszinierend glutvolle Stimme mit dem betont rollenden „R“, sondern auch durch ihre unnachahmliche Fähigkeit, aus leisen, sanften Tönen heraus urplötzlich zu einem Feuerwerk an Gestik, Mimik und Rhythmus zu explodieren. Jetzt nichts von alledem. Nur Sanftmut. Die Person, der die Presse eine „atemberaubende Virtuosität“ bescheinigt, ist sichtlich erschöpft von den Proben. Was mir ein freimütiges Geständnis ins Gedächtnis ruft, das ich einmal von der scheinbar nimmermüden Powerfrau gehört habe: Sie sei „vor jedem Auftritt ein wahres Nervenbündel und danach leer, müde und kaputt“. Das scheint auch für die Proben zuzutreffen, die sie als vorweggenommene Vorstellung ansieht. Volle Hingabe und keine Schonung! Sie schiebt mir freundlich und interviewergeben einen wackligen Stuhl zu. Dann überrascht sie mich durch eine uneitle Lockerheit. Sie dreht sich zum neonbeleuchteten Garderobenspiegel und schminkt sich ab, entfernt Bänder und Kämme aus ihrer feuerroten dichten Haarpracht, die sie für ihre Rolle hochgesteckt hat und die nun über ihre Schultern nahezu hüftlang herunterquillt. Die, so sagt sie mir mit leicht belustigter Stimme, habe sie seit ihrem 19. Lebensjahr, als sie ihre Friseurin dazu überredet habe. Da ihre Umgebung und auch sie selbst diese Farbe besser fand als ihre naturdunklen Haare, habe sie das Rot intensiver nachkolorieren lassen und es bis heute beibehalten. Auf dem Garderobentisch liegt ihre Silberkette mit Kreuz, die privat und auf der Bühne nicht wegzudenken ist, die sie aber als gespielte Prostituierte nicht tragen will. Ich habe Zeit, sie in ehrfürchtiger Ruhe zu mustern. Auf sexy schlanker Figur ein schwarzes Zipfelkleid mit halblangen Ärmeln, die durchsichtig sind wie der etwas frivol wirkende Ausschnitt ihres Dekolletés, das den Busenansatz durchschimmern lässt. Klar, dass eine Spelunken-Jenny oder Seeräuber-Jenny kein Ballkleid trägt! Und dann eben das unverkennbare wallende intensiv kolorierte Rothaar, ohne das eine Milva nicht denkbar wäre. „La Rossa“ – „die Rote“ nennen sie ihre italienischen Landsleute in Doppeldeutigkeit zu ihrer auffallend roten Mähne und ihrer roten Gesinnung. Auch diese sozialistische Linksorientiertheit verbindet sie mit Brecht. In Milva hatte die Presse ihrer Heimat ein Promi-Medium, an dem sie ihre Fantasie auslassen konnte. Auch ihr zweiter Spitzname war treffend gewählt. „La Pantera di Goro“ – „Die Pantherin von Goro“ in Anspielung auf ihre geschmeidigen Show-Bewegungen, die Sprungbereitschaft zu symbolisieren scheinen, und auf eine italienische Kleinstadt. Hier in Goro an der nördlichen Adriaküste wurde sie am 17. Juli 1939 in das faschistische Regime von Diktator Mussolini hineingeboren. Ihre Kindheitserlebnisse der Kriegs- und Nachkriegszeit könnten ausschlaggebend für ihre linke Einstellung gewesen sein. Angeblich war dem Gemeindebeamten der Name Maria-Ilva Biolcati zu lang, sodass er ihn im Taufregister als „Maria Ilva“ eintrug, woraus später das Kürzel Milva wurde. Duell zwischen „Pantherin“ und „Tigerin“ „Die Pantherin“ war das konträre Pendant zum Titel „Tigre di Cremona“ – „Tigerin von Cremona“, mit dem die Medien ganz bewusst und konfrontativ Milvas Rivalin Mina bedachten. Charakterisiert werden sollte damit ihre stets angriffsbereite Kämpfernatur als Feministin mit Bezug auf die Hauptstadt Cremona ihrer Geburtsregion Lombardei. Milva und Mina. Beide Italienerinnen vereint ein glamouröses Drama. Sie hatten als Schlagersternchen 1961 beim San-Remo-Festival als erbitterte Konkurrentinnen hart um den Sieg gerungen, aber keiner war er vergönnt. Allerdings wurde Milva Vize-Champion vor der unwesentlich älteren Mina, die auf dem undankbaren dritten Platz landete. Sie revanchierte sich ein Jahr später mit dem Riesenhit „Heißer Sand“. Nachdem sie damit weltweit eine Million Platten verkauft hatte, erreichte die zur Höchstform aufgelaufene Mina mit einer Flut von Neuerscheinungen 25-mal die Spitze der italienischen Albumcharts. Während es jedoch Ende der 1970er langsam ruhiger um die einst als „Primadonna des italienischen Pop“ umschwärmte Sängerin wurde, befand sich die Karriere von Milva immer steiler im Aufwind. Und während Mina ihren internationalen Top-Hit mit der düsteren Geschichte vom heißen Sand, dem verlorenen Land, dem Leben in Gefahr, dem schwarzen Tino und seinem beseitigten Rivalen Rokko mit solch außergewöhnlichem Erfolg nicht wiederholen konnte, kreierte Milva ein buntes Kaleidoskop an kritischen, nachdenklichen und zugleich trotzig vitalen Liedern. Herausragend ihr auch auf Deutsch gesungenes „Hurra! Wir leben noch!“ mit der Hintergründigkeit und dem Unterton von unschlagbarem Optimismus und existenziellen Fragen: „Wie stark ist der Mensch? Wie stark? Wie viel Ängste, wie viel Druck kann er ertragen? Ist er überhaupt so stark, wie er oft glaubt? Wer kann das sagen? Hurra! Wir leben noch! Was mussten wir nicht alles überstehn? Und leben noch! Was ließen wir nicht über uns ergehn? Der blaue Fleck. auf unsrer Seele geht schon wieder weg. Wir leben noch. Hurra, wir leben noch! Nach jeder Ebbe kommt doch eine Flut. Wir leben noch, gibt uns denn dies Gefühl nicht neuen Mut. und Zuversicht. So selbstverständlich ist das nicht. Wir leben noch!“ Innige Liebe zu Brecht. Nach diesem weltentrückten gedanklichen Höhenflug bringt mich ein leichtes Räuspern meines Kameramannes wieder auf den Boden der Tatsachen. Ich sitze in Milvas Theatergarderobe und sie ist gesprächsbereit. Was ihr am Herzen liegt, ist die Korrektur eines von ihr befürchteten snobistischen Öffentlichkeitsbildes. Sie stellt noch vor meiner ersten Frage klar, dass sie das Wort „Diva“ hasst, denn sie stolziere nicht in exaltiert abgehobener Selbstverliebtheit durch die Welt, sondern arbeite statt eines solchen Gehabes hart für ein bestmögliches Niveau all ihrer Darbietungen – und da vor allem mit viel Kraft und Ehrgeiz am Brecht’schen Prosa- und Lyrik-Erbe, dessen Interpretation absolute Perfektion verdient habe. Milva und Brecht! Warum ist sie von den Werken des Dramatikers so fasziniert, ist sie ihm nahezu verfallen? Sie sinniert: „Ja, warum?“ Dann gibt sie sich selbst die Antwort: „Weil ich mit Georgio Strehler vor mehr als 21 Jahren begonnen habe und er mich damals zum ersten Mal bat, Chansons von Brecht und Weill zu singen wie beispielsweise ‚Surabaya Johnny‘ oder ‚Seeräuber Jenny‘. Danach haben wir viel zusammen gemacht und er hat mir gesagt: Ja, Du kannst Brecht singen. Nachdem ich mit Chansons in Italien begonnen habe, bin ich dann praktisch gemeinsam mit Gisela May und Lotte Lenya, als sie noch lebte, eine der europäischen Brecht-Interpretinnen geworden. In der DDR stehen wir mit dem Berliner Ensemble in Verbindung. Ich wurde oft eingeladen, aber wir haben bisher nie so die rechte Form gefunden. Aber jetzt hat man mich gebeten, im nächsten Jahr für die 750-Jahrfeier von Berlin – für dieses große Jubiläum – vier Abende zu geben in Berlin in der DDR. Und ich hoffe, dass ich diesmal wirklich kommen kann.“ Ich registriere, dass es wohl doch nicht allein meine Überredungskunst war, weshalb sie uns statt eines Rauswurfs eine Audienz gewährt hat. Offensichtlich war der Türöffner das Schlüsselwort „DDR-Fernsehen“. Das schien bei ihr Assoziationen zu geplanten Bühnen- und Fernsehauftritten in Ostberlin zu wecken. Zu Hause lief das Interview im TV-Jahresendprogramm 1986/87 und scheuchte Milva-Verehrer und Freunde des Chansons auf. Es gab Anfragen für Ticket-Reservierungen im Vorverkauf, den es eigentlich noch gar nicht gab. Die voreiligen Kartenbewerber wurden nicht enttäuscht. Milvas hoffnungsvolle Andeutung wurde zur Gewissheit. Sie kam und sang zum Berlin-Jubiläum im Palast der Republik – und ein Jahr später folgte am selben Ort ein zweitägiges Gastspiel, von dem Funk und Fernsehen im Oktober 1988 ein Showkonzert der Extraklasse sendeten
Jorge Amado. schrieb sich als größter Romancier Brasiliens und. Anwalt der Gestrandeten in die Weltliteratur. Der Witz bestand darin, dass ich ihn 8000 Kilometer entfernt von Paris in seiner brasilianischen Heimatstadt Salvador de Bahia gesucht habe, um ihn schließlich gleich nebenan zu finden. Ich hatte gelesen, Jorge Amado habe als einer der bedeutendsten lateinamerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts schon zu Lebzeiten ein eigenes Museum bekommen. Die Hafenstadt am Atlantik hat ihn 1987 mit der Einrichtung eines „Jorge Amado House“ geehrt, womit für mich feststand: Nun habe ich eine Anlaufstelle, um ihn endlich als einen meiner langersehnten Favoriten für ein Fernsehporträt zielsicher aufspüren zu können. Dachte ich und musste mich mal wieder weit weg vom selbstgebastelten Wunschdenken enttäuschenden Zwängen des Lebens fügen. Trotz hartnäckiger Telefonrecherchen in Übersee hatte die ermüdende Serie der Auskünfte zwar verschiedene Texte und Tonlagen, aber immer wieder denselben Inhalt: Tut uns sehr leid, aber Herr Amado ist auswärts. Wo, das dürfen wir leider ohne seine Erlaubnis nicht mitteilen. Da auch Kontakte mit seinen Verlagen nichts brachten, musste ich mir auf den Spuren des berühmten Brasilianers neue Schleichwege einfallen lassen. Ich hatte unverhofftes Glück beim Herumhören im französischen Verein der Auslandskorrespondenten, dessen Mitglied ich war. Ich klopfte aufs Geradewohl auf den Busch und heraus kroch die Andeutung einer brauchbaren Information. Jemand wollte gehört haben, der Meister habe hier im Kunst- und Kulturmekka eine Stadtwohnung, in der er die heimischen tropischen Sommertemperaturen von Dezember bis Februar überbrücke, weil ihm das Schreiben im angenehmen Samtwinter von Paris leichter falle. Ergo könnte es sein, dass er nun, im Dezember 1987, wieder mal in der Stadt sei. Damit hatte ich aber noch keine Adresse. Die bekam ich bei einem Pressetreff mit Frankreichs Kulturminister Francois Léotard aus dessen Umfeld mit der Bitte um strikte Diskretion. Also auf zum Quai des Célestins im 4. Arrondissement am rechten Ufer der Seine! Erst mit 27 Jahren war ich in die schriftstellerischen Gefilde des Brasilianers Jorge Amado eingetaucht, hatte mit viel Vergnügen seinen Roman „Dona Flor und ihre zwei Ehemänner“ gelesen. Damit hatte er sich wie sein chilenischer Freund Pablo Neruda in die Weltliteratur hineingeschrieben. Selbst schärfste Kritiker lobten die höchst ergötzliche Geschichte über eine anmutige Kochkünstlerin und ihre Gattenwahl entweder für einen untugendhaften, aber lebenslustigen und leidenschaftlichen Liebhaber oder für einen soliden, aber pedantischen und langweiligen Apotheker. Die Entscheidung zwischen den zwei unterschiedlichen Lebenskonzepten fällt zugunsten eines lockeren, ungezwungenen Miteinanders der einfachen Leute. Aus dieser mit hintergründiger Ironie gespickten Fabel wurde 1976 einer der erfolgreichsten brasilianischen Filme und der Stoff für ein Musical und eine Fernsehserie. Ein Mann mit Kreuz. Je mehr ich mich mit dem Autor, seiner Biografie und seinen Werken beschäftigte, umso mehr interessierte mich auch seine ungewöhnliche Persönlichkeit. Ich bewunderte seine trotz sozialer Armseligkeit vor Lebensenergie strotzenden literarischen Figuren, den federleichten Schreibstil, die Ausdrucksvielfalt, den feinsinnigen Schalk und nicht minder einen burlesken, derben Humor und bissigen Spott, mit denen er auch politische wie kriminelle Scharlatane überzog. Und ich verehre ihn noch heute ob der unbestechlichen Gradlinigkeit seines Charakters auf einem kurvenreichen und steinigen Lebensweg. Als konsequenter Anwalt der gesellschaftlichen Außenseiter kroch er vor den Obristen eines volksfernen Machtgipfels nicht zu Kreuze, verzweifelte nicht am schreienden Unrecht einer Militärdiktatur, hielt ihr unbeirrt die Breitseite seiner Argumente und Ansichten entgegen und ließ sich nicht dazu zwingen, seine proletarische Gesinnung zu verleugnen – erst recht nicht, als er als Kommunist und Vaterlandsverräter beschimpft und verunglimpft wurde und seine Bücher auf dem Scheiterhaufen landeten. Er hatte wie ein Nelson Mandela den Mut, mit jeglicher Konsequenz zu seiner humanistischen Überzeugung zu stehen, sich dafür demütigen, einsperren und außer Landes jagen zu lassen. Und er hatte die Souveränität und Courage, seine Irrtümer zu begreifen, sich zu revidieren, neue Wege zu gehen und dann in demokratischer Zeit zwar in einem angenehmen Ambiente zu leben, aber den Verlockungen eines abgehobenen, korrumpierenden Luxusdaseins zu widerstehen und seiner Verankerung im Volk treu zu bleiben. Das hat er auch damit versinnbildlicht, dass er von der Einsamkeit einer abgelegenen Vorort-Villa in der Casa do Rio Vermelho am feinsandigen Strand der Atlantikküste in das quirlige Leben der Innenstadt von Bahia gezogen ist. Amado blieb ein einfacher Mann des Volkes, sah sich nie als schriftstellernder Intellektueller. Obwohl er der brasilianischen Literatur-Akademie angehörte, war er unter den Weltklasse-Autoren der wohl unakademischste. Daran änderten auch nationale und weltweite Ehrungen nichts, darunter der wichtigste Literaturpreis im portugiesischen Sprachraum und die vom französischen Staatspräsidenten verliehene Auszeichnung als „Kommandeur der Ehrenlegion“ Das alles imponierte mir in höchstem Maße. Wie muss man beschaffen sein, um so zu sein oder so zu werden? Die Antwort darauf von ihm selbst zu bekommen, dieser Gedanke wurde zu einem selbst gestellten Auftrag. Ich war nun fest entschlossen, die Spur zu ihm nicht mehr zu verlieren. Leider sah es zunächst nach dem Gegenteil aus, denn wohl stimmte die Wohnadresse, nicht aber seine Anwesenheit. Nichts deutete darauf hin, dass er hier derzeit Station machte. Davon zeugte auch ein leerer Briefkasten, der seine Daseinsberechtigung nun wenigstens durch einen Zettel von mir bekam. Darauf stand die inständige Bitte nach einem Interview. Schließlich mit herzlichen Grüßen – „cordialement“- Name und Anschrift in der vagen Hoffnung, er würde sie vielleicht für eine Antwort benutzen. Dann fuhr ich mit nicht allzu viel Optimismus zurück ins Büro in unserer Avenue Pierre Grenier im nahen Vorort Boulogne-Billancourt. Ein Dachstübchen als Werkstatt für Weltliteratur. Es ist wie ein vorweihnachtliches Geschenk, das mir da ins Haus schneit. Nach gut einer Woche erhalte ich mitten im arbeitsgefüllten tagesaktuellen Geschäft mit ungläubigem Frohlocken die postalische Überraschung seiner eigenhändigen schriftlichen Zustimmung. Schon einen Tag später genieße ich den Augenblick, ihm gegenüberzustehen. Ich gratuliere nachträglich zum 75. Geburtstag. Trotz seines reifen Alters wirkt die untersetzte, stämmige Erscheinung des produktiven Literaten auch körperlich fit. Im wettergegerbten, gleichmäßigen Gesicht mit dem grau melierten, kurz gestutzten Oberlippenbart und den dichten Augenbrauen irritieren nur die etwas müden Pupillen und die kleinen aufgeschwemmten Hautwülste darunter. In dieser Kombination unschwer zu deuten nicht als schlaffe Tränensäcke, sondern als untrügliche Zeichen angestrengter Nachtarbeit. Im farblichen Kontrast zu seinem hellroten Frotteehemd steht sein weiß gewordener welliger Haarschopf, dessen immer noch dichte Locken beiderseits des Scheitels von einer einst üppigen Mähne zeugen. Das Arbeitsstübchen liegt dicht unter der Dachschräge, durch deren Fenster das fahle Licht eines grautristen Pariser Winterhimmels ins spartanisch möblierte Innere dringt. Hierher, so bestätigt er die Vermutung, hierher flüchtet er mitunter, wenn in seinem Salvador de Bahia der Hauch des Ozeans keine lindernde Kühle mehr bringt und das backofenheiße Pflaster Hitzeblasen schlägt. Ansonsten aber lasse ihn sein Salvador nicht los, reise mit ihm. Er ist verwachsen mit dem stark afrikanisch geprägten Ort und seinen Leuten in dieser südamerikanischen Tropenmetropole, die nach São Paulo und Rio de Janeiro die drittgrößte Stadt Brasiliens ist – und der Schauplatz der meisten seiner 35 Romane. In etwa 50 Sprachen wurden sie übersetzt und in 52 Ländern publiziert. In einer Auflage von weltweit über 80 Millionen Exemplaren. Als ich ihm einen Begrüßungsstrauß in die Arme lege, reicht er ihn mit der Geste eines Rosenkavaliers an seine herbeigerufene Frau Zélia weiter, einer vier Jahre jüngeren Schriftstellerin, mit der er in zweiter Ehe seit 1945 verheiratet ist. Er ist stolz auf sie, die Tochter des italienischen Anarchisten Ernesto Gattai, gelernte Fotografin, die an der Pariser Sorbonne Literatur studierte und über befreundete Bücherschreiber den Dichter Amado kennenlernte. Damals schon hatte er als Höhepunkt seiner frühen Schaffensperiode mit „Herren des Strandes“ einen großen Wurf gelandet. Sein Publikum war gerührt und erschüttert vom Schicksalsdrama verwaister Straßenjungen, die in einer Ruine am Strand von Bahia hausen, sich hoffnungslos in den schmutzigen Fallstricken ihrer Armut verheddern und keinerlei Licht am Ende ihrer Tunnelexistenz sehen. Deshalb sichern sie sich ihr täglich Brot als Diebesbande mit dem stolzen Namen „Herren des Strandes“ und nehmen in Kauf, dass die meisten von ihnen später mit der Logik ihres aufgezwungenen sinnentleerten Dahinstolperns endgültig im Rinnstein der Zivilisation landen und zum verachteten Abschaum der Bettler und Kriminellen gehören
Mikis Theodorakis. wird verehrt als Volkstribun, Politrebell, Sänger, Meisterkomponist und Erfinder des Sirtaki. Die Begegnung mit ihm kam ausnahmsweise auf denkbar unspektakuläre Weise zustande. Keine vorherigen ellenlangen Telefonate, keine Ausweise und Begründungen, keine Anträge und Genehmigungen. Ich habe ihn nach einer Freiluftaufführung seiner 4. Sinfonie angesprochen und nun stehen wir mitten auf der Festwiese von Vitry-sur-Seine, einem südlichen Vorort von Paris. Es ist wolkendurchquirltes Sommerwetter und er hat seinen dunklen Ledermantel in salopper Lässigkeit über den Arm gelegt. In der darunter hervorlugenden Hand hält er zwischen Daumen und Zeigefinger die unvermeidliche Zigarette mit einem längst erkalteten Aschekegel. Sein Äußeres verrät, dass er keinen gesteigerten Wert auf dandyhafte Kleidung legt. Das helle Hemd verschwindet unter einem grauen Strickpullover, der gut zu seinem schwarzen Jackett passt. Statt eines extravaganten Künstler-Outfits solide Normalität. Ich hatte mich und meinen Kameramann Wolfgang Groth vorgestellt, ihm mein Interview-Anliegen vorgetragen und Mikis Theodorakis hatte mich weder an seine Sekretärin verwiesen noch mit dem Hinweis auf einen eiligen Termin die Flucht ergriffen, sondern schlicht und einfach gesagt: „D’accord“ – „Einverstanden“. Bitte, ich dürfe ihm jedwede Fragen stellen. Während Wolfgang im Eilverfahren Ton- und Bildtechnik klarmacht, die Kamera aufs Stativ hievt und mir das Mikrofon reicht, bitte ich den berühmten Griechen, meine Bewunderung für sein umfangreiches Schaffen nicht als Schmeichelei zu werten. Das rutscht mir gegen meinen Willen so raus. Ich wollte als objektiv und neutral fragender Journalist betont sachlich bleiben, kann aber meine Emotionen nun, da mir das Monument eines Bilderbuch-Griechen in voller Leibhaftigkeit gegenübersteht, nicht zügeln. Na und? Warum muss ich verheimlichen, dass auch ich zu ihm aufschaue? Das lässt sich ohnehin nicht verhindern, denn ich messe 1,80 Meter und er zwei Meter. Er streicht in geduldig abwartender Haltung durch sein dichtgelocktes kastanienbraunes Kraushaar, das wie eine vom Winde gewellte große Sturmhaube seinen Kopf umschließt
Gilbert Bécaud. faszinierte als „Monsieur 100 000 Volt“ ein Millionenpublikum und schwärmte von Nathalie. Endlich! Die Managerin von Monsieur Bécaud hat mir grünes Licht gegeben für ein TV-Interview mit dem Grandseigneur der französischen Musikszene. Was mich dabei stutzig gemacht hat, war ein Hinweis von Monique Scherrer, der sich wie eine versteckte Warnung anfühlte. Wenn es geht, meinte sie am Telefon, quälen sie ihn nicht mit seiner „Nathalie“. Ein Wink mit dem berühmten Zaunpfahl? Wie sollte ich den verstehen, wo ich doch überhaupt keinen Zaun sah? Warum sollte ich Bécaud nicht auf einen seiner allergrößten Erfolge ansprechen, der ihn neben seinem Freund Charles Aznavour zum Weltmeister des Schlager-Chansons gemacht hat? Ich recherchierte unter Insidern, kramte in Pariser Archiven und förderte zu meiner Überraschung eine plausible Erklärung zutage. Die lehrte mich: Um Unverständliches verständlich zu machen, muss man halt manchmal auf den Urschleim zurückgehen, um nicht auf ihm auszurutschen. Oft sind es banale Beweggründe, die geniale Erfindungen bewirken. „Nathalie“ war eine davon. Geboren wurde die später weltbekannte Fantasiefigur der besungenen schönen Moskauerin 1964, nachdem ihr geistiger Vater ein Jahr lang mit seiner ungewöhnlichen Idee schwanger gegangen war. Aber der Reihe nach. Die Geburt einer Moskauerin in Paris „Nathalie“ erblickte das Licht der Schlagerwelt in einer bewegten Zeit. Seit dem achtjährigen, 1954 gescheiterten Indochinakrieg Frankreichs gab es immer wieder Feindseligkeiten gegen die Sowjetunion, die den Befreiungskampf der Vietnamesen gegen die Kolonialmacht unterstützt hatte. In den gehobenen Schichten des französischen Bürgertums grassierte permanent ein ausgeprägter Antisowjetismus, der 1963 wieder einmal einen Höhepunkt erreicht hatte. In diesem Kontext kam dem songschreibenden Franzosen Pierre Delanoë eine Idee, die seinen Namen und seinen Geldbeutel vergolden sollte. Der studierte Jurist und Steuerinspektor traf nach dem Zweiten Weltkrieg den mit ersten Erfolgen gesegneten Chansonier Gilbert Bécaud und wurde sein Textdichter. Im Laufe der Zeit reizte ihn als Kontrapunkt zum langweiligen Standard-Thema der unbefleckten Liebe in einer heilen Welt ein ehrgeiziges Projekt mit Potenzial zum gesellschaftlichen Aufreger. Im Spannungsfeld zwischen einem sich andeutenden politischen Ost-West-Tauwetter und den andererseits verschärften sowjetisch-französischen Beziehungen wollte er die provokative Liebe eines Pariser Jünglings zu einer Moskauer Schönheit im Schatten russischer Despotenherrschaft beschreiben. Dabei sollten gleichzeitig der Zwiebelturm-Reiz Moskaus, die aufregende Geschichte Russlands und die Sympathie für seine einfachen Leute nicht in Abrede gestellt werden. Als Bécaud den Entwurf des Liedtextes sah, lehnte er ihn als zu profan ab und verlangte mehr Farbe für russische Folklore und eine romantische stimmungsvolle Kulisse für die amouröse Geschichte. Er wollte sie vor den winterlichen Toren der Kremltürme spielen lassen, um sie in beeindruckender gesanglicher Tonlage erzählen zu können. Ein Jahr lang feilte der Verseschmied an jeder Formulierung. Dann hieß die Russin nicht mehr Natascha, sondern Nathalie, der Text war als Ich-Erzählung umgeschrieben und die beiden ersten Strophen begannen mit den schlichten, aber einprägsamen Aussagen: „La place Rouge était vide, la place Rouge était blanche“ – „Der Rote Platz war leer, der Rote Platz war weiß“. Bécaud war zufrieden. Er setzte sich ans Klavier und in nur wenigen Stunden war die Musik dazu komponiert. Mit „Nathalie“ war mitten in Paris eine Moskauerin geboren, die ihren musikalischen Verehrer ein Leben lang begleiten sollte. Das schlagerhafte Chanson begann mit seinem Erscheinen im Februar 1964 einen Siegeszug um die Welt. Erzählt wird in gut vier Minuten, wie sich ein junger französischer Tourist in der pittoresken Schneelandschaft des Moskauer Stadtzentrums in seine Fremdenführerin verliebt, in ihrer Studentenbude mit anderen Kommilitonen trinkt, singt und tanzt und über seine Heimat und seine Stadt an der Seine fabuliert. Er bleibt über Nacht und träumt von Nathalies Gegenbesuch in Paris, wo er dann im Rollentausch ihr Stadtführer sein könnte. Frankreich zögerte mit Applaus, gab sich anfangs sehr verhalten und stellte etwas verstört die Frage, wie denn in einem Liebeslied Worte wie „Oktoberrevolution“, „Roter Platz“ und „Lenin-Mausoleum“ auftauchen könnten. Das Kuriosum: Während sich die ersten Platten schwer verkauften, wurden immer mehr Mädchen auf den Namen Nathalie getauft. Ein Phänomen, das bald schon auf den Musikmarkt übergriff – und das zunächst vor allem im Ausland trotz der Beatle-Manie, die 1964 ihrem Zenit zustrebte. In den BRD-Charts war der Song in der deutschen Übersetzung 22 Wochen präsent. In der DDR lag die „Amiga“-Platte fünf Jahre später auf dem Ladentisch. In den Folgejahren bekam das ungewöhnliche Lied, was ihm zustand: eine über Jahrzehnte andauernde generationsübergreifende Beliebtheit, die bis heute anhält – ein Riesenhit, der in fast alle Sprachen der Welt eindrang und gemeinsam mit ihrem Komponisten und Interpreten unsterblich wurde „Nathalie“ als Fluch und Segen. Auch das besungene Moskau konnte sich der „Nathalie“-Faszination nicht entziehen. Gut ein Jahr nach dem Start der zu Musik gewordenen Liebesgeschichte geschah das Wunder: Ende April 1965 gab Bécaud nach einer offiziellen Einladung ein umjubeltes Gastspiel im Großen Saal des Moskauer Kreml-Kongresspalastes. Möglich gemacht hatte dies eine Neuorientierung in der sowjetischen Kultur- und Außenpolitik durch den Machtwechsel von Chruschtschow zu Breschnew, der die Meinung seines Vorgängers nicht teilte, Jazz und Pop seien eine „internationale Entartung“ Zweifelsohne war der Auslöser für die Einladung des Chansoniers aber auch die inzwischen europaweite Popularität seiner „Nathalie“. Dass er das anrührende Liebeslied bei einem Auftritt ausließ, war undenkbar, auch wenn er es schließlich bei 250 Konzerten im Jahr selbst nicht mehr hören konnte. Das Publikum forderte es – ob im Pariser „Olympia“ oder am Broadway, ob in der Musikhalle von Hamburg oder zu DDR-Zeiten im alten und neuen Friedrichstadtpalast von Berlin. Die Person von Nathalie hatte sich verselbstständigt, war aus dem Lied herausgetreten und zur ständigen Begleiterin von Bécaud geworden. Beide wurden verlangt, bis er davon matt und müde war, ein Abgleiten in Routine befürchtete und in eine Sinnkrise stolperte. „Nathalie“ als Fluch und Segen. Überliefert ist ein Gemütsausbruch aus dem Jahre 1994: „Ich habe die Nase gestrichen voll, ich kann ‚Nathalie‘ nicht mehr singen. Seit 30 Jahren jeden Abend! Ich muss sie neu erfinden, um wieder Lust darauf zu bekommen.“ Das gelang ihm 1999 im Rahmen einer anekdotenhaften Begebenheit, die mit ihrer unerwarteten Pointe erzählt werden muss. In der Romanze singt er davon, dass der junge Franzose mit seiner Begleiterin nach dem Besuch von Lenins Grab gern eine heiße russische Schokolade im Café Puschkin trinken würde. Das ist ihm zu gönnen, hat nur einen Haken: In ganz Moskau gab es zu dieser Zeit kein Café Puschkin. Das wurde 35 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Songs nachgeholt. Die „Nathalie“-Verehrer an den Ufern der Moskwa hatten es geschafft und dafür auch den 200. Geburtstag des russischen Nationaldichters genutzt. So wurde Alexander Puschkin geehrt – und Nathalie auch. Um ihren Triumph zur Legende zu stilisieren, wurde Gilbert Bécaud zur Eröffnung des nun zur Wirklichkeit gewordenen Cafés eingeladen. Und er kam. Und er sang. Natürlich von Nathalie. Nun konnten der Franzosen-Tourist und die verführerische Russin mit blonden Haaren im Moskauer Café Puschkin endlich ihre heiße Schokolade schlürfen.Eine Fiktion wurde Realität. Das französische Tagesblatt „L’Humanité“ nannte das Spektakel die „Wiederauferstehung Nathalies“ und fand die treffende Schlagzeile „Wenn das Volkslied eine Legende erschafft“. Es war zum Weinen schön – und viele Premierengäste taten es in Feierlaune und hemmungsloser Leidenschaft für ihre Nathalie und den angebeteten berühmten Ehrengast aus Paris, dem jede schöne Wassilissa gern Moskau und noch mehr gezeigt hätte „Nathalies“ unerwünschte Tochter. Offengeblieben im Kult-Chanson war lange Zeit die Frage, was in der Nacht geschah, als die Studenten spätabends Nathalies Quartier verließen, der Touristen-Franzose aber nicht. Diese Wissenslücke schlossen Texter und Komponist auf verblüffende Weise mit einem Nachfolgelied. Darin wechselt der junge Mann von der Seine Briefe mit Nathalies Kind, das 1964 – noch im Jahr der französisch-russischen Romanze – geboren wurde und in Leningrad studiert. Offensichtlich eine Konversation zwischen Vater und Tochter. Sie wäre also, als der Nachzieher 1983 herauskam, 19 Jahre gewesen – und damit tatsächlich im Studentenalter. Ein grandioser Geniestreich, von dem nur die Schöpfer wissen, ob er ernst gemeint war oder mit augenzwinkerndem Schalk aufgetischt wurde. Der unüberhörbare Bezug zum Original geht so weit, dass auch in Teil zwei der Liebesgeschichte eine temporeiche Passage im rasanten russischen Kasatschok-Rhythmus vorkommt. Trotzdem brachte es die Songscheibe „La fille de Nathalie“ – „Die Tochter von Nathalie“ – nur auf kümmerliche Verkaufszahlen. Die Fans wollten keine Tochter und keinen Sohn und keinen Enkel von Nathalie, sondern nur sie allein als reine, makellose, anbetungswürdige Lichtgestalt, die jedermann lieben konnte. Zugleich war damit klar, dass „Nathalie“ nicht nur die Herzen einer breiten Öffentlichkeit erobert hatte, sondern dass auch ihr musikalischer Erzeuger nicht von ihr lassen konnte. Fatal daran ist, dass Bécaud damit zu einer rituellen Allgegenwart des Liedes beitrug, die er später selbst als nervtötend und unzumutbar beklagte. Das förderte seine aufkeimende eigene Überreiztheit und beschleunigte in zunehmender Dünnhäutigkeit seine Aversion gegenüber dem längst zum Evergreen gewordenen Stück, bis er es absolut nicht mehr hören, geschweige denn singen konnte. Eine vorübergehende psychotische Störung, die der endgültigen Erkenntnis Platz machte, dass der berühmte Franzose und seine berühmte Schönheit als untrennbar angesehen wurden – egal, in welchem Konzertsaal und in welchem Land. Mit diesem Wissen hatte ich den Hinweis von Bécauds Managerin nun voll und ganz verstanden. Es war kein Wink mit dem Zaunpfahl, sondern mit dem Torpfosten. Womit ich den Passus „Nathalie“ aus meinem Fragenkatalog strich „Monsieur hunderttausend Volt“ elektrisiert. Ich war gespannt auf den Mann von der Seine, der so untrennbar mit dem Mädchen von der Moskwa verbandelt war. Ein Hauch von Frühling durchwehte den Märztag 1987, an dem ich mit Kameramann Eberhard Güldner erwartungsvoll über die Schwelle des Pariser Studios der Plattenfirma „Pathé-Marconi“ trat. Monique Scherrer begrüßte uns mit der Bitte um noch etwas Geduld. Der Meister sitze gerade am Piano und wolle nur noch ergründen, ob ihm die letzten Takte eines neuen Stückes gelungen seien. Dann kommt er. Nein, er kommt nicht einfach, er wirbelt herein, stürmt auf uns zu, schüttelt uns lachend die Hand, als hätten wir uns lange nicht gesehen, und ruft mit rauchiger, kehliger Stimme in witzig-gebrochenem Deutsch: „Wie gäht’s? Was maacht Berlän, mein‘ Schtadt an die Schpree?“ Ich fühle förmlich, wie sein Temperament die Luft im Zimmer zerquirlt. Seine Arme ersetzen dabei die Flügel eines Ventilators, während seine Beine nicht eine Sekunde auf einem Fleck verweilen. Wüsste ich vom Hörensagen nicht, dass dieses Aktionsfeuer sein angeborenes Naturell ist, hätte ich ihn verdächtigt, uns aus Imagegründen das Energiebündel von der Showbühne vorzuspielen
Robert Merle. verfasste Megabestseller zu Angstthemen und. glaubte fest an seine Vision einer besseren Welt. Geisterhaft gleitet die Gefahr in vierhundert Meter Wassertiefe dahin. Sie ähnelt einer riesigen stählernen Zigarre. Das Feuer trägt sie in sich. Es kann andere verbrennen, aber auch zu eigener Asche werden. Beides fügt sich zum Albtraum einer U-Boot-Besatzung, die von einem westeuropäischen Hafen aus auf Geheimpatrouille die Ozeane durchpflügt. In den Bordschächten ankern startbereite Nuklearraketen für vermeintliche Feinde. Noch sind sie nicht gezündet – im Gegensatz zu persönlichen Schicksalsängsten, heraufbeschworen durch das aufkeimende Gefühl, einer Idee der Abschreckung ausgeliefert zu sein und in diesem Kräftespiel missbraucht zu werden. Zur Finsternis der Meerestiefe gesellt sich die Finsternis im Zukunftsdenken einer Marine-Spezialeinheit, die sich immer mehr eingepfercht fühlt in einem schwimmenden Sarg. Wie lange noch kann sie diese Gedanken verdrängen wie ihr Boot das Wasser auf der Fahrt ins Ungewisse? Der Einsatzbefehl lässt Zweifel und Fragen der Vernunft nicht zu auf einer unbestimmten Mission im Reich beängstigender Stille und ewiger Nacht. Die Trostlosigkeit eines Lebens mit der Bombe im befohlenen Wegtauchen vor der eigenen, individuellen Verantwortung und vor den Strahlen der Sonne hat Robert Merle veranlasst, seinem Roman den mehrdeutigen Titel zu geben: „Für uns wird es nie Tag.“ Die französische Ausgabe „Le jour ne se lève pas pour nous“ gehört in meiner Bibliothek der internationalen Spitzenreiter zu meinen wertvollsten bibliophilen Schätzen – und das nicht nur wegen der persönlichen Buch-Widmung des Autors, sondern vor allem wegen der damit verbundenen Begegnung mit ihm. Als das Werk 1986 im Pariser PLON-Verlag erschien, wirkte das auf mich wie ein aufmunternder Tritt ins Kreuz, meinen langgehegten Plan zu einem Film über den Verfasser nun endlich umzusetzen. Die Mühen der Recherche. Mehrfach war ich daran gescheitert, den exzellenten Romancier aufzuspüren, weil es keinerlei Anhaltspunkte für seinen Aufenthalt gab. Auch das Verlagslektorat hatte mir mitgeteilt, dass sein literarisches, pressescheues Zugpferd die Adresse seines Stalls nicht preisgeben möchte. Man möge „s’il vous plaît“ sein Privatleben und seine Interview-Abstinenz respektieren. In der Öffentlichkeit umgab seine Person das Geheimnis der Anonymität und es zirkulierte sogar das Gerücht, hinter seinem vielfältigen Werk stecke eine ganze Gruppe von Schreibern. Eine große Leserschar verehrte den berühmten Landsmann als Autor spannender historischer, apokalyptischer und fantastischer Lektüre mit politischem und philosophischem Tiefgang. Alle kannten Robert Merle und seine Bücher, aber scheinbar wusste niemand, wo er zu finden ist. Die einen vermuteten ihn im warmen Süden an der Côte d’Azur oder in der Provence, die anderen im rauen Norden bei Fécamp in der Normandie. Gemunkelt wurde auch, er bewohne eines der Schlösser an der Loire. Nichts von allem stimmte. Der Schriftsteller hatte sein Domizil gleich nebenan, nur knapp 50 Kilometer westlich von Paris, abseits der lärmenden Magistralen in einem einsamen, ländlichen Anwesen, eingemeindet in ein stilles, beschauliches Fleckchen Erde namens Grosrouvre, wo ihn keiner vermutete. Er hatte sich perfekt getarnt. Auf die Schliche kam ich ihm bei einem Presseempfang durch einen Insider und Freund der Familie, der mir den entscheidenden Tipp gab, Professor Merle würde ohne großes Aufsehen einmal in der Woche an der Universität von Nanterre unterrichten. Damit war er für mich enttarnt, trat er aus der Anonymität heraus, konnte ich mich mit seinem französischen Verlag konkret über ein Interview verständigen. Pazifismus als Mut der Feigen. Den Einsiedler in Nanterre einfach mit Kamera und Mikrofon zu überfallen, hielt ich für taktlos, ungezogen und bei der strikten Absicht seines zurückgezogenen Lebens auch für erfolglos. Der Verlag war froh über diese Rücksichtnahme und dankte mir mit dem Versprechen, meinen Wunsch nach einem Frensehinterview an den Meister weiterzuleiten – bitte mit dem Hinweis, dass seine Bücher in hoher Auflage auch in der DDR herausgegeben wurden. Das, so dachte ich, könnte ihn milde stimmen. Als über der Tagesarbeit mein Vorstoß schon fast vergessen war, erhielt ich – abgestempelt vom Postamt Grosrouvre – einen Brief mit knappen handschriftlichen Bemerkungen von ihm selbst. Darin bat er mich, ihn auf seiner angegebenen privaten Telefonnummer vormittags anzurufen. Die Karte endete mit dem Satz: „Danke, auf bald und herzliche Grüße R. Merle.“ Die zwei Worte „auf bald“ deutete ich bereits als Zusage und lag damit goldrichtig.Schon kurz nach dem Telefonat war ich mit Kameramann Eberhard Güldner an einem wolkenlosen, himmelblauen Dezembertag 1986 unterwegs zu einem Rendezvous, an das ich kurz vorher selbst nicht so recht geglaubt hatte. Auf dem Weg zu den Gefilden von Rambouillet war noch einmal Zeit, sich darüber klar zu werden, mit welch literarischem Schwerstgewicht wir uns treffen würden. Zweifellos mit einem am eigenen Schaffen gereiften Romancier, der zu diesem Zeitpunkt 78 Jahre war, aber sein Lebenswerk längst nicht als beendet ansah. Bis zu seinem letzten Atemzug wollte er an der 1977 begonnenen erfolgreichen Saga „Fortune de France“ arbeiten, was ihm auch glänzend gelang. Denn als ihn mit 95 Jahren am 27. März 2004 noch vor der Fertigstellung des letzten Teils ein Herzinfarkt niederstreckte, waren bereits 13 Bände über die Geschichte Frankreichs vollendet – ein literarischer Schatz, der als einer der umfangreichsten historischen Romane der Gegenwartsliteratur gilt und etwa sechs Millionen begeisterte Leser fand. Wie tief ihn die Geschichte seines Landes berührte, zeigt nicht zuletzt die vor dem Hintergrund von Tatsachen spielende fiktive Geschichte des jungen Pierre de Siorac, Sohn eines hugenottischen Edelmannes, der im Roman „Die gute Stadt Paris“ im Sommer 1572 in den Strudel eines mörderischen Glaubenskrieges zwischen Katholiken und Hugenotten gezogen wird. Robert Merle produzierte Film- und Theaterstücke, schrieb sich mit seinen Romanen in die internationalen Bestsellerlisten und erweiterte seine belletristische Schöpfung um Sachbücher wie eine Biografie von Fidel Castro oder den romanhaften Dokumentar-Band „Moncada“ über den Beginn der kubanischen Revolution mit dem Sturm auf die gleichnamige Kaserne in Santiago am 26. Juli 1953. Als Schriftsteller, Wissenschaftler und überzeugter Humanist opponierte der Anglistik-Professor gegen jegliche Form von Gewalt, Egoismus, Dummheit und Borniertheit, verurteilte Faschismus und Neofaschismus und wetterte gegen die Arroganz der Macht. Er verweigerte sich korrumpierenden lukrativen Angeboten und verließ die Kommunistische Partei Frankreichs, als die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschierte und seine eigenen Genossen die Intervention verteidigten. Auch als Freidenker blieb er links, denn Pazifismus betrachtete er als den Mut der Feigen, was er unmissverständlich im Roman „Die Insel“ verdeutlichte. Ein Zeuge seiner Zeit. Unser Ziel ist erreicht. Grosrouvre ist kein Dorf, sondern ein Dörfchen. Und zwar – wie es scheint – ein unaufgeregter Ort im Dornröschenschlaf einer friedfertigen, naiven Weltabgeschiedenheit. Wer vermutet hier einen Schriftsteller von internationalem Format?! Die 650-Seelen-Gemeinde ist eingebettet in die sanfthügelige Landschaft eines Naturparks, der selbst Schauplatz seiner Romane sein könnte mit einer zeitlos wirkenden ländlichen Idylle und dem Charme mittelalterlicher Verträumtheit. Schloss La Mormaire aus dem 17. Jahrhundert verstärkt diesen Eindruck, noch übertroffen vom altehrwürdigen romanischen Gemäuer der Kirche Saint-Martin aus dem 12. Jahrhundert. Diese biblische Ruhe scheint es zu sein, die ein Geisteskopf von schriftstellerischer Weltgeltung benötigt, damit sich Konzentration und Kreativität ungestört entfalten können. Ein beschauliches Fleckchen Franzosen-Erde, in dem wir nun das „Malmaison“ Nr. 36 suchen. Das efeuberankte Gebäude versteckt sich in einer an diesem Dezembertag fast blätterlosen Oase von Hecken, Büschen und Bäumen, umgeben von einer bis zum Staub der Landstraße reichenden großflächigen Wiese. Die an einer ansteigenden Böschung gelegene Hinterseite des Hauses geht in einen dichten, hochstämmigen Laub- und Nadelwald über. Ich vermisse einen Hauseingang. Dafür entdecke ich im oberen Stockwerk zwei sperrangelweit geöffnete Fensterflügel, in denen sich eine nachmittägliche Wintersonne spiegelt. Zwischen den beiden Scheiben im Dachgeschoss taucht der Hausherr auf, hebt grüßend die Hand: „Kommen Sie bitte hier um die Ecke, die Tür ist auf der anderen Seite.“ Im Innern umweht uns ein Hauch von Exotik. Vierarmige goldene Leuchter, eine monumentale Spiegelwand, zierliche Aladin-Lampen, ein Orientteppich, ziselierte Karaffen, kupferne Schnabelkannen, ornamentverzierte Vorhänge. Mode und Design des nordafrikanischen Interieurs erinnern an Robert Merles Heimat Algerien, wo er am 28. August 1908 in der Universitätsstadt Tebessa geboren wurde. Dass er 78 Jahre sein soll, will mir – als ich ihm gegenübersitze – nicht in den Kopf. Hochgewachsen, straff und schlank, kantiges schmales Gesicht, um dessen hellwache Augen meist ein Kranz von Lachfältchen tanzt. Die kerben sich tief ein, als er mit schelmischem Lächeln verrät, dass er gegenwärtig an einem Liebesroman schreibt. Dabei schickt er einen vielsagenden und doch eindeutigen Blick zu seiner Frau Magali
… Meine VIP-Lounge … Meine VIP-Lounge … Meine VIP-Lounge … Meine VIP-Lounge … Meine VIP-Lounge. Manfred Wörner. war begeistert: David Ost gegen Goliath West – mein TV-Duell mit dem NATO-Generalsekretär. Heute frage ich mich manchmal, ob ich die unwirkliche Geschichte mit dem wirklichen NATO-Häuptling wirklich erlebt habe – und wenn ja, was zweifellos feststeht, wie ich sie mit ihren skurrilen Begleiterscheinungen einordnen soll. Als Komödie oder Tragödie, als Burleske oder Groteske? Oder als alles zusammen oder nichts von alledem? Am nächsten dran ist wohl die sperrige, aber treffende Definition: Verquaste Geschichte als Beispiel für die verklemmten Beziehungen zwischen Ost und West und für die DDR-medialen Berührungsängste vor dem Klassenfeind. Meines Wissens nach hat es in der gesamten DDR-Presse nie ein anderes Exklusiv-Interview mit einem NATO-Generalsekretär gegeben. Entsprechend nervös war das geistige Umfeld für diesen Dialog vor Mikrofon und Kamera, der zudem noch zu einem Streitgespräch eskalierte – in der aus NATO-Sicht eindeutigen Konstellation eines kleinen David gegen einen mächtigen Goliath, der entgegen der biblischen Legende den Schlagabtausch natürlich gewinnen würde. Dabei ging es weniger um Steinschleudern als vielmehr um Nuklearraketen. Die berühmte Ironie des Schicksals wollte es, dass der David den Goliath wider Erwarten in erhebliche argumentative Verlegenheiten brachte, aber die Wirklichkeit ihre eigene Sprache hatte: Sieben Monate später fiel die Berliner Mauer und die Phase des kühlen bis eiskalten Krieges zwischen Ost und West war vorerst beendet. Vorerst! Weder der Mauerfall noch der zum Jahresende 1989 begonnene gesellschaftliche Umbruch aber können Widersprüche und indirekt zugegebene westliche Überrüstungen in den Aussagen des NATO-Chefs korrigieren. Weder damals noch heute. Heute aus dem Munde von Jens Stoltenberg, damals im Interview mit Manfred Wörner, das ich als Westeuropa-Korrespondent im Brüsseler Hauptquartier des Nordatlantikpaktes führte. Die verwegene Idee. Zu begreifen ist die beispiellose Brüsseler „Operation Wörner“ mit ihren bizarren Folgen nur, wenn man sie in ihren scharfkantigen Zeitrahmen stellt. Meine Pariser Journalistenjahre von 1985 bis 1990 waren weltpolitisch geprägt vom trickreichen Bestreben des Weißen Hauses, die UdSSR vor allem durch den sogenannten NATO-Doppelbeschluss zur US-Raketenstationierung in der Bundesrepublik und im restlichen Westeuropa militärisch in die Knie zu zwingen oder am besten totzurüsten, was ihr ja schließlich gelang. Und diese Zeit war ebenso bestimmt vom verzweifelten Gegensteuern des Kreml mit immer neuen Abrüstungsofferten, die zunächst nicht verhindern konnten, im Gegenzug ebenfalls sowjetische Nuklearraketen in der DDR und in anderen sozialistischen Staaten in Stellung zu bringen. Gut ein Jahr nach dem in Reykjavik selbst miterlebten Verhandlungs-Desaster zwischen Gorbatschow und Reagan gelang endlich am 8. Dezember 1987 der Durchbruch mit dem INF-Vertrag zur Einschränkung nuklearer Mittelstreckenwaffen, der im Juni 1988 in Kraft trat. Der Raketenwald in Ost und West wurde abgeholzt und bis 1991 verschrottet. Mitten hinein in diese Phase einer aufgelockerten Ost-West-Beziehung fiel am 4. April 1989 der 40. Jahrestag der NATO. Dazu wollte unser außenpolitisches Magazin Objektiv einen knallharten längeren Beitrag, der – ermuntert durch den sowjetisch-amerikanischen Abrüstungserfolg – durch Ungewöhnlichkeit in Form und Inhalt aufhorchen lassen sollte. Als Westeuropa-Korrespondent mit Sitz in Paris war ich dafür zuständig. Wenn schon, denn schon, dachte ich und freute mich diebisch über eine verwegene Idee, bei der ich selbst Gänsehaut bekam. Als ich sie meinem Chef und Objektiv-Moderator Ulrich Makosch am Telefon vortrug, musste auch der erfahrene außenpolitische Stratege kurz Luft holen. Der denkwürdige Dialog spielte sich im Bewusstsein eines gewagten Projektes in nahezu euphorischer Stimmung ab, wie ich meinen Aufzeichnungen von damals entnehme: „Uli, wenn’s denn zu diesem Anlass was absolut Besonderes sein soll, dann lass uns doch den Stier bei den Hörnern packen und mit dem Chef des Ganzen reden.“ Uli musste kurz schlucken, dann: „Ein Interview mit dem NATO-Generalsekretär? Meinst Du das im Ernst?“ „Warum nicht?! Wenn wir wirklich mal aus unserer distanzierten Betrachtung rauswollen, dann sollten wir endlich mal konsequent sein und das Thema nicht nur wieder vom Schreibtisch aus betrachten, sondern auf Tuchfühlung gehen und gemeinsam mit der NATO über sie selbst berichten. Außerdem ist Generalsekretär Manfred Wörner BRD-Urbürger und spricht fließend Deutsch wie Du und ich. Das spart die Übersetzung und ist authentisch. Geben wir ihm doch die Chance, selbst auf unsere Fragen und Vorwürfe zu antworten. Wir können ja dagegenhalten – oder haben wir Angst?“ Der welterfahrene, sonst sehr besonnene Makosch – einst selbst Radio- und TV-Auslandskorrespondent – war Feuer und Flamme: „Junge, das hatten wir noch nie. Das wäre der Knaller des Jahres. Meinst Du, der macht das?“ „Der macht das. Darauf kannst du dich verlassen!“ Wir waren fasziniert, wussten natürlich aber, dass diese heikle Absicht in höheren – wenn nicht gar höchsten – Etagen der Macht abzusegnen war. „Ich kümmere mich darum und gebe dir sofort Bescheid“, versprach Uli. Obwohl wir der kühnen Aktion erfahrungsgemäß geringe Chancen einräumten, war ich schon infiziert von diesem Ideen-Ballizus und konnte an nichts anderes mehr denken. In der Höhle des Löwen mit ihm selbst um Fakten und Argumente kämpfen – dieses Bild war für die kurzgehaltene Ost-West-Leine der DDR-Pressepolitik kaum vorstellbar. Direkte Feindberührung vor der Kamera! Eine Art Taburuch. Andererseits herrschte Raketen-Entspannung und unsere Politspitzen sahen sich als Erfinder der friedlichen Koexistenz. Ob das aber im publizistischen Bereich auch für den obersten NATO-Feldherrn galt, war zweifelhaft. Ich tippte auf Ablehnung. Vorsorglich gewappnet. Damit meine fehlende Ehrfurcht vor einem solchen Dialog mit dem Generalsekretär des westlichen Militärbündnisses nicht wie naive Überheblichkeit aussieht, muss ich anfügen, dass ich damals in Sachen konventioneller und nuklearer Auf- und Abrüstung voll im Stoff stand. Ich war mit meiner NATO-Akkreditierung nicht nur ständiger Gast im Hause Wörner, sondern rollte ebenso oft von unserem Pariser Büro nach Genf, um vor Ort von den sowjetisch-amerikanischen Abrüstungsverhandlungen aus erster Hand zu berichten. Dafür fand ich als ehemaliger Moskau-Korrespondent in der Genfer UdSSR-Vertretung stets eine offene Tür. Da konnte ich auch schon mal den ARD-Kollegen Jochen Waldmann mit einschleusen, der mich wiederum in die US-Mission mitnahm. Da sah und hörte man erstaunliche Dinge, die ein sich ums Große und Ganze kümmernder NATO-Chef einfach nicht wissen konnte. Dass ich zudem in der dortigen DDR-Vertretung ein und aus ging und mich mit ihren Abrüstungsexperten jederzeit konsultieren konnte, war selbstverständlich. Auch besaß ich eine Zulassung für die UNO, deren Verhandlungen im multilateralen Ständigen Abrüstungsausschuss im Genfer „Palais der Nationen“ ich nicht minder hautnah verfolgte. Dass dies ebenso im Europäischen Parlament und in den anderen EU-Institutionen in Brüssel, Luxemburg und Straßburg der Fall war, erwähne ich nur der Vollständigkeit halber. Zusätzlich zu meiner Pressekarte in Frankreich erleichterte mir meine Länder-Zweitakkreditierung in der Schweiz auch die Berichterstattung über dortige Sicherheits- und Friedensveranstaltungen bis hin zum Weltwirtschaftsforum in Davos. Ich war also durch diese weit verzweigten Direktkontakte über die Militärpolitik von NATO und Warschauer Vertrag, USA und UdSSR rundum informiert und ständig auf dem Laufenden – und zwar im aktuellen Detail, was nicht unbedingt Sache eines NATO-Generalsekretärs sein muss, der vor allem verantwortlich ist für die Grundausrichtung und die großen Prämissen des westlichen Bündnisses mit den USA als Zugpferd und den damals 16 Mitgliedsstaaten im Geschirr des Militärwagens. Mit einem Wort: Ich konnte mich ohne Überheblichkeit durchaus als medialen Abrüstungs-Experten bezeichnen, der sich für ein solches Vorhaben gewappnet fühlte. Das alles begründete meinen erwartungsvollen Optimismus und mein fiebriges Interesse an einem solchen Treffen auf dem höchsten Niveau eines militärwestlichen Interview-Partners, der denkbar war. Das Unmögliche wird möglich. Dann kam Ulis Anruf: „Junge, das Ding ist genehmigt. Der Alte hat seinen Segen gegeben.“ „Welcher Alte?“, wollte ich wissen, „Adameck?“ „Nein, das ist eine Nummer zu groß. Das nimmt der Vorsitzende nicht auf seine Kappe. Er hat’s weiter nach oben durchgestellt. Der große Zampano selbst hatte es auf dem Schreibtisch.“ Ich fragte ungläubig: „Honecker persönlich hat es entschieden?“ „Junge, Wörner ist eine staatsmännische Größenordnung als Kriegsgott der NATO. Er ist das personifizierte Feindbild. Da kann und will auch kein anderer ran. Meinst Du, irgendwer will sich in die Nesseln setzen, wenn’s schiefgeht?“ Daran hatte ich auch schon gedacht, denn Wörner war bekannt als äußerst redegewandter Haudegen, der auch in Fernsehduellen gegen scharfzüngige Westjournalisten zu siegen wusste. Was wäre also, wenn es dem alten Fuchs gelingen würde, seinen Auftritt im DDR-Fernsehen umzufunktionieren in eine Kanzel zur Reklame-Predigt für seine NATO-Politik? Ich war damals überzeugt: Dazu darf und wird es nicht kommen, weil ich meinen Detailkenntnissen im militärischen Ost-West-Verhältnis vertraute. Der NATO-Generalissimus dagegen war bei allem Respekt ein Stratege, ein Überflieger, der viele Einzelheiten nicht wissen konnte. Dafür hatte er schließlich einen Stab von Fachleuten. Sie während des Interviews zu befragen, wäre aber wohl schlecht möglich. Das war für ein eventuelles Wortgefecht meine schärfste Waffe, gegen die auch die respekteinflößende Funktion des NATO-Höchsten nicht unbedingt gefeit war. In dieser Hinsicht sollte ich recht behalten, in anderer Hinsicht aber in ein blamables Desaster stürzen. Ein zweischneidiges Damoklesschwert hing über mir. Hätte ich die Konsequenzen auch nur im Entferntesten geahnt, hätte ich es entschärft und die „Operation Wörner“ unter irgendeinem fadenscheinigen Grund abgeblasen. Da ich aber nicht wusste, womit ich eingedenk unserer westvernagelten Pressepolitik zumindest hätte rechnen müssen, kam der Stein ins Rollen. Da mir die Tragweite des Vorhabens nun, da sie real war, plötzlich mit doppelter Wucht ins Bewusstsein rückte, dämpfte ich unsere Begeisterung mit einer Warnung: „Uli, ich beantrage jetzt das Interview offiziell bei der NATO in Brüssel. Dann gibt es kein Zurück mehr.“ „Mach das!“, echote Uli. „Und informiere mich, sobald Du eine Antwort hast.“ Da ich die NATO seit vier Jahren heimsuchte, kannte ich Wörners Pressechef Florent Swijsen ganz gut. Nun ging alles atemberaubend schnell. Die Bestätigung des Niederländers, der mir zu diesem ungewöhnlichen Schritt des Ostfernsehens gratulierte, ließ nicht lange auf sich warten. Nun konnte der Polit-Krimi beginnen. Vereinbart wurde als Ort des Interviews das Brüsseler Headquarter und als Tag der Vorabend der Feierlichkeiten zum 40. NATO-Jubiläum, wovon ich tagesaktuell ebenfalls zu berichten hatte. Zu meinem Erstaunen bat Wörner um die Übermittlung der Fragen, was in westlichen Gefilden unüblich war. Für die Befragung des NATO-Generalsekretärs wurden 20 Minuten gestattet. Diese Sendezeit, so wurde mir aus Adlershof bestätigt, würde dem außergewöhnlichen Interview eingeräumt. Zusammen mit meinen Fragen schickte ich an Swijsen die Personalien des Filmteams mit den Nummern unserer französischen Pressekarten: 2855 für mich als Journalisten, 4966 für Kameramann Wolfgang Groth und 4681 für meine Frau Marion als Aufnahmeleiterin. Statt Arbeitszimmer Showbühne. Das Interview war für Montag, den 3. April 1989, 17.30 Uhr, anberaumt. Eine Dreiviertelstunde vorher, 16.45 Uhr, fanden wir uns wie angewiesen mit den Technik-Zentnern von Sack und Pack unserer Filmausrüstung am Haupteingang ein. Da unser Büro zu dieser Zeit nur über Arriflex-Filmtechnik verfügte, hatten wir uns von einer Brüsseler Firma eigens für diesen Dreh eine teure Elektronik-Kamera angemietet. Damit bei ihrer sensiblen Digital-Bildauflösung ein Gesicht im Schein von Halogenspots nicht farbverfälscht wiedergegeben wird, muss es mit einem Spezialpuder dezent geschminkt werden. Deshalb begleitete mich Florent Swijsen vor die Friseurspiegel des NATO-eigenen Fernsehstudios. Fast gleichzeitig kam der Chef. Mit jovialer Höflichkeit und Handschlag begrüßte er die Maskenbildnerin und seinen Interviewer, ließ sich neben mir nieder und bemerkte: „Wörner im DDR-Fernsehen! Es brechen nun wohl neue Zeiten an.“ Dann ließ auch er sich das Gesicht pudern. Es folgte die erste Überraschung. Ich war selbstverständlich davon ausgegangen, dass wir im Arbeitszimmer des Generalsekretärs oder in einer anderen diskreten dienstlichen Räumlichkeit filmen würden. Weit gefehlt! Der NATO-Generalsekretär wollte es bombastisch. Sein Pressechef führte uns in einen Konferenzsaal von der respektablen Größe einer Universitäts-Aula. Tatsächlich war auch für Zuhörer gesorgt, denn etwa hundert Offiziere in lamettabehangener schneidiger Uniform bevölkerten die Stuhlreihen. Ich glaubte im ersten Moment an einen Irrtum, aber es war keiner. Wörner sah das Interview wohl als eine Art Zweikampf an und hatte deshalb die Form einer Arena gewählt. Er bevorzugte seinem Rang gemäß die große Bühne – und die gab es tatsächlich an der Stirnseite des Saales. Auf einem erhöhten Podest standen zwei hochbeinige Stahlrohrsessel. Neben jenem für Wörner ein Teewagen mit zwei Wasserkaraffen, an die nur der lange Arm des Generalsekretärs heranreichte. Mir wurde das Wasser verwehrt. Für den Gast hatte die NATO wohl kein Geld mehr. Oder wollte man mich dehydrieren, austrocknen? Damit würde ich also die ganze Redezeit über auf dem Trockenen sitzen. Heimvorteil für ihn. Das Bühnenbild wurde vervollständigt durch die NATO-Flagge mit der weißen Windrose auf marineblauem Feld und einen Wald von Fahnen der damals 16 Mitgliedsstaaten des westlichen Bündnisses. Eine jahrmarktbunte Kulisse für ein Spektakel der besonderen Ost-West-Art, wie es das hochdekorierte Militärpublikum empfunden haben muss. Käme ein ahnungsloser Wanderer des Weges, würde er beim Anblick der operettenhaften Inszenierung wohl denken, eine Bühnenshow der gehobenen Unterhaltung stehe bevor. Vielleicht sah es Wörner auch so. Er wollte mir nicht einfach nur ein Interview geben; er wollte es zelebrieren. Alles strotzte vor Selbstsicherheit, sollte vielleicht bewusst einschüchtern. Inklusive der entzogenen Wasserration. Hatte er das nötig? Nun gut, er war hier der Hausherr und nutzte das auch psychologisch. Da musste er nicht fragen, ob mir die große Bühne recht sei. Aber fair wäre gewesen, mich darüber zumindest vorher zu informieren. Warum, so dachte ich erbost, haben sie das Interview nicht gleich ein paar Kilometer weiter in den Koloss des Brüsseler Gerichtsgebäudes verlegt, dem nach seiner Fertigstellung 1883 größten Justizpalast des 19. Jahrhunderts – mächtiger als der Petersdom in Rom. Schon sein bloßer Anblick sollte den Besucher einschüchtern, zumal auch der Ort des pharaonenhaften Giganten mit seinen 27 Gerichtssälen einem Angeklagten nicht gerade Mut machte. Und erst recht nicht der Umstand, dass der wuchtige Tempel der belgischen Justitia auch noch auf dem Galgenberg steht. Das vergleichsweise bescheidene NATO-Gebäude konnte mit seiner damaligen einfachen Fassade nicht einschüchtern – und auch nicht seine Adresse am Boulevard von Léopold dem Dritten, einem belgischen König, der kein furchteinflößender royaler Blaublüter war, sondern eher – was ihm das Volk krummnahm – zur Zeit der faschistischen Besetzung ein nazitoleranter Herrscher. Die Steinschleuder des David. Eindruck schinden konnte der oberste NATO-Mann durchaus mit seinem Offizierskorps, von dem ich nun umzingelt war. Der David sollte noch einmal zu spüren bekommen, mit welchem Goliath er sich da anzulegen wagte. Das verleitete mich nicht gerade zur Überheblichkeit, aber es zermürbte und zerschmetterte mich auch nicht. Im Gegenteil: Es pumpte über den Katalysator des Trotzes zusätzlich Adrenalin in die Adern, um jetzt erst recht Flagge zu zeigen – allerdings nicht die weiße einer Kapitulation. Darüber würden Fakten und Argumente entscheiden. Das war die Steinschleuder des David. Und einige Treffer hatte ich mir mit nunmehr energiegeladenem Frust vorgenommen. Um mich herum also eine offensichtliche Machtdemonstration des Goliath, dessen Einschüchterungsversuch ich als Ost-Zivilist nicht unbedingt Folge leisten musste. Für solcherlei Spiele war ich außerdem gedanklich viel zu sehr mit dem Inhalt meiner Fragen befasst. Florent Swijsen rief mir noch einmal mit der gebotenen Strenge eines NATO-Pressechefs ins Gedächtnis, dass 20 Minuten gestattet seien und keine Sekunde mehr. Sollte ich, so machte er mir in undiplomatischer Direktheit klar, diese Zeit überziehen, würde er das Interview rigoros und sehr unfeierlich abbrechen. Ich bat ihn, Marion in der ersten Reihe platzieren zu dürfen, gab ihr meine Stoppuhr in die Hand und sagte: „Lass sie bitte ab Beginn des Interviews mitlaufen. Wenn die letzten fünf der genehmigten zwanzig Minuten anbrechen, zeigst Du mir deutlich fünf Finger und klappst nach jeder Minute einen weg. Dann weiß ich exakt, wie viel Zeit mir noch bleibt.“ Inzwischen hatte auch ein Kollege des NATO-Fernsehstudios seine Kamera in Stellung gebracht. Wie konnte ich das vergessen! Natürlich will Wörner seinen eigenen Mitschnitt haben – sowohl fürs Archiv als auch zum Vergleich mit dem gesendeten Material. Andererseits war es eine doppelte Sicherheit, sollte wieder einmal ein technischer Defekt an unserer gemieteten Kamera auftreten. Nun harrten alle der Dinge, die da in Form einer visuellen DDR-NATO-Einmaligkeit kommen sollten. Ich hatte auf dem mir zugewiesenen Stuhl ohne Wasserkaraffe Platz genommen und wartete mit allen in der Arena auf den Auftritt des Matadors. Und jeder wartete auf seine Weise. Die Offiziers-Entourage vielleicht in der Gute-Laune-Stimmung einer praktisch dienstfreien angenehmen Abwechslung mit der kribbligen Erwartungshaltung erlebnishungriger Zuschauer beim öffentlichen Vergnügen römischer Gladiatorenkämpfe. Ich mit der Ungeduld gezügelter Konzentration, die ich endlich entzügeln wollte. Das Vorleben des Matadors. Wörner hatte zu diesem Zeitpunkt mit 54 Jahren eine illustre Karriere hinter sich. Im ersten Kabinett von Kanzler Kohl stürzte er die Regierung als CDU-Verteidigungsminister in eine schwere Krise durch die Affäre um Günter Kießling. Nachdem Wörner den Vier-Sterne-General und damaligen stellvertretenden NATO-Oberbefehlshaber wegen angeblicher Homosexualität in den vorzeitigen Ruhestand geschickt hatte, wurde er später rehabilitiert und wieder in den Dienst aufgenommen. Kohl lehnte Wörners Rücktritt ab und schickte ihn 1988 nach Brüssel. Der erste und bis heute einzige deutsche NATO-Generalsekretär und Vorsitzende des Nordatlantikrates befürwortete den NATO-Raketenbeschluss und die Eingliederung des wiedervereinigten Deutschlands in die West-Militärallianz. Zuvor war Dr. Manfred Wörner Vorsitzender des Verteidigungsausschusses im Bundestag. Als gelernter Jurist verfasste er seine Dissertation zum militärischen Thema „Strafgerichtsbarkeit über Truppen auf befreundetem Staatsgebiet“. Danach hatte er sich Mitte der 1970er-Jahre als entschiedener Gegner eines umstrittenen Beitritts der Bundesrepublik zum Atomwaffensperrvertrag unter Entspannungsfreunden den Ruf eines militärischen Hardliners erworben. Mit der Verbissenheit des Rüstungsstrategen und der Leidenschaft des Militärfliegers engagierte er sich für die Entwicklung des Kampfflugzeugs „Jäger 90“. Der spätere „Eurofighter“ schockierte zunächst mit einer hohen Absturzquote, weshalb man von „fliegenden Särgen“ sprach. Zwei Jahre vor unserem Interview hatte eine von Wörner angekurbelte vertrauensbildende Ost-West-Initiative für Aufmerksamkeit gesorgt, die Bundeswehroffizieren erstmals erlaubte, an einem Militärmanöver der Warschauer Vertragsstaaten als Beobachter teilzunehmen. Fünf Jahre nach dem Interview wurde die NATO auf Betreiben Wörners in ein sogenanntes konfliktverhütendes Bündnis umstrukturiert. Da staunte ich nicht schlecht. Verhütet man denn Konflikte mit waffenstarrenden Großmanövern vor Russlands Haustür? Auch das hätte er mir sicher – um keine Silbe verlegen – in plausibler Ausführlichkeit erklärt. Manfred Wörner galt in den eigenen Reihen als militärischer Sicherheitsfreak, der sich sowohl für die Bildung einer Deutsch-Französischen Brigade mit dem NATO-Normalpartner von nebenan als auch für eine enge transatlantische Zusammenarbeit mit dem NATO-Chefpartner in Übersee einsetzte. Den Grundwehrdienst in der Bundeswehr musste der Bürger Wörner nicht absolvieren, weil er nach westdeutschem Recht zu den sogenannten weißen Jahrgängen gehörte. Die betraf Generationen, in deren Alter einer potenziellen Einberufung es keine Wehrpflicht gab. Das stimmte für Wörner, der 1934 als Sohn eines schwäbischen Textilkaufmanns in Stuttgart geboren wurde. Bei Wehrübungen brachte er es bis zum Erwerb eines Führerscheins für Militärdüsenflieger. Er wurde Reserveoffizier der Luftwaffe im Rang eines Oberstleutnants und später Wehrexperte der CDU, hatte also schon als Verteidigungsminister beträchtliches militärfachliches Wissen im Gegensatz zu seiner heutigen Amtskollegin Annegret Kramp-Karrenbauer, die diese Position in waffentechnischer Unschuld und militärischer Unbedarftheit übernahm. Dass der Generalissimus nun auf sich warten ließ, war fraglos ein weiteres Kalkül der Macht. Dann endlich hatte auch diese Geduldstrecke ein Ende. Seine Majestät erschien gemessenen Schrittes, wie es die Würde seines hohen Amtes und die Seltenheit des Ereignisses verlangten. Ein nahezu ritueller Auftritt! Ich fühlte mich plötzlich nicht mehr wie in der viel zitierten Höhle des Löwen, sondern eher wie in der fahnendrapierten Arena eines Stierkampfes. Und wer bei dieser Corrida der strahlende Torero ist, dem zur Abwechslung mal ein mickriger kleiner Stier das rote Tuch vorhält – diese Rollenverteilung schien für seine Getreuen auf den Rängen klar. Auch sie sahen rot! Ready to rumble! Wortgefecht statt Interview-Frieden. Der Herausforderer – pardon Interviewer – hat im klassisch journalistischen Sinne nur zu fragen und die Antworten zu kassieren. Die Nachfrage war im ungeschriebenen Reglement der Interview-Ästhetik erlaubt und auch erwünscht, aber keine ellenlangen Eigenerklärungen mit ausführlicher Polemik. Das wäre nicht nur ein eklatanter Stilbruch, sondern ein handfester Fauxpas – und den beging ich. Das Interview geriet schon nach wenigen Minuten zum deftigen Streitgespräch, da ich mich bei Grundsatzdifferenzen zu meinem Gegenüber nicht mehr als sachlicher Anworten-Kassierer fühlte, sondern als provozierter Kenner der Materie. Ich hielt mich zwar verabredungsgemäß an die Fragen, fühlte mich aber des Öfteren fast zwanghaft zu Ein- und Widerspruch, Zwischen- und Nachfragen bemüßigt. Dabei sprengte ich im Eifer des Gefechts mitunter die Spielregeln, weil ich selbst recht ausführlich meine andere bis gegensätzliche Sicht der Dinge einbrachte, bevor ich auch nicht abgesprochene Zusatzfragen stellte
Rudolf Kirchschläger. lud mich als österreichischer Bundespräsident. zu einer ungewöhnlichen Privataudienz ein. Es gibt bekanntlich Sachen, die gibt es gar nicht. Dazu gehört die alljährliche Versteigerung eines Mittagessens mit einem gewissen Warren Buffett zu millionenschweren Konditionen. Dass der Amerikaner zu den reichsten Menschen der Welt gehört, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Wesentlich ist, dass dem Finanzgenie, Starinvestor und Großunternehmer ein untrügliches Geschick zur Geldvermehrung nachgesagt wird. Um von diesen kapitalen Fähigkeiten zu profitieren, die sein Dasein mit rund 80 Milliarden Dollar vergoldet haben, reißen sich Finanzjongleure aus der Oberklasse des Geldadels um ein „Power Lunch“ unter vier Augen mit dem mittlerweile 90-jährigen Finanzmogul. Das wird einmal im Jahr möglich, wenn das private Essen im Internet versteigert wird. 2019 legte dafür ein Mitbieter mehr als 4,5 Millionen Dollar auf den Mittagstisch und gewann mit dieser Rekordsumme das Recht, dem Multimilliardär einige Tricks und Tipps zur Kapitalanlage zu entlocken. Die Lunch-Gelder gehen an Obdachlose und Arme in San Francisco. Ein Turbokapitalist als sozialer Wohltäter. Das kommentierte der für seine scharfsinnigen, geistreichen Bonmots bekannte Finanzaristokrat mit origineller Selbstironie: „Es herrscht Klassenkampf. Meine Klasse gewinnt, aber das sollte sie nicht.“ Ähnlich ungewöhnlich wie dieses obskure Mittagsmahl erscheint mir das private Mittagessen eines österreichischen Bundespräsidenten mit einem ostdeutschen Journalisten. Hätte der sich diesen Lunch mit dem ersten Mann im Staate Österreich ersteigern müssen, wäre es dazu nie gekommen. Trotzdem gibt es eine Parallele zum Warren-Buffett-Essen, denn kapital profitiert hat vom Dinner mit dem höchsten Repräsentanten der Alpenrepublik auch der Fernsehmann, wenn auch auf andere Weise. Er bekam ebenfalls Informationen mit Seltenheitswert. Denn wann hat eín normal Sterblicher schon die Gelegenheit, im Gespräch unter vier Augen private Ansichten eines international geachteten Staatsmannes zu Dingen des täglichen Lebens zu erfahren?! Auch diese Geschichte muss der Reihe nach erzählt werden. Das explosive Umfeld meiner Österreich-Mission. Nach fünf fernsehintensiven Moskau-Jahren zwischen Brest und Kamtschatka erwarteten mich in der Redaktion Außenpolitik vielfältige andere Aufgaben, darunter die eines DDR-Sonderkorrespondenten für Österreich. Eine attraktive Aufgabe. Der Wiener Charme und Schmäh, Grinzing und der Heurige waren mir schon frühzeitig sympathisch geworden durch meinen Kinder- und Jugendfreund Ferenc „Feri“, dessen Familienstamm in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie wurzelte. Trotzdem waren für uns die Helden nicht Kaiser Franz Joseph oder andere verblasste Blaublüter, sondern ewig lebendige Zelluloid-Mimen wie Hans Moser und Theo Lingen, die wir grenzenlos verehrten und zum Gaudi unserer Freunde in Sprache und Gestik mit Erfolg nachahmten. Gleichzeitig war das so nahe Österreich für den DDR-Bürger normalerweise so fern wie ein Lunakrater auf dem Mond – und nun durfte ich plötzlich auf dem Mond wandeln. Der hatte in den 1980er-Jahren in der Ost-West-Relation eine Menge Stolpersteine. Der größte von ihnen war der bereits am 12. Dezember 1979 gefasste Raketenbeschluss der NATO, der zum besseren Verständnis dieser Geschichte noch einmal zu erwähnen ist mit seinem janusköpfigen Charakter. Zum einen sollten ab Dezember 1983 amerikanische Atomraketen in der BRD und anderen westeuropäischen Ländern gegen eine vermeintliche übermächtige sowjetische Militärmacht aufgestellt werden – und zum anderen sollten parallel dazu Moskau und Washington über eine Begrenzung ihrer atomaren Mittelstreckenraketen reden. Nicht verhandelbar allerdings – so ließ man Moskau wissen – seien die US-Raketenpläne für den Weltraum. Damit war das US-Militär einseitig vorgeprescht nach der schon immer praktizierten Maxime „America First“. Dialog und US-Raketen – Zuckerbrot und Peitsche. Darin sah der Kreml einen inakzeptablen Erpressungsversuch. Wie sein SPD-Vorgänger Helmut Schmidt befürwortete auch Westdeutschlands CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl die Aufstellung der Nuklearwaffen aus Übersee gegen den mehrheitliche Willen seines Volkes. Zwei Monate vor der geplanten Stationierung im Dezember adressierte DDR-Staatschef Erich Honecker am 5. Oktober 1983 einen Brief an Kohl, in dem er ihn zu einer „Koalition der Vernunft“ aufrief. Wörtlich appellierte er an ihn, „eingedenk der geschichtlichen Lehren zweier Weltkriege“ seine „Haltung zur Stationierung neuer atomarer USA-Raketen auf dem Territorium der BRD zu überdenken“. Er schrieb: „Nach unserer Meinung ist es in jedem Fall besser, weiter zu verhandeln als hochzurüsten.“ Der Kanzler ließ sich mit der Antwort mehr als zwei Monate Zeit. Währenddessen wurden fertige Tatsachen geschaffen, indem eine Mehrheit des Bundestages am 22. November 1983 der US-Stationierung zustimmte. In seinem Schreiben vom 14.12.1983 verteidigte Kohl die bereits begonnene Installierung des amerikanischen Raketenzauns, indem er lediglich die NATO-Version nachbetete. Da sich der Kreml durch die NATO-Zumutung von „Zuckerbrot und Peitsche“ nicht einschüchtern ließ, stationierte er im Gegenzug Nuklearwaffen in den Warschauer Vertragsstaaten und insbesondere in der DDR als Parität zu Westdeutschland. Damit hatte Doppeldeutschland seine doppelte Bedrohung. Die DDR-Regierung hatte die Raketen in West wie Ost und damit auch im eigenen Land abgelehnt, war aber zugleich mit einer nicht nachlassenden Ausreisewelle in Richtung BRD konfrontiert. Ein gesamtdeutsches Pulverfass, an dem die Lunten an beiden Enden glimmten. In diesen dramatischen Kontext ist meine Geschichte eingebettet – allerdings nicht auf weichen Daunen. Eine schier unglaubhafte Einladung. In dieser Dunkelzeit des Verhältnisses zwischen beiden deutschen Staaten kündigte der österreichische Bundespräsident Dr. Rudolf Kirchschläger für den 11. Oktober 1983 einen mehrtägigen Staatsbesuch in der DDR an. Das muss Honecker wie ein Licht am nicht absehbaren Ende des Ausreisetunnels erschienen sein, wertete es doch das angeknackste Image der DDR und seines Chefrepräsentanten auf. Vereinbart wurde mit Kirchschläger, dass er im Vorfeld seiner Visite fünf Journalisten der wichtigsten DDR-Medien zu einem Pressegespräch empfängt. Die Bildschirm-Fraktion sollte ich vertreten. Außerdem wurde angefragt, ob Kirchschläger dem DDR-Fernsehen zusätzlich ein Exklusivinterview gewähren könnte. Die Bestätigung ließ nicht lange auf sich warten – und war zu aller Erstaunen von einem Brief begleitet, der persönlich an den Interviewer gerichtet war. Was ich da las, überraschte nicht nur mich. Der österreichische Bundespräsident lud mich für den Tag des Interviews, den 28. September 1983, zu einem privaten Mittagessen ein
Foto: Dieter Wahl. Eine schnörkellos nüchtern formulierte Einladung, die genauso kurz und bündig wie ungewöhnlich war. Nahm sich der höchste Repräsentant der Republik Österreich tatsächlich die Zeit, dem für 14 Uhr vorgesehenen Interview ein einstündiges Privatessen mit dem Fragesteller voranzustellen, eine Privataudienz in der Hofburg? Ja, es war so und es gehört zu den eindrucksvollsten persönlichen Begegnungen in meiner vierzigjährigen Berufslaufbahn. Das Kuvert mit der goldenen Prägung des österreichischen Bundesadlers samt Autogrammfoto ruht noch heute wohlverwahrt in den Annalen meines Archivs. So sehr ich mich gefreut habe, so klar war mir auch, dass die Einladung weniger namensgebunden war als vielmehr funktionsgebunden. Das optische Attraktiv-Medium Fernsehen bringt es mit sich, dass Bildschirmakteure zu Eitelkeiten neigen – aber solch abwegige, die mich als Fernseh-Auserwählten des österreichischen Staatsoberhauptes sehen, verbietet selbst der geringste Realitätssinn. Trotzdem war ich es, dem diese Ehre zuteilwurde, und das genoss ich. Also bereitete ich mich seelisch und moralisch auf den außergewöhnlichsten Mittagstisch meines Lebens vor – und mit einem Fragenkatalog auf das anschließende TV-Interview. Und das einen Tag vor der traditionellen Presserunde gemeinsam mit meinen Kollegen von Rundfunk, Nachrichtenagentur und überregionaler SED-Tageszeitung Neues Deutschland im Amtszimmer des Bundespräsidenten in der Wiener Hofburg. Nebenan in den präsidialen Privatgemächern sollten Exklusiv-Interview und Mittagsmahl stattfinden. Da ich mich inzwischen gründlichst mit der Alpenrepublik und seinem Dr. Kirchschläger befasst hatte, dachte ich damals, was ich auch heute noch denke: Was einem DDR-Journalisten, egal welchen Namens, da zuteilwurde, war die demonstrative Geste der außergewöhnlichen Höflichkeit und Achtung eines unvoreingenommenen Spitzenpolitikers und intellektuellen Humanisten gegenüber einer Republik, die staatlich nicht weniger souverän war als die BRD, mit der sie gleichberechtigt in die UNO aufgenommen wurde. Anders als die Bundesrepublik war sie gegen jegliches atomares „Teufelszeug“ auf deutschem Boden, wie Honecker es ausgedrückt hatte. Womit er sich den Zorn Breshnews zuzog, weil er Atomwaffen des Freundes mit denen des Feindes gleichsetzte – frei nach der Erkenntnis, dass es egal sei, durch welche ein DDR- oder BRD-Bürger sterben würde. Zudem – und das wusste Kirchschläger – war der DDR politischer Standesdünkel fern, denn im Gegensatz zur Bundesrepublik hat sie den anderen deutschen Staat von Anfang an als Realität anerkannt. Mann des Volkes und politischer Tugenden. Kirchschläger selbst verabscheute Wichtigtuerei und Überheblichkeit. Er sah sich als Mann aus dem Volk, war wegen seines bescheidenen Auftretens äußerst beliebt, schon zu Lebzeiten eine in die Geschichte geschnitzte Denkmalfigur und bis zu seinem leiblichen Ende im März 2000 eine unangetastete Autorität. Als ich ihn traf, war er 68 Jahre und zum zweiten Mal in Folge in das höchste Staatsamt gewählt. Mehr ließ die österreichische Verfassung nicht zu. Da der Bundespräsident direkt vom Volk ernannt wird, sagt das alles über seine Popularität, die ihm mit dem erlaubten Maximum von zwei Mal sechs Jahren ins höchste Amt verhalf – von 1974 bis 1986. Wiedergewählt wurde er 1980 mit dem Rekordergebnis von fast 80 Prozent der abgegebenen Stimmen. Dabei war sein Lebensweg alles andere als eben. Er begann in ärmlichen Verhältnissen als Sohn eines Fabrikarbeiters, der schon mit elf Jahren Vollwaise wurde. Bevor der parteilose promovierte Jurist in die Wiener Hofburg einzog, war er Diplomat und Außenminister. Als solcher zeigte sich gerade in heiklen internationalen Situationen sein aufrechter Charakter mit unbestechlichem politischem Sinn für Recht und Gerechtigkeit. Das war auch so in den schwersten und blutigsten Stunden der Republik Chile, als sich bei dem USA-unterstützten Militärputsch gegen den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Allende der Tyrann Pinochet an die Macht mordete. Da gab er als Außenminister der österreichischen Botschaft in Santiago die Anweisung, den Verfolgten Obhut zu gewähren. Eine Prinzipientreue gegen rechts, die sich bereits nach dem Anschluss seines Landes an das faschistische Deutschland gezeigt hatte. Er verweigerte sich der Hitlerpartei NSDAP und nahm dafür den erzwungenen Abbruch seines Studiums in Kauf. Als Botschafter in Prag bewies er einmal mehr sein Herz für Menschen in Bedrängnis. Gegen die Anweisung des damaligen Außenministers Kurt Waldheim öffnete er 1968 seine diplomatische Vertretung für tschechoslowakische Bürger, die sich beim Versuch eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ – bekannt als „Prager Frühling“ – vor den einmarschierenden Truppen des Warschauer Vertrages in Sicherheit bringen wollten. Dass sich die DDR an dieser von Moskau initiierten Aktion nicht beteiligte, wird dem erfahrenen Diplomaten Kirchschläger sicher nicht entgangen sein. Eine faszinierende Persönlichkeit, die ich nun näher kennenlernen durfte. Wie würde sie sich mir gegenüber geben? Der ungewöhnlichen Begegnung sah ich mit den gemischten Gefühlen aus Spannung und Neugier entgegen. Ich habe nicht wenige Staatsmänner kennengelernt, zu deren Habitus es gehörte, Presseleute in ehrfürchtiger Ergebenheit warten zu lassen, um ihren huldvollen Auftritt mit dem gebührenden Gewicht ihres Amtes zu zelebrieren. Unbestrittener Meister in dieser Kunst effektvoller Selbstinszenierung war Frankreichs Staatspräsident Mitterrand, der sich grundsätzlich bis zu einer Stunde gezielt verspätete – sowohl bei Pressekonferenzen als auch bei den beiden Interviews, die ich mit ihm führen konnte. Allein sein Erscheinen wurde damit schon zum Ereignis, das einer huldvollen Audienz seiner Majestät gleichkam. Die „Sphinx“ durfte das, wie die Franzosen ihren modernen Sonnenkönig wegen seines intellektuellen Feingeistes respektvoll nannten. Eine private Sternstunde mit dem Staatsoberhaupt. Der Bundespräsident begrüßte mich Punkt 13 Uhr und bat zum Aperitif. Zuvor hatte ich mich ergebnislos gefragt, welchen Inhalt und welche Tonlage ein solch ungewöhnliches privat-persönliches Spitzentreffen zwischen einem Ost-Journalisten und einem westlichen Staatsoberhaupt wohl haben könnte. Plumpe Vertraulichkeit meinerseits war da wohl ebenso unangebracht wie distanzierte Förmlichkeit – und peinliche Unterwürfigkeit wiederum wäre da genauso fehl am Platze wie eine politische Lippe auf lächerlicher Augenhöhe zu riskieren. Zu meiner Erleichterung war es der Gastgeber selbst, der all diese Fragen beantwortete, indem er mich von der ersten Minute an in eine zwanglose Plauderei hineinzog. Der dabei aufkeimende Eindruck, am familiären Mittagstisch eines leutseligen, wohlwollenden Gastgebers zu sitzen, enthob mich jeglicher Verlegenheit. Komplettiert wurde dieses Empfinden durch das Gefühl häuslicher Gemütlichkeit, personifiziert durch eine ältere Frau, die uns mit mütterlicher Hingabe bediente. Es war unschwer zu erraten, dass sie in ihrer unaufdringlichen Allgegenwart der gute Geist von Küche und Haus war und dass der Hausherr dies mit freundlicher, vertrauensvoller Anerkennung zu schätzen wusste. Dass er ein Gourmet war, verriet sie durch die nahezu pedantische Stimmigkeit von Speis und Trank mit natürlich echt österreichischer Traube. Die – so sagte Kirchschläger nicht ohne Stolz – wachse sogar an den Hängen des Kahlenbergs, womit Wien in Europa die einzige Hauptstadt mit größerer Weinproduktion sei. Damit begann eine lockere, angeregte Unterhaltung, deren themenbunter Bogen sich weit über die anberaumte Stunde hinaus spannte. Dabei sprach auch der Familienmensch Rudolf Kirchschläger, der mit seiner Herma 60 Jahre lang bis zum Lebensende im Jahre 2000 verheiratet blieb. Beständigkeit auch im Familiären. Damals war sein Sohn 36 Jahre. Prof. Dr. Walter Kirchschläger hatte sich einen Namen gemacht als Theologe und Philosoph an der Spitze österreichischer Universitäten und Hochschulen. Mit seiner Frau Heidi hatte er seinen Eltern vier Enkel geschenkt. Handsigniertes Porträt von Österreichs Bundespräsident Rudolf Kirchschläger zur Erinnerung an seine Privataudienz. Foto: Photo Simonis Wien
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