Die Mumie der Bouffiers
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Ekkehard R. Bader. Die Mumie der Bouffiers
Impressum
Die Mumie der Bouffiers. Als die Morgendämmerung den Horizont in einen geheimnisvollen Zauber verwandelt hat öffnet Jakob, der notorische Frühaufsteher, das Fenster seines spartanischen Studentenquartiers und vernimmt sogleich ein Ächzen vom Kirchturm, um den herum alles irgendwie zu schwanken scheint. Dann jedoch sieht Jakob die hastenden Nebelschwaden, wie sie allmählich den Sonnenstrahlen weichen und zuletzt die Oberhand gewinnen. So verspricht der kommende Tag, entgegen dem gestrigen Wetterbericht, recht freundlich zu werden, trotz der eben noch bizarr aufziehenden Gewitterwolken. Während der große Zeiger des englischen Standregulators auf sieben Uhr vorrückt, dringt plötzlich das Rattern eines Transporthubschraubers in das bisherige Schweigen der bäuerlichen Siedlung. Es scheint, als versuche der Helikopter, vielleicht wegen eines Motorschadens, zu landen, ehe schlagartig jener höllisch anmutende Lärm über dem Ort verstummt und nichts mehr auf eine gefährliche Situation hinweist. Es ist genau jener Augenblick, da startet mit einer Fehlzündung Ramona Grabowski, Tochter des pensionierten Ortsvorstehers und Studentin an der Kunsthochschule, vom elterlichen Grundstück zur Landstraße, von wo sie in gut zwanzig Minuten die ansässige Commerzbank erreicht, um Erkundungen einzuholen, ob das hiesige Geldinstitut ihrer kürzlich, etwas voreilig gegründeten „Bildergalerie malender Hausfrauen“ mit einem Kredit unter die Arme greifen könnte. Sie wollte es wenigstens probieren, fügt sie rasch hinzu, denn eigentlich glaubte sie noch nicht, wirklich erfahren genug zu sein für diesen, wie sie meint, waghalsigen Schritt auf dem immer hartnäckiger umkämpften Finanzsektor. Als der Bankdirektor, vom Handy einer Mitarbeiterin herbeigerufen, bald darauf den Kundenraum betritt, sieht Ramona die eben noch eifrig plaudernden Angestellten sich ihr, der unerwartet aufgetauchten jungen Besucherin, eifrig zuwenden, während der Dienstherr mit einem implantierten Lächeln auf die Kundin zugeht. Ramonas Wunsch, deutet er an, werde er umgehend prüfen lassen. Er habe keinerlei Bedenken, sagt er mit gutmütigem Augenzwinkern, ihr eine bestimmte Geldsumme vorzustrecken, er werde tun, was in seiner Macht stehe. Und da eröffneten sich vielfältige Möglichkeiten. Er kenne sich in derartigen, wenn auch nicht selten komplizierten Transaktionen aus, habe er doch oft damit zu tun. Natürlich, räumt er ein, herrsche überall das weiß Gott nicht leicht zu durchschauende Flechtwerk des Marktes. Es müßte allerdings mit dem Teufel zugehen, wenn er nicht helfend einspringen könnte. Blickt dann mit sichtlichem Wohlgefallen zu der jungen Frau und wischt mit einer lässigen Handbewegung jeden Zweifel am Gelingen seiner Bemühungen beiseite. Daß für den leutselig wirkenden Börsenmakler nur die Provision des Darlehens von eigentlichem Interesse ist, bleibt der Studentin zunächst verborgen. Hingegen findet Ramona passende Worte, mit denen sie zu danken weiß und zugleich gesteht, eine derartige Hilfsbereitschaft nicht erwartet zu haben. Wenn sie nur an ihre Lehranstalt denke, wo Kabale und Liebe einander ablösten und Intrigen als mitunter letzter Ausweg in Frage kamen. Sie beschwöre aus genannten Gründen den Börsenmakler inständig, ihr das Ergebnis der Recherche möglichst rasch, vielleicht in zwei bis drei Wochen, mitteilen zu lassen. Wofür sie ihm, dem Bankenchef, sehr verbunden wäre. Sie leide an dem Mangel naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, aber mehr noch am Defizit in mathematischer Disziplin. Jetzt werde sichtbar, dass sie fast ihren gesamten Eifer hauptsächlich den musischen Fächern gewidmet zu haben glaubte. Sie müsse daher achtgeben, nicht in den verkehrten Zug einzusteigen. Oder irgendwann auf ein Nebengleis zu geraten. Das bedeutet, sämtliche Möglichkeiten abzuwägen und mögliche Fehler auszuschließen, ihnen keine Chance einzuräumen. Der dunkelhaarige Mittfünfziger, ein agiler Geschäftsmann und zudem hinreichend diplomatisch sattelfest, läst etliche Sekunden verstreichen, bis er wiederum implantiert lächelt. Eine von ihm konsequent erprobte Taktik, die sich während seiner langjährigen Berufspraxis stets als vorteilhaft erwiesen hatte. Ist er doch zu weitläufigen Fähigkeiten gelangt dank fürsorglichen Umganges mit den Kunden, die er in Sicherheit zu wiegen verstand und denen er vor allem das sichere Gefühl einflößte, Hoffnungen seien erfüllbar, zumindest fast immer, wobei er den ihm angeborenen Optimismus auf jene übertrug, die sich seinen Spielregeln unterwarfen bzw. nicht bemerkten, dass er sie gekonnt übers Ohr haute. Depressionen sowie Enttäuschungen fegt er gnadenlos aus seinen Gedanken, lagert sie daher außerhalb des eigenen Dunstkreises. Und hält sich strikt daran, nicht einmal langjährigen Freunden offen seine Schwächen erkennen zu lassen, weil es einem Sturz in eiskaltes Wasser gleichkäme, aus dem das rettende Ufer wahrscheinlich kaum noch zu erreichen ist. Auch für ihn, beteuert der Bankenchef, heiligt der Zweck die Mittel! Jedem seiner Kunden rate er daher dringend, er müsse zuerst lernen, sich selbst zu erleiden, um auf eigenen Beinen stehen zu können. Inzwischen haben die Angestellten der Müllabfuhr sämtliche Reviere des Straßendorfes beräumt und dabei jeden Einwohner, auch den letzten, wachgerüttelt. Manche reden vom russischen Panzer. Auch Singvögel und eben noch gurrende Wildtauben geben sich jetzt reservierter. Die Welt ringsum, deren Gesetzen und Maßnahmen er voll zustimmen muss, hat jetzt zu ihrer üblichen Normalität zurückgefunden. Es wird ab sofort alles sein wie immer. Genau in diesem Augenblick klingelt Jakobs Handy: Sein Studienfreund Markus möchte von ihm wissen, ob er sich am geplanten Sonntagsmeeting gegen den provokativen Aufmarsch von Rechtsradikalen beteiligen wird? Diese gesellschaftlich reaktionären Typen, beschwört Markus seinen Freund Jakob, wollten unter der demagogischen Losung „Für ein freies deutsches Vaterland“ vom gegenwärtigen System angeblich enttäuschte Bürger dafür gewinnen, sich an der 1871 nach dem Sieg Preußen-Deutschlands über das Kaiserreich Napoleons III. gepflanzten „Friedenseiche“ einzufinden. Am besten sei es, empfehlen sie, mit Kind und Kegel sowie Gleichgesinnten anzurücken. Denn je mehr Kameraden, wie sie ihre Mitläufer nennen, am Universitätscampus eintreffen, desto eher wird zu beobachten sein, dass die Front derjenigen Bürger wächst, die das jetzige korrupte System ablehnten! Nur durch sie, verkünden die „Wahren Demokraten“ mit demagogisch ausgereiften Texten der Bevölkerung, werde es gelingen, das deutsche Volk und seine Zivilisation vor einer Katastrophe zu bewahren. Folgerichtig dürfe man deshalb, zitiert Markus Sprüche Rechtsradikaler, keine Zeit verlieren und müsse an diesem Sonntag starken völkischen Widerstand organisieren, um einem morschen System mit all seinen willfährigen Staatsdienern das Fürchten zu lehren und es in die Schranken zu weisen. Nach dem berüchtigten Motto Kaiser Wilhelms II.: Pardon wird nicht gegeben! Dabei heben Jacob und Markus ihre geballten Fäuste, schütteln sich hämisch vor lachen darüber, wie sich jene ekstatisch gebärden, die von ihrem künftigen Triumph überzeugt sind und dafür keine Mühe scheuen werden, auch wenn sie dafür ihren letzten Blutstropfen opfern müssten. Dass es freilich genau jener Sonntag ist, an dem ein von linken Parteien und bürgerlichen Liberalen arrangierter „Protestmarsch gegen Rechts“ stattfinden soll und zufällig Brechts „Mutter Courage“ im Spielplan des städtischen Operntheaters angekündigt wird, macht es für Jakob jedoch problematisch. Obwohl er schon Wochen zuvor Eintrittskarten erworben hatte, davon eine für Markus, bei dem er sich nun dafür entschuldigen müsste, wegen des oben erwähnten Grundes nicht an jenem demokratischen Meeting teilnehmen zu können. Was er natürlich, wie er Markus versichert, sehr bedauere. Es aber leider nicht ändern könnte. Verspricht seinem Freund jedoch, alles zu überdenken und sofort, falls ihm eine bessere Lösung einfalle, mit der Markus sowie andere fortschrittlich eingestellte Kräfte bereit wären, sich anzufreunden. Augenblicklich jedoch vertieft sich Jakob erneut in das von Christian Friedrich Daniel Schubart 1740 verfasste Gedicht „Die Fürstengruft“. Entscheidend dafür war jene von ihm zufällig aufgeschnappte Unterhaltung zwischen Direktor Hebestreit und Seminarleiter Dr. Hufnagel, der, wie Jakob herauszuhören glaubte, in einem Feuilleton den Kerngedanken der leidenschaftlich gegen die Feudalherrschaft opponierenden Verse erläutert haben wollte. Vielleicht, durchfuhr es Jakob, hinge davon auch seine Literaturnote ab, und nicht zuletzt das Halbjahreszeugnis! Bis dahin jedoch wollte er tüchtig ranklotzen, um verschiedene noch ausstehende Examen mit hoffentlich beachtenswerten Ergebnissen abzuschließen. Dann blickt er wiederum auf das von ihm wegen seiner inhaltlichen und sprachlichen Tollkühnheit verehrte Gedicht Schubarts, liest Satz für Satz, mit rhythmischen Hebungen und Senkungen. Der Tag endet, ohne dass er sich in düstere Fiktionen hineingezogen und von irgend jemandem bedrängt fühlt. Schließt die Augen und lehnt sich entspannt im Sessel zurück. Braucht sich nicht vor dem nächsten Morgen zu grämen, weil keine unruhige Nacht vorausfolgen wird. Da ist er todsicher. Streckt sich und gähnt vor sich hin, bleckt dann wie ein heranschleichendes Raubtier seine weißen Zähne, als setze er zu einem gewaltigen Sprung auf ein junges Reh an, aber nur für einen winzigen Augenblick, bis er nichts mehr als karge Leere um sich erblickt. Ahnt jedoch dessen ungeachtet, dass ein Wetterumbruch bevorstehe. Zumindest für ihn und einige seiner engsten Freunde. Das müsse sorgfältig beobachtet werden, ehe es nichts mehr zu beobachten gäbe. Dennoch glaubt er, wie in früheren Jahren, an seine stabile Gesundheit. Nicht irgendwelchen Schwachstellen wird er unterliegen, jedenfalls nicht jetzt. Und weiß ziemlich genau, wo er anzupacken hat, damit es ihm gelingt, sich weiterhin fest im Sattel zu halten, ohne daß irgendein politisches Ereignis ihn wirklich erschüttern könnte. Da lohnt es sich natürlich stets, gute Ideen rasch zum Durchbruch zu verhelfen. Lacht auf und öffnet seine Lippen, um sie gleich wieder zu schließen, als setze er einen Schlusspunkt hinter seine Überlegung. „Da liegen sie“, nimmt sich Jakob, diesmal beinah reserviert, den ihn ungeheuerlich vorantreibenden Text Schubarts wieder vor, „die stolzen Fürstentrümmer, vom fürchterlichen Schimmer des blassen Tags erhellt, einstmals die Götzen ihrer Welt, mit erloschnem Blick, wo ein Fingerzeig von ihnen über Leben oder Tod entschied. “ Jakob erschaudert es, bedenkt er die Leiden und Konsequenzen für die meisten der Untertanen. Immerhin: Wegen jener rückhaltlosen Kritik an der feudalen Obrigkeit musste Schubart zehn Jahre Kerkerhaft auf dem HohenAsperg verbüßen. Laut Befehl des Herzogs Carl Eugen von Württemberg, angeheirateter Neffe Friedrichs II., der nicht weniger barsch als sein fürstlicher Spießgeselle im Süden des Reiches jeden Ungehorsam leibeigener Bauern auf seinen Gütern sowie die ganz Europa empörende Soldatenschinderei mit drakonischer Härte erbarmungslos unterjochen ließ. Friedrich Schiller, vom gleichen Winkeldespoten auf der Hohen Karlsschule als Zögling in harter Zucht festgehalten, gelang es, den Herzog zu täuschen und den württembergischen Freiheitshelden in dessen Kerker aufzusuchen, wo er ihn unmenschlich behandelt und darben sah. Ob es damit zusammenhängt, dass man derartige Ungeheuerlichkeiten nicht mehr nachzuvollziehen imstande ist, weil darüber Jahrhunderte voller Kriege und brutaler Ausbeutung vergangen sind? Jakob fährt, als sei er über diese Misshandlungen noch jetzt empört, mit der rechten Hand durch die Luft, als wollte er beiseite wischen, was ihn daran so entsetzte, was er vielleicht zum Teufel gejagt hätte, wenn es ihm nur möglich gewesen wäre. Ob es vielleicht nur ein dummer Zufall ist, dass es gerade jetzt in Jakobs Hörmuschel mehrmals knackt und bald darauf Markus ausgeblendet ist, oder verschuldet doch nur eine banale technische Störung das jähe Tonversagen? Wer aber sollte das entlarven, wo ähnlich fatales Versagen oder Unvermögen öffentlicher Behörden inzwischen zur Tagesordnung geworden zu sein scheint, also zu einer selbstverständlichen Gepflogenheit? Hauptsache, es bleibt genügend Zeit für sorglose Teestunden mit Plaudereien und Witzen über angeblich niederträchtig handelnde Nachbarn, die selbst auf Kinder verzichten angesichts dringender Termine, wie sie vor sich und aller Welt behaupten. Und wohl noch stolz darauf sind auf jene gewiss seltsame Art von leiblichen Entbehrungen. Alles hängt wohl doch mit entsprechenden Erfahrungen zusammen, die wir nur gemeinsam vollbringen können, bis wir über sämtliche Details unserer Umgebung verfügen. Seine gewöhnlich erst in den Abendstunden unternommenen Promenaden durch die Dorfaue führen Jakob zunächst bis zur Feldsteinkirche, ein rechteckig gemauertes Bauwerk aus dem frühen Mittelalter. Dort verharrt er nachdenklich am Turm und lauscht erwartungsvoll in den nächtlichen Himmel, der, wenn er wolkenlos bleibt, in fernen Galaxien mit abertausenden Sternen zum Hofball einlädt. Umkreist von Fledermäusen und Myriaden von Kleinsttieren. Es ist eine jener feierlich anmutenden Stunden, da Jakob vom Turm der Feldsteinkirche zwölf Glockenschläge vernimmt, die noch am Ende des Dorfangers, nahe seinem Quartier, wahrzunehmen sind. Gelegentlich schildern ihm Einheimische, dass hier, bei Mondenschein, oft kuriose Gestalten beobachtet worden sind, die gewiss aus einer anderen Welt zu stammen scheinen. Enge, schwarze Hosen tragend, weite Umhänge und weiß retuschierte Gesichter. Darüber Narrenhüte gestülpt, mit denen sie hin und her schwanken wie auf hölzernen Stelzen, was ihnen erstaunte Blicke und nicht selten verständnisloses Schulternzucken bringt sowie Kopfschütteln. Jakob jedoch ist überzeugt, dass es sich dabei lediglich um sogenannte „Gruftis“ handelt, von denen er einige frühmorgens, wenn er über den Marktplatz schlendert, um Obst und Gemüse einzukaufen, in Abfallbehältern nach Pfandflaschen wühlen sieht. Mancher die begehrte Pulle mit beiden Händen umklammernd, als befürchte derjenige, sie könnte verloren gehen, andere ein Pfeifchen schmauchend, ehe sie aus einem Leinensäckchen etwas Essbares hervorkramen. Dann beendeten sie eilig dieses absonderliche Gebaren und verlassen hastig den Marktplatz, ohne sich noch weiter um Jakob und den hiesigen Trubel zu kümmern. Sie erzählen Jakob, der eher zufällig mit jenen eifrigen Zechbrüdern ins Gespräch gekommen ist, von Spukgestalten, denen man lieber nicht in die Arme laufen sollte, wobei sie augenzwinkernd hinzusetzen, es handle sich um ein schauriges Wohnviertel, das man selbst am hellen Tag fürchten müsse! Vielleicht, geben sie mit weit von sich gestreckten, erhobenen Armen zu bedenken, sei es vielleicht einfacher, mit vielen Gefahren zu existieren als nur mit einer Notlage. Ungeachtet dieser eigentlich nicht ernstzunehmenden Andeutung fühlte sich Jakob zuletzt von irgendwelchen finsteren Gesellen angegriffen, auch wenn er schließlich nur die verzerrten Fotos des eigenen Handys vor sich hatte. Zurück in seinem Studentenquartier, hängt Jakob ermattet am Schreibtisch, durchstöbert bis Mitternacht ein weiteres Mal das Stenogramm des gestrigen Germanistikunterrichts, um für eine mögliche Prüfung vorbereitet zu sein. Zumal sie jetzt mit Dr. Schubert, ihrem neuen Seminarleiter, auskommen müssen, der, kaum hatte er sich der Klasse in kurzen Worten vorgestellt, sogleich frischen Wind entfachte. Jedenfalls hielt man Äußerungen, er werde künftig regelmäßige Leistungskontrollen schreiben lassen, für eine Methode, mit der man sich erst einmal anfreunden müßte. Vor allem betraf das leistungsschwache Studenten, die ohnehin das Rennen verlorengaben. Schließlich richtet sich Jakob auf und blickt zum Fenster, wo rückseitig Dutzende Mückenschwärme ununterbrochen kaum zu beschreibende Tanzrhythmen vollführen, bis alles irgendwann in den Mägen hungriger Vögel endet. So wird aus dem lustigen Spiel abrupt ein tödlicher Ernst. Und alles überkommt ein unstillbares Verlangen. Dann vernimmt Jakob plötzlich von der Tür her kaum wahrnehmbare Geräusche, als versuche jemand einzudringen. Doch jetzt glaubt Jakob zu träumen, als er Großmutter plötzlich vor sich auftauchen sieht, wie sie lächelnd und voller Stolz ihren Enkel, einen Prosagedichte schreibenden Studenten, in die Arme nimmt und ihn, als hätte sie es sich schon lange vorher überlegt, nach der in absehbarer Zeit stattfindenden Semesterprüfung fragt. Infolge der beachtlichen Witwenrente, die ihr als einer höheren Bankangestellten pünktlich auf Heller und Pfennig ausgezahlt wird, muss sie nichts entbehren, wirtschaftet im Haushalt aber dennoch sparsam, so daß es möglich ist, nach wie vor aktiv am gesellschaftlichen Leben des Umfeldes teilzunehmen. Ebenso zählt dazu die unentgeltliche Tätigkeit in einem Seniorenheim, wodurch sie viel Wertschätzung erhält und ihren sozialen Status beachtlich aufzuwerten vermochte. Das heftige Räuspern der Großmutter deutet Jakob, als wollte sie ihm noch wichtige Dinge mitteilen, doch plötzlich musste sie es sich wohl anders überlegt haben und entschwand wie hinter einem dicken Nebelvorhang, der jedes ihrer Worte und Schritte sofort verschluckte. Schon fiel die Tür gewohnt leise ins Schloß, als habe man alles Notwendige erläutert, darunter auch die herannahenden Semesterferien und eine Stippvisite in Großmutters Fachwerkhaus mit dem romantischen Blumengarten. Dann versucht Jakob ein unverbindliches Lächeln, als wolle er ausdrücken, daß ihn nichts mehr so schnell aus der Ruhe bringen könne, es sei denn, der Mond nehme Kurs auf die Erde. Jakob, immer noch ziemlich verdutzt vom unerwarteten „Besuch der alten Dame“, wie er anlehnend an das berühmte Theaterstück des Schweizer Autors Friedrich Dürrenmatt seine Großmutter heimlich nennt, eilt durchs Zimmer, als wäre noch viel zu tun, steuert auf den massiven Ledersessel zu, der, inmitten des Raumes stehend, einem Fels in der Brandung gleicht. Läßt sich schließlich in dessen bequem gearbeitete Polster fallen, um darin der brütenden Mittagshitze einigermaßen zu entfliehen. Das schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten in Auftrag gegebene Möbel ist Jakobs unerschütterliche Bastion, um, wenn es notwendig sein sollte, Körper und Geist zu schonen, ehe ihn sämtliche Ausdauer verlassen würde. Er verzieht spöttisch den Mund und durchschneidet mit einer abfälligen Bewegung der rechten Hand die Luft. Doch weitere Gesten des Unmuts, wie es jetzt häufig bei anderen Studenten zu beobachten ist, erspart er sich. Vorläufig noch. In diesem Augenblick probiert erneut jemand, so glaubt es Jakob zumindest, das verriegelte Türschloß, eventuell mit einem Draht, zu öffnen. Prompt macht sich Jakobs altes Kopfschmerzsyndrom aus Grundschulzeiten wieder bemerkbar. Nicht genug damit ist vom Kleiderschrank her ein Rascheln zu hören, etwa von einer den Winter überstandenen Maus? Oder einem anderen Geschöpf, durch Jakobs Betulichkeiten und dem Türgeräusch aufgeschreckt? Vielleicht handelt es sich auch nur um eine Sinnestäuschung oder die Folge der gestern von Gutknecht unerwartet angeordneten Literaturprüfung zum Thema „Martin Luthers nachhaltiger Beitrag zur Entwicklung der deutschen Sprache“. Eine gewiß nicht leichte Aufgabe, die vielgestaltiges Wissen erforderte über das „sanft lebende Fleisch zu Wittenberg“, wie der gegen Junkertum und reaktionären Klerus kämpfende Theologe und Bauernführer Thomas Münzer den 1483 geborenen Kirchenreformator einst bezeichnet hat. Jedoch bezahlt der aufrecht für die Interessen des einfachen Landvolkes streitende Münzer sein tapferes Ringen gegen Fürstenwillkür und deren willfährige Lakaien, nach grausamen Folterungen, mit dem Leben. Sein Mahnruf für künftige Generationen ist bis heute aktuell: Die Enkel fechten es besser aus! Da hilft uns vielleicht doch nur ein Wunder, das glauben zu dürfen! Zum Spotten ist Jakob jetzt wirklich nicht zumute. Er hat die Anspannung bezüglich der Klausur hinter sich, rafft sich endlich auf, am Nachmittag, auch wenn es sich kaum noch lohnen wird, in der Dorfaue spazierenzugehen. Gleich zu Anfang entdeckt er links und rechts der ehrwürdigen Kastanienallee, die aus der kleinbäuerlichen Siedlung bis in die waldumsäumte Seenlandschaft führt, weißlich blühenden Klee, darunter Dutzende vierblättrige Exemplare. Verkünder des Glücks oder wenigstens einer gewissen Ahnung davon? Das genau herauszufinden, wird Jakob noch manche Überlegung kosten, bevor er zu anderen Sprachlosigkeiten wechseln kann. Er nickt schweigend vor sich hin: Um Neuartiges zu schaffen, geht es ihm durch den Sinn, muß er den Horizont überblicken und dem Himmel ein großes Stück näher sein, ehe sich die Welt in Nebensächlichkeiten verstrickt. Er müßte durch regelmäßige Atemübungen, wie er das aus dem Yogaunterricht kennt, seine Lungen kräftigen. Jetzt aber schnuppert Jakob den faszinierenden Duft gemähter Streuwiesen, hört das sanfte Murmeln eines vorüberhuschenden Baches, dessen schmale Uferböschung von Sumpfdotterblumen gesäumt wird, als würden gelbleuchtende Fackeln ihm den Weg markieren. Da weicht jene Idylle plötzlich einem kolossalen Schnattern und Flügelschlagen: unbändige Schreie Hunderter Wildgänse zerbrechen jäh die elegische Tatenlosigkeit eines sich bisher ausnahmslos friedfertig um Jakob ausdehnenden Landstriches. Eine ungewöhnliche Situation, die sich ihm bisher nicht derart drastisch geboten hat. Jakob verlangsamt den Schritt, stemmt, wie zur Abwehr eines feindlichen Überfalls, beide Arme in die Seite, als wolle er sich damit gebührlichen Respekt verschaffen. Braust auf, schnippt wütend mit den Fingern und rückt die schmale Intellektuellenbrille paßgenau in die Stirnmitte. Und kann jetzt die ihn umgebende Wald- und Wiesenlandschaft haargenau ins Visier nehmen. Während die Vogelschar den riesigen See überfliegt, naht gleichzeitig eine Gewitterfront, die schon den Himmel zu verdunkeln beginnt. Jakob sieht die romantische Auenlandschaft, eben noch ein bildschönes Traumgespinst zwischen ihm und den Wolken, rasch enteilen. Nichts auf der Welt, denkt er fassungslos und vergißt beinah, Luft zu holen, ist von Dauer, und so vermutet er in dem hitzigen Naturgeschehen einen höheren Fingerzeig: Sofort den Spaziergang abzubrechen, wird in den nächsten Minuten die entscheidende Frage sein! Während Jakob dorthin zurückkehrt, wo er seine Tour begonnen hat, irritieren ihn Bäume, deren frühzeitig dürres Laub kaum noch Schatten wirft und jeden heiteren Gedanken verbietet. Alles scheint, zumindest in jenem Winkel, wo er sich gerade befindet, nicht mehr in Ordnung. Und dieser nichts Gutes verheißende Zustand droht sich offenbar immer heftiger zu entfalten, um Jakobs Empfindungen negativ zu beeinflussen, als besitze er kein Durchsetzungsvermögen, mit Hilfe anderer Gesinnungsgenossen das absehbare Verhängnis noch zu stoppen. Wohin kann die bedrängte Menschheit des noch bewohnbaren Planeten flüchten, wenn dafür notwendige oder geeignete Chausseen nicht mehr vorhanden sind oder erst noch gebaut werden müssen? Als Jakob endlich sein studentisches Quartier erreicht hat und ins Wohnzimmer tritt, macht er sich umgehend am Computer zu schaffen und läßt das wundersame Gerät, diese genial konstruierte Verschmelzung von Mensch und Maschine, nach seinem Willen unermüdlich für sich rattern. Schon die ersten Sätze, glaubt Jakob, haben es in sich, warnen vor der tödlichen Bedrohung der Umwelt, namentlich durch den vielerorts erkennbaren drastischen Wandel des Erdklimas auf allen Kontinenten. Verbunden mit einem beängstigenden Ansteigen der Weltmeere sowie der Rücksichtslosigkeit der Menschen gegen ihre ureigene Existenzgrundlage sowie die aller Geschöpfe Gottes, wie die christliche Religion sagt. Mit weit geöffneten Augen liest sich Jakob jene Passagen, die er gerade formuliert hat und die ihn zugleich durch und durch verunsichern, immer wieder vor: „Die nur schleierhaft vorliegenden Planspiele angeblich frei gewählter Regierungen und Institutionen“, heißt es zu Beginn seines Textes, „sowie unsozial organisierter Wirtschaftskonzerne vor aller Öffentlichkeit schuldig zu sprechen und anzuklagen, erfordert beträchtliche Energie sowie viel Mut, Entschlossenheit und spezielle Kenntnisse über die Machtmechanismen des modernen Staates, hauptsächlich jedoch ein stabiles Rückgrat, das sich der jeweiligen Situation anzupassen versteht.“ Insgesamt entwickelt sich das Pamphlet, wie Jakob seinen „Mahnbrief“ verstanden wissen möchte, als deutlich umfangreicher und drastischer, als von ihm anfänglich gedacht. Doch nun gibt es kein Zurückweichen mehr, ist das Finale besiegelt. Endlich! Der ansehnliche Prosatext liegt korrigiert und zweifach gedruckt auf dem Schreibtisch. Und er kann, wie es ihm beliebt, nach wie vor jeden Satz und jedes Wort prüfen, selbst einzelne Buchstaben und die Interpunktion, bis er sich davon überzeugt hat, nichts mehr ändern zu müssen oder zu wollen. Jetzt entscheidet Jakob, die letzte Fassung als unumstößlich zu betrachten und auf einen Stick zu bannen. Für sämtliche Eventualitäten. Dann erst wird er den Computer abschalten. Jedenfalls für heute! Nicht am Ziel angekommen zu sein, dieses Gefühl hatte ihn noch gestern bedrängt und zugleich emporgerissen. Jetzt möchte er Markus, den Studienfreund, in der Nähe haben, ihm seine Abhandlung präsentieren. Mit den banal klingenden Worten: „Na, was hältst du davon? Ist es für dich und auch jeden unserer Kumpel verständlich? Ich meine, gut genug für unsere aufrührerische Absicht?“ Danach würde er Markus das am Schluß seines geharnischten Prosatextes komponierte Gedicht endlich vortragen: Verlogene Porträts. Noch immer an Ort und Stelle. HIOB mit krasser Botschaft: Aufhören zu singen. die Wasser, Grün gerinnt. unwiderruflich zur Legende. Zwischen. menschlicher Ruhmsucht. und deren Begehrlichkeiten. ein hart gezogener Strich. durch verlogene Porträts. schräger Zeitgenossen. Nicht die Dauer eines Wimpernschlages darf künftig verlorengehen, wenn Niedertracht gegen die zivilisierte Welt fortschreitet. So bohrt es in Jakob unaufhörlich, weiß er doch, warum und wodurch Hoffnungen auf eine friedliche und lohnende Gegenwart zerstörbar werden! Er wirft sich in den Sessel, macht es sich bequem, streckt die Beine aus und erhebt sich gleich wieder, als spüre er an den Fußsohlen das Kribbeln Hunderter Ameisen. Deswegen in Panik zu geraten, ist nicht sein Ding, würde ihm nicht einmal im Traum einfallen. Eher schon bedrängen Höhenängste seine Existenz. Oder irgendwelche Konkurrenten, die ihn hindern möchten, in die erste Liga aufzusteigen, um selbst die Spitze zu erklimmen. Denn gnadenlose Konkurrenz, so hat es Jakob schon beim Spielen im Sandkasten erfahren, bringt Stärkeren den sicheren Gewinn. Er hebt beschwichtigend die Hände und seufzt. Diese Art zu leben wird auf Dauer nicht leicht sein. Nach wie vor glaubt Jakob, erst neulich habe wieder jemand in sein Studentenquartier eindringen wollen. Die seltsamen Geräusche an der Tür scheinen seine Vermutung zu bestätigen. Jakob spürt plötzlich das Hemd schweißnaß am Rücken kleben. Sein blasses Gesicht formt sich zu einem verdrießlichen Staunen. Er knipst die Stehlampe aus und schwankt, so schnell es eben möglich ist wegen der eingeschlafenen, jetzt allerdings auch noch schmerzenden Beine, zum Feldbett, das er seit Jahren vorsichtshalber mit sich herumschleppt. Auf jeden Fall immer dann, wenn er den Aufenthaltsort wechselt, seine Ausbildungsstätte und sich deshalb in einer anderen, vielleicht interessanteren Universitätsstadt einrichten kann. Jakob blickt gespannt zum Fenster hin, das er einen Spaltbreit geöffnet hält, wegen der im Zimmer lungernden Sommerhitze. So vernimmt er bald die wehmütigen Gesänge der Nachtigall oder ihrer nahen Verwandten. Dann irritiert lautes Krächzen seine ausgeprägte poetische Wehmut. Kolkraben übernehmen vorerst die Herrschaft im geheimnisvoll dahinraschelnden Dunkel des Parks. Mit seinen Schlafgewohnheiten geht es Jakob ähnlich wie einst dem Weimarer Geheimrat Goethe, der auf strapaziösen Fahrten, die ihn mit einer erstaunlich vorteilhaft gefederten Chaise durch halb Europa führten, lieber das eigene, zusammenklappbare Bett mitnahm, als eine gewiß in jedem vornehmeren Hotel vorhandene Schlafcouch zu benutzen. Vor allem deshalb, weil sich der längst weltberühmt gewordene und in vielen Salons herumgereichte Autor der „Leiden des jungen Werthers“ nicht die Ausdünstungen eines Pensionsvorgängers zumuten wollte. Er, der ohnehin für Gerüche äußerst empfindsame Dichterfürst, setzte eben auf seine eigene Duftmarke, die er mit keinem anderen Fahrgast zu teilen bereit war. Zumal er gewöhnlich schon früh morgens die Pferde anspannen ließ, um sein Tagewerk möglichst zeitig zu beginnen. In der nächtlichen Stille seines Studentenzimmers, die er vor dem Zubettgehen gern noch mit Lektüre verbrachte, fühlte sich Jakob oft von Phantasiegebilden regelrecht eingemauert. War das nur ein für ihn bestimmter Zufall, mit dem er stets zu rechnen hatte? Zuletzt scheint alles, was um ihn vorgeht und zu fliehen versucht, nicht wirklich durchschaubar. Jakob mußte auf der Hut sein, nicht durch Unachtsamkeit orientierungslos abzugleiten. Für ihn ein permanentes Experiment, sich loszueisen von gefährlichen Strömungen oder Blockaden. Hielt ihn vielleicht das zeitweise ohrenbetäubende Scheppern und Ächzen von Lastkraftwagen sowie Mähdreschern längs der buckligen Pflasterstraße, wo im Parterre eines bäuerlichen Hofgutes seine studentische Unterkunft lag, tatsächlich zum Narren? Jakob lauscht, wie so oft, in das nächtliche Schweigen hinein, schmeckt förmlich den ermüdenden Hauch des in Jahrzehnten mürbe gewordenen Anwesens, seine bräunlichen, von Holzwürmern durchbohrten Möbelgarnituren. Inzwischen spendet der im Nebeldunst treibende Erdbegleiter, herabblinzelnd in die vor sich hindösende Dorfaue, nur noch fahles Licht. Kündigt sich vielleicht ein Wetterumschwung an? Tatsächlich rieselt bald ein leiser, warmer Regen, freilich nicht passend zu dem eher Kälte ausstrahlenden Gestirn. Zugleich macht sich Jakobs bislang nur sporadisch aufgetretender Drehschwindel erneut bemerkbar. Erschrocken sucht er nach einem festen Halt in seiner Nähe. Das fehlte ihm gerade noch, wie ein taumelnder Trunkenbold zu wirken! Vor seinen entzündeten Augen beginnen jetzt, rote Blitze zu tanzen, die sich rasch ausbreiten und wieder verlöschen. Vermutlich sind diese gesundheitlichen Probleme wohl dem zunehmenden Leistungsdruck an der Germanistischen Fakultät geschuldet, wo die bevorstehende halbjährliche Semesterprüfung längst schon den gesamten studentischen Lernprozeß beherrscht. Mit Gesprächsrunden zu allen erdenklichen Themen. Gewiß schwierige Wochen, in denen jeder Student Federn lassen muß, vielleicht aber auch gute Resultate erzielen kann. Seine körperlichen Beschwerden würde Jakob bald vergessen haben, beruhigt der Röntgenologe aus dem städtischen Gesundheitszentrum und klopft ihm auf die Schulter, die allerdings schwach genug ist, es zu bemerken. Entläßt Jakob, der sich in der Röhre anwachsend eingeengt fühlt wie in einem Brutkasten, endlich aus dem MRT. Belehrt ihn noch einmal, vorerst den Lerneifer unbedingt zu mäßigen, Ruhepausen einzulegen und, wenn möglich, Sport zu treiben: oft zu radeln und sich einer Fußballmannschaft anzuschließen. So würde er, ohne daß es ihm bewußt ist, allmählich wieder ins Gleichgewicht zurückfinden. Die Worte des Facharztes ermutigen Jakob, das offenbar seelisch bedingte Gebrechen allmählich zu überwinden. Denn nichts scheint ihm jetzt dringender, als sein Studium fortsetzen und erfolgreich zu beenden. Jakobs Augen leuchten, als habe er soeben eine freudige Botschaft erhalten, die ihm verspricht, sich aus der Zwickmühle befreien zu können, da er Sorge hat wegen seiner Verläßlichkeit im täglichen Existenzkampf. Enthusiasmus hauptsächlich wird er benötigen, um gut voranzukommen. Er knirscht mit den Zähnen, als wolle er demonstrieren, daß man trotz all der vermeintlichen Schwächen keinen Grünschnabel vor sich habe. Doch plötzlich ändert sich Jakobs Mine völlig, besonders drastisch durch die sich ihm stellende Frage, was er eigentlich anfangen will nach dem Studium. Einen Freigeist möchte er aus sich machen, keinesfalls den laschen Spießbürger, der sich nur wirklich begreifen und entfalten kann als Nabel der Welt. Und der nur etwas Gescheites von sich hören läßt, wenn es auch andere befriedigt. Wenn er auch den Menschen neben sich akzeptieren will. Er springt auf, geht zur Tür und beginnt zu lachen, woraus ein albernes Kichern wird, bis Jakob sich nicht mehr auf den Beinen halten kann. Wes Geistes Kind er ist oder sein darf, wird seine Umwelt auszustehen haben! Er schwört, seine Bleibe möglichst oft zu verlassen und Streifzüge an frischer Luft zu unternehmen. Stubenhockerei werde er künftig meiden wie der Teufel das Weihwasser. Auf dem Schreibtisch liegt, mit schwarzer Tinte hingekliert, ein kurzgefaßter Brief an Markus, den sein Freund heute noch erhalten soll. Mit dem Eilboten versteht sich, als wäre er jemand, der sich einen solchen Aufwand leisten könne, auch wenn er noch bis heute seiner Wirtin die letzte Miete schuldig geblieben ist. Am übernächsten Tag betreten Jakob und Markus die am städtischen Mühlengraben gelegene „Gaststätte zum Alten Dessauer“, wo sie bei dem Kellner, einer jungen Aushilfskraft, frischgezapftes Köstritzer bestellen, später aber ins nahe der Kirche eingerichtete Café wechseln, wo man heiße Schokolade, Eiskreationen und diverse Speisen genießen kann. Für Jakob, den Kommilitonen wegen seines gerade erst notdürftig auf Butterbrotpapier gekrakelten Umweltgedichtes als künftigen Poeten feiern, die richtige Wahl. Im Stadtcafé mit seinen exotischen Düften und den oft einkehrenden Studenten beiderlei Geschlechts fühlen sich Jakob und Markus stets gut aufgehoben. Hier erwartet niemand letzte Kenntnisse über den weltweit debattierten Urknall, der selbst unter Experten der Quantenphysik nicht erschöpfend geklärt ist. Man streitet heftig über das Für und Wider „heiliger Kühe“ im fernen Indien, unter wessen religiösem Schutz diese oft genug den öffentlichen Straßenverkehr behindernden Tiere auch stehen mögen, und wie durch eine zunehmende Einwohnerzahl städtische und ländliche Metropolen beängstigend anzuwachsen drohen, ohne den Lebensunterhalt und die kaum lösbaren Probleme einer solchen Menschenmenge gewährleisten zu können. Irgendwann würden auch sie jenes ferne asiatische Land besuchen und an Ort und Stelle alles Schulbuchwissen darüber prüfen. Vorläufig aber bleibt ihnen nur, von jener abenteuerlichen Reise in eine völlig andersartige Welt zu träumen. Dazu ein Glas Portwein, den sie auf das Wohl Indiens und seiner Menschen trinken und der ihre Phantasie aus den Angeln hebt. Trotz der zahlreichen Gäste, von denen in erster Linie die Jüngeren mit Spektakel, bisweilen geheimnisvollem Tuscheln und albernem Gehabe sämtliche Aufmerksamkeit auf sich lenken, gelingt es Jakob, seinem eifersüchtig gehüteten Laptop, den er stets mit sich herumschleppt, literarische Inspirationen oder, wie er sie nennt, „Momentaufnahmen des Alltages“ einzutippen. Sieht lächelnd zu Markus, während er volkstümliche Rhythmen auf die Tischplatte trommelt und zwischendurch ausruft: „Klar, wir schaffen das schon!“ Gemeint ist der übliche Studienkram, die sorgfältige Verarbeitung von Informationen aus Lesungen und Seminaren an der Fakultät, die er für künftige Prüfungen später einmal ausdrucken will. Er beginnt zu scherzen, während er sich rhythmisch bewegt und dabei wie ein Urbayer auf die Schenkel schlägt. Mit aller Wucht. Nicht einmal Jakob selbst versteht den Anlaß dieser seltsamen Heiterkeit. Ihm gefiel es, mit durchschaubaren Ideen den Brennpunkt eines ausgewählten Objektes erfassen zu können. Sein Umfeld anzufeuern, darauf kam es Jakob an. Er wollte nicht bloß auf der Stelle treten, sondern sich möglichst ungebremst fortbewegen, um ihrem engen, kleinbürgerlichen Wirkungskreis als einfallslose, taumelnde Eintagsfliegen, die sie ja unbestreitbar waren, durchbrechen zu können und möglichst ihm ohne Schaden zu entgehen. Konnte er denn mit sich zufrieden sein? Wenn nicht, was musste er unternehmen, um nicht leblos im Gewirr von Illusionen zu hängen? Das hieße doch, auf nichts mehr warten oder hoffen zu dürfen. War für ihn ein solcher Zustand überhaupt denkbar? Er, Jakob, der Poet, dem es logischerweise um das exakte Verdichten von Erkenntnissen geht, wusste es von vornherein und zu genau, daß für ihn eine derartige Zukunft nicht in Frage kam und er sie sich auch keineswegs wünschte! Genau dort zu rasten, wo zunächst Unergründliches an die Oberfläche gehoben werden mußte, galt Jakob als maßgeschneiderte Aufgabe. Um diese Erkenntnis noch hervorheben, runzelte er seine Stirn und verkniff sich den anmutig, aber durchaus männlich geformten Mund. Es war Jakobs erkennbare Art, sich pantomimisch zu äußern, die allerdings auch hin und wieder zur Manier abgleiten konnte. Dann wurde es Zeit, sich umzusehen. Natürlich glaubte er, in allen Lebenslagen unerschütterlich zu sein, sich fest im Griff zu haben, vor allem, wenn Markus ihm half, sich der wuchernden Bequemlichkeit an den Lehreinrichtungen der Universität entziehen zu können. In diesem Café aus Historismus und Jugendstil suchten Studenten meist höherer Semester kurzweilige Zerstreuung. Hier trafen beide Freunde recht auffällige Typen, die ihnen anderswo, in einem eher apathischen Umfeld, nicht wirklich nahegekommen wären. Denn hier wurden deftige Sätze und Sprüche gewechselt, die sich anderswo vermutlich nicht so offenherzig und schnellfüßig von einem Tischende zum anderen ausgebreitet hätten. Er biß auf seine Lippen, die wie ausgetrocknet waren. Kaum zu fassen, daß der am Ecktisch neben einer jungen Studentin flirtende Herr mit braunem Schlapphut und schmalen Brillengläsern tatsächlich Gutknecht war, der neue Seminarleiter, der sie vorige Woche durch eine überraschend angeordnete Prüfungsarbeit schockiert hatte! Jetzt hoffte Jakob inständig, daß Gutknecht sie übersehen möge, zumal er in die hübsche Studentin vernarrt schien, hinreichend abgelenkt von aller Welt, sein noch ungeleertes Glas erhebt und ein wenig nervös zitternd auf das Wohl der jungen Schönheit prostet. Man lächelt sich an und lebt, wie es zuverlässige Beobachter der Szene beschreiben, alle möglichen erschwingbaren Träume, von denen Gutknecht, dem Umfeld gemäß, eine analoge Vorstellung besitzt und eifersüchtig hütet. Er glaubt nur noch sich selbst zu spüren, und davon würde er nie mehr ablassen. Daß in der feuchtfröhlichen Runde ab und zu eine Flasche Wein geköpft wurde, ergibt sich je nach Gemütszustand der Anwesenden und war unumstößliche Regel. Die bekannte Erfahrung, unser Aufenthalt in einer seit langem aus den Fugen krachenden Welt sei ohnehin nur von flüchtiger Dauer, fand allgemeines Interesse und wurde frenetisch beklatscht. Schließlich war die letzte Flasche, ein jahrzehntelang im Weinkeller umsorgter Riesling, bis zum Boden geleert, da hallten vom nahen Kirchturm her, per Finger nachgezählt, zwölf metallische Glockenschläge. Als handelte es sich tatsächlich um Kuckucksrufe, wurde durch deren Zahl, so wußte man es aus der geheimnisumwitterten, aber schon längst verstaubten Sphäre der Großeltern, noch mögliche Lebensjahre preisgegeben. Natürlich ahnte keiner, was es für den einzelnen bedeuten würde. Wenn das Abschiednehmen vom liebgewonnenen Alltag gekommen war, nickte jeder der sein Heil suchenden Gäste, bis plötzlich diese gewisse Stunde eintrat, in der Schein und Realität getrennt wurden. Dann breitete sich ringsum in den angestrengt lauschenden Mienen nicht von ungefähr so etwas wie Bestürzung aus, die jedoch bald in Heiterkeit umschlug und eine wichtige Triebfeder für jede Art von Daseinsfreuden wurde. Spontan erhob sich Jakob. Wahrscheinlich etwas zu rasch, denn ihm war, als schwankte jetzt der Boden unter den Füßen. Hatte er doch wieder mit unangenehmen Gleichgewichtsstörungen zu tun? Wobei ihn ein Frösteln überkam, das lange anhielt, zu lange wohl, ehe sich die Gänsehaut zu verflüchtigen begann. Ihm fiel eine Melodie aus frühen Kindheitstagen ein, woran er sich lange Zeit nicht mehr erinnert hatte. Vielleicht stellt sich irgendwann auch der einst so leicht von den Lippen gekommene Text wieder ein? Dann tauchen plötzlich die wie in einem tiefen Loch versunkenen Worte an die Oberfläche: „Maikäfer, fliege, der Vater ist im Kriege. Pommernland ist abgebrannt, Maikäfer fliege!“ Aber wohin sollte er denn fliegen können, wenn ringsum alles zerstört war? Genauso mußte es sich abgespielt haben: Der eigene Vater, den er nicht einmal gekannt hatte, geschweige denn sich an ihn liebevoll erinnern konnte, ist im Kriege verschüttgegangen wie so viele noch blutjunge Väter. Und keiner würde jemals erahnen oder gar erfahren, wo sie hingeraten sind. Wer staunt heutzutage wirklich noch über Goethes unzähligen Äußerungen zur Vernunft und Torheit, wenn auch die Gegenwart ähnliche Theorien anbietet? Obwohl sich Jakob, inzwischen hoffnungslos gegen den Schlaf ankämpfend, noch bis Tagesanbruch über den impulsiven Disput dreier Bürger in der Marktszene „Vor dem Tor“ ärgerte, glaubte er unbeirrt, durch einen intensiven Meinungsaustausch mit vernunftbegabten Wesen zuletzt doch gewinnbringenden Umgang pflegen zu können. Jene vom Suff rotgesichtig und mit hängendem Unterkiefer herumstreunenden Studenten waren für Jacob alles andere denn begehrte Gesprächspartner, denen er lieber den Rücken zukehrte. Sich mit ihnen nicht einlassen wollte. Er würde sämtliche Friedensstörer, die er als Schlitzohre charakterisierte, jedenfalls nahm er sich das oft genug vor, gehörig zurechtweisen und demonstrieren, daß er und nicht sie das Herz am richtigen Fleck besaß, oder den Arsch, wie man es in der Umgangssprache heutzutage kurz und bündig sagte, eben ohne zu zögern, meist noch mit einem albernen Kichern dabei. Schließlich war sich Jakob mit Markus einig, daß Goethes „Faust“ bis in unsere Tage hinein zum Nachdenken anstiftet: Das seit Jahrhunderten angeblich längst Entschwundene ist mit der modernen Lebensart durchaus engagierter verknüpft, als wir Zeitgenossen es wahrhaben möchten. Selbst Jakob gelang es nicht im Handumdrehen, seinen angestauten Groll einfach abzuschütteln, von trübseligen Überlegungen geplagt, etwas Sinnvolles anzupacken, sich ernsthaft zu fragen, ob wir vielleicht nur unser kleines geliehenes Leben im Kopf behalten können. Wohin, in welches Land, sollte man auswandern, um sich nicht selbst beim Aufbruch in neue Regionen zu behindern, was sollte man schleunigst unternehmen bzw. fallenlassen, wenn man das eigene, über all die Jahre liebgewordene Gesicht nicht mehr ertragen kann, wenn es nicht attraktiv genug ist für einen neuerlichen Start ins gelobte Land der Weisen? Dann, im gängigsten Ton der Welt, fragte er sich, ob solche Gedanken gut ausgehen könnten. Wessen Brot ich esse, dessen Lied ich singe: An diese Worte versuchte sich Jakob um jeden Preis festzuklammern. Und das mit aller verfügbaren Entschlossenheit und Kraft. Die einfachste Lösung müßte vielleicht darin bestehen, sich den Nachbarn wieder anzunähern und ergiebiger zu werden für Gemeinsamkeiten, sich also nicht uferlos voneinander entfernen! Deshalb sollten wir die folgenden Sätze aus dem „Faust“ für unsere moderne Existenz wenigstens skeptisch unter die Lupe nehmen, ehe wir sie zur Grundlage zeitgemäßer Handlungen erheben: Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen. Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, Wenn hinten, weit, in der Türkei, Die Völker aufeinander schlagen, Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus. Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten; Dann kehrt man abends froh nach Haus. Und segnet Fried und Friedenszeiten … Des Menschen Weg zur Ehre war wenig dezent, aber schonungslos und mit holprigen Steinen gepflastert. Von einem unveränderlichen Nimbus geformt, hat doch jede Kreatur nur ein brauchbares Gesicht. Im Getriebe des Weltgeschehens muss jeder Mensch den ihm gemäßen Anteil suchen und schließlich auch finden. Nach wenigen Stunden, gut davon die Hälfte unüberschaubare Trugbilder, verläßt Jakob sein bequemes Ruhelager, obwohl der Fakultätsbetrieb erst am frühen Nachmittag wieder begann. So blieb noch ausreichend Zeit, in der kleinen Bibliothek zu stöbern, die sein Vormieter, ein ehrgeiziger Jungakademiker, vergessen hatte, für den geplanten Umzug in ein anderes Quartier mitzunehmen, ohne der Wirtin und ihm rechtzeitig Bescheid zu geben. Das hätte sich doch wenigstens gehört für einen künftigen Hochschulabsolventen mit Aussicht vielleicht auf eine Professur! Wenn Jakob sich im Studium belastet fühlte oder durch irgendwelche Ausbildungsmängel gehemmt glaubte, fragte er sich mit nachdenklich hochgezogenen Augenbrauen, was ihn das eigentlich anginge, diese biederen, hausgemachten Rezepte und Konflikte zwischen uns Menschen, als wäre das Leben zuletzt doch nur eine Kleinigkeit, nicht aber für ein Butterbrot zu gewinnen. Den Kopf nach hinten werfend, wollte er deutlich machen, künftig wichtigere Angelegenheiten zu regeln, als einer schrulligen Meute zu folgen und deswegen kostbare Zeit zu verlieren. Er schüttelte nochmals seinen Kopf und versank ermattet im Sessel. Ob er sich noch zu abendlicher Stunde mit irgendwelchen Geschichten plagen wollte, von wem auch immer ausgeklügelt? Nichts fürchtete er mehr als Übersättigung oder sich gar darin einzunisten! Er möchte, dass man in seiner Umgebung weiß, hauptsächlich unter seinen Freunden und Kumpeln, es gibt ihn, diesen Studenten, der es zu etwas Anständigem bringen will. Egal wie anstrengend dieser Weg dauern wird. Jakob ahnt jetzt, warum er das Studium mit einem nicht unbedingt zufrieden stellenden Resultat bestehen wird: War alles damit erklärbar, daß ihm altertümlich anmutende Bilder und Fotos, meinetwegen von einem Schnitter, der die Sense kraftvoll durchs Getreide schwingen kann, immer seltener begegneten, wenn überhaupt, wo sie doch selbst auf dem flachen Land kaum noch anzutreffen sind? Wäre dieser Zustand nicht schon theatralisch genug, müßte er dagegen sofort wirksame Schritte unternehmen. Schließlich hingen Jakob die Mitgliedschaft im städtischen „Klub junger Literaten“, dem er vorigen Herbst nach häufigem Drängen von Markus beigetreten war, sowie hauptsächlich das Studium der Germanistik mit allen Pflichten und Funktionen schwer wie Mühlsteine um den Hals. Er muss schließlich schmunzeln, als er sich die Mühlsteine vorstellt, wie sie ihm den Hals beschweren, bis er kaum noch Luft holen kann.Und schickt ein leichtes Schulterzucken hinterher. Alles ist eben Schicksal! Die monatliche Publikation des Klubs unter dem Titel „Geborgenheit“ steckt auch heute wieder pünktlich in Jakobs Briefkasten, der meist halbleer und schief im Flur hing. Seine Wirtin, die nichts dem bloßen Zufall überließ, hatte sich bereits kurz nach seinem Eintreffen vorsorglich angeboten, ihm das Journal auf den Schreibtisch zu legen. Gewissermaßen direkt vors Gesicht, damit es nicht zu übersehen war. Darin enthaltene Rezensionen und Aufsätze über deutsche und europäische Lyrik nahm sich Jakob normalerweise am selben Abend vor, bis er durch das jetzt mit aller Kraft erwachende Schlafbedürfnis noch übriggebliebene Themen für den kommenden Vormittag wegräumte. Eine, wie ihm schien, effektive Methode, womit er gut zu Rande kam und an der er während des gesamten Studiums festzuhalten vermochte. Für Benutzer leicht überschaubar, reihte Jakob das abwechslungsreiche Material, geordnet nach verschiedenen Disziplinen und Inhalten, sorgfältig in die Bibliothek ein. Verbrachte damit viele Stunden, die sich endlos hinzogen. ohne daß ihm etwas Erfolgversprechendes, zumindest etwas, das er dafür halten konnte, aufgefallen wäre, um der Gesellschaft Nutzen und Vorteile zu bieten. Er horchte auf, schaute zum Fenster hin, als hätte er davor Schritte gehört, allerdings sehr bedächtige. Doch es blieb still. Zu still, um sich wohl fühlen zu dürfen. Eben zu friedfertig, um nicht arrogant zu scheinen. Niemals hatte er Unproduktives oder Verwerfliches angestrebt. Daher unterließ es Jakob auch, eine Rechnung aufzustellen. Jungsein und Altsein schließen sich eigentlich aus. Dazwischen gibt es kein oder zumindest wenig Verständnis. Wer schon verrät absichtslos dem eifersüchtigen Nachbarn, vielleicht auch noch freiwillig, wie viele Jahre ihm eigentlich die strapazierte Seele belasten, oder wie alt er an Leib und Seele zu werden beabsichtige? Und hauptsächlich, was er sich für seine letzten Erdenjahre noch alles vorgenommen hat? Kummerjahre, davon hatte er sich längst überzeugt, würde er jedenfalls nicht zulassen! Eine sture, durchaus interessante Existenz, von der manche seiner Kommilitonen geprägt waren, schien für Jakob keine praktikable Option. Ganz im Gegenteil: Er wollte diesem gefährlichen Virus ausweichen, durfte ihm nicht auf den Leim kriechen oder in den Abgrund folgen. Und keineswegs in die Töne grausamer Einsamkeit, aus denen keiner mehr unbeschadet entrinnen würde! Er will unbedingt und hoffentlich zu den Siegern gehören, weil es cool ist, Sieger zu sein und auf der obersten Treppe zu stehen, umjubelt von einer ihn beneidenden Welt! Ertappt sich dann bei der Vorstellung, bestaunt oder wenigstens begafft zu werden von der Bitterkeit der ewig nur beifallklatschenden Zuschauermenge. Dann fing Jakob eines Tages plötzlich an, unhörbar für jegliche Nachbarn und sogar Freunde, denen er seit Jahren vertraulich verbunden war, mit sich selbst zu reden und zu hadern, alle möglichen Probleme und Streitfragen unverblümt auszutragen und deren Lösung in Angriff zu nehmen. Was man nicht weiß, ging es Jakob mit einem Lächeln durch den Kopf, kann nicht in Vergessenheit geraten. Dafür aber hat man selbst Sorge zu tragen. Springt auf und stolziert mit langen Schritten quer durch sein Zimmer. Einen fünfundzwanzig Quadratmeter großen Raum mit zwei Fenstern auf der Südseite, davor Jalousinen, leicht zu bedienen per Knopfdruck. Ohne jede Quälerei. Aber es wird einem auch nichts mehr zugemutet, denkt er. Von niemandem! Und verharrt unvermutet auf der Stelle, um ein wenig nachdenken zu können. Bleckt dabei die Zähne und kräuselt leicht die Oberlippe. Es schien besonders kompliziert, über das zu plaudern, was man selber herausgefunden hatte und somit gewöhnlich für unumkehrbar hielt. Wer sich dabei nicht gänzlich die Finger verbrannte, dem stand gewiß ein Schutzengel hilfreich zur Seite, den Bedürftigen zu retten, und wen noch alles, aus erworbener Gleichgültigkeit vor der hinterhältigen Ohnmacht des leisen Sterbens, diesem wunderlichen Treiben bis zum wagemutigen Ende! Als die Wirtin gegen die Tür klopfte, war Jakob gerade damit beschäftigt, das heißt er wollte sich hineinknien in einen Gedichtband Rainer Maria Rilkes, versuchte, darin mit all seiner unersättlichen Neugier zu blättern. Und staunte wie einer, der schon wegen dieser hohen Kunst noch lange Jahre, wenn nicht gar ewig, vor sich zu haben wünscht. Was er da in Leinen gebunden und gedruckt sah, von ihm fest mit beiden Händen umklammert, erschien ihm ungeheuer spannend und bewegte, neben der Sturm- und Drangperiode des 18. Jahrhunderts, sein leicht entflammbares Gemüt. Das half ihm wirkungsvoll, sich für die Lebendigkeit festzulegen, gegen das andauernde Leidenwollen der Pessimisten und Daseinsflüchtigen. Und er stocherte wie abwesend in einem dicken Stapel von Briefen. Würde er die verzehrende, kompliziert zu lösende Aufgabe bewältigen, die, wie er glaubte, genialen Geistesexplosionen auch zu entschlüsseln und nicht von gehaltlosem Mitleid überwältigt, sich in einem für vernunftbegabte heutige Menschen verständlichen Sinn auszudrücken? In einer unerhörten Klarheit der Sprache und Gedanken, mit dem jeder etwas für sich selbst anzufangen gewußt hätte? Jetzt war der Punkt gekommen, mehr denn je ernsthaft nachzudenken, nicht aber zu schweigen oder jemandem blindlings zu gehorchen. Er lehnt sich wieder zurück in den Sessel. Es ist dunkel um ihn geworden. Er atmet heftig, aber es fehlt ihm nichts Wichtiges, also lebt er noch mit seinen ihm zur Verfügung stehenden Sinnen und genießt den Beifall, der von allen Seiten vordringt. Er hebt seine Hände und winkt zurück in die Menge. Huldvoll, wie er glauben möchte, ohne sich zu überfordern. Danach wacht er auf wie aus einer lange währenden Ohnmacht. Und fühlt sich an sämtlichen Gliedern erholt wie seit langem nicht mehr. Ihn überkam der Moment, wo er die ganze Welt am liebsten umarmt hätte, jeden, der ihm auch nur die geringste Neigung entgegenbringt. Konnte er um das Frühstück, für ihn meist nur eine ärgerliche Unterbrechung, jetzt noch einen Bogen machen, da sein Magen hartnäckig revoltierte, als tobten darin Dämonen, und die Wirtin, in Ausdauer geübt und damit widerstandsfähig geworden, bereits ein weiteres Mal vorstellig wurde? Nur diesmal, entgegen sonstiger Manier, ungezügelt, fast jähzornig, an der Tür klopfte und danach sogar die Klinke ärgerlich herabdrückte. Heftig, als wenn sie es tatsächlich eilig hatte oder haben mußte vor jetzt gefährlich anschwellender Ungeduld. Kann jemand solchem Druck dauerhaft und vor allem ohne Schaden entweichen?, fragte sich Jakob, bevor er seiner Wirtin endlich die Tür freigab und ihr ungewöhnlich lammfromm zulächelte. Jakob beteuerte, sich dezent vor der alten Dame mit dem vergreisten Gesicht verneigend, doch ein bißchen zu tief, wie andere glauben würden, er werde das Hungergefühl, wenn es ihm gelingen sollte, prompt einstellen, indem er nun mit großem Appetit über das vorzügliche Frühstück herfallen und versuchen werde, sämtliche Delikatessen bis zum letzten Bissen wegzuputzen. Auf dem Teller werde kein Krümel übrig sein. Beschwörend hob er die rechte Hand. Doch es war nur eine verkümmerte Geste, die ihm keine Wertschätzung brachte. Wie recht der junge Gentleman doch habe, gab sich die Wirtin jetzt freundlicher und verzog nicht mehr ihre mit den Jahren schroff gewordenen Gesichtszüge. Magenknurren zu unterdrücken, winkte sie ab und knüpfte an Jakobs Worte an, wäre nicht so einfach. Sie habe die Zeit freilich auch nicht gepachtet, trage alles andere als Eintönigkeit mit sich herum! Danach brach endlich zwischen beiden das einförmige Techtelmechtel ab. Man war sich plötzlich durch und durch willkommen. Und Jakob zitierte etwas, das er von irgendwoher kannte, wahrscheinlich aus einem Gedicht: Das Leben ist wahrlich voller Tücken! Es kommt einfach so daher, um für uns Menschen im richtigen Moment vorhanden zu sein und bestanden zu werden. Die Wirtin servierte vollendet wie eine Grande Dame, die gelernt hatte, alles genau auf den Punkt zu bringen, die wußte, was sich gehörte, während Jakob energisch zulangte, als müßte er gerade jetzt genügend Kraft sammeln, um auch künftig sein Studium zu bewältigen. Wer an die Zukunft denken will, glaubte er überzeugt, muß hauptsächlich Vorsorge treffen. Das Motiv seiner Hartnäckigkeit am Abend zuvor war die für Wochenbeginn angezeigte Klausur über Goethes Faust, weshalb Jakob immer wieder vor allem jene Verse durchackerte, in denen sich möglicherweise Prüfungsfragen verbergen konnten. Oder fehlte seiner Auffassung nach, wie er plötzlich schlußfolgerte, doch eine unbekannte Größe? Das schnell herauszufinden, blieb jetzt eine seiner dringendsten Aufgaben. Klar war ihm jedoch: Es würde keinem noch so begabten Denker möglich werden, das endlose Weltall nach allen Richtungen hin oder gar vollständig auszuspähen. Nicht einmal Götter wären dazu in der Lage. Jakobs Erkenntnisdrang rieb sich erneut, wie schon beim erstmaligen Durchlesen des Faustdramas, an dessen vielleicht aussagekräftigstem Satz: „Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehen.“ War das Goethes kategorischer Imperativ bezüglich der stets aktuellen Herausforderung aller existierenden Materie durch menschlichen Entfaltungswahn? Das Unsagbare, zumal sämtlicher Fortschritt eines freilich noch fernen Tages, an dem die Sonne, das Zentralgestirn unseres Sonnensystems, nach Berechnungen von Kernphysikern explodieren wird, bleibt stets der letzten, nie wirklich haargenau berechenbaren Strecke vorbehalten. Längst haben sämtliche zuständigen Experten die Erfahrung hinter sich, daß unser Erdenkreis zu keiner Zeit komplett klassifiziert werden kann! Man ist sich jetzt so sicher wie niemals zuvor, wohin alles steuert, wohin eigentlich die kosmische Reise geht. Dem Instinkt des Weimarer Giganten demütig folgend, gelang es Jakob, seinem Idol näherzukommen, wenn auch vorerst nur in winzigen Schritten. Er schaute verdutzt in den an der Wand hängenden ovalen Spiegel, aus dem seine schon in frühester Jugend erwachten Sehnsüchte auf erstaunlich makellose Weise hervorzublicken schienen: Wurde es Jakob verständlich, daß nichts seine Persönlichkeit mehr und gründlicher beförderte, als wenn er Nutzbringendes zu erkennen und sogleich anzuwenden verstand? Bei dieser Feststellung vergaß Jakob fast zu atmen und er spürte drastisch ein Kribbeln, das sich vom kleinen Zeh bis zum Kopf auszubreiten begann. Gewohnheiten als zerstörerischer Gewaltakt! Wenn man sich von ihnen nicht rechtzeitig zu trennen versteht oder trennen kann, schrumpfen wir Menschen in kurzer Frist zu engstirnigen Kreaturen, geraten in einen ruinösen Hinterhalt, aus dem es kein Entkommen gibt. Wie ein zufällig in eine Falle geratenes Tier sich nicht aus dem Fangeisen zu befreien vermag. Jetzt fühlte sich Jakob geläutert wie lange nicht mehr, war überzeugt, die bisher nicht selten phlegmatisch dahintreibende Schöpfung sei noch zu retten. Irgendwie schon. Und warum nicht in diesem Augenblick! Vielleicht auch mit seiner, wenn freilich äußerst bescheidenen Hilfe. Er wischt sich über sein rechtes Auge, in dem sich ein Staubkorn verfangen zu haben scheint. In absehbarer Zeit würde er Verzweiflung sowie deren Zwillingsbruder, den Kummer, in Rückzugsgefechte verwickelt sehen, vielleicht sogar hineinziehen können. Und glaubte deshalb, für Gegenwart und Zukunft alles Notwendige gemanagt zu haben. So befand er sich überraschend in der untrüglichen Gewißheit: Er, Jakob, der Germanistikstudent im sechsten Semester, muß vor niemandem den Rücken krumm machen, wie er das manchmal vermutet hat. Er deutet eine Verbeugung an, in Richtung eines Studenten, mit dem er sich gestern zufällig im Campus getroffen hatte. Endlich war er angelangt in dieser absonderlichen Welt, der auch er sich zinspflichtig wähnte, so regelwidrig alles zusammengebastelt war in einer ringsum anstößigen Übersättigung, die irgendwann sämtliche Individuen zu ersticken drohte. Deshalb müssen die anwesenden Bilder geordnet werden, und zwar übersichtlich und verständlich für jedermann, bis alle den gebührenden Platz eingenommen haben als Teil unbegrenzter Bewegungsfreiheit! Und das voller Stolz über die eigene Leistung. Dann passierte es: Seine Aufmerksamkeit entgleiste, einfach so, ohne wesentlichen Grund. Hatte er zuviel hineingesteckt in all die Sehnsüchte rund um die ganze triviale Existenz? Irgendwann ein Erwachen überall, bevor wieder Töne der Einsamkeit überhandnahmen. Wodurch man nicht mehr ins Innere der Menschen vordringen kann. In die oft genug boshaft funkelnden Gesichter ringsum. Rücksichtslos erhebt sich die Frage: Was wird einmal in zwanzig oder dreißig Jahren mit uns, der Menschheit? Gibt es diese Spezies dann überhaupt noch und vor allem mich, das Einzelwesen, das nur entsteht und vergeht im Arrangement mit anderen Geschöpfen des Universums? Wohin flüchtet dann alles berauschend Schöne, wonach wir stets voller Begierde Ausschau hielten? Und dennoch steht für Jakob fest, er wird sich nichts Unredliches auf die Fahnen schreiben, sämtliche Betrügereien ins Visier nehmen, nichts Unzumutbares anfangen oder stützen. Seine Arbeitslust, getrieben durch rätselhafte Ereignisse, Worte oder Nachrichten, gilt ausnahmslos der Menschenliebe und ihrer Veredelung. Sollte er zum Schluß wirklich noch einen Tango riskieren, um sich zu lockern, um sich endgültig freimachen zu können von jedem Ballast? Nachdenken allein half zu wenig. Ohnehin wollte er nur unschuldige menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten in den Fokus nehmen und erforschen. Doch es müßte sehr bald geschehen, vor allem unumkehrbar sein für künftige Chancen. Also nicht in Bedrängnis geraten, in aussichtslose Situationen. Goethes im Faustdrama offenbarte Zurückweisung der Sterblichkeit beflügelte Jakobs Einbildungskraft: Wer derartigen Ideen Zuflucht gewähren konnte, sagte er sich, und darüber hinaus anschaulich zu interpretieren verstand, lebte zweifellos mit sich und seinem sozialen Umfeld in tugendhafter Weise. Gleichsam als willensstarkes Geschöpf, unerschütterlich in sich ruhend und parallel strebend gegen jede Zügellosigkeit. Nichts aber sollte dem Zufall überlassen werden. Ist überhaupt eine mißverständliche Laune denkbar zwischen Leben und Tod, und wie lange ist sie von der Natur niederzuringen? Jakob war das oben erwähnte Zitat aus der erfolgreichsten deutschen Tragödie schon von Kindheit an vertraut, da seine Mutter aus Goethes „Faust“ Kapitel für Kapitel deklamierte, als stünde sie auf den heilig genannten Brettern einer Theaterbühne vor einem wissensdurstigen Publikum, das herbeigeströmt war, sich zu amüsieren, zu unterhalten und zu erschaudern. Er hatte seine Lippen leicht gekräuselt und blickte herausfordernd um sich. Schließlich aber kam es auf die Intensität des Lebens an, auf deren Gestalt, Farbe und Form. Und tonangebend beeinflußten tiefschürfende Denkprozesse, wie das Leben pulsierte, was und wie es in seinem Inneren strömte und eines Tages dauerhaft blieb. Es schien Jakob eher riskant, dieses ewige Kommen und Gehen in der Natur, diese Wiederkehr in den vielstimmigsten Farben und Formen. Nicht wegzudenken war das einmalige Blau des Himmels, das Meer in seinem planlos hervorbrechenden Despotismus. Substantiell nicht zu begreifen, daß eines freilich noch fernen Tages alle Materie verglüht sein wird für Erdbewohner, daß es uns todsicher, ohne Gnade, mit Haut und Haar verschlingen, in die kaum vorstellbar bodenlosen Strudel hinabziehen wird. Wo sich Objekte offenbaren werden, die vorher keiner für möglich gehalten hätte. Und wer könnte dafür geschickt einen Würfel setzen, bei dem ein Sieger nicht erkennbar sein wird. Nicht einmal aus der Nähe! Sich brüsten vor dem Freund oder Feind, meinte er, helfe unter keinen Umständen, eine nebulöse Angelegenheit zu klären. Während er die Faustsaga Seite für Seite durchquerte, gewissermaßen wie ein den sicheren Erfolg spürender Goldgräber das umherliegende Geröll erneut durchstocherte, griff Jakob nun doch zu der von seinem Freund Markus kürzlich angebotenen Zigarette. Und las erstaunt auf der buntglänzenden Packung, daß Qualmen, wie vor allem junge Leute das Rauchen nannten, tödlich sein könnte, ein ruinierendes Medium, wenn man diese Warnung in den Wind schlage. Da reizvolle Dinge immer wieder verführen, ob sie heimtückisch sind oder nicht, mußte jeder selbst entscheiden, mit wem und womit er sich abgeben wollte. Ein probates Mittel gegen nervöse Beschwerden und Erschöpfung, wie Markus auf Treu und Glauben versicherte, war Tabak allerdings ohnehin nicht. Zumal die inzwischen über den gesamten Erdball kultivierte Pflanze ein Genußmittel war, das, wurde es getrocknet und geraucht, einen widerlichen Nachgeschmack hinterließ. Zumindest bei ihm. Um nicht rückfällig werden zu können, öffnete Jakob den Kachelofen und warf die Zigarettenschachtel in die auflodernde Flamme, als wolle er dieses Kapitel endgültig zu den Akten legen, also nie wieder aufschlagen. Vom Strohfeuer blieb lediglich ein Häufchen Asche, und sein Versuch, durch Rauchen als Person gewichtiger zu erscheinen, war kläglich gescheitert. Zumindest endete das affektierte Gehabe, wie es ausgehen mußte: ohne einen Funken von Wollust. Nunmehr stand für ihn fest, daß er so schnell nicht wieder einen Glimmstengel zwischen Daumen und Zeigefinger halten würde. Dennoch wurmte ihn hartnäckig der Gedanke, diese, wie er glaubte, schmähliche Scharte irgendwann auswetzen zu müssen. Jakob,dessen Atem auf einmal ungewohnt flach wurde, begann zu schnaufen. Immerhin war der Tag nicht erfolgreich gewesen, eher mußte er ihn kompliziert nennen. Zu dilettantisch, dachte er, hatte er seinen Lebensfaden gesponnen, zu leichtfertig dringende Entscheidungen verschoben bzw. sogar abgebrochen. Stand er sich häufig selber im Weg? Von Ferne hatte er machvolle Töne vernommen. Von einer Orgel vielleicht? Oder hatte Jakob doch nicht das Studium gewählt, mit dem er später einmal im Beruf auftretende schwierige Situationen zu überbrücken verstand? Das Leben durfte nicht von Sorglosigkeit und Zufällen abhängig sein. Deshalb wäre es notwendig, nur mit ähnlich geneigten Menschen einen Pakt zu schließen, vielleicht als Ergänzung des eigenen Ichs, sich aber keinesfalls scheinheiligen Moralaposteln zu unterwerfen! Er mußte sich hüten, seine Intelligenz und Gaben durch Nachlässigkeit oder Schwäche verlieren zu können. Jakob Breitenbach, Student der Germanistik und Kunstgeschichte, war jetzt entschlossen, etwas Eigenständiges anzupacken und zu besiegeln, um eines Tages das Studium vielleicht sogar mit cum laude beenden zu können. Er lebte doch nicht, um irgendwelche Menschen zu bestaunen, sondern um selbst bestaunt zu werden für ein nachahmenswertes Verdienst im ewig kreisenden Hamsterrad. Er wollte auf keinen Fall bieder sein wie so viele gläubige Menschen. Unverkennbar eine heikle Sache, als habe er, der Patient, und nicht der behandelnde Arzt vor einer schwierigen Operation zu entscheiden, welche Betäubungsmittel er benötige, welche nachfolgende Behandlung seine Genesung erfordert und beschleunigen hilft. Parallel dazu fragte er sich, wohin Ehrgeiz eines Tages führen würde und was käme danach auf ihn zu, auf seine künftige Berufsentwicklung? Mitten in dieser Überlegung tauchte unverhofft wieder Hella auf, eine zu Semesterbeginn im Hörsaal getroffene bildhübsche Studentin, in die er sich sofort über beide Ohren verliebt hatte. Jakob fragte sich allerdings bald danach, ob aus der ersten, rein zufälligen Begegnung eines Tages Beziehungen entstehen könnten, um irgendwann gemeinsam etwas Tollkühnes zu unternehmen. Vielleicht ein Abenteuer in für sie beide noch unbekannte Welten? Eine Reise von Kontinent zu Kontinent oder sogar auf einen fremden Planeten? Hinter diesem Wunschdenken verbarg sich der Gedanke, ob sich durch eine hoffentlich nie eintretende Situation krasse Widersprüche zwischen beiden Charakteren offenbaren und entwickeln könnten. Dann stellte sich Jakob vor, eines Tages mit ähnlich abstoßenden Reliquien umgeben zu sein wie es ihre Eltern für dringend notwendig erachteten. Manchmal konnten derartige Späße auch ganz schön zusetzen, und er vergaß sie recht schnell. Sollte er besser an nichts denken und nichts voraussehen wollen, dann würde er, Jakob, eines Tages nur noch in der Gegenwart leben. Verharren in unbeugsamer Stille, die das Leben vollständiger machen könnte und vielleicht auch interessanter? Tatsächlich begannen ihre Gefühle zueinander mitten in der Examenszeit zu taumeln, bis jähe Umwälzungen im privaten Bereich nicht mehr zu verbergen waren und schließlich riskant für ihr Verhältnis wurden, demnach unkalkulierbar. Die einst so intensiven Träumereien von Jakob und Hella entfernten sich unerklärlich rasch voneinander, als wären sie jäh von einem Sturm zerrissen worden, als wären sie nie feinfühlig zu nennen gewesen. Es war also vorbei, sie trennten sich, als hätte man sich nie liebevoll in den Armen gelegen, nie liebevoll in die Augen geschaut. Wie durch ein Unwetter waren ihre Gefühle plötzlich blockiert. Bald war von Hella kaum noch die Silhouette übrig, deren Details zu schwinden begonnen hatten, mit denen Jakob ohnehin nichts mehr wirklich anzufangen wußte. Er lehnte sich von seinem Schreibtisch zurück, bis er diesen ihn beklemmenden Zustand überwunden sah, jedoch gereizt blieb und ungeduldig, dann latschte er auf den Ledersessel zu, ein wuchtiges, schon etwas hinfälliges Prunkstück, und ließ sich hineinfallen wie in eine Zuflucht, die man am liebsten nie mehr verlassen möchte. Schob jetzt das Möbel in Richtung des Fensters und atmete tief durch. Fragte sich aber, was ihm das unruhige Studentenleben denn einbrachte, wofür er sich immer aufs Neue derart herumplagte an der Fakultät mit seiner steifen und zeitweilig manierierten Gelehrsamkeit, die, wie es ihm hin und wieder vorkam, nicht selten noch aus dem vorigen Jahrhundert entlehnt schien! Was nützt es da einem schon, wenn Gefühle von Überlegenheit aus den Augen und jeder Bewegung blitzen, als gehöre einem irgendwann der Kosmos ganz allein. So kauerte er wie abwesend in seiner spartanischen Studentenbude. Unrasiert und das weiße T-Shirt über die engen Jeans hängend, wiegte er mürrisch den Kopf, dessen dunkelbraunes Haar eher zu einem Südländer gepaßt hätte. Hinzu jener Distanz verschaffende geheimnisvoll wirkende Blick aus großen, jetzt allerdings eher verdrießlich umherschweifenden Augen, die nichts weiter bezweckten, als irgendwo sicheren Halt zu finden. Hatte er sich etwas Ernsthaftes vorzuwerfen?, fragte er sich und wußte nicht, wie es mit ihm und der hübschen Banknachbarin vorangehen sollte. Vielleicht die Beziehung aufgeben, einfach Schluß machen mit diesem Verhältnis, das jederzeit instabil werden konnte? Er spürte zunehmend eine bedrückende Stille, sah die Bilder seines Lebens vorüberflüchten, das vielleicht zweckdienlicher abgelaufen wäre, hätte er sich für ein anderes Studienfach entschieden, nur eben nicht für Germanistik. Jetzt allerdings waren die Würfel gefallen. Jakob hätte am liebsten alles hingeschmissen, was ihm lieb und teuer war. Dachte jetzt oftmals an Georg, seinen Onkel mütterlicherseits, den freischaffenden Architekten, der selbst bei frühlingshaft sonniger Wetterlage ohne seinen Filzhut nicht vorstellbar gewesen wäre. Georg wußte genau um das Unaussprechliche, das jeden Morgen neu an ihn herantrat: Vor allem hatte er sich zu beschäftigen, der preisgekrönte Baukünstler, mit Entwürfen moderner Schulen und Krankenhäuser sowie großzügig gestalteter Sozialwohnungen. Eingefaßt von üppigen Grünanlagen, in denen sich Menschen jeden Alters uneigennützig begegnen konnten und sich dabei offenbarten. Einer seiner beharrlichsten Leitsprüche war, immer darauf achtzugeben, daß es zwischen den Menschen nicht von heute auf morgen nachläßt zu grünen. Dann allerdings, so glaubte er, sei die moderne Welt wirklich ernsthaft in Gefahr, bis zur Unkenntlichkeit für alle. Um darüber nachzudenken, wie das zu verhindern sei, zog sich Georg oft in den zweiten Stock seiner Villa zurück, ins Atelier, wo ursprünglich das Herrenzimmer eingerichtet war. Dort hockte er an seinem verschnörkelten Schreibtisch, der noch vom Ausgang des 19. Jahrhunderts zu stammen schien und den er in einem Laden für An- und Verkauf ersteigert hatte. Umgeben von altrosagetünchten Wänden, bedeckt mit großflächigen Skizzen, Entwürfen sowie Reproduktionen historischer Fotos und Gemälden, die Landschaften früherer Epochen darstellten. Das nach persönlichem Kunstverständnis geprägte Inventar verhalf Onkel Georg, aus der verstaubt anmutenden Privatsphäre zu entrinnen und ihr ein gemütlicheres Image zu geben. Und vor allem konnte er hier produktiv arbeiten. Wer ahnt denn schon, überkam es den Onkel mitunter, wenn ihm das Tagewerk nicht erfolgreich vollbracht erschien, was uns Menschen alles noch bevorsteht! Es fehlte ihm lediglich die Klangwelt Johann Sebastian Bachs, dessen Brandenburgische Konzerte oder eines seiner Orgelwerke und Kantaten, wobei ihm die berühmte „Kaffeekantate“ in den Sinn kam. Vielleicht aber, glaubte er zeitweilig, war sein bisheriges Schaffen mit zu unterschiedlichen Gastrollen verknüpft? Auch Jakob liebte die altbarocke Kultur, in der sich sein rastloser Onkel so erfolgreich bewegte, und war erstaunt, daß er wieder sorgfältiger über alle möglichen Lebensinhalte nachzudenken begann, sich plötzlich an den lehrreichen Satz des chinesischen Altphilosophen Konfuzius erinnerte, nach dessen Überzeugung Essen und Sex die Begierden des in allen Lebenslagen abgehärteten Mannes sind. Eine tiefschürfende Erkenntnis, von global anzutreffenden Denkmälern verkündet als bemerkenswerte Überlegung: Unser Leben, unser Zusammenhalt darf nicht zu einem Gefängnis entarten. Wir dürfen uns hauptsächlich nur als solche Menschen begreifen, die zuallererst solidarisch miteinander Umgang pflegen und fühlen. Für Onkel Georg stand schon vor Beginn seines Studiums fest: Niemand brauchte sich aus dem Weg zu gehen. Man war gern und gemeinsam unterwegs für alle möglichen Chancen. Durchschaute sich ohne Furcht und Brotneid, jeder sollte bei sich einkehren dürfen und zugleich die Hand ausstrecken nach dem Gleichgesinnten. Ein jeder lebte nach Belieben grenzenlos in schwelgerischer, triebhafter Sehnsucht, ohne Ungereimtheiten zu begehen oder sich fallen zu lassen irgendwem zu Füßen. Die finsteren Gestalten hingegen, die uns Menschen bedrohen und sich schamlos anschicken, jeden skrupellos auszunutzen, ohne faires Geben und Nehmen im Sinn zu haben, galt es davonzujagen. Mit Wärme und heiteren Wünschen, so dachte Jakob, sollten wir stets ins Leben heimkehren, bis jede Gefahr, jedes sich anbahnende Verhängnis ausgemerzt ist. Und wir stolz sein können, unser Scherflein beigetragen zu haben! Energie und Fähigkeiten wollte Georg sammeln gegen herablassendes und arrogantes Lächeln einer verkümmernden Gesellschaft. Unsere Vorstellungen, darauf bestand er unausgesetzt, müssen haarscharf konfrontiert werden mit handfesten Tatsachen, bevor auch die letzten Träume unwiderruflich zerrinnen. Das sollte denjenigen, die Erfolge anstreben, als Leitmotiv dienen! Als eine Sprache ohne hinterhältige, ohne mißverständliche Dekoration. Im Grunde war und blieb das Georgs einziges verwertbares Rezept. Da war von irgendeiner Vereinsamung oder Isolation niemals die Rede gewesen. Nicht von unkalkulierbaren Abgründen oder eingebildeten Schwächen. Hier setzte er unerbittlich den Schlußpunkt! Wahrheiten müssen aus Glaubwürdigkeit bestehen, nicht aus Irrgespinsten. Von Schocktherapien hielt er wenig, aber realistische Träume begleiteten ihn schon immer. Dafür brauchte er vorzugsweise scharfe Augen, keine schmerzlich verzogenen, keine traurig und hilflos zitternden Hände. Das war die erste Nacht, in der Georg, wie er unverblümt gestand, das erste Mal eine Frau in sein Zimmer nahm und mit ihr schlief, ehe beide am frühen Morgen nebeneinander aufwachten. Verdutzt und enttäuscht von ungewohnt enger Gemeinsamkeit und Berührung. Ein nicht seltenes Bild friedlicher Bedeutungslosigkeit Erwachsener. Der Alte aus Weimar sah den von ihm erstrebten Vorsatz, seine Spuren nicht in Äonen untergehen zu lassen, als das von ihm höchst Errungene, unter dessen Niveau er sich keinesfalls zufriedengeben durfte. Was aber hatte das mit Jakob Breitenbach, einem aufstrebenden Dichter, zu tun, der zwar hoffte, ebenfalls nachhaltige Spuren zu hinterlassen, trotz gewaltigem Abstand zu Weimar? Was ihn jedoch zweifellos ängstigte, war der in eine schwindelerregende Höhe führende steile Pfad, der für ihn, den begabten, jedoch in einem finanziell spartanischen Milieu aufgewachsenen Studenten, kaum zu bezwingen erschien. Zunächst aber machte ihm die irdische Realität erheblich zu schaffen: ein Unwetter, das auch jene abseits der Hauptstraße gelegene Siedlung, wo Jakobs Studentenzuflucht war, nicht verschonte. Es blitzte und donnerte ringsum, als würden feindliche Heere aufeinander prallen. Ein ähnliches Naturgeschehen lag für Jakob schon viele Jahre zurück, als seine Eltern, er mochte in die vierte Klasse gegangen sein, an einem Sonntagmorgen mit ihm zu einem Kiefernwald fuhren, wo sie schon oft Pilze gesucht hatten. Auch diesmal kehrte die Familie mit einem Korb voller Steinpilze und Maronen zurück
Zu jener Zeit besaßen sie noch kein Auto, nur ein paar klapprige Fahrräder, die im Keller für solche Touren geputzt und geölt bereitstanden. Obwohl die Sonne inzwischen fast verschwunden war, brachen sie dennoch auf. Nicht weit vom angesteuerten Ziel begann es wolkenbruchartig zu schütten. In wenigen Minuten war ihre sommerliche Kleidung durchnäßt, so daß man sie auswringen konnte. Noch immer hatte Jakob das blasse Gesicht der Mutter vor Augen, ihre vor Wasser triefenden Haare, deren Strähnen sie vergeblich zur Seite schieben wollte. Heute allerdings bedrängte ihn ein schwerer süßlicher Geruch, der von umliegenden Rapsfeldern ausströmte und in jeden Winkel des Eigenheimes vordrang. Bald wurde Jakob das Atemholen so schwer wie seiner Wirtin, die sich in der Küche nebenan schon früh am Herd zu rühren begonnen hatte, um Jakob pünktlich das Frühstück, zwei mit Wurst belegte Stullen sowie ein nicht zu hart gekochtes Ei, servieren zu können. Bei ihr, das war sie von Kindesbeinen an gewöhnt, mußte der Tag gleich einem regelmäßigen Uhrwerk verlaufen. Erst dann konnte sie zufrieden lächeln und sich von jeder weiteren Tätigkeit zurückziehen. Nur heute schien alles wie verkehrt. Jakob, selten aus der Ruhe zu bringen, verfluchte das tobende Gewitter, dessen Launenhaftigkeit, ebenso die nicht enden wollenden Rapsfelder, von denen er, inmitten der Landschaft riesigen gelben Handtüchern gleichend, im Grunde genommen fasziniert wurde und in die er am liebsten hineingesprungen wäre. Diese eher jungenhafte Unbekümmertheit jedoch wegen der nachhaltigen, gewiß schwer erträglichen Geruchsbelästigung natürlich unterließ. Zumal er sich gleichzeitig fragte, wer ihn denn aus dem Parfümtollhaus, dem Rapsfeld, eigentlich hätte retten können, wäre er hineingesprungen, Jakobs Stimmung war bei dieser Aussicht am Nullpunkt angelangt. Dann vernahm er unter dem herabstürzenden Schatten eines Milans die ängstlichen Schreie aufgescheuchter Vögel. Ringsum hatte der Morgentrubel begonnen, und bald drang aus der Küche das einmalige Aroma frisch gebrühten Bohnenkaffees. Jetzt wäre Anlaß gewesen zu jubeln, doch er brachte es nur zu einem anerkennenden Pfiff. Dann sah er sich, festgehalten wie in einem Dokumentarfilm, durch die romantischen Gassen der Stadt bummeln, in einem der flußabwärts gelegenen Restaurants einkehren und an einem Gläschen Rotwein nippen. Und bald ein heiteres Schwätzchen mit dem einen oder anderen der Gäste führen. Er war auf Menschen aus, geradezu eifersüchtig auf ihre Art und auf das, was sie denken mochten über sich und das allgemeine Geraune in den Abgründen der Welt, über Ohnmacht der Gesellschaft und ihrer Betreiber in den oberen Rängen des Polittheaters. Schließlich hatte er monatelang am Computer gehockt, Blut und Wasser geschwitzt, bis ihm zu guter Letzt brauchbare Formulierungen einfielen für die in Kürze abzuliefernde Quartalsarbeit über den Weimarer Musenhof seit Goethes bald Furore machender Ankunft im November 1775 in der thüringischen Zwergresidenz mit ihren kaum 6000 Einwohnern. Wozu das alles gut sein sollte, hatte er immer wieder sein Inneres befragt und stets ähnliche Antworten erhalten: Du mußt auf jeden Fall etwas tun für dich und deine Bildung, wenn du nicht untergehen willst in dieser, wie er oft genug hörte und las, erbarmungslos eingerichteten Gesellschaft, aus der man am schnellsten und vor allem unversehrt entkam, wenn man sich, zum Beispiel von einer Firma, die nicht angenehm war im persönlichen Umgang miteinander, kurz und bündig die Papiere aushändigen ließ. Sollte man einfach das Weite suchen, selbst auf die Gefahr hin, mißverstanden oder als Misanthrop verteufelt zu werden? Einen solchen drastischen Ausgang negierte Jakob rasch wieder, denn er sei doch in die geheimnisvolle Welt geraten, um bei deren Gestaltung und Entwicklung zumindest ein Wörtchen mitreden zu dürfen. Er mußte also noch etwas Tüchtiges vollbringen, das ihn und seine Umgebung aufmuntern würde. Interessant also nicht nur für Jakob selbst, sondern auch für seine Mitbürger. Inzwischen war der Zeiger des Wandregulators auf die neunte Stunde vorgerückt. Jakob beeilte sich, die Studentenklause in Richtung des Parks zu verlassen, wo inmitten blühender Kastanienbäume allmählich der Landsitz der Bouffiers sichtbar wurde
Das dort seit vielen Jahren seßhafte Künstlerehepaar müßte er unbedingt einmal besuchen, hatte Markus, der sorgfältig abwägende Studienfreund, erst kürzlich empfohlen. Das dürfe er keineswegs hinausschieben, wenn ihm an seiner Karriere gelegen sei. Anfänglich hatte Jakob vor, den Bouffiers seine literarischen Skizzen, die Prosagedichte also, in ein Kuvert zu stecken und zu schicken. Per Eilpost. Doch schließlich verwarf er diese Absicht, weil er annahm, eine solche Vorgehensweise könnte aufdringlich erscheinen. Obwohl er bislang keine offizielle Einladung besaß, wollte er unbedingt an einem der nächsten Salons, die jeden zweiten Freitagabend stattfanden, teilnehmen. Jakob, so hatte Markus mit deutlichem Augenzwinkern gesagt, würde dabei erfahren können, welche Persönlichkeiten sich im Landhaus regelmäßig trafen, welchen Einfluß welche Teilnehmer besaßen. Hauptsächlich aber würde es für ihn darum gehen, dem Salon seine Prosagedichte vortragen zu dürfen und, sobald sich dafür eine günstige Möglichkeit bot, Madame Bouffier respektvoll zu vertrauen, geduldig ihre Ansicht zu hören, in Erwartung, daß seine Arbeiten von ihr geschätzt würden. Für diese Hinweise und Tipps war Jakob dem Freund sehr dankbar. Jetzt aber mußte er sich beeilen, um pünktlich das Refugium der Bouffiers zu erreichen, das namentlich wegen seiner „Plaudereien am Kamin“ einen legendären Ruf besaß und zu verteidigen hatte. Im „Grünen Salon“ des Anwesens, wo man bei Tee und Gebäck regelmäßig eine Tafelrunde pflegte, widmete sich der Bildungsverein literarischen und sozialkritischen Themen. Wobei durchaus Meinungsverschiedenheiten gefragt waren und ausgetragen wurden, jedoch manche ernsthaften Differenzen vorerst nicht behoben werden konnten. Als Starredner des heutigen Salons hatte Madame Bouffier den Cheflektor eines größeren Verlages gewonnen, dessen Publikation über die vorstellbare Affäre zwischen Goethe, dem Minister, und der Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar im Zentrum des Referates stehen sollte. Wegen plötzlicher Kreislaufbeschwerden, so in einer tags zuvor gesendeten E-Mail, sagte der Experte jedoch den vereinbarten Termin ab, und statt der „Randglossen über einen behördlich nicht verbrieften Seitensprung des Herrn Goethe“, wie es „Der städtische Kurier“ bereits in großen Lettern angekündigt hatte, wurde ein ursprünglich erst zum Jahresende vorgesehenes Menuett ins Programm genommen. Natürlich, und darauf legte die Salonière besonderen Wert, mit entsprechender Garderobe. Der Zweck des Unternehmens bestand darin, historische Tanzkunst zu pflegen. Zweifellos auch im Sinne von Carl Friedrich von Weizsäcker, einem Philosophen des 20. Jahrhunderts, der in einer beachtenswerten Publikation hervorhob, daß Tradition bewahrter Fortschritt sei und Fortschritt weitergeführte Tradition. Zugleich hoffte sie,dass ihr Projekt nutzbringend verlaufen und als gelungene Interpretation europäischen Kulturerbes über die Stadtgrenzen hinaus Furore machen werde. Wie von ihr erhofft,bejahten die Salonmitglieder Madame Bouffiers Vorschlag,obwohl jener klassische Reigen, bis zum Ausbruch der Französischen Revolution 1789 Privileg der höfischen Aristokratie, nicht mehr der Allgemeinheit geläufig war.Dennoch drängte man sich,dem einst so populären Gesellschaftstanz die Ehre zu geben.Und so hatten sich zehn Paare dazu bereitgefunden. Nach dreimaligem Aufstampfen des Zeremoniestabes durch den Klaviervirtuosen Jean-Claude Bouffier wurde schließlich das Menuett feierlich eröffnet, während nun das aus Hobbymusikern bestehende Orchester einsetzte.Zuvor waren die jeweils dafür ausgesuchten Damen und Herren, getrennt das Zeichen ihres Dirigenten abwartend, durch unterschiedliche Türen gleichzeitig in den Grünen Saal eingetreten,unter dem Beifall der Umstehenden.Darauf ordneten sich Männer und Frauen hintereinander in jeweils einer Reihe, gingen aufeinander zu,reichten sich die Hände, verneigten, umarmten sich,bis sie, während der Takt vorgegeben wurde, über das gewienerte Parkett schritten, dessen Fläche schon lange keinen derart noblen Glanz mehr aufzuweisen hatte. Jeder der Beteiligten war bestrebt, ansehnlich und einflußreich zu erscheinen und sich dabei,so gut es möglich war, aufzuwerten.So entwickelte sich ein harmonisches Kolorit zwischen den Gästen,die staunenden Auges der bühnenreifen Handlung folgten und sich mit einer der glanzvollsten Epochen europäischer Kultur im Einklang sahen oder es zu sein glaubten. Als das Menuett endlich seinen Höhepunkt erreicht hatte und einer der hohen Fensterflügel geöffnet wurde, um nicht dem im Saal inzwischen konzentrierten Ausdünstungen des Publikums völlig preisgegeben zu werden, ereignete sich etwas Unerwartetes: Durch das aufgemachte Fenster stob eine Ringeltaube, die den messerscharfen Krallen eines sich ihr rasend schnell nähernden Turmfalken zu entweichen versuchte, ohne das nicht minder tödliche Verhängnis bemerkt zu haben: einen Kaminspiegel, gegen den sie, inzwischen orientierungslos, mit aller verbliebenen Energie prallte, sich dabei das Genick brach und auf den Kaminsims herabfiel. Verendend in der eigenen Blutlache, die sich auf dem weißen Marmor wie ein dunkelrotes Aderngeflecht auszubreiten begann. Ein gräßlicher Anblick, der sich nunmehr der bestürzten Menge bot. Niemand wollte es sich leisten, bei einem Gespräch, das er eben noch völlig ungeniert geführt hatte, ernüchtert oder abgebrüht zu wirken. Alle schienen durcheinander und waren bemüht, ihr Inneres zu beruhigen. Mit anderen Tänzern, von denen manche durchaus blasierten Snobs ähnelten, galant weiterzuplaudern, als sei nichts geschehen, war unmöglich. Der Turmfalke war indessen mit vielleicht 300 Stundenkilometern am offenen Fenster vorbeigeschossen und im nahen Park entschwunden, wo er ein anderes Opfer schlagen würde, um bald zu seinem im Kirchturm befindlichen Raubnest zurückzukehren, kreischend empfangen von seinem Nachwuchs, der, längst schon keine Zurückhaltung mehr zeigend, kategorisch seinen Beuteanteil forderte. Ob es die von der in panischer Angst flüchtenden Taube verschuldete Kollision war, die den Spiegel aus dem längst schon brüchig gewordenen Rahmen abstürzen ließ, weil durch jenen Aufprall die vermutlich letzte noch im Holz verankerte Metallschraube ihren ohnehin schwachen Halt in der morschen Substanz verloren hatte? Ein Akt, der das zwei Jahrhunderte währende Dunkel einer hinter dem Kaminspiegel sich langsam vollziehenden Mumifizierung schlagartig lichtete und sich nun einem fassungslosen Auditorium offenbarte
Selbst Madame Bouffier hatte sich nicht mehr wirklich im Griff und begann, entgegen ihrer üblichen Zivilcourage, gellend zu schreien und die Hände mehrmals hochzuwerfen. Es klang wie ein weinerliches Stöhnen, als sie sagte, den hier eingetretenen Zwischenfall zu ertragen, sei absolut keine Kleinigkeit. Man müsse wohl Haare auf den Zähnen haben, um das alles verdauen zu können. Gott gebe, daß so etwas kein zweites Mal passieren möge. In so arger Bedrängnis hatte bisher keiner der Anwesenden die stets couragierte Salonière erlebt. Wo eben noch ein Spiegel den Kamin gekrönt hatte, starrten jetzt zwei leere Augenhöhlen die fahl gewordenen Gesichter der Menuettänzer an. Nunmehr dem gräßlichen Zerrbild des Schädels preisgegeben, schienen alle wie vom Donner gerührt und konnten sich nicht von der Stelle bewegen. Mehrere der bislang sorglos wirkenden Tänzer fielen ohnmächtig zu Boden, seelenwund aufheulend, bevor sich allmählich einer nach dem anderen mühsam wieder aufzurappeln anfing, danach zum Ausgang hastete, um endlich diese Trostlosigkeit hinter sich zu lassen. Mitten in das Chaos hinein tönte plötzlich eine kastratenähnliche Stimme: „Kurios! Das Ganze hier ist einwandfrei bizarr! Kann das wirklich mit rechten Dingen zugegangen sein? Ich, was mich betrifft, halte es nicht für möglich!“ Ein dürres Männlein, offenbar weder zu den Tänzern gehörend noch ein Mitglied des Salons, trippelte quer durch die erschrocken zurückweichende Menge zum Saalausgang und schlug mit einem unbeherrschten Schwung, den ihm niemand zugetraut hätte, die Tür hinter sich ins Schloß. Keiner sah ihn jemals wieder. Die Menge im Saal, ohnehin wie gelähmt und sprachlos, verlor daraufhin endgültig jede Fassung, ehe sie sich wieder notdürftig aufzuraffen vermochte. Unterdessen hatte Jean-Claude, von allen Zeugen der gespenstischen Szenerie offenbar am wenigsten erschüttert, die Gendarmerie alarmiert, zuvor aber die hinter dem zertrümmerten Spiegel verborgene Kammer betreten, wobei er fast gestrauchelt wäre über herumliegendes, offenbar irgendwann in die Kammer gelangtes Gerümpel. Da ihm niemand gefolgt war, bemerkte nur er, im runzligen Schoß der schwärzlichen Mumie liegend, ein kleines Quartheft, das er, noch ungeöffnet, in seine Hose steckte, als handle es sich um pures Gold. Noch ahnte Jean-Claude nicht, was die längst vergilbten Seiten des Büchleins preisgeben könnten, was den ehemals vornehm gekleideten Herrn in diese fensterlose Kammer geführt hatte, die sein stilles Grab werden sollte. Noch immer, und das hinterließ bei dem verwirrten Publikum eine besonders makabre Empfindung, trug der blanke Schädel eine aschgraue Perücke aus der Zeit des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm II. oder des italienischen Komponisten Luigi Boccherini. Gut sichtbar auch die Struktur der ehemals weißen, jetzt aber mottenzerfressenen Beinkleider sowie Schnallenschuhe mit hohen Absätzen, ebenfalls der samtene Überrock und dessen Knöpfe aus golddurchwirktem Perlmutt. Alles in allem der krasse Gegensatz zum spärlichen Leben der Bauern und Tagelöhner, die trotz harter Fronarbeit von früh bis spät sich eher schlecht als recht ernähren konnten, wenn man es nicht vegetieren nannte. Als Jean-Claude diese kümmerlichen Überbleibsel feudaler Standeskleidung nebst einem bis zur Unkenntlichkeit ausgedörrten Körper seines Ahnen, der auf Gemälden stattlich wirkende Patron des Landgutes, Henry de Pasteur,dem ehemals einheimischen Wein-und Pferdezüchter, verblüfft anstarrte, fühlte er sich bis ins Mark getroffen. So geht die noble Welt banal zugrunde, durchfuhr es ihn, und zuletzt mußte selbst der mächtigste Tyrann, wie dauerhaft er auch in Ölfarbe auf die Leinwand gebannt schien, irgendwann, gleich jedem sterblichen Untertan, sich dem unentrinnbaren Schicksal beugen. Jedoch eines Tages war der Edelmann,ohne,dass die Familie etwas ahnte, spurlos verschwunden. Wie hatte der Zeitgenosse Schillers, der Dichter Friedrich Christian Daniel Schubart im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts in seinen Versen „Die Fürstengruft“ mutig geschrieben? „Da liegen sie, die stolzen Fürstentrümmer, ehemals die Götzen ihrer Welt, mit erloschnem Blick, wo einst ein Fingerzeig über Leben oder Tod entschied!“
Was bis zu dieser Minute niemand wußte oder zu ahnen fähig war, war, daß derjenige, der sich ehemals quicklebendig hinter dem nur einseitig durchschaubaren Spiegel verbarg, von keinem der ehrgeizigen Salonbesucher erspäht werden konnte, obwohl sie, nur wenige Meter voneinander entfernt, ihren jeweiligen Anschauungen und Kontakten betulich nachhingen. Als die von Madame Bouffier dringend herbeigerufenen Gendarmen am Portal des Landhauses eintrafen und von ihr zur Mumienkammer, dem „Tatort“, geleitet wurden, befand sich der Pianist gerade im ersten Stock des Landhauses in seinem Arbeitszimmer und hatte, wenn auch vorerst nur flüchtig, das bei dem Toten gefundene Quartheft hastig durchgeblättert, ehe er sich wieder zwischen die noch hitzig debattierenden Damen und Herren zwängte, ohne daß es jemand bemerkt hatte. Inmitten der unruhigen Gäste schwadronierte plötzlich ein offenbar geistesgestörter, buckliger Herr von einem Fingerzeig Gottes, gerichtet an einen der hiesigen Gäste. Und keiner wüßte, redete er sich in Eifer, ob ein Drama bevorstehe. Mißmutig wendete Jean-Claude seinen gewaltigen Kopf in die Richtung, aus der, einem bösen Omen gleichend, die unheilschwangere Stimme dröhnte „Wo leben wir denn!“, rief der Hausherr zornig in die Menge hinein. „Etwa noch im Mittelalter? Unser Haus“, klang er polternd, „ist frei von jeglichem Hexenwahn.“ Für absurde Prophezeiungen sei in diesem ehrwürdigen Bau absolut kein Platz. Und damit basta! Leises Murren ringsum. Auch Gelächter. Hatte er sich zu derb, zu ungehobelt aufgeführt mit diesem, von einem Altkanzler entlehnten Fanfarenstoß? So sehr sich Jean-Claude auch bemühte, seinen Worten Nachdruck zu verleihen, es hörte ihm, dem Starpianisten, keiner mehr zu. Alle waren sie noch vom unerhörten Ereignis befangen, ohne dessen natürliche Verkettung auch nur ahnen oder darüber spekulieren zu können. Schon eher fragten sich alle, was die Augen des Patrons wohl zuletzt im Visier hatten, als er noch in der Geheimkammer hinter dem Spiegel fiebrig in den Saal spähen konnte. Waren es die hübschen Mädchen und Knaben gewesen, die unseren Edelmann entzückt hatten, als sie vor ihm, nur getrennt durch die infame Heimtücke des vom Saal her undurchsichtigen Spiegels, ihre von einem drakonischen Tanzmeister dirigierten Übungen ausführen mußten, während er aus einem mit rotem Plüsch überzogenen Barocksessel jede Bewegung und Vibration der kleinen zerbrechlichen Wesen verfolgen und genießen konnte und sich dabei Notizen sowie Skizzen machte über deren mögliche Anstellung in einem Ballett? Vielleicht sogar in der Königlichen Oper der Hauptstadt? Doch wer des smarten Tanzmeisters vorgegebenen Rhythmus nicht strikt befolgte, dem drohte er mit seinem Dirigentenstab oder benutzte ihn mißbräuchlich, indem er sich bei noch so belanglosem Fehltritt die zarten Hände der Kinder vorstrecken ließ und kaltblütig zuschlug. Wohl nicht selten ein weiteres Mal, worauf der Delinquent als zusätzliche Bestrafung ins „Loch“ mußte, eine vergitterte Arrestzelle im einstigen Kellerverlies. Einmal schien den an hohem Blutdruck leidenden Patron die bösartige Rohheit des Tanzmeisters einem Zögling gegenüber derart gereizt zu haben, daß ihm, selbst nicht eben zimperlich im Umgang mit dem Hofgesinde, jäh der Atem stockte, er darauf mit dem Kopf nach hinten schlug und leblos in dieser anatomisch verhängnisvollen Position verharrte, bis er nach zwei Jahrhunderten, als mumifizierter Leichnam, durch den nicht voraussehbaren plötzlichen Absturz eines Kaminspiegels im Grünen Saal des Landhauses wieder ans Tageslicht gelangte. Ohne daß in diesem Zeitraum jemand herausgefunden hatte, wohin und warum der selige Patron abhanden gekommen war und was für eine sonderbare Verkettung mehrerer Umstände ihm zum Schicksal wurde. Die Spurlosigkeit seines abrupten, geheimnisvoll anmutenden Verschwindens sorgte lange Zeit für Schrecken, so wie eine plötzlich auftretende Krankheit, deren Ursache nur ein Zufall erhellen konnte. Während sich die Menuettänzer mit ihren eher altertümlichen Droschken endlich auf den Heimweg machten, trafen beinah gleichzeitig Kriminalisten der zuständigen Mordkommission am „Tatort“ ein, um sich mit dem kuriosen Fall vertraut zu machen. Darunter befand sich ein älterer Pathologe, in dessen Händen die Fäden der Enthüllung des wohl merkwürdigsten Mumienfundes des letzten halben Jahrhunderts zusammenliefen. Auf ihn, von dem die Bouffiers wußten, daß er in seinem Fachgebiet beeindruckende Erfolge vorzuweisen hatte, richteten sich jetzt die erwartungsvollen Blicke der Anwesenden. Bald darauf traten vier dunkelgekleidete Kriminalbeamte aus dem Gebäude und schleppten einen Plastesarg, in dem die mit einem weißen Stoff bedeckte Mumie lag. Während der wenigen Schritte, die zum Wagen des Chefpathologen führten, herrschte fast religiöse Stille. Kein Laut, nirgends ein Wort zwischen den am Wegrand stumm Ausharrenden. Es war jene schattige Regungslosigkeit, die in unserer heutigen Welt nur selten noch anzutreffen ist und sich zuletzt selbst nicht begreifen konnte. An einem heiteren Frühlingsmorgen servierte der Jungkellner Martin, in der Uniform eines Forsteleven, Madame Bouffier und Jean-Claude auf der Terrasse ihres Mitte des 18. Jahrhunderts erbauten Landhauses zwei Flaschen eisgekühlten Champagner, dazu Röstschnitten, Cervelatwurst, Lachs und Weichkäse sowie, prägnant zerteilt, hartgesottene Eier mit Spargel, Gewürzgurken und scharfen Senf. Abschließend wurde, in Meißner Porzellanschüsseln mediterran zubereitet, Obstsalat gereicht. Nachdem Martin, einem Wink Jean-Claudes folgend, Karaffen mit frischem Brunnenwasser auf den Tisch gestellt hatte, zog sich der Forsteleve in die geräumige Küche zurück, um dort per Handy gegebenenfalls Anweisungen zu empfangen bzw. das Ende des opulenten Mahls abzuwarten. Danach würde er zu tun haben mit dem Wegräumen des exquisiten Geschirrs, das sich die Herrschaft zu diesem Zweck extra ausgeliehen hatte. Vielleicht würde sich auch noch etwas mit der Mamsell ergeben. Jung genug war sie und ohnehin attraktiv. Während es die Leckerbissen gemächlich verspeiste und zuweilen dabei innehielt, um der Zunge Gelegenheit zu geben, möglichst lange nachzuschmecken, beschlich das Ehepaar Bouffier eine verlockende Idee: Von ihrem erhöhten Standort aus könnte man, so entwickelte sich plötzlich ein aufregender Gedanke, zur Flußaue herunter eine Promenade anlegen, quer durch den sich bis zum Horizont erstreckenden Park. Erforderlich dazu wäre allerdings, und das wurde ihnen schnell bewußt, eine große Zahl edler Gehölze, die schon bald kühlen Schatten spenden würden. Durch jungfräuliches Dämmerlicht, ausgelöst vom Laubdach sich großzügig gegenüberstehenden Reihen schwarzer Pappeln, würden sie zur feierlichen Einweihung verwegen durch das riesige Gelände galoppieren und wagehalsige Kutschpartien arrangieren. Dann, wenn der Champion gekürt war, Preise verteilen. Ohne dabei den Anschein zu erwecken, es könnte eventuell nicht fair zugegangen sein, sondern handele sich um gebräuchliche Wettrennen unter noblen Kavalieren. Sie gerieten ins Schwärmen, fuchtelten übermütig mit den Händen und stießen erstickte Schreie aus. Alles begann sich jetzt deutlich vor ihnen abzuzeichnen. Als sich Jean-Claude endlich erhob, um seinen Blick über die sandsteinerne, barockfigurierte Brüstung schweifen zu lassen, erschien ihm wie in einem Traumgebilde der neugestaltete Park, von der künftigen Allee durchzogen
Zuletzt, bevor alle möglichen Einfälle alles durcheinanderbrachten, entschied man sich, dem Ratschlag eines Gartenjournals folgend, längs des künftigen Promenadenweges raschwachsende schwarze Pappeln anzupflanzen, die im Kontrast zum grünen oder rötlichen Laub standen. Ein diesen Vorstellungen gleichrangiges Konzept wartete seit Kaiser Wilhelms Zeiten in einem Stahltresor des Herrensalons auf seine Ausführung. Dort also, wo einstmals der alte Patron, Jean-Claudes vermögender Großvater, wertvolle Dokumente einbruchsicher aufbewahrte. Unter anderem auch den mit einer Randglosse versehenen Brief, worin er gestand, daß die Anlegung der Parkallee wegen wirtschaftlicher Zwänge momentan nicht zu realisieren sei und er darüber, wie sehr es ihn auch schmerze, genaue Daten zurückhalten wolle. So erfuhren Jean-Claude und Madame Bouffier erst Jahrzehnte später, während der Restaurierung des Tresors, vom damaligen Plan des Großvaters, die Parklandschaft durch eine Allee zu verschönern. Dieser Fakt wurde Impuls, sich mit einem bekannten Landschaftsarchitekten zu treffen und notwendige Maßnahmen festzulegen. So einigte sich das im Herrensalon um einen ovalen Tisch gruppierte Trio, noch verfügbare historische Zeichnungen bzw. Entwürfe des Parks bis in dessen jüngste Vergangenheit zu prüfen und möglichst rasch mit allen dafür notwendigen Arbeiten zu beginnen. Leider nahm das Schicksal einen folgenschweren Verlauf, da Jean-Claudes Lebensfaden, ohne daß es jemand ahnte oder gar beeinflußt hatte, eine Woche nach ihrer Besprechung durch einen Sturz jäh abriß. So konnte die aus schwarzen Pappeln gedachte Allee erst Jahrzehnte später in Angriff genommen werden. Im letzten halben Jahr hatte Jean-Claude entgegen sonstiger Gewohnheit, schon am zeitigen Morgen auf die Tastatur des Computers regelrecht gehämmert. Eine ermüdende Prozedur, die er bis zur Dämmerung aushielt, ohne an geistiger Spannkraft zu verlieren. Auch heute, da auf seinem Tagesprogramm noch ein Klavierkonzert stand, fühlte er sich bestens, wandte sich schließlich dem Rauchertischchen zu und genehmigte sich, was ihn nicht unbedingt wichtiger erscheinen ließ, eine „Churchill“, die, nachdem er sie bedächtig abgeknipst hatte, lässig aus dem Mundwinkel herabhängend, seine an Thomas Mann erinnernden Gesichtszüge markierte, dessen struppigen Schnauzer er trug und seiner Intellektuellenbrille, darüber schwarze Augenbrauen mit anschließend hoher Stirn. Zweifellos der perfekte Rahmen eines, wie ihm nachgerühmt wurde, imposanten männlichen Charakters, der allerdings Schwächen besaß, über die man eher schwieg. Kaum hatte Jean-Claude den ersten Zug getan, der zu einem Lungenzug ausartete, pafften aus seinem jetzt sehr streng geformten Mund dünne, weiße Kringel, die zu Fähnchen mutierten und den Raum durchwallten, bis ein cholerischer Hustenreiz die malerische Konstruktion bis zur Unkenntlichkeit auflöste. Verärgert, aber nicht wütend, drückte Jean-Claude die Zigarre in den Aschebecher und schwor, diese der Gesundheit schädliche Manier künftig zu meiden. Schon Madame Bouffiers wegen, der in dieser Hinsicht überaus empfindsamen Gattin, die nirgends, speziell aber im Landhaus, den, wie sie es nannte, ordinären Tabakqualm ausstehen konnte, von dem ihr, besonders während großer Feierlichkeiten, unbehaglich wurde. Natürlich war ihm seine äußerliche Affinität mit dem Schöpfer der „Buddenbrooks“ nicht verborgen, ja, er genoß diese vielleicht sogar angestrebte Marotte der Natur in einem Überfluß, daß er sich bisweilen als kleinerer Zwillingsbruder des weltbekannten Nobelpreisträgers fühlte. Ohne sich mit ihm, und das hob er bei jedem mehr zufälligen Hinweis auf diesen deutschen Nationaldichter hervor, etwa gleichsetzen zu wollen. Das überließ er eher Schriftstellern, die viele Gründe erfanden, es mit ihm aufnehmen zu können. Außer nebensächlichen Beschwerden, die leicht zu therapieren waren, schien Jean-Claudes Gesundheit jedem, der ihn näher kannte, außerordentlich stabil. Man gab in seinem engeren Freundeskreis neidlos zu, wie vorteilhaft ihm seine Galakleidung stehe. In erster Linie der perfekt zugeschnittene, wenn freilich auch schon ein wenig altertümlich wirkende Bratenrock mit den Perlmuttknöpfen. Auch vergaß niemand hervorzuheben, daß er, ohne ihm schmeicheln zu wollen, eine musikalische Schöpferkraft besitze, der man nicht allzu häufig begegne auf dieser im Grunde genommen doch nur prosaischen Welt. Als Jean-Claude im Ankleidezimmer einen Blick in den Garderobenspiegel warf, überraschte ihn auch diesmal seine hohe Gestalt, was ihn dann doch bewog, länger innezuhalten als gewöhnlich. Zugleich musterte er seine schlanken Hände, denen er vor allem sein, wie man in einschlägigen Fachjournalen schrieb, hervorragendes Klavierspiel zuschrieb. Beethoven dagegen habe 1812 im eleganten Kurbad Töplitz während einer Begegnung mit Goethe dessen ebenmäßige Hände erstaunt bzw. wohl eher mißgünstig fixiert. Gewiß dachte er dabei, einen derartigen Segen konnte wohl nur ein göttlicher Zufall vermittelt haben, wenn nicht gar höhere Mächte im Spiel waren. Nachdem er sich, zumindest was die tadellosen Hände betraf, dem großen Beethoven fast ein wenig überlegen fühlte, machte er endlich Anstalten, vom Obergeschoß des Landhauses in den Salon Madame Bouffiers hinabzusteigen, wo man den umjubelten Pianisten schon ungeduldig erwartete und gespannt war auf die Interpretation der in Journalen und auf Litfaßsäulen inserierten „Waldsteinsonate“ Allerdings hatte niemand mit einem derartigen Gedränge um Eintrittskarten gerechnet. Und so war bald die letzte Karte vergeben. Trotzdem gaben viele nicht auf, da man hoffte, an der Städtischen Theaterkasse noch ein wegen unterschiedlichsten Gründen zurückgegebenes Billet zu erhaschen. Wollte doch jeder, der diese Geduldsprobe auf sich nahm, Ohrenzeuge einer musikalischen Spitzenleistung auf dem Landsitz der Bouffiers werden. Selbst wenn man dafür einen hohen Preis, wie es bald auch geschah, hätte entrichten müssen. Also schaute man eifersüchtig in die Runde, ja, sogar ein wenig kampflustig, um denjenigen herauszufischen, der noch eine Karte übrig zu haben schien und sie feilbieten wollte. Man erinnerte sich sogar an die Gepflogenheiten eines orientalischen Basars, wo Pfiffigkeit und schnelles Feilschen ausschlaggebend waren. Bestimmt wäre dieser Konzertabend, wie schon zuvor ein dutzend andere Musikgalas, ohne eine derart tragische Panne verlaufen, hätte Jean-Claude die neben dem Ohrensessel stehende Porzellanvase aus der Zeit der chinesischen Ming-Dynastie, das Geschenk,das er bei einer preisgekrönten Konzertreise nach Peking erhalten hatte, nicht infolge gebotener Eile übersehen. Obwohl er sie lediglich streifte, geriet er ins Stolpern, wodurch er jeden Halt verlor, mit dem Hinterkopf gegen das gußeiserne Kanonenöfchen schlug, von dem er sich, obgleich kaum noch zum Erwärmen genutzt, der antiken Form halber nicht hatte trennen wollen. Für Jean-Claude, wie sich leider herausstellte, eine katastrophale Entscheidung, die zum tödlich endenden Sturz führte. In der ihm gerade noch verbleibenden Sekunde entfuhr dem Pianisten so etwas wie ein Urschrei, der bis in das geräumige Parterre des Landhauses vordrang, und man hätte fast schon taub sein müssen, Jean-Claudes entsetzliches Röcheln zu überhören. Leider irreparabel, dieser Fall, konstatierte der herbeigeeilte Obermedizinalrat und langjähriger Intimus der Bouffiers, Dr. Keller, das jähe Ableben des noch kürzlich im Städtischen Theater so frenetisch gefeierten Künstlers. Während seine Mundwinkel tief herabhingen und er bedauernd die Schultern hob, sah er Madame Bouffier verzweifelt mit den Tränen ringen und versuchte mit halbwegs tröstlicher Stimme hervorzuheben, daß er von dem schmerzhaften Geschehen nicht weniger als ihre Freunde und Bekannten schockiert sei. Der ihn unvorbereitet schwer getroffene Verlust seines langjährigen Freundes und Jagdgefährten habe ihn mehr berührt, als er vor den vielen, ihm jetzt plötzlich seltsam fremd erscheinenden Menschen zugestehen mochte. Woran sollte er sich künftig halten inmitten der entstandenen Lücke ohne den langjährigen Weggefährten, dessen Geist anregende Inspirationen stets für ein lockeres und freundschaftliches Unterhaltungsklima im Salon gesorgt hatten! Trotz Jean-Claudes tödlichem Unfall und aller sich daraus ergebenden Hindernisse und Notlagen erledigte Madame Bouffier nach wie vor ihre vielgestaltigen Aufgaben, die mit der landesweit gepriesenen „Freitagsgesellschaft“ zusammenhingen. Dessen ungeachtet breitete sich in den großzügig ausgestalteten Räumen des Landhauses eine zunehmend traurige Verlassenheit und Distanz aus, die überall schädlich zu wuchern begann. Der helle Glanz ihres einstigen abwechslungsreichen Betätigungsfeldes schien mit dem tragischen Ende Jean-Claudes wohl nicht erloschen, jedoch farbloser geworden zu sein. Gewönne sie nicht bald einen neuen Lebensinhalt, würde ihr sprichwörtliches Selbstvertrauen zerbrechen, gab Dr. Keller gegenüber Madame Bouffier zu bedenken, es drohe abzufallen wie feucht gewordener Putz. Damit wäre sie isoliert von der gewohnten Umgebung, ohne die jener allerorts im Gespräch befindliche Salon keinen wirklichen Sinn mehr hätte und bei der nächsten Gelegenheit wahrscheinlich aufgegeben werden müßte. Ausgerechnet in jenen für Madame Bouffier problematischen Tagen fragte irgendein Germanistikstudent namens Jakob brieflich an, ob er ihrem Salon, von dem er schon oft in einschlägigen Zeitungen gelesen habe, beitreten könne. Weitere Fakten seiner Vita wolle er vorläufig für sich behalten, denn er sei, so glaube zumindest er von sich, ein nachdenklicher Typ, der zu schweigen verstehe, wenn andere salbungsvoll das große Wort führten. Dessen ungeachtet sei er von einer schwer zähmbaren Lebhaftigkeit, weshalb er manchmal auch ins Fettnäpfchen trete. Außerdem sei er, was den Lebensstil betreffe, ziemlich sparsam und daher insgesamt zufrieden. Er wäre überglücklich, wenn es möglich würde, sie in absehbarer Zeit treffen zu können. Ansonsten entwickle sich das Wetter sehr freundlich, und man könnte vieles gemeinsam unternehmen, wenn es auch ihr Verlangen sei. Das würde sein Verlangen, sich ihr unbedingt nähern zu wollen, unproblematisch erscheinen lassen. Er stelle sich vor, ihre Hand zu nehmen, sich flüchtig zu verneigen und für etwas zu danken, worauf er noch, vielleicht eine Ewigkeit, warten müsse. Und sehe sie bereits im heiteren Gespräch an seiner Seite. Gemeinsam alles überwinden, was sich ihnen trotzig entgegenstellten könnte. Natürlich spüre er die Naivität seines Wunsches, doch er lasse nicht davon ab, möglichst bald ihre Bekanntschaft machen zu dürfen. Er wußte jetzt nicht, wie er den Satz weiterfädeln sollte. Zumal er plötzlich im Redefluß steckengeblieben war, da ihm eigentlich nichts Geistreiches einfallen wollte, um eine Verabredung mit der Salonière zu treffen. Dennoch zweifelte er nicht, ihr bald gegenüberzustehen. Eine Aussicht, die ihn vergnügt werden ließ. Auch wenn er zuvor noch geglaubt hatte, er sei einem Phantom nachgelaufen, das er nie einholen würde. Madame Bouffier glitt aus der angenehmen Wärme ihres Bettes. Hielt für Sekunden jeden ungünstigen Gedanken fern und spürte, daß ihr Seelenzustand inzwischen eine Kehrtwende vollzogen hatte, anders tickte als kürzlich noch. Vorerst aber machte sie einige die Durchblutung der Beine fördernde Übungen wie das Luftradeln. Und zum Abschluß Rumpfbeugen. Doch ausdrücklich der letzte Satz in Jakobs Brief mit dem deutlichen Verlangen, ihr möglichst bald zu begegnen, war es, der die Salonière konfus gemacht und zum Abwägen ihres augenblicklichen Zustandes veranlaßt hatte. Sie öffnete weit die Augen, als wollte sie auch das letzte Hindernis erfassen, um ihren Horizont auszudehnen. Mißtrauen allein, sagte sie sich, verhindere nicht, sich am Ende falsch zu entscheiden. Oder wäre es realisierbar?, dachte sie und war perplex, auf die wahnwitzige Idee zu geraten, mit diesem Grünschnabel Jakob eine Affäre zu beginnen, das heißt ohne viel Nachdenken gemeinsam ins Bett zu gehen, ohne mögliche Folgen zu beachten. Madame Bouffier trat ans Fenster, verschränkte die Arme und schaute in das frische Grün des Parks
Sie wollte, wie schon so oft und doch vergeblich, jene Nervosität, von der sie häufig betroffen wurde, ein für allemal abschütteln. Daß es regnete bzw. unsäglich goß, nahm sie erst zur Kenntnis, als sie, neben dem Fensterkreuz lehnend, erstaunt beobachtete, was für eine Heftigkeit die Glasscheiben abzuwehren vermochten, ebenso die Sturmböen mit ihrem rüden Treiben. Wahrhaft gefährliche Zustände, dachte sie mit einem gewissen Schaudern, die sich da vor ihren Augen mit aller Kraft entfalteten „Ein miserables Wetter!“, schimpfte Madame Bouffier und war frustriert, als sie sich den Besuch Jakobs, des Studenten mit dem Ehrgeiz eines Dichters, auszumalen versuchte. Jedenfalls war es schwerlich denkbar, mit ihm auf durchnäßten Wegen trockenen Fußes zu flanieren, längs der altersschwachen, gebrechlichen Kastanien, die in den wallenden Nebelschwaden geisterhaften Wesen glichen. Das fortwährende Gurren der Tauben in den Baumkronen wurde allmählich zurückhaltender, ehe es schlagartig verstummte. War es denn jemals um das Landhaus herum so regendurchtränkt gewesen? Solche Launen der Natur machten gnadenlos einen dicken Strich durch ihre Rechnung. Madame Bouffier mußte jetzt vor allem Temperamentsausbrüche verhindern, wollte sie nicht ihre schon oft gezeigte Unerschütterlichkeit infrage stellen. Gegen diese bleierne Regenflut, durchfuhr es Madame Bouffier, war kaum etwas zu tun. Womit aber einen Heißsporn wie diesen Jakob zügeln, als der er sich, hatte man seine Zeilen auch nur hastig überflogen, entpuppen könnte? Störung, durchzuckte es ihre Stirn wie bei einem heftigen Migräneanfall, ist alles, was es im Einzelfall auch sein mag. Es komme wohl nur darauf an, ob diese Störung Heiteres hervorbringe oder im Abgrund beendet würde! Am liebsten hätte sie Jakobs innerste Natur dechiffriert, seine Glaubensbekenntnisse und Phantasiegebilde, wäre es nur machbar. Wenn mit jemandem, dann mit ihm, sie erinnerte sich an Worte aus dem 90. Psalm, Vers 9., würden „künftige Jahre nicht verloren sein wie ein Geschwätz“. Erstmals vernommen hatte sie diesen Kernsatz im Religionsunterricht des Städtischen Realgymnasiums aus dem Mund Fräulein Mechthilds, die wegen ihrer strenggescheitelten Haare mit dem weißen Häubchen darauf einer Nonne glich und deshalb nicht nur von Schülern als Ordensfrau bezeichnet wurde, die aus den Zeiten des Reformators Luther zu stammen schien, der gegen den päpstlichen Ablaßhandel 1517 mit einem alle bisherige Welt umwälzenden Thesenanschlag an die Wittenberger Kirchentür rebelliert hatte. Madame Bouffier zog sich vom Fenster zurück, war ärgerlich über den pausenlos wässerigen Himmel, der sich offenbar entschlossen hatte, ungerührt zu bleiben. Sie flüchtete hinter den schweren Vorhang, als könnte sie das miserable Wetter damit austricksen, und setzte sich an das dreifüßige Rokokotischchen, wo Jakobs durch eine Haarnadel flüchtig aufgeschlitzter Brief lag und mehrere Sätze darin mit schwarzem Filzstift markiert waren. Es gab Momente, in denen sogar Lautlosigkeit schmerzte. Da halfen auch nicht beruhigende Klänge einer CD, wenn es darum ging, ihre bisweilen unzufriedene Gemütslage aufzubessern. Mitunter verirrte sich ihr Gedankenflug in Liebesromanzen, dann wollte sie erforschen, woher diese triviale Lust in sie eindringen konnte. Und wem daran die Schuld anzulasten sei. Sie wußte nicht, wie sie es anstellen sollte, mit allem ins reine zu gelangen. Dann nahm sie sich vor, hartnäckig zu bleiben und auch die geringsten Zeichen ihrer Veränderung aufzuspüren. Und befand zuletzt, nichts weiter als ein ordinäres Gänseblümchen sein zu wollen, das selbst im strengen Winter, unter dickem Schnee verborgen, nie von seiner Lust zu blühen abläßt, nur gehalten von einem kurzen dünnen Stiel, der es durch die nächsten Wochen sicher begleiten wird. Nach diesen Überlegungen nahm sie ein Bad. So heiß, wie sie es immer gern mochte. Schüttete drei volle Kappen Latschenkiefernöl hinzu. Ganz in sich, in ihre ausufernden Wünsche nach unterhaltsamen Begegnungen und Abenteuern versunken, wurde sie von Phantasien um diesen Jakob heimgesucht, der sich zu einem baldigen Besuch angekündigt hatte oder zumindest bat, von ihr, der Madame Bouffier, empfangen zu werden. Danach, wenn sie sich alles reichlich überlegt hätte, wollte sie ein Weilchen ruhen, im flauschigen Daunenbett, sich hinter die dicken Samtvorhänge zurückziehen. Daß Jakob von ihr und nicht umgekehrt sie von ihm abhängig war, machte sie glücklich. Es war jene Stunde, da es im ganzen Haus am geräuschlosesten zuging, da nicht der geringste Windhauch beim Einschlummern störte, wenn es nicht das gleichmäßige Summen der Bienen vor dem Fenster war in den jetzt zartrosa blühenden japanischen Kirschbäumen. Genau in diesem Augenblick war ein Klopfen an der Außentür des Landhauses zu vernehmen. Madame Bouffier horchte, geriet aber nicht aus der Balance, und es war daher anzunehmen, sie habe dieses Klopfen unbedingt erwartet. Es vielleicht mit aller Kraft herbeigesehnt? Sie war um ihr angenehmstes Gesicht bemüht, das demjenigen, der geklopft hatte, mit Bewunderung erfüllen würde. Näherte sich aber vorsichtshalber erst dem Türspion, doch als sie davor innehielt und nichts zu erkennen glaubte, öffnete sie mit einem Ruck den Hauseingang, eine aus Eichenholz getischlerte, schwere Tür. Jean-Claude hatte im letzten Herbst begonnen, eine Selbstbiografie zu verfassen. Daß sein Vorhaben auch mißlingen könnte, schien undenkbar, weil die bisherigen Kapitel eifriger aus der Feder geflossen waren als erwartet, obwohl er in diesem Metier nicht wirklich kompetent war. Doch schon Mitte April lag ungefähr die Hälfte des Buches auf dem Schreibtisch. Jean-Claude ließ Seite für Seite durch seine vor Leidenschaft zittrig gewordenen Hände gleiten, berührte das Papier, als handelte es sich um hauchdünnes chinesisches Porzellan und zwängte das Ergebnis intensivster Anstrengung in einen extra angelegten Ordner. Mit dem Text schon derart weit fortgeschritten zu sein, brachte ihn zuletzt auf die Idee, das wahrscheinlich bald abgeschlossene Werk „Literarische Komposition“ zu nennen, in der er seine bisherige Tätigkeit einem daran interessierten Publikum präsentierte. Als ein in der breiten Öffentlichkeit bekannter Pianist wetteiferte Jean-Claude mit herausragenden Vertretern seines Faches. Und erntete dabei oft Anerkennung. Worauf sonst, fragte er sich, käme es einem Künstler an, um sich in der Schar von Kontrahenten zu beweisen? Und begann rhythmisch auf die Schreibtischplatte zu trommeln, zunächst mit leisem Wirbel, dann mit ansteigend selbstbewußten Tönen. Nach der gleichen Methode, mit der er während des fünfjährigen Musikstudiums die Handgelenke ertüchtigt hatte. Doch gelang ihm das noch genauso überzeugend wie in seiner anfänglichen Laufbahn? Am liebsten hätte er jeden Menschen, der ihm Wege zum Erfolg öffnete, ans Herz gedrückt. Dabei machte er ein Gesicht, bei dem nicht zu unterscheiden war, ob es furchtsam wirkte oder verschmitzt lächelte. Denn sein Schnauzer beherrschte nicht jedes verräterische Zucken im Gesicht, wußte es nicht zu kaschieren bzw. wußten Gäste es nicht zu deuten. Hin und her gerissen, kehrte er an seinen gewaltigen Schreibtisch zurück, an den oft verfluchten Folterstuhl, wie er ihn sarkastisch nannte und doch nicht von ihm loskam, um keinen Preis in der Welt. Ohne diese aus Mahagoniholz gefertigte Makellosigkeit würde ihm etwas Wesentliches in seinem Leben fehlen. Gelegentlich trieben ihn melancholische Stimmungen, die zu überwinden ihm nicht immer gelang, in gefährliche Bedrängnis. Ahnte er denn nicht, wodurch sich diese oder jene Gefühle entblößen würden? Er rutschte mit seinem Lehnstuhl, einem neobarocken Prunkstück, etwas zur Seite, erhob sich und schlurfte, die ausgetretenen Pantoffeln nachziehend, zum Fenster, das an und für sich nur eine zweitklassige Dachluke war. Öffnete sie, indem er den schmiedeeisernen Griff herumzudrehen versuchte, was allerdings nur ein aus Seufzern und Prusten bestehendes, in gewissem Maße schonungsloses Hantieren vernehmbar werden ließ. „Endlich!“, rief er in hellstem Ton. „Das wäre geschafft.“ Und wollte sich gerade, bevor er lachend eine leichte Verbeugung vor sich selbst vollführte, zur Treppe begeben, wurde es doch Zeit für seinen Auftritt. Dann, nur wenig später, entwickelte sich alles ganz anders, und zwar ohne seine Anwesenheit. Er drehte sich nochmals zum Spiegel und genoß sein Ebenbild. Ein letztes Mal, was er freilich nicht ahnen konnte. Da rief es im gleichen Augenblick von unten her, aus dem Speisezimmer neben dem Gelben Salon, ob er, Anton, wohl diesmal zum Dinner käme. Es sei doch schon wieder spät geworden, genau genommen zu spät. Leider! Wegen seines Herzens und auch der leidlichen Verdauung sollte er, worauf ihn Dr. Keller stets hingewiesen habe, energisch auf Pünktlichkeit achten. Zumal bei seinem Schreibpensum, das er oft bis Mitternacht ausdehne, und nachfolgender Lektüre in Büchern und Zeitschriften! Was für ihn nicht ersprießlich sein könne. Zumindest nicht für seine empfindlichen Augen. Da dürfe er sich keine Nachlässigkeit erlauben. Übrigens habe Goethe, so lese man in einschlägigen Erinnerungen von Zeitgenossen, zur Abendbrotstunde nie etwas oder nur wenig verzehrt, tönte es erneut von unten, oder vulgär ausgedrückt, in sich hineingestopft. Möglich, daß sich die Stunden über auch mehrere Schluck vollmundigen Weines hinzugesellten, die er sich, das Weimarer Multitalent, als unvermeidliches Finale eines kaum zurückhaltend geregelten Tagewerkes zubilligte. Die etwas auf sich hielten, hörte man ergänzend Madame Bouffiers ironisch gefärbten Worte, wußten allemal, worauf es anzukommen hatte. Und sie handelten auch mitleidlos danach! Das wäre doch nicht zuviel verlangt von einem wie ihm, dem angebeteten Pianisten! Der von aller Welt geehrt werde und auch umworben. Da von Jean-Claude wiederum keine Reaktion einzuholen war, rief man erneut, diesmal weniger liebenswürdig, eher schon unwirsch. Also mit einer vor nichts haltmachenden Stimme. Jetzt endlich begann ihm einzuleuchten, worum es sich handelte: ums Überleben, also ums Essen und Trinken, damit Leib und Seele zusammenwirken, wie es der selige Familienpatron, Großvater Wilhelm Anton, konstant und dabei stets leutselig bleibend verkündet hatte, wenn er den zentnerschweren Tisch, diese kernige Eiche, geschlagen aus hochkarätigem deutschem Wald, nach der Etikette des feudalen Hauses zu decken half. Und das mit erhobenem Zeigefinger, auch dann, wenn er ihn, mit einem Stück Leinentuch umwickelt, präsentieren mußte. Wegen der hervorsickernden Blutstropfen aus einer Wunde, die er sich beim Holzspalten eher fahrlässig zugezogen hatte. Und das mit seiner wenigen, ihm eher feindselig gestimmten Zeit, die längst unbezahlbar zu werden schien. Von wem glauben wir Schäden zugefügt, wenn nicht durch uns selbst? Ob er denn, dröhnte es nochmals von unten, aber diesmal resoluter, sogar auf sein Bier, helles Köstritzer, keinen Wert lege, es vielleicht gar ablehnen wolle. Es stehe, wie immer, an vertrautem Platz. Und eisgekühlt, wie es sich gezieme! Diese forsch gestellten Fragen, fast Aufforderungen gleichend, erfolgten wiederholt, ohne daß Jean-Claude bereit schien, auch nur ein Wort nach unten in das ihn ärgerlich werden lassende Speisezimmer zu schicken. Doch er blieb eisern, klebte weiter an seinem Stuhl, der ihm einen festen Halt gab, wieviel Zeit auch noch verstreichen würde. Einzig allein drängte ihn, und das wußte hier im Landhaus jeder, seine Biografie, deren Druck noch vor der Buchmesse erfolgen sollte. So war es per Siegel und Handschlag mit dem Verlag ausgemacht worden. Tags darauf, in der frühen Morgenstunde, war es ihm plötzlich seltsam zumute, als könnte er keine klaren Gedanken mehr fassen. Ohne es begriffen zu haben, sah er sich in der städtischen Bibliothek an einem gewaltigen Tisch hocken, um aus seinem noch bruchstückhaften Werk „Literarische Komposition“ das eine oder andere Kapitel vorzutragen. Eingerahmt von allmählich gereizt wartenden Gästen, die erpicht waren, unbedingt ein Autogramm von ihm, dem schriftstellernden Pianisten, zu erhaschen, wobei er eher an ein Geschenk für Bekannte und Freunde dachte. Jean-Claude, die schmalen Künstlerhände ausbreitend wie zu einer wohltätigen Umarmung, würdigte den löblichen Empfang, erhob sich, wenngleich übermüdet und kraftlos, von seinem Biedermeiergestühl, die neuerliche Huldigung mit leutseliger Miene bescheiden abwehrend. Er öffnete den verweichlichten Mund und schloß ihn sogleich wieder, was ihm nun eine bittere Note verlieh. Eine offensichtlich gewinnbringend erprobte Geste, an der er irgendwann Gefallen entdeckt hatte, um sich auf diese kalkulierbare Art als fügsam zu erweisen. Und doch dünkte es ihm wie ein Katz- und Mausspiel: Einer bedankt sich, andere zollen Beifall. Vereinzelt sogar frenetischen und nicht enden wollenden. Das alles, obwohl man auch hierbei stets ein Fremder unter Fremden bleibt. Und aus Erfahrung weiß, daß jeder fast immer nur auf eigenen Vorteil bedacht ist, sich vor allem selbst entschlüsseln will. Doch im selben Moment verzeiht er sich diesen, wie er glaubt, egoistischen Dünkel, den er pietätlos findet und zum Verstummen bringen will, solange ihm das noch möglich ist. Bevor die rissig werdende Fassade bröckelt. Auch Eifersüchten nachzugehen, kostet oft mehr Kraft, als sich voraussehen läßt. Plötzlich, er spürte kaum, was ihm widerfuhr, versagte seine Stimme, die eben noch den Bibliothekssaal gefüllt hatte. Er stürzte in ein Loch, wohin kein Lichtstrahl mehr gelangte und wo das Atemholen zur Qual ausartete. Er stöhnte vor Schmerzen, und zuletzt war es, als zöge man ihn nach stundenlangem Kreuzverhör aus diesem dunklen Verlies, bis er sich, von Licht geblendet, wieder in der Buchhandlung glaubte. Begutachtet von einem Notarzt, der ihn, über den Brustkorb gebeugt, nach verdächtigen Geräuschen abhörte und dabei in seine trüben Augen blickte. Sich ans Kinn faßte und seinen Mund zu einem dünnen Spalt verwundert öffnete. Wochen später wußte Jean-Claude nichts mehr von der Konfusion, die ihn erfaßt haben sollte, wie man sich ringsum erzählte. Dennoch plagten ihn gewisse Zweifel, ob er noch termingerecht das Manuskript seiner Biografie abzuliefern imstande sein würde. Hatte er sich bei dem Versuch, auch in der Schriftstellerei zu brillieren, vielleicht überschätzt? War er sachkundig und routiniert genug, sich in dieses schwierige Ressort einzufädeln, wenn auch nicht unbedingt dessen Gipfel zu erklimmen? Es schien ihm unumstößlich wie das Amen in der Kirche, daß er viel Kraft aufbringen mußte, diese Herausforderung zu erfüllen und am Ende nicht kapitulieren zu müssen! Aus dem vor ihm stehenden Glas fischte er eine ertrunkene Spinne, die eben noch dabeigewesen sein mußte, eine Fliege auszusaugen, schnippte sie ärgerlich durch das offene Fenster hinaus auf das Straßenpflaster, als hätte er Angst, sie könnte sich noch einmal aufrappeln und zurückkehren in das Zimmer, wo an der Decke ihre Fangnetze hingen. Madame Bouffier, gerade erwacht, fühlte sich nach dem eher strapaziösem Nachtlager wie von einer schweren Last befreit, drehte sich auf den Rücken und genoß das bißchen Faulenzerei noch ein Weilchen, ehe der Wecker rasselte und die Stille zerhackte. Als Kind hatte sie dann stracks das Bett zu verlassen, mußte sich waschen, anziehen und frühstücken. Alles unter den strengen Blicken und Anweisungen einer häufig launischen Tante, von der sie auch zur Schule begleitet wurde. Ihre Eltern, die im Kulturdezernat der Stadt wichtige Ämter bekleideten und gewöhnlich erst spät das Büro verließen, sahen sie gewöhnlich erst zum gemeinsamen Abendbrot wieder. Aus diesen fernen Tagen rührte es wohl her, daß Madame Bouffier, ohne sich überwinden zu müssen, schon in aller Herrgottsfrühe aus ihren Daunenfedern sprang, bestaunt und gleichermaßen beneidet von Jean-Claude, der gern noch in der verführerisch animalischen Bettwärme zugebracht hätte. Mit den reichen Erfahrungen ihrer gut 36 Jahre, so war Madame Bouffier sicher, erfaßte und klärte sie fast jede noch so verzwickte Situation im Handumdrehen. Wenn es sein mußte, auch mit dem heute um 15 Uhr zur Kaffeetafel ins Landhaus eingeladenen Jakob, von dem sie bislang kaum mehr erfahren hatte, als daß er Student der Philosophischen Fakultät sei, sich an Gedichten ausprobiere und ihr möglichst bald eine Kostprobe davon vorlegen wolle. Dem hatte neulich ein Studienkumpel empfohlen, Madame Bouffier seine Aufwartung zu machen. Ihr aber vorher einige verbindliche Zeilen zu schicken. Mit ein paar jener Blätter, worauf er seine, wie er sie nannte, „Unbeholfenen Mitteilungen in Gedichten“ notiert hatte, um sie der Salonière anzubieten und sie damit zu beeindrucken. Das konnte sie den hingeworfenen Sätzen Jakobs entnehmen, dessen Freund es wie Jakob zur Literatur hinzöge, der jedoch auf Druck seines Vaters, eines pensionierten Staatssekretärs, die juristische Laufbahn eingeschlagen habe. Sollte ihm, der zumindest vorläufig noch ein Dilettant war, offensichtlich werden, in der wöchentlich abgehaltenen Expertenrunde fehl am Platz zu sein, würde er sich sofort zurückziehen, als hätte er nie versucht, sich diesem erlauchten Kreis auch nur zu nähern. Derzeit studiere er an der Philosophischen Fakultät Kunstgeschichte und Germanistik. En passant betätige er sich auf literarischem Gebiet, was bisher leider noch keine überragenden Früchte getragen hätte. Falls ihn die erwähnten Studienfächer nicht befriedigten, werde er künftig als freier Autor durch die Welt der Literatur streifen müssen. Vielleicht in einem hauptstädtischen Kulturmagazin. Zumal er schon ein Bündel Gedichte in petto habe. Wenn auch zumeist in reimloser Rhythmik. Er betrachte diese poetischen Entleerungen als unerläßlichen Grundstock für sein angestrebtes Lyrikbändchen. Darauf setze er große Hoffnungen. Gleichwohl rechne er auf Madame Bouffiers landesweit gepriesene Seelengröße, von der ihm einige Proben schon zu Ohren gekommen seien. Bei all dem hoffe er, seinen Traum verwirklichen zu können. Besiegelt war die Postkarte, von der Salonière nur dank ihres Vergrößerungsglases zu entziffern, mit „Ihr Sie sehr verehrender Jakob!“. Kein Familienname, dafür eine Adresse, aber diese freilich ohne Hausnummer: Heinrich-Heine-Straße konnte sie dechiffrieren. Hinzugefügt noch „dicht am Walde“. Kalkül oder heutzutage oft zu beobachtender Schlendrian junger Leute, die sich für hellsichtig und humorvoll zugleich hielten? Wohin sollte das alles noch führen? Sie fühlte sich für einen Moment hin und her gerissen. Aber war es nicht gerade dieser salbungsvolle Flitter, von dem Madame Bouffiers erwachte Neugier auf Jakob genährt wurde? So keimte der Gedanke, dem Jüngling, und sei er noch von so eigenwilliger Art, die Ehre zu geben. Ihn möglichst bald zu empfangen. Mit anderen Worten: also demnächst. Wenn sie nur die Leichtigkeit dazu aufbringen würde. Sie stellte sich vor, ihm bei der Begrüßung die Hände entgegenzustrecken. Hände, die voller Zärtlichkeit sein konnten, wenn sie es nur wollte. Warum also nicht? Madame Bouffier sah den jungen Gast mit kritischen Blicken an, dachte aber, es gebe keinen triftigen Grund, diesen Burschen etwa seiner Aufdringlichkeit wegen dem Salon fernzuhalten. Oder ihm einreden zu wollen, daß man zur Zeit schon ausgebucht sei, weil sich um sie schon genügend, wie sie mit leichtem Spott sagte, angebliche Talente stritten, die mit Literatur und ähnlichen Künsten leicht einen sicheren Broterwerb zu angeln glaubten. Unter ihnen befänden sich zu viele geschwätzige Naturen, die nur Mittelmäßiges zustande brächten, aber zum Intrigieren entschlossen und ersichtlich auch nur dafür brauchbar seien. Deshalb müsse stets die Spreu vom Weizen getrennt werden, ehe sich beides zu einem schwer entwirrbaren Knäuel vermenge. Zu Jakob gewandt, sagte sie leutselig und zugleich einladend, niemand würde ihn hindern, dem Salon, wenn er es nur wünsche, beizutreten und sein Mitglied zu werden. Und zwar schon an einem der nächsten Freitagabende, falls es ihm recht sei. Madame Bouffier präsentierte abermals ihre faltenfreie Stirn in mädchenhafter Vollkommenheit. Für Sekunden schloß sie die schwarzumrandeten Augen, kuschelte sich in den Altherrensessel. Der hatte sich, schon über Monate verwaist, wie eine kompromißlose Schildwache vor dem Schreibsekretär postiert, anscheinend hoffend, Jean-Claude erneut in diesem Lederpolster auffangen, damit er seine bisher unvollendete Biografie zu einem wirkungsvollen Abschluß bringen könnte. Zum Erstaunen all derer, die ihn wirklich mochten und auf einen großen Triumph gespannt waren. In der Mansardenstube, dem fernsten Winkel des Landhauses, sah man, freilich nur in der Phantasie, Jean-Claude in seiner wuchtigen Fülle am Computer hocken, ja beinahe manisch auf die Tasten hämmern. Akribisch das für jede Eingebung tauglichste Wort aufgabeln. Es geschah nur selten, aber doch hin und wieder, daß er bezweifelte, ob er die Flexibilität und das Durchstehvermögen besitze, seine Biografie erfolgversprechend in einem gutbürgerlichen Verlag unterzubringen. Er nahm zwei oder drei Schluck trockenen Martini, der stets auf dem Sekretär stand, ehe Jean-Claude mit einem Seufzer in den Altherrensessel zurückfiel, glasigen Auges beobachtete, was da mit ihm geschehen werde oder könne. Denn er befürchtete nichts mehr, als auf halbem Weg schlappzumachen, wenn nicht gar Schiffbruch zu erleiden. Nachdenklich hielt er den Atem an wie jemand, der unschlüssig und sorgenvoll in sich hineinhorcht. Gelänge es ihm nicht, die Arbeit fortzusetzen und zu beenden, hätte er versagt. Emporsteigen war sein Ziel, wofür er sich täglich abrackerte. Schon mit dem Text variieren können, bevor er alles dem Computer überließ, war die Hürde, für deren Bezwingung er jede noch so reichliche Strapaze in Kauf nahm, ebenso wie für die von ihm gewollte Sicherheit, es jemandem mitzuteilen, der ihn begriff. Begreifen konnte! Der Intention des eigenen Handelns trauend, würde er vor den Spiegel treten, auch dann, wenn sein gewohntes Abbild nicht mehr das eines kraftstrotzenden Genies war. Doch seine Schreibwut, wie Madame Bouffier gelegentlich den literarischen Eifer ihres Gatten nannte, vielleicht auch eher verspottete, erlahmte wegen krankheitsbedingter Rückschläge, und so schwand allmählich die Zuversicht, im Verlag bald ein druckfertiges Manuskript abzuliefern. Jean-Claude wandte sich wieder dem Schreibtisch zu, mußte sich ihm zuwenden, da er jedes Mal, wenn er Zeitdruck verspürte, auf den Computer mit der Energie eines Marathonläufers einhämmerte, als ginge es wie bei einem sportlichen Wettlauf um Sieg oder Niederlage. Oder war es am Ende die einzige Möglichkeit, der Welt etwas hinterlassen zu wollen unter dem Aspekt literarischer Verwertbarkeit? Das notwendige Selbstbewußtsein für den Ehrgeiz, Großes zu schaffen, besaß er allemal. Mitten auf dem Schreibtisch, der Madame Bouffier an die Biedermeierzeit erinnerte, stand der wuchtige, von Jean-Claude favorisierte Bronzeleuchter, in dem, schon bis zur Hälfte heruntergebrannt, eine dicke Kerze steckte, deren Docht gut zur Hälfte verrußt war und lediglich noch ein apathisches Flämmchen zuließ, das plötzlich erlosch. Schleunigst suchte Jean-Claude in seiner Hosentasche nach dem Feuerzeug, doch als er es darin nicht fand, nahm er Streichhölzer. Obzwar spöttisch veranlagt und Freidenker, nannte er den harmlosen Vorfall dennoch einen Wink des Schicksals, das, so meinte er, besonderer Ausdruckskraft bedürfe. Darin, so war er überzeugt, seien die Menschen ziemlich gleich. Und dachte gereizt, alles, was man ins Auge fasse, entlarve sich im Laufe der Zeit als triviale Komödie, als ein sich ständig wiederholendes Würfelspiel zwischen unterschiedlichsten Gefühlen. Er brauche nun einmal den Dunstkreis von Flammen- oder Kerzenlicht, um konzentriert fabulieren und seine Ziele verwirklichen zu können. Hatte nicht Schiller, der geniale Nebenbuhler des Geheimrats Goethe, sogar faulige Äpfel im Schubfach seines Schreibtisches aufbewahrt, um sich vom ausströmenden Aroma für dichterische Phantasien anregen zu lassen? Obwohl es dann fraglos an Bewegungstrieb mangeln würde, der nötig sei, um die Schöpfung nach durchschaubaren Maßstäben einzurichten und ihr künftig Übersättigung zu ersparen. Nach zwecklosen Versuchen flammte das spindeldürre Hölzchen endlich auf, und Jean-Claude konnte damit rechnen, seine schriftstellerische Erfindergabe aufzumuntern. Er biß sich auf die blaß gewordenen Lippen, als wollte er damit seinen Ehrgeiz wieder anstacheln. Ohne zu schmunzeln, zeigte er sich zufrieden. Den späten Abend nach Madame Bouffiers nur im Traum gelungener Episode mit Jean-Claude wurde die Terrasse des Landhauses mit einer schillernden Gesellschaft bevölkert, die inbrünstig dem Nachtigallensang lauschte oder den gemächlich hochsteigenden Mond beobachtete. Es raubte nicht wenigen den Atem, wie buhlerisch und lustvoll der Erdtrabant zwischen den fortwährend sich modulierenden Wolkenbildern schaukelte, sich darin immer aufs Neue verkroch und bald schon gebefreudig sein silbriges Licht über die von abstrusem Geraschel durchwehte Parkaue ergoß. Es schien, wie man sich genußvoll einredete, die Schweigsamkeit harmloser Dämonen vagabundisch unterwegs zu sein, woran niemand zu zweifeln vorgab, obwohl es jeder gebilligt hätte. Sie waren jetzt erneut Verbündete wie in früheren Jahren, da noch keiner wußte, ja, nicht einmal ahnte, daß später unterschiedlichste Lasten zu bezwingen wären und so mancher dabei taumeln würde. Vielleicht erbarmungslos am gigantischen Meeresfels zerschmetterte, unbemerkt von den Begleitern ringsum. Entlang der Flußlandschaft waltete ein Frohsinn, den jeder für sich erheischte, wie man Cherub sein möchte, der noch jeden Gestrauchelten zu retten versuchte. Oder es allenfalls ausprobieren würde. Man schmiedete reihenweise nur ausführbare Pläne, Entwürfe pompöser Theaterkulissen, deren Realitätsnähe beifällige Worte folgten. Gutgeheißen auch die Anregung für einen Streifzug hinab zum Fluß, in dessen jetzt bedächtig fließendem Wasser die Mondscheibe segelte, willkürlich durch kapriziöse Schatten durchbrochen. Und mittendrin ein nicht klipp und klar auszumachendes Geräusch oder Seufzen, jedenfalls schien es menschenähnlich, bis ringsum jeder Laut, auch jede anrührende Bindung erstarb. So fühlten alle, glückstrunkener könnte es nirgends auf ihrem Himmelskörper zugehen. Dennoch waren sie betrübt, sich nicht beherzt genug von den Theorien sogenannter Weltverbesserer abgeschottet zu haben. Immer wieder sahen sie sich von ihnen geprellt und hatten dadurch nicht zeitig genug Unredlichkeiten zwischen den Menschen erkannt. Bezaubert von der nächtlichen Atmosphäre, schmiegte sich Madame Bouffier an Jakob und begann zu flüstern: „Die einander bedürfen und lieben, und sonst nichts.“ Und wie von selbst gelang über ihre Lippen die vertraute Weise vom lieben guten Mond, der so stille am Abend steht. Es war, als käme ihr nach und nach wieder die längst entfernte Kindheit mit der erstaunlichen Wißbegier in den Sinn, und sie begann zu erfassen, daß nur ein tiefer Blick in Vergangenes fähig ist, romantische Gefühle zu erwecken. Mondgeflüster, glaubte sie und war überwältigt, läßt Augen und Ohren sensibler werden, schärft die Sinne für Details. Und läßt aufhorchen, wo nichts Grundlegendes zu hören ist. Entscheidend war ihr vor allem, daß nichts verlorenging im Tumult eines gleichgültigen Lebens. Da sollte man nachspüren, wie es mit einem selber stand
Nach der Promenade entlang des Flusses und in dessen Niederungen fühlte sich Jean-Claude erfrischt. Stieg einsichtsvoller als sonst zum Kabinett hinauf, dem Arbeits- und Studierzimmer, um noch an seiner Biografie zu feilen. Tags darauf begab sich Jean-Claude gegen 15 Uhr in den Kleinen Saal, setzte sich an den schwarzen Bechstein-Flügel und empfing nach dem ersten Satz aus Beethovens Mondscheinsonate enthusiastischen Beifall. Anfänglich hatte noch zurückhaltende Stille gewaltet, in der niemand zu atmen wagte, dann aber, der 3. Satz war soeben verklungen, durchbrauste den Saal, gleich einer stürmischen Welle zu Jean-Claude hin, nicht abflauender Freudentaumel, der kaum ausklingen wollte und erst nach Minuten einigermaßen verstummte. Jeder Konzertteilnehmer legte größten Wert darauf, sein möglichst teilnahmsvollstes Gesicht zu bieten. Der Pianist, von diesem heftigen Beifall total überwältigt, lächelte fast verlegen und verbeugte sich immer wieder, machte dann nach vielen Da-capo-Rufen endlich eine Zugabe, worauf sich Jean-Claude Dutzende Hände entgegenstreckten. Etliche der Zuhörer waren so gerührt, daß sie ihre Tränen nicht verbergen konnten. Als der Künstler im allgemeinen Jubel den Saal verließ, sah Dr. Keller darin keinen Grund, besorgt zu sein. Jean-Claude sei, versuchte er Madame Bouffier zu beruhigen, fabelhaft vital. Für den Mittsechziger sehe er keine alarmierende Situation. Gelegentlich sollte er sich jedoch schon eine Atempause gönnen. Nun geschah das Unheil doch, allerdings nicht infolge einer plötzlichen Erkrankung, sondern durch einen nicht vorhersehbaren und noch dazu banalen Unfall. Dr. Keller, der nach dem Hilferuf Madame Bouffiers herbeigeeilte Landarzt, hüstelte verlegen, als trüge er eine gewisse Mitschuld daran, nichts mehr tun zu können für den langjährigen Freund. Dessen Lebensweg, sagte er und wußte, daß es wenig tröstend klang, habe sich vollendet. Der Familie bliebe nichts weiter übrig, als sich damit abzufinden. Es sei jedoch, versuchte er Madame Bouffier aufzurichten, ein rascher, wenn freilich auch spektakulärer Tod gewesen. Die Salonière erwiderte mit einem Seitenhieb auf die ärztliche Heilkunst, wenn man den Doktor erst hereinlasse, sei man schon so gut wie tot, obwohl sie das weniger auf sich beziehe. Nur könne es eben jeden von uns ereilen, und das, wenn es sein müsse, zu jeder beliebigen Stunde. Ob Jean-Claudes in der Mansarde erfolgter Fehltritt tatsächlicher Beweggrund seiner Abberufung von dieser Welt gewesen sei, wisse nur Gott, fügte der als Heide geltende Arzt ironisch hinzu. Er hatte es nicht über sich gebracht zu sagen: „Es mußte früher oder später so kommen.“ Ganz bestimmt. In letzter Zeit, glaubte er, sei Jean-Claude mehr, als es gut sein konnte, überlastet gewesen. Habe sich zu wenig um sich selbst gekümmert. Da war es nicht vermeidbar, daß er irgendwann ins Schlittern kam, bis ihm bange geworden sei, er werde die Biografie nicht bewältigen und auch nicht mehr die schon lange geplanten Konzertreisen, die ihn durch die halbe Welt führen sollten. Ob sie denn vor dem Schlaganfall, wie zunächst irrtümlicherweise angenommen wurde, Kreislaufstörungen wie Schwindelanfälle oder zu hohen Blutdruck bemerkt habe, wandte sich Dr. Keller nochmals an Madame Bouffier. Die Witwe schluchzte, bedeckte mit den Händen ihr blasses Gesicht. Sie habe sich nichts Böses gedacht, als die von Jean-Claude favorisierte Mozart’sche Sinfonia concertante für Bläser plötzlich abbrach, die er, während er schrieb, stets aufs neue in den Recorder geschoben hatte. Auch nicht, ehe noch das Andantino con variazioni verklungen war. Erst dann sei von ihr und anderen Konzertbesuchern bemerkt worden, wie sich vom Dachgeschoß her eine unheimlich anmutende Schweigsamkeit zu entfalten begann, was sich zunächst niemand erklären konnte. In diesem Augenblick wohl sei Jean-Claudes Herz aus dem Takt geraten und zum Stillstand gekommen. „Welch niederträchtiges Malheur! Welches Drama!“, stöhnte Madame Bouffier hoffnungslos, als ihr die Ursache dieses verhängnisvollen Abends zu dämmern begann, und starrte in ihrem ganzen Jammer verzweifelt vor sich hin, immer wieder den Kopf schüttelnd. Es war die hemmungslose, elende Situation einer Frau, die jenen verloren hatte, mit dem sie in großer Innigkeit verbunden gewesen war. Ob der oberste Weltenlenker ihrem Jean-Claude nicht verziehen hatte, daß er jede Parforcejagd dem sonntäglichen Gottesdienst vorgezogen hatte? Dem in der Mitte des Lebens befindlichen Landarzt Dr. Keller waren Madame Bouffiers theatralische Neigungen und Gesten seit jeher geläufig, nun suchte er nach einer plausiblen Rechtfertigung des Schicksalsschlages, fand aber keine wirklich dazu passenden Worte, die den offenkundigen Schmerz der Salonière gemildert hätten. So heftete er unablässig seine Blicke, nicht ohne einen gewissen schwer zu erklärenden Neid, auf den von einem Blumenmeer umringten Pianisten, der, schon entbehrte sein in den Jahren rundlicher gewordenes, ein wenig noch immer lächelndes Antlitz die ihm eigene barmherzige Röte, mit den Tumulten einer scheinbar oft heillos zerstrittenen Welt nichts mehr zu tun haben würde. Dr. Keller schaute achtsam nach allen Seiten, schämte sich nicht seiner Tränen, senkte die blauen Augen in seinem jetzt angestrengt und zugleich eingefallen wirkenden Gesicht, verharrte fast minutenlang bewegungslos, nicht fähig, irgendetwas zu äußern. Dachte aber dennoch unentwegt, ob er Madame Bouffier herumkriegen könnte, mit ihm, dem eng vertrauten Hausdoktor, in das von Jean-Claude gerade erst verlassene Bett zu schlüpfen, was ihm allerdings wie ein Frevel erschien, ähnlich einer unverzeihlichen Gotteslästerung. An einem sonnigen Vormittag vielleicht, da sie beide, und vorzugsweise allein, im einsamen Landhaus bei einer Tasse schwarzem Kaffee, wenn nicht eben vergnüglich, aber doch über die sich jetzt mit dem überraschenden Tod des Pianisten enorm ändernden Umstände plaudern könnten. Welche ausgeklügelte Zeichensprache und Winkelzüge würden ihn für immer und ewig an Madame Bouffiers Schlachtfeld heranführen? Was für eine Wahl würden sie danach, wenn es denn tatsächlich geschehen war, treffen können oder sogar müssen? Pläne über Pläne stellten sich ungeniert ein, mit denen er seine liebe Not hatte, wenn er nur daran dachte. Nachdem Dr. Keller mit einem warmherzigen Händedruck Madame Bouffier erneut seiner Anteilnahme versichert hatte, preßte er die Lippen aufeinander und füllte mit der Korrektheit eines Staatsbeamten, als wollte er für den heimgegangenen Freund ein wertbeständiges Dokument anfertigen, den Totenschein aus. Eine unvermeidliche Handlung. Berührte nochmals Madame Bouffiers Hand, die schmal geformte Hand einer Künstlerin, wie er abermals erstaunt bemerkte. Er müsse noch, entschuldigte er seinen eiligen Aufbruch unter den erstaunten Blicken der Umstehenden, einen ähnlich dramatisch ausgegangenen Fall betreuen. Doch dann machte er unvermittelt kehrt und nahm die noch immer leidgeprüft vor sich hin starrende Witwe in seine Arme. Ein wenig zu vertraut, wie es manchen der irritierten Gäste schien, doch er flüsterte unbekümmert, man treffe sich ja ohnehin bald zum Begräbnis. Mit ihm, versicherte Dr. Keller, würde sie auch künftig zu tun und zu rechnen haben, er sei ja im Landhaus ein- und ausgegangen, gehöre praktisch zum engeren Familienkreis, nicht nur wegen seiner Pflichterfüllung als praktizierender Landarzt bei den einflußreichen und durchaus bemittelten Bouffiers. Ob das jetzt von ihm dargebotene oder nur geprobte Lächeln alle von seiner Loyalität überzeugen würde? Geduld war angesagt, vor allem von den jungen Leuten, die ihre Teilnahme auf dem Friedhof nur als eine lästige Pflicht betrachteten. Drei Tage später läuteten die Glocken von St. Marien. Es war elf Uhr und ein stürmisch zu nennender Vormittag. Jean-Claudes Grablegung auf dem Waldfriedhof des Dorfes, wohin sich die Bouffiers zu Anfang der 90er Jahre zurückgezogen hatten, wurde vollzogen. Im Beisein der engsten Familie, seiner Großtante Babette, des Pfarrers und vieler Musikliebhaber, darunter des Hausarztes, erklang der erste Satz von Mozarts Sinfonia Concertante für Bläser, die er sich schon vor Jahren, sehr zur Verwunderung der engsten Freunde, gewünscht hatte für seine einstige Beerdigung, die freilich damals noch in weiter Ferne zu liegen schien. Denn es gab keinerlei Anzeichen eines plötzlichen, unerwarteten Todes. Konsistorialrat Gustav Lohmayer, Seelsorger des benachbarten Kirchensprengels, hielt eine, wie es im Dorf ausnahmslos beurteilt wurde, tiefsinnige Predigt. Mit Notizen über Leben und Schaffen Jean-Claudes, die ihm Madame Bouffier per E-Mail zugesendet hatte, würdigte er den, wie er sagte, viel zu früh Verstorbenen, der im offenen Sarg neben der Grabstätte aufgebahrt lag, als einen freigeistigen Menschen, dessen humaner Charakter landesweit geschätzt wurde. „Im Gegensatz zum Verstorbenen, haben nicht wenige Menschen“, setzte Lohmayer zum Schlußwort an, „nur die einzige Absicht: den Weg nach oben zu erreichen und dort, auf der Höhe, für ewige Zeit zu bleiben.“ So gelang die Trauerfeier als Lobpreisung eines begnadeten Künstlers, dessen Wunsch, seine Autobiografie vollendet der Öffentlichkeit zu präsentieren, leider nicht zu erfüllen war, da Gottes unumstößlicher Wille anders entschieden hatte. Jean-Claude werde in allen Herzen fortleben, versicherte Dr. Keller, der nach Pfarrer Lohmayer an das Grab herangetreten war und Madame Bouffier zulächelte wie ein enger Vertrauter, dem menschliche Regungen geläufig sind. Stirb und werde!, habe Goethe in seinem Faust verkündet. Auf das „werde“ lasse er sich als Mediziner natürlich bereitwillig ein. Dr. Keller hielt einen Moment in seiner leise vorgetragenen Rede inne, als müßte er nochmals abwägen, was er noch hinzufügen wollte. Blickte auf den Sarg hinab und sah durch das eingelassene Glasfensterchen mit Staunen auf das maskenhafte Antlitz des Verblichenen, der sich bis in alle Ewigkeit um nichts mehr zu kümmern hatte. Dr. Keller, der während seiner langen Arztpraxis wohl an einiges gewöhnt war, mußte jetzt seine ganze Kraft zusammennehmen, um nicht vor aller Augen ins Wanken zu geraten. Er gab sich den Ruck eines starken und zugleich bibelfesten Mannes, der zumindest nach außen hin keinerlei noch so geartete Schwäche zu erkennen gab, da von ihm, der im jetzigen Augenblick das gesegnete Wort Gottes verkündete, eine Trauergemeinde Labung erhoffte. Dagegen habe jeder hier Anwesende zu einer voraussichtlich noch fernen Stunde, für sich das Erlebnis des Todes zu bestehen, weil der Betroffene niemand und nichts mehr benötige für das, was er sowieso nie mehr vollbringen werde. Der Tod sei eine unbestechliche Institution, die Tiefe und Illusion mit rituellen Gesten verknüpfe. Unterbrochen nur durch fortwährendes Leben, das man nicht verzetteln dürfe. Auch nicht durch faule Kompromisse, die keinen Pfifferling wert seien. Das war der Kerngedanke, wenn man das Vergangene zu erklären versuchte. Und das vielleicht auf ganz und gar lustige Art. Weil alles unterhaltsam geschehe, was eng mit der menschlichen Kultur zusammenhänge. Dann schwieg er, als sei ihm der Faden verlorengegangen. Als sich bereits einige Anwesende beunruhigt nach ihm umdrehten, schien er sich wieder total im Griff zu haben und referierte weiter, als ob er sich nie unterbrochen hätte. Er habe es nicht zuletzt als Landarzt, sagte Dr. Keller, immer schon für notwendig erachtet, alles, was einem widerfährt, gewissenhaft zu durchleuchten. „Ist denn Wahrheit nicht immer auch“, er beugte sich jetzt über das mit einem weißen Tuch verhängte Pult, als wollte er die Zuhörer berühren, „das Erdichten von Wahrheit?“, fragte der Landarzt den Pfarrer, dessen Nähe er gesucht hatte wie ein Bruder den verlorenen Busenfreund „Wir umranken uns mit Personen“, bemühte er sich, den Satz fortzuführen und erläuterte, daß die Menschen, die Ihnen schmeichelten und gerade deswegen passabel erschienen, immer aufs Neue kopierten, bis wir sie derart zu formen verstünden, um damit prahlen zu können. Mit Sicherheit gedeihe so aus Dichtung Wahrheit und aus Wahrheit Dichtung. „Wir sind, wenn man es derart formulieren darf, zu sehr in uns selbst verliebt“, fügte der Medizinalrat hinzu, wobei er seine gelblichen Zähne in einem törichten Lächeln entblößte, „als daß wir eigene Fehler vor der Welt bekennen, und wenn ja, dann nur so weit, bis an unseren sichtbaren Verfehlungen allein die Mitwelt jede Schuld trägt. So wanken und schwanken wir zwischen und mit den Erlebnissen, ohne sie für uns nutzbar zu machen. Das ist die Tragödie zivilisierter Menschen, denen es nicht wirklich gelingt, ihre folgenschweren Gebrechen zu überwinden. Am Schluß bleibt die Wahrheit immer knallhart auf der Strecke!“ Pfarrer Lohmayer nickte eifrig Dr. Keller zu, gab sich dann aber schwermütig, schloß die Augen und lächelte, wodurch ihn die Aura eines Weisen umgab, dem schon vieles widerfahren war, das er mit sich schon lange herumtrug und der nicht mehr haderte wegen elegischer Grillen über bevorstehende Abwesenheit, die früher oder später einen jeden von uns ereilen würde! Seine Stimme hob sich an wie ein Fragezeichen. Er, dem so leicht niemand etwas vorzumachen gelang, kannte nur zu gut die verschlungenen Pfade sündigen Fleisches. Hatte er doch immer wieder den Angehörigen Verstorbener Lichtblicke und Trost zu vermitteln, die Sorgen unaufhaltsam herannahender Heimsuchung zu entschärfen. Dabei kam er sich vor wie ein Gaukler oder Akrobat, der sich bemüht, jedem den einzig richtigen Fahrplan auszuhändigen. War nicht er, der städtische Pfarrer, auch ein Auserwählter des Herrn, dem es vergönnt war, die Seelen der von Gott in die Ewigkeit Gerufenen auf ihre heilige Kreuzfahrt vorzubereiten? „Daß Sie“, wandte er sich wie beiläufig dem Medizinalrat zu, „ein derart feinsinniger Mensch sind, habe ich nicht gewußt, aber irgendwie vermutet. Wie oft glaubt man, sich schon eine Ewigkeit zu kennen und weiß doch nur kümmerlich, welche Querelen und eventuell gar Todesqualen der Glaubensbruder von nebenan gerade abzuwehren bemüht ist und von denen er sich bedrängt fühlt. Es ist gewiß der Einmaligkeit unseres Heidefriedhofs anzurechnen“, wandte er sich nochmals mit vertraulicher Geste an Medizinalrat Dr. Keller, „ dass selbst armselige Lebewesen vom Entdeckergeist eines Philosophen ergriffen werden und das etwas von ihnen zu praktischer Vernunft wächst. Sollte man sich da nicht als mitfühlender Nachbar beweisen? Als dessen hilfreicher und zugleich förderlicher Gefährte, der einem bereitwillig seine Hand reicht, bevor die Not ihn erdrückt?“ Keine Sekunde nach diesen ergreifenden Worten zerriß heulender Lärm einer Kreissäge vom benachbarten Grundstück die Stille des Gottesackers. Die zwischen den Wolken für Momente hervortretende Sonne vermochte diesen rigorosen Störfall nicht zu kaschieren. Gerade als sich die Trauergemeinde aufzulösen begann, hastete vom Hauptweg her eine zunächst unbekannte Person auf die Begräbnisstätte zu. Einen abgeschabten Geigenkasten an seine demütig gekrümmte linke Körperseite gepreßt, als fürchte sie, das wertvolle Stück könnte ihrer Hand entfallen. Daneben zeigte der verspätete Trauergast ein mürrisches Friedhofsgesicht, wie es nur selten zu entdecken ist. So erweckte er den Eindruck, dieser Welt den Rücken gekehrt zu haben. Mit seinem wettergegerbten, leicht rötlichen Gesicht, darüber der breitkrempige Hut, verursachte das sich in einem eher hinderlichen Lodenmantel rasch fortbewegende Bild ein Frösteln unter den wegen einsetzenden Regens Auseinanderstrebenden, als wäre es plötzlich ungemütlich geworden wie an einem naßkalten Herbstabend. Doch das beklemmende Bild entpuppte sich als Jean-Claudes befreundeter Arthur Bachlinger, der mit ihm noch vor kurzem Hausmusik gepflegt hatte. Zur Sommerzeit, wenn der Himmel wolkenlos über der Landschaft hing, musizierten die beiden Künstler, falls es ihre Zeit erlaubte, gelegentlich im östlich des Parks errichteten Rundtempel, an dessen Randleiste sich Meisen und Finken eingenistet hatten, als wenn sie zumindest hier vor dem tödlichen Zugriff der Raubvögel sicher seien. Allerdings war Jean-Claudes Bechsteinflügel, dessen zentnerschwere Last, nur mit Hilfe ausgeliehener Forstarbeiter zum Rundtempel zu transportieren. Daher wechselte er diesmal vom Piano zur vergleichsweise armseligen Bürde einer Querflöte. Und mußte dabei an Friedrich II. denken, dessen inszenierte Flötenkonzerte in Sanssouci das kultivierte Europa erstaunt hatten. Dazu setzte er kokett den vom rheinischen Karneval mitgebrachten Dreispitz auf und hing sich noch ein mit Rüschen geschmücktes weißes Jabot an die Brust. So verwandelt in den Alten Fritz, der das Potsdamer Weinbergschloß verlassen hatte, um anderenorts der Musik seines Zeitalters zu frönen, eröffnete Jean-Claude sein jährliches Parkfest. Mit einer resoluten Handbewegung Bachlingers verstummten die zurückeilenden Trauergäste, die sich erneut um das noch offene Grab versammelt hatten. Fürsorglich entnahm Bachlinger seinem Instrumentenkasten eine aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammende Geige der Firma Klotz, probierte sorgsam alle fünf Seiten des kaum in einem Musikladen erhältlichen Instruments auf dessen Klang und zelebrierte ein Mozart’sches Divertimento, das Bachlinger und Jean-Claude oft dem „Liebhaberkreis barocker Hofmusik“ zu Gehör gebracht hatten. Heute jedoch erstmals ohne Jean-Claudes pathetisch gefärbte Pianobegleitung. Madame Bouffier war es, als flüsterte inmitten der Trauergemeinde jemand, daß all die Beileidsbekundungen und mühsam hervorgepreßten Worte, hörte man etwas genauer hin, eigentlich nur flaches Gerede oder kalter Kaffee seien. Es rieselten bei solchen Gelegenheiten, schnappte sie einzelne Sätze auf, nur so die Phrasen. Sie glaubte, denjenigen erkannt zu haben, der nicht bereit war, aus seinem Herzen eine Mördergrube zu machen. Vielleicht hatte er nicht unrecht, dachte sie geistesabwesend und schwieg auf dem endlosen Hauptweg, der aus den engen Grenzen des Friedhofes zurück in die erlösende Natur führte. An diesem Nachmittag brach man noch zu einem Chinarestaurant auf, stopfte Entenbraten in sich hinein, ein paar zarte Lammsteaks, und ließ dabei die letzten Stunden Revue passieren. „Ist es nicht wirklich so“, murmelte jemand mit weinerlicher Stimme in die Runde hinein, „daß man ab einem bestimmten Alter inmitten der Gesellschaft einsam ist oder es wenigstens glaubt zu sein? Wer kann sich schon verbürgen, daß wir nicht abdriften werden? Wie aber soll man das benennen, was so unbeschreiblich daherkommt? Ohne irgendwelche Symptome? Und muß stets gesagt werden, was gemeint ist? Die Angst bleibt, daß man eines Tages sagen muß, was es wirklich zu sagen gilt. Und das ohne jede Abstriche! Da hilft keine noch so gelungene narzißtische Selbstbeweihräucherung.“ Inzwischen war ein Jahr verstrichen. Immer wieder nahm Madame Bouffier am Schreibsekretär ihres verunglückten Gatten Platz, um die angehäufte Flut von Schriftstücken zu ordnen und durchzusehen. Briefe mußten beantwortet und neue formuliert werden. Darunter endlich die Einladung an Jakob, den jungen Studenten, einen, wie ihr schien, Teufelskerl, den sie kennenzulernen wünschte. Angeboten hatte sich schließlich ein später Sonntagmorgen. Und so blieb nach dem zögerlichen Verlassen des Bettes bis zum Empfang Jakobs, des offensichtlich jungen Briefschreibers, genügend Zeit, sorgfältig Toilette zu machen und sich in die mit vielfältigen Dingen beschäftigte Madame Bouffier zu verwandeln, jene angebetete Salonière, deren wirkungsvollen Empfang, durchaus mit der Audienz einer Fürstin vergleichbar, niemand versäumen wollte und jeden Beteiligten in den Bann zog. Nach dem Täßchen Kaffee, wofür man, wie ein „Gesundheitsmagazin“ schrieb, 140 Liter gefiltertes Wasser benötige, öffnete Madame Bouffier das Doppelfenster des Schlafzimmers, wodurch der unvergleichliche Duft eines frühen Maientages hereinströmte. Auch Kuckucksrufe aus einer Eiche, von wo der Galan seiner flüchtenden Braut in den nahen Talgrund folgte, drangen zu ihr. Doch abrupt verstummte das Minnelied dieses rastlosen Sängers im Gezänk von Krähen, die mit ihren entsetzlichen Schnäbeln offenkundig um Beute stritten, bis die Federn flogen. Ob sie wegen ihres Spektakels den Rotfuchs nicht bemerkt hatten, der im hohen Gras der Parkwiese nach Beute strich? Doch alles blieb offen und mußte sich in Geduld üben, bis die sich zusammenfinden, die sich lieben, wenn es keinen Liebesentzug mehr gibt. Vor Madame Bouffiers Augen erstreckte sich ein Landschaftspark, der am Horizont endete, wo die Hügel im dichten Nebel verschwammen, wo sich Wege und Pfade kreuzten, geteilt von einem Fluß, den Ruderkähne, selbst kleine Segeljachten, befahren konnten, um an sicheren Landungsstegen weitere Fahrgäste aufzunehmen. So glitt man geruhsam auf dem Gewässer dahin, vorbei an Bäumen, Sträuchern und Sumpflilien. Versunken in diese köstliche Szenerie, hätte Madame Bouffier fast das schrille Klingeln überhört. Jakob, breitbeinig in enge Jeans gezwängt, räkelte sich vor der Tür. Gut eine Stunde früher als verabredet. Ehe sie begriff, daß der vor ihr lässig aufgepflanzt stehende junge Mann kein anderer sein konnte als der, mit dem sie heute verabredet war „Goethe!“, entfuhr es Madame Bouffier, dem ein Ausruf der Verwunderung folgte. Wo findet man denn ein solches Gesicht überhaupt noch, durchfuhr es sie. Ihr wurde schwindlig vor diesem in Frankfurt am Main geborenen Jüngling. Madame Bouffier war außer sich, während Jakob stutzte. Er mußte diese äußerliche Gleichsetzung mit dem Sturm- und Drangdichter Goethe erst einmal verarbeiten und sein Gleichgewicht, aus dem er jetzt zu fallen drohte, wiederherstellen. Da hatte ihm die bekannte Salonière ein Etikett angeheftet, das für ihn zu einer Last werden konnte! Ohne Jakobs errötendes Antlitz zu beachten, reichte Madame Bouffier dem jungen Gast eine zierliche Hand mit rotlackierten Fingernägeln „Was für eine Übereinstimmung mit dem Frankfurter Patriziersohn aus dessen Wertherzeit!“, hörte Jakob die Salonière schwärmen. Zwingend war jetzt ihr Drang, sich bei Jakob einzuhaken, begehrend und doch kaum zugänglich. Madame Bouffier bat Jakob, den interessanten Studenten, in den Freitagssalon. Alles in ihrer Gestik und Mimik signalisierte Wohlwollen, bereit zu gelegentlichen Flirts, wenn es sich ergeben sollte. Madame Bouffier drohte buchstäblich die Fassung zu verlieren, als sie in den Bannkreis von Jakobs dunklen Augen geriet. Da sie aber ihre sprichwörtliche Schwäche, Temperament abzuladen, genau kannte, lächelte sie gefällig. Sie hätte schwören mögen, dieses unerhörte, absolut nicht normale Antlitz irgendwo schon gesehen zu haben. Da geschah es Jakob plötzlich, daß er vor ihr wie ein schüchterner Jüngling einknickte. Solche Gesten schienen ihr total unbeholfen für die heutige Zeit, eben nicht mehr geläufig. Etwas zaudernd stand sie Jakob gegenüber, verschränkte die Arme und hob ihre Schultern, als wollte sie damit aufkommende Verlegenheit beiseitedrängen. Dann lachte sie schallend auf, weil sie jetzt, in diesem komisch anmutenden Moment, zu nichts anderem fähig gewesen wäre. Und auch Jakob suchte nach einem überzeugenden Gesichtsausdruck. Probierte mehrere Arten, doch keiner davon glückte ihm. Das aber mußte er unbedingt hinkriegen, wenn er die Zuneigung der faszinierend schönen Frau erhalten wollte. Ihre Gönnerschaft. Bevor sich Madame Bouffier wieder gefaßt zu haben schien, fragte Jakob, auf seine Vergleichbarkeit mit dem Frankfurter Patriziersohn anspielend, was an ihm denn eigentlich an Goethe erinnere? Nicht einmal das billigste Wasser könne er diesem coolen Typ reichen, selbst wenn er es eines Tages vielleicht auch zu Dichterehren schaffen sollte. Jetzt bemühe er sich, ähnlich den Anhängern des „Sturm und Drang“ im 18. Jahrhundert, zu entziffern, was die gemeinsame Welt im Innersten zusammenhalte. Und dachte zugleich, man sei doch nicht deshalb Goethe, nur weil er ihm, wie manche glaubten, äußerlich irgendwie ähnlich sei und sich an Gedichten ausprobiere, von denen noch nicht mal ein einziger Versuch davon gedruckt worden war! Zumal er seine „Schreibereien“ selbst als lückenhafte Produkte bezeichnete und sich damit unbeabsichtigt abwertete. Korrekt gesehen, gestand er Madame Bouffier freimütig ein, handle es sich eigentlich nur um Gelegenheitsdichtung, von der er vorhabe, dem Salon, sobald er ihm angehören würde, verschiedene Proben vorzutragen. Ob er ein Liebling der Götter sei, müsse sich erst herausstellen. Er näherte sich ihrem linken Ohr, als wollte er endlich eine Beichte loswerden. „Glauben Sie mir“, sagte er kaum hörbar, und blickte demütig die Salonière an, es werde ihm schwerfallen, sich als Laie, als den er sich natürlich betrachte, zwischen geistigen Eliten zu beweisen. Seine Lippen schienen ganz ohne Farbe. Seine dunklen Augen hatten sich gesenkt. Er wandte ihr den Rücken zu. Dieser Auftritt hatte von ihm nicht wenig abverlangt. Madame Bouffier faltete ihre Hände wie eine barmherzige Ordensschwester. Und jeder, der mit ihren Gepflogenheiten vertraut war, betrachtete diese Geste als Einverständnis gegenüber Jakobs Wunsch nach Aufnahme in den Salon. Sie nickte, und ihr schönes, reines Gesicht leuchtete hoheitsvoll, als sie ihm zuflüsterte, alles Notwendige für seine Aufnahme in den Salon habe sie schon veranlaßt. Jetzt liege es hauptsächlich an ihm, wie er sich für diese Gemeinschaft einbringen könne. Nach dem zunächst zögerlichem „Einverstanden!“ lächelte Madame Bouffier zufrieden. Ihre Entschlossenheit war redlich zu verstehen. Sie folgte ihren Gedankenflügen und war ihm schon ausgeliefert, bis es Madame Bouffier endlich gelang, sich wieder zu sammeln. Ihr Bedarf an Hilfe war weggeblasen, als hätte es einen solchen überhaupt nie gegeben. Noch bevor sie Jakobs dunklen Haarschopf zerwühlte und ihre Nase hineindrückte, versicherte sie ihm, daß er die Aufnahmeprozedur bald hinter sich haben werde bei der Auffassungsgabe, über die er verfüge. Dann lächelte sie ihr unnachahmbares Lächeln, eine Geste von kaum bemerkbarer Hilflosigkeit, die sie, wie oft geübt, mit einem Schmunzeln kaschieren wollte. Der Salon, holte Madame Bouffier aus, helfe, Fähigkeiten zu entdecken und zu fördern. Dann umarmte sie Jakob, was ihr erst beim zweiten Mal gelang. Fragte ihn rasch, und es klang nach völliger Gewißheit, ob er denn das Zeug eines begabten Studenten habe, der wüsste, worauf letztlich alles hinauslief. Nach dieser im Kern durchschaubaren Frage versank sie in Jakobs dunkelbraunen Augen wie in eine magische Landschaft, aus der zu entrinnen kaum vorstellbar war. Und sagte, sie würde gern mit ihm einen Versuch riskieren, bei dem er vielleicht sogar Träume aufs Spiel setzen müsste. Und wenn es notwendig sei, dürfte er ohne Vorbehalte auch mit dem Teufel ein Tänzchen wagen! Er hätte sie jetzt an sich drücken mögen, nahm jedoch artig ihre Hand, diese feingliedrige Vollkommenheit. Blieb einsilbig, weil ihm jetzt nichts Vernünftiges einfiel. So kauerte er, krumm und sprachlos, fast wie ein Geschlagener vor ihr. Ein Verhalten, als fehlte Jakob ein festes Rückgrat, mit dem er Contenance bewiesen hätte. Hingegen hämmerte es in Jakob süchtig nach dem Gedichtband aus eigener Feder. Bisweilen dachte er, nur für diese Gedichte, die ihm schon so viel Kopfzerbrechen beschert hatten, zu leben und sich auf diese seltsam funktionierende Welt verirrt zu haben. Und doch brannte er gierig darauf, mit jedem erneuten Gedichtversuch an diesem unschuldigen Leben teilzuhaben. So mußte er wenigstens fortleben, wenngleich als eine Art Selbsttäuschung! Jedenfalls war ihm der Spruch geläufig: Wer schreibt, der bleibt! Für wen und wie lange auch immer würde es segensreich funktionieren. Madame Bouffier wollte Jakob als eine Naturgabe, und sie wollte, daß er durch sie zu jedem denkbaren Fortschritt geführt würde. Ob er derjenige Typ war, nach dem sie schon immer, bereits vor ihrem Arrangement mit Jean-Claude, melancholisch Ausschau gehalten hatte? Ohnehin würde ein Dutzend Jahre, das zwischen ihrer Geburt und der Jakobs lag, keine unüberwindliche Hürde bedeuten. „Ist denn Wahrheit“, fragte sie Jakob schließlich, „nicht stets das Erdichten von Wahrheiten? Wir umranken uns mit Personen, die ohne Scheu geneigt sind, uns zu huldigen, den Hof zu machen, die unsere Seele ermutigen und mit denen wir immer aufs Neue bereit sind zu kokettieren. Bis wir sie derart hingebogen haben, daß wir, und um nichts anderes geht es doch, inmitten ihrer Gesellschaft unverderblichen Eindruck zu schinden verstehen und uns darin spiegeln. So wächst aus Dichtung Wahrheit und umgekehrt. Wir alle“, rief Madame Bouffier freimütig, als müßte sie es endlich einmal gesagt haben, „sind viel zu vernarrt in unser, wie es oft von Propheten verkündet wird, aufopferndes Geschlecht, das wir, allerdings vergeblich, den Göttern gleichzustellen versuchen, ohne dabei Fehler zu entdecken, und wenn ja, dann nur so weit, bis für diese gelungenen Irrtümer immer nur andere Geschöpfe das Büßerhemd zu tragen gezwungen werden.“ Da schnappte sie plötzlich nach Luft und räusperte sich, als fehle ihr die Kraft für weitere Eingebungen. Doch bald redete sie sich erneut in Rage, als stünde sie vor einem Pult, mit beiden Händen das Mikrofon fest umklammernd, und halte einen Vortrag, dem Hunderte Gäste mit strahlenden Augen lauschten. „Wanken und schwanken wir nicht“, tönte Madame Bouffier in das Gewimmel hinein, „zwischen und mit den Affären, ohne ihren Inhalt zu ergründen, geschweige sie zu bändigen. Das ist die eigentlich sichtbar verpackte Tragödie von uns Menschen“, fast hätte sie gesagt: von uns Kreaturen, „denen es nicht gelingen will, sich über ihr Ausgeliefertsein, ihre Leere zu erheben und alles hinwegzufegen, was dabei hinderlich ist. Letztlich bleibt die Wahrheit nicht auf schwindelerregender Höhe, sondern banal auf verlorenem Posten. Und doch sind wir angehalten, uns in anpassungsfähige Biederkeit zu tauchen. Für unkündbare Maßregeln auf Erfolgskurs, den wir unentwegt anbeten, als sei er Ausgangspunkt jeder menschlichen Regung. Darauf sind wir justiert. Vom ersten Schrei des noch an der Nabelschnur hängenden Neugeborenen bis hin zum letzten Seufzer des Sterbenden, der von diesem Zwischenaufenthalt abschiednehmende Gefährte. In dieser biederen Sphäre geht es um seichte Prosa, nicht um poetische Schalmeienklänge. Da bin ich mir sicher, dieser Alarmruf gilt uns, der mit allen Wassern gewaschenen heutigen Zivilisation!“ Ihre Hände vom Pult nehmend, verließ sie den Saal, ohne sich nochmals umzudrehen. Verlor Madame Bouffier ihre allenthalben gepriesene Selbstbeherrschung, da sie Jakob ungestüm an sich zog? Der errötende große Junge fühlte sich augenblicklich wie betäubt. Dann war es von Madame Bouffier nur ein kleiner Schritt, ihn zu umarmen, fast schon cholerisch, mit sich fortzureißen, entlang eines Wiesenpfades direkt vom Landhaus zum Fluß, der den Park durchquerte. Mitten auf der hölzernen Brücke, die zum anderen, dichtbewachsenen Ufer führte, hielten beide inne. Jakob, der sich über das morsche Geländer beugte, um die Strömung des Flusses genauer beobachten zu können, suchte zugleich nach einer gern und oft rezitierten Stelle im Faust. Endlich gelang es ihm, den berühmten Vers wieder aus dem Abgrund zu holen: „Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?“ Und fügte unbeschwert die eigenen Worte hinzu: „Beflügelt nur rasch Eure hübschen Beine, wir sind doch sehr in Eile. Habe auch nirgends lange Weile!“ Noch hatte Jakob dieses geläufige Faustzitat, verlängert durch eigene Zeilen, nicht zu Ende gesprochen, brach das morsche Holzgeländer und stürzte mit ihm in die Tiefe. Daß er mit Händen und Armen ruderte, als wollte er einer Bauchlandung entkommen, half ihm jedoch nichts. Madame Bouffier, die etwa einen Meter hinter Jakob gestanden hatte, kam zunächst mit dem Schrecken davon, ehe sie totenbleich werdend „Goethe“ in den Fluten treiben sah. Der konnte endlich ein Weidengestrüpp fassen und sich ans Ufer heranziehen, wohin inzwischen Madame Bouffier geeilt war und ihm auf die Böschung half. Nachdem beide wieder festen Boden unter ihren Füßen spürten, erinnerte Jakob, bereits auf der Dammkrone stehend, kaum noch an Werther, den Romanhelden aus Goethes Jugendwerk, der jetzt Madame Bouffier dankerfüllt anblickte, als habe sie ihm tatsächlich das Leben gerettet. Den schnatternden Graugänsen, die eben den Fluß überquerten, waren Menschenschicksale gleichgültig. Ziel ihrer spähenden Augen war nur der nächste Futterplatz, und das möglichst noch vor einsetzender Dämmerung. Scheinbar eine Ewigkeit verharrten Jakob und Madame Bouffier und sahen sich lange in die Augen, nicht wissend, was denn nun passieren würde. Plötzlich deutete die Salonière in Richtung Landhaus und lächelte wie jemand, dem gerade eine akzeptable Lösung eingefallen war. Dort, im Landhaus, sprudelte sie heraus, könnte man ein erfrischendes Bad nehmen. Dann faßte sie Jakob an der Hand, zog ihn zum Landhaus, in dessen Untergeschoß, wie sie Jakob offenbarte, ein Marmorbecken eingelassen war. Nach dem reinigenden Bad, so lockte die Salonière, könnten sie unauffällig in das Parterre des Landhauses gelangen, ohne entdeckt zu werden. Es kam Jakob vor, als verspreche ihm da jemand das Himmelreich, in das sie jetzt eintreten würden. Er deutete den Gleichklang mit Madame Bouffiers Lebensgefühl als eine besondere Art von Wetterleuchten, die seinem Leben eine völlig neue Bestimmung zu geben versprach. Die Salonière errötete wie ein unerfahrenes junges Mädchen, als Jakob plötzlich splitternackt vor ihr stand, ins Wasser sprang und erst nach einigen Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen, auftauchte. Ob sich Frankfurts junger Goethe ebenso unbekümmert dargestellt hatte im Beisein eines, wie man damals sagte, Frauenzimmers? Madame Bouffier wandelte sich während dieses lustigen Zeitvertreibes in eine unbesorgt erscheinende junge Frau, die sich bald, aller Gewänder entledigt, kreischend ins Becken stürzte, als wäre sie aus dem Häuschen, sie kraulte danach ein paar Meter, schwamm auf dem Rücken, um sich endlich aufzurichten und schließlich mit Freudengeheul aus dem nassen Element zu springen. Sie führten sich auf wie unbeschwerte Teenager, die sich endlich einmal austoben konnten, dazu noch unbeobachtet von irgendwelchen neugierigen Blicken. Doch auf einmal brach der Mummenschanz ab, als habe jemand einen Schalter umgedreht und auch noch ihre Lippen versiegelt. Überrascht verharrte Madame Bouffier vor dem hoch aufragenden Spiegel, der an der Stirnfront der Diele fest verankert war und mit seinem Rahmen des späten Rokoko die Glorie der Wilhelminischen Ära heraufbeschwor. Erstaunt tasteten sie ihre Körper ab, traten immer näher an den Spiegel heran, bis sie das Kunstwerk fast mit der Nase berührten und sogleich erschrocken zurückwichen, als sie darin ihre eigene, unvollkommene Gestalt erkannten. Das Schweigen, schlußfolgerten sie, könnte mitunter belastender sein als ein nachlässig geführter Meinungsaustausch. Man lebt in einer Hast, ohne zu wissen, nicht einmal zu ahnen, wofür eigentlich die vielen Anstrengungen gemacht werden müssen. Und wem zuletzt dient das alles? „Dann lieber keine Bewegung“, flüsterte Jakob der Salonière zu, „als eine falsche zu machen.“ Plötzlich vernahmen sie unerwartetes Stimmengewirr, wahrscheinlich aus der Mitte des Landhauses, von dort, wo man sich im Salon gewöhnlich zur Tafelrunde traf, wo er, Jakob, seinen Einstand geben sollte. Und das in einer knappen Stunde! Da sie den Saal unauffällig durch eine Nebentür betreten konnten, gelang es ihnen, sich zwischen die Gäste zu mogeln. Gleich würde Madame Bouffier das blaue Sofa, Geschenk eines Antiquars, feierlich einweihen. Natürlich mit Champagner aus der Provence. Jakob unauffällig neben ihr. Doch mit nicht ausreichend getrockneten Jeans und zu nassem Hemd. Das interessante junge Gesicht, bei genauerem Hinsehen erstaunlich dem berühmtesten Dichter aus der hauptsächlich von Weimar ausgehenden Sturm- und Drangzeit ähnelnd, in die Salongesellschaft einzuführen, wollte Madame Bouffier den günstigsten Moment abwarten. Bis der schließlich eingetreten sei, könnte es freilich ein Weilchen dauern. Unvermittelt fragten inzwischen einige, als ginge sie das tatsächlich etwas an, ob sie, die gefeierte Madame Bouffier, auch wirklich genau überlegt habe, den offensichtlichen Neuling im Salon deutlich als ihren Lover zu präsentieren. Als habe sie nur auf eine dieser Anzüglichkeiten gewartet, entgegnete Madame Bouffier ungewohnt heftig, sie lasse sich von niemandem etwas vorschreiben, auch nicht von Courmachern! Stolz schaute sie in die gespannte Runde, als wollte sie zu verstehen geben, alles, was sie anpacke, gelinge ohnehin. Keiner würde sie daran hindern. Später wird man sich gegenseitig anstoßen, wenn Jakob unerwartet im Salon erscheint, als er beliebigen Salonmitgliedern Gedichte vorliest, die unverkennbar seine Handschrift tragen. Ungeachtet der im Rundfunk vorausgesagten Niederschläge segelten an diesem frühen Junitag nachsichtige Wolken über dem parkähnlichen Grundstück des Adolf Güldenbrack. Der Professor für praktische und theoretische Ästhetik empfing Jakob, den voller Unruhe erwarteten Studenten der Germanistik und Kunstgeschichte, bereits am Portal seiner Villa. Wie ihm Madame Bouffier neulich im Salon, mit der Bitte um Stillschweigen, anvertraut hatte, glich er tatsächlich, und das beileibe nicht nur wegen seiner großen dunklen Augen, dem jungen Goethe, als der seine „Leiden des jungen Werther“ in wenigen Wochen niedergeschrieben hatte. Die Salonière, das bemerkte Güldenbrack trotz dicker Brillengläser, hatte wirklich nicht übertrieben,als sie von des Professors baldigem jungen Gast auf eine Art schwärmte, als habe sie an ihm einen Narren gefressen und als sei ihr durch Jakob ein Erdensohn begegnet, mit dem man, falls es notwendig sei, Pferde stehlen und noch einiges mehr anstellen könnte. Einer feierlichen Handlung ähnlich zündete Professor Güldenbrack, während er auf das Portal zuschritt, eine Zigarette an, behielt sie jedoch fest eingeklemmt zwischen Daumen und Zeigefinger, ohne daß er wirklich vorhatte zu rauchen. In schwarzen Bundhosen, darüber ein merkwürdig kurzes Streifenhemd, führte Güldenbrack, von Jakobs knabenhaftem Aussehen verdutzt, seinen Gast in das Atrium der Gründerzeitvilla, den mit zahlreichen Szenen aus der antiken Mythologie geschmückten Bibliothekssaal, der von bis zur Decke reichenden, spätklassizistischen Bücherregalen dominiert wurde. Ein scheinbar noch aus Kaiser Wilhelms Regierungszeit stammender typischer Holzgeruch schien sich nach wie vor im Raum zu halten. Um vor Jakob das leichte Zittern seiner Hände zu kaschieren, was ihn bei Aufregungen schon mal passieren konnte, griff Güldenbrack zu einer von ihm schon oftmals erprobten einfachen List: Er verschränkte beide nach Art des Weimarer Geheimrats auf dem Rücken. Doch es fiel ihm dennoch ziemlich schwer, angesichts des unbekümmert dreinschauenden Studenten seine emotionale Balance aufrechtzuerhalten und sich nicht gehen zu lassen. Güldenbrack konnte seine innere Anspannung nicht verbergen, schon weil sein Gesicht, trotz des schräg aufgesetzten Hutes, eine hektische Röte offenbarte, weshalb Jakob schließlich fragte, ob mit des verehrten Herrn Professors Gesundheit alles in Ordnung sei. Ansonsten würde er den Rettungsdienst rufen, falls er das wünsche. Doch Güldenbrack, dem es peinlich war, von einem jungen Mann umsorgt zu werden, lehnte dieses wohlmeinende Angebot kategorisch ab und behauptete stattdessen, es ginge ihm gut, und zu ernsthafter Sorge gebe es keinen Anlaß. Doch als Güldenbrack ein Lächeln versuchte, wirkte das gekünstelt. Und verschaffte seiner bei ärgerlichem Anlaß mitunter ins Schroffe abgleitenden Miene eher einen verbitterten Ausdruck. Und einen schwachen dazu. Güldenbrack fing an zu flüstern, als ob er nicht genügend Energie besitze, und sagte, zu Jakob gewandt, er habe in den letzten Monaten während seines Forschungsprojektes bezüglich der Weimarer Klassik sich wahrscheinlich doch zu viel aufgebürdet und dabei seine Nerven erheblich strapaziert. Dazu komme noch, daß ausufernde Bürokratie seitens der Universitätsleitung den Forschern, die engagiert aufzutreten bemüht seien, das Leben durch zusätzliche, oft sinnlose Aufgaben erschwere. Allmählich geriet er in ein ruhigeres Fahrwasser. Plauderte, auf dem Sofa, einem stark abgewetzten Möbel, dicht neben Jakob lehnend und die Beine übereinandergeschlagen. Schaute durch das Fenster, dessen Gardinen von der Haushälterin beiseitegerafft waren, in Richtung der inzwischen an Strahlkraft abnehmenden Sonne, deren glutrot streunendes Licht die „gepflegte Wildnis“, wie Güldenbrack seine Abgeschiedenheit in einem Brief an ein Mitglied des Salons bezeichnete, mehr und mehr in ein musisches Zauberreich verwandelt hatte. Dann verwies der Professor auf das parkähnliche Gelände, auf dem seine von ihm bewohnte Gründerzeitvilla im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Stil des Historismus erbaut wurde. Es allein zu bewirtschaften, sagte er leise, als berühre ihn das wie eine unangenehme Beichte, dazu sei er nicht mehr in der Lage. Und hob seine schmächtigen Schultern, als wollte er unterstreichen, wie schwer es ihm inzwischen falle, sämtliche Gartenarbeit allein zu verrichten. Winkte ab wie jemand, der mit seinem persönlichen Umfeld nicht zufrieden ist, geplagt von endlosen Pflichten, die seine Lehrtätigkeit an der Hochschule erforderte und die ihm nur wenig Muße für Steckenpferde ließen, wie es zum Beispiel das weiträumige Gartenareal mit seinen verschiedensten Kulturen verlangte. Dafür benötige er dringend Unterstützung. Er schlich um den heißen Brei herum wie eine Katze, bis er schließlich auf den Kern seiner Angelegenheit zu sprechen kam: die Pflege sowie Erhaltung des Gartens und Jakobs gewünschte Hilfe dabei. Er würde sich natürlich, beeilte er zu ergänzen, großzügig revanchieren. Rasch erhob er sich vom Sofa, dann hörte Jakob seine durch die Bibliothek irrenden Schritte, als würde er dadurch seine Verlegenheit loswerden können. Schließlich lenkte der Professor geschickt seine Unterhaltung auf Goethes überragenden Einfluß in der klassischen deutschen Literatur, dann auf Jakobs vielleicht etwas übereilten, ehrgeizigen Plan, einen von ihm selbst illustrierten Gedichtband herauszugeben, von dem er Madame Bouffier während des letzten Salontreffens erzählt habe. Die ihm bisher vorliegenden Texte, sagte er zu Jakob und blickte den Studenten aufmunternd an, berechtigten durchaus schon jetzt zu mancherlei Hoffnungen. Er schien nach einem passenden Wort zu suchen, was seinem Gesicht einige Falten bescherte. Doch nur die Tröpfchen auf der hohen Stirn, die bisweilen von ihr herunterperlten, ließen ahnen, welches Chaos sich in seinem Kopf längst ausgebreitet hatte. Er hebt die feine Nase wie ein erfahrener Spürhund, den neue Fährten locken. Doch wohin und zu wem ihn das führen wird, weiß er vorläufig keinesfalls. Der Professor benötigte jetzt dringend eine Atempause und verzog sich in das Badezimmer, wo auch die Toilette untergebracht war. Ausgestattet mit einer Waschkonsole und einem schräg darüber hängenden Bronzespiegel, in welchem sich der Davorstehende hautnah, und das zudem vergrößert, betrachten konnte. Dann war ein gluckerndes Geräusch zu hören, das offenbar von der Abflußleitung herrührte, und plötzlich befand sich der Professor wieder mitten im Herrenzimmer, nachdem er geräuschlos die Tür zu öffnen verstanden hatte. Setzte sich sogleich, und das mit einer kaum zu glaubenden Behutsamkeit, direkt neben Jakob auf das blaue Sofa. Er war selbst darüber erstaunt, wie leise er sich bewegt hatte. Und wie diskret er Jakob ansah. Ohne daß Jakob die hinter dicken Brillengläsern verborgen lauernde Eifersucht des Professors entdeckte. Erst jetzt bemerkte der Professor, daß er noch immer in den jedoch äußerst bequemen Ledersandalen herumlief, sie nicht wie sonst, wenn er wichtige Besucher empfing, gegen die üblichen schwarzen Schnürschuhe ausgetauscht hatte. Er atmete etwas oberflächlich und machte eine geringschätzige Handbewegung, als ob er meinte, daß es auf derartige Nebensächlichkeiten nicht wirklich ankäme, wenn man Ideale durchsetzen wollte, sein Ziel, auch ein schwer erreichbares. Stand plötzlich auf, nur einen Moment, und wußte nicht, ob ihm unter den Füßen der Boden wegzurutschen drohte. Vielleicht irrte er sich bloß, oder es handelte sich lediglich um eine nervliche Irritation, die er augenblicklich nicht zu erklären vermochte. Er kommt sich ungehobelt vor, besonders aber plump. Dann wischt er alle düsteren Gedanken weg. Macht sich lustige Gedanken über die Menschen um sich herum. Denn er führte andere Pläne im Schilde, die nicht zuletzt mit dem, wie er überzeugt war, hochbegabten Studenten Jakob zusammenhingen. Während des von seiner Haushälterin kredenzten Abendbrotes im holzgetäfelten Speisezimmer legte der Professor eine CD ein, die in dem festlich dekorierten Raum mit Händels Feuerwerksmusik eine gewaltige Atmosphäre hervorzauberte. Inzwischen verlor sich die Sonne, vor Minuten noch eine glutrote Scheibe, im aufsteigenden Nebeldunst. Rasch folgte die Abenddämmerung mit gewohnter Friedfertigkeit, und man beschloß, sich gelegentlich in Dorrkamps Stadtrandvilla zu treffen, um Jakobs künftigen Gedichtband im Detail zu erörtern. Und dessen, wie Güldenbrack gegenüber Jakob durchblicken ließ, unbedingte Entschlossenheit, Dichterlorbeeren zu erringen. Verbunden mit dem Erlebnis vollkommenen Glücks. Egal, wie andere seine Texte beurteilten. Und was er nach einem gewissen Zeitabstand selbst davon hielt. Monate vergingen. Jakob und der Professor trafen sich erneut in der Villa. Diesmal sollten literarische Themen besprochen werden. Und Güldenbrack, der zunächst seine im Frühjahr unternommene Pilgerreise durch die Toskana mit der Leidenschaft eines Wanderers geschildert hatte, bekannte vor Jakob plötzlich und ohne Scheu oder gar einen Mangel an Selbstvertrauen, daß er vom anderen Ufer stamme. Aus einem Milieu, fügte er hinzu, mit dem nicht jeder zurechtkomme. Wie das bei Jakob sei, müsse erst noch herausgefunden werden. Und ob dann noch alles zwischen ihnen bei einem freundschaftlichen Miteinander bleiben würde, könne er nicht voraussehen. Man müßte eben die Dinge und ihre weitere Entwicklung in aller Ruhe abwarten. Er hoffe aber, sagte er unbefangen lächelnd zu Jakob, daß es einen Versuch wert sei. Jakob glaubte, sich verhört zu haben und hielt Güldenbracks unerwartete Offenheit zunächst für einen derb-drolligen Scherz, der wohl eher, je länger er darüber nachdachte, mit abnormen Gedankenspielen zu tun hatte und die er auch nicht als Medizin gegen irgendwelche Gelüste betrachtete. Zumindest nicht jetzt, da er an Güldenbracks Worten zweifelte, die ihn zu offensichtlich trafen. Und sah plötzlich das allzu perfekt errichtete Gebäude des Professors wie ein Kartenhaus zusammenstürzen. Oder war es vielleicht nur der Versuch, wenn auch ein alberner, mit dem der Professor ausloten wollte, wie es wirklich um Jakobs Gemütslage stehe? Und ob er sich an Güldenbracks absonderlichem Spiel beteiligen wolle? Bei seiner Art, wie er sich bescheiden gab, Jakob zulächelte und das Herrenzimmer durchschritt, hätte man glauben mögen, er verkörpere ein höheres Wesen oder wenigstens die Vornehmheit selbst. Wenn nicht den „Adel des Geistes“, wie es Thomas Mann den Weimarer Klassikern bescheinigt hatte. Güldenbrack öffnete lautlos, soweit das überhaupt möglich war, die Terrassentür, trat ins Freie, atmete erst einmal tief durch und kehrte, als sei er emotional gereinigt, ins Herrenzimmer zurück. Sah Jakob an wie jemand, der entbrannt ist für ein begehrenswert schönes Bild, das zu erkunden er sich ohne Scheu und ohne zu erröten wagte, aber nicht, es zu berühren. Mit wem sollte er seinen labilen Zustand bereden? Etwa mit Madame Bouffier? Ein absurder Gedanke, den er zurückwies, als hätte er an sich selbst unredlich gehandelt „Natürlich möchte keiner“, sagte Güldenbrack und versuchte, das Gespräch erneut anzuregen, „seine privaten Possen aufgeben.“ Die heutige Spaßgesellschaft laufe jeder x-beliebigen Zerstreuung nach, sei alles noch so abgedroschen. Wen kümmerten da schon moralische Prinzipien? Die gebe es in einer Welt schonungsloser Gier nach Macht und Reichtum nur noch in abgeschmackten Filmen oder Büchern. Den Saubermann oder Potemkinsche Dörfer vorzugaukeln, liege ihm einfach nicht. Allerdings lehne er es ab, vor der Öffentlichkeit den Revolutionär zu mimen, der lediglich unter dem Wohnzimmertisch die Faust ballt. Dafür sei er zu wenig traumatisiert. Er starrte an die Zimmerdecke, als erwarte er von oben eine Klärung ungelöster Fragen, dann überzog sein Gesicht eine düstere Larve, grau und welk, die aufzuhellen nur allmählich gelang. Schließlich verloren sich die fiebrigen, roten Flecke am Hals, ehe er zu seiner gewohnten, obgleich nur fingierten Beharrlichkeit zurückfand. Hätte ihn jetzt nicht eine aus dem Handy zu hörende Melodie erschrocken, er wäre in ein Niemandsland gefallen, dem zu entrinnen ihm nicht gelingen konnte. Zumindest nicht vorläufig. Jetzt schien dem Professor die Gelegenheit günstig, Jakob auf die Nagelprobe zu stellen, er wandte sich an den erstaunten Jakob und hob seine dünnen Augenbrauen in die Stirn, als sei ihre Unterhaltung nur ein Mißverständnis gewesen, wenn auch leider nicht mehr rückgängig zu machen, meinte Güldenbrack. „Aber so ist die Welt nun einmal“, ergänzte er. Sie müßten, ob sie es wollten oder nicht, alle gemeinsam durch dick und dünn gehen. Der Professor zuckte mit den Schultern, als wollte er das eben Gesagte unterstreichen. Auch er könne an den ewigen Rätseln dieser schwer durchschaubaren Welt nichts ändern. Zumindest nichts Essentielles. Jakobs Plackerei, versicherte Güldenbrack und drückte dessen Hände, würde mit dem von ihm unterstützten Gedichtband vergolten. Ansonsten könne Jakob seine Träumereien, künftig als gefeierter Minnesänger durch das Land zu ziehen, vergessen, falls das Manuskript je von einem Lektorat begutachtet und gebilligt würde. Ein verworren anmutendes Geschäft, das abzuwickeln, Güldenbrack hielt inne und entließ zwischen den wulstigen Lippen ein rasselndes Lachen, besorge schließlich er als in gewissen Kreisen tonangebender Mäzen vor allem junger Autoren. Und setzte hinzu, daß er alles Notwendige managen werde, damit Jakobs innigster Wunsch in Erfüllung gehe, eines Morgens als erfolgreicher Troubadour aufzuwachen. Sollte es Jakob nicht beim ersten Anlauf gelingen, dann müßte eben List und Tücke ins Spiel kommen. Immerhin verfüge er, Adolf Güldenbrack, über exzellente Beziehungen, die er, je nach Bedarf, nur zu manipulieren brauche. An Jakob sei es dann, wenn ihm das Gefühl sage, wofür und für wen er sich freischwimmen wolle, entsprechend zu handeln. Die eigenen Siegerkränze, gestand Güldenbrack offenherzig Jakob ein, hätten natürlich nicht zuletzt auch für ihn oberste Priorität, weil sich nun einmal jeder selbst der nächste sei. Ihm wird es mulmig zumute. Ist er etwa zu weit vorgeprescht mit gewissen Äußerungen gegenüber Jakob? Er fühlt deutlich seine Schwachstellen, als bedränge ihn ein unheilvolles Wesen, und will sich setzen, rasch den Schweiß von der Stirn wischen. Stattdessen geht er nun auf Jakob zu. Mit fester Absicht, die ihn zuletzt über den dunklen Lockenkopf seines Studenten streichen läßt, doch er zieht rasch seine Hand zurück, ehe er sich, wozu auch immer, in seiner Not entschließen könnte. Als Chef eines Literaturinstituts, hob Güldenbrack hervor, habe er sich genug mit der harten Realität herumzuschlagen, häufig nicht wissend, ob es am Ende, wie so viele Gewerbe, irgendwann vor dem Konkurs stehe. Er wandte sich jetzt den Bücherregalen zu, als wenn er sich nicht traute, Jakob in die Augen zu sehen. Sagte dann, er habe sich schon lange keinen Urlaub mehr gegönnt. Eines Tages frage sich wohl jeder, auch er als Hochschullehrer, ob die mitunter tödlich endende Jagd nach Erfolgen, denen man täglich nachrenne, auch wirklich angemessene Früchte trage. Verberge sich nicht etwas Unheilvolles in dieser heutzutage so gestreßten Gesellschaft? Er sah zu Jakob hin wie jemand, der inzwischen die Welt nicht mehr vollständig begriff. Vielleicht sei es der ständig zunehmenden Druck, hörte er sich fragen und schaute nun doch eindringlich zu Jakob hin, der die Menschen zwinge, sich der jeweiligen Situation anzupassen, ihr im schlimmsten Fall völlig unterzuordnen? Man lebe ständig mit dem Gefühl, sich auf dem laufenden halten zu müssen, ohne die Sicherheit, daß es sich lohne. Und oft genug erscheine der Mensch willenlos. Dann wäre es besser, lieber keine Bewegung zu machen als eine falsche. Güldenbrack rückte Jakob beinahe herausfordernd an die Seite. Herzenswärme immer nur verdrängen zu müssen, dachte er und seufzte länger, als er es wollte, förderte Mutlosigkeit und Phobien. Nach vielfältigen Anstrengungen hatte der Professor das Forschungsprojekt zur neueren deutschen Literatur endlich im Griff. Nun spürte er ein wachsendes Bedürfnis, die Gespräche mit Jakob fortzusetzen. Güldenbracks mehrfach zugesagte Hilfe bei der Drucklegung von Jakobs erstem Gedichtband geschah jedoch nicht aus purer Wohltätigkeit, galt sie doch in erster Linie der Befriedigung bestimmter Neigungen des Professors. Seine einstudiert wirkende Großzügigkeit endete, auf einen kurzen Nenner gebracht, mit dem Verlangen, Jakob solle sich entkleiden, danach auf den schmalen Perserteppich niederknien und, Güldenbrack murmelte kaum noch verständlich, das orientalisch gewebte Kleinod mit der Stirn berühren. Jakobs Gesicht, verunsichert den Professor anstarrend, wurde rot. Verblüfft fragte er, wie das mit dem Entkleiden gemeint sei. Ein ungeschicktes Manöver, das ihm Güldenbrack natürlich nicht abnahm. Wenn er sich ihm nicht bedingungslos unterordnen werde, brauchten sie wohl nicht mehr über den Gedichtband zu reden. Die Erpressung des Professors verfehlte ihre Wirkung nicht, schließlich nahm Jakob doch alles in Kauf, was Güldenbrack von ihm verlangte. Immerhin und nicht zuletzt, sagte sich Jakob, ging es ihm ja um seine Gedichte, deren Erscheinen er in den Wind schreiben könnte, wenn er den Wünschen des Professors nicht nachgeben würde! Jakob starrte den Professor an, der plötzlich emporwuchs, bis er mit dem Kopf an die Zimmerdecke stieß und zuletzt einem jener Riesen glich, wie sie aus Grimms Märchen bekannt waren. Jakob schloß, wie er es immer getan hatte, wenn ihm von irgendwoher Gefahr zu drohen schien, seine Augen. Dadurch aber konnte er den Riesen nicht loswerden. Noch viele Jahre später würde er sich an jene furchterregende Märchengestalt erinnern. Rasch hatte Jakob, der künftige Dichter, als der er schon betrachtet wurde, seine Kleidung abgelegt, ging in die Hocke, beugte sich weit nach vorn wie ein betender Muslim, bis sich das Gesäß, wie der gesamte Körper durch Nacktbaden leichtgebräunt, steil nach oben reckte. Güldenbrack, Hochschullehrer und zugleich Hobbyfotograf, war sprachlos, vermied jedoch, sich von Gefühlen hinreißen zu lassen und bewahrte eine heroisch wirkende Haltung, wie sie ihm stets gut zu Gesicht gestanden hatte: Er schämte sich nicht vor sich selbst! Und dachte mit einem leicht wegwerfenden Schmunzeln, das Leben will einfach nur ausgehalten sein, nicht mit irgendwelchen Wohlerzogenheiten in Gang gebracht werden. Verdrängte lächelnd jede zweideutige Anwandlung, als ob ihn Jakobs Blöße nicht vollständig aus der Fassung brachte. In Wirklichkeit fühlte er sich in diesem Moment total überwältigt und erklärte seinem Mündel ungehemmt, was er eigentlich mit ihm schon längst getan haben wollte. Andererseits durchfuhr ihn plötzlich der Gedanke, ob dieser hochnotpeinliche Umgang mit Jakob von ihm nicht irgendwann einen hohen Preis verlangen würde, der auf Heller und Pfennig bezahlt werden müßte? Güldenbrack, der angesehene und betuchte Professor, tupft sich den von der Stirn rinnenden Schweiß, wittert mit erhobener Nase wie ein Fährtenhund. In ihm wächst stark der Wunsch, Jakob für sich einzunehmen, seinen Körper, ein nahezu perfektes Meisterwerk der Natur, an sich fesseln zu können. Kurz und bündig möchte er sagen: Du bist vermutlich derjenige Typ, mit dem für mich diese Welt erträglich sein könnte. Wenn nun aber Jakob die Zudringlichkeiten des Professors verabscheuen und sich davon erniedrigt fühlen würde? Der mit exzellenten Kenntnissen nicht nur im Fach Germanistik brillierende Hochschullehrer müßte seine erotische Abirrung völlig umkehren, wollte er sein gutes Image unter den Berufskollegen der Hochschule eines Tages nicht verscherzen. Bei solchen Gedanken fühlte der Professor als schwankte das Zimmer oder zumindest eine der Wände. Ob er derart realitätsfern träumte und nur mit sich selbst beschäftigt war? Dann gäbe es bestimmt eine Menge weniger Probleme zwischen den Menschen. Sein Weltschmerz, ihm seitens der eigenen Familie oft vorgehalten, verschwand plötzlich, als habe es ihn nie gegeben, weggetrieben wie von einem Sturm. Nunmehr umgab ihn eine Behaglichkeit, angenehm wie selten. Er löschte jetzt das Deckenlicht, das ihn schon lange gestört hatte. Endlich war er mit sich im reinen. Daß er so empfand, ließ ihn hoffen, gut bei Kräften zu sein und hoffentlich auch bald in heiterer Stimmung. Noch besser hätte er sich gefühlt, wenn Jakob Anlaß geben würde, sich ihm unverstellt anzuvertrauen und alles mitzuteilen, was ihn bedrückte. Dann würde er seine Arme ausbreiten und sich an Jakob festhalten, wie man sich im richtigen Augenblick einer Stütze bedient, um seine Pläne und Aufgaben erfüllen zu können. Professor Güldenbrack, einstiger Abgott seiner Mutter, konnte sich noch erinnern, daß er gleich Jakob ein Junge war, den Frauen wie Männer sich gern als eigenes Kind gewünscht hätten. Allerdings schien Jakob jetzt total überfordert mit der plötzlichen Frage des Professors, ob er noch die Geduld habe, weiterhin so unbequem auszuharren. Natürlich wagte Jakob nicht, eine solche Zumutung, wie er es empfand, einfach abzulehnen, obwohl ihm diese ungewohnte Stellung ziemlich peinlich war. Noch dazu schmerzte sie und ihm wurde allmählich flau. Jakob begann in winzigen Rinnsalen der Schweiß über Stirn und Nacken zu laufen, als er sich gegen den Professor aufzulehnen gedachte. Stattdessen rief er unwillig, fast wutentbrannt, er wünsche sich, diese gräßliche Tortur nicht länger ertragen zu müssen und bald wieder aufrecht stehen zu können. Eben ganz normal wie ein gesunder Mensch mit unversehrten Empfindungen. Ob der Herr Professor auch nur ansatzweise ahne, was er von Jakob verlange, in welche heikle Situation er durch den von ihm, seinem Dozenten, angestachelten Ehrgeiz, sich irgendwann Dichter nennen zu dürfen, geraten sei? Er wolle sofort diese Situation beenden, dem Professor mit seinen Begehrlichkeiten und dem schiefen Lächeln aus dem Wege gehen zu dürfen. Jakob bedeckten währenddessen von der Stirn bis zum Hals rötliche Streifen. Es wurde ihm heiß. Er fühlte sich wie ein Angeklagter, der vor einem Richter stand und sich nicht zu wehren vermochte. Zweifellos empfand Jakob seine unvorteilhafte Situation als demütigend, zumal Güldenbrack ihn nach wie vor schamlos visitierte. Fast wäre Jakob aufgesprungen und dem Professor an den Kragen gegangen, doch dem, mit solchen Situationen offensichtlich ziemlich vertraut, gelang es, Jakob in letzter Sekunde durch den Hinweis auf dessen Gedichtband daran zu hindern. Für die Körperschau, die er tapfer ertragen hatte, wolle er sich natürlich entschuldigen. Güldenbrack, das war augenscheinlich geworden, benutzte Zuckerbrot und Peitsche wie seinerzeit Kanzler Bismarck, der auf diese Art fast jeden Widersacher bezwang. Sonst wäre für den preußischen Junker dessen kaltschnäuzig errichtetes Regime der persönlichen Macht nicht derart erfolgreich gewesen. Nicht wesentlich anders wollte Güldenbrack seinen Dichterlehrling Jakob in die Zange nehmen und sich auf dessen Kosten vergnügen. Daß er dabei war, seine Persönlichkeit zu demontieren, schien Güldenbrack fast schon egal. Hauptsache, er behielt die Kontrolle über Jakob und konnte seine Leidenschaft ausleben. Er schaute zerstreut vor sich hin, als dachte er angespannt über etwas nach, umfaßte plötzlich Jakobs rechte Hand und beschwor ihn, seinem Mentor zu vertrauen. Das allein sei ausschlaggebend für den Erfolg und lächelte Jakob an, väterlich wie jemand, der es gut mit ihm meint. Güldenbracks wäßrigblaue Augen, die infolge extrem dicker Brillengläser stark hervortraten und deswegen von Kollegen hinter seinem Rücken oft belächelt wurden, glitten über Jakob. Wie sollte es ihm gelingen, fragte sich Güldenbrack erneut, dieser starken, ihn bedrängenden Sinnlichkeit, die ihn, so glaubte er jedenfalls, bei mancher Gelegenheit regelrecht provozierte, wodurch er fühlbar litt, energisch aus dem Weg zu gehen. Er wollte doch nicht in ein Schneckenhaus kriechen und sich darin zurückziehen müssen. Welche von allen Mächten der Welt könnte ihm dauerhaft helfen, mit seinem delikaten Problem fertig zu werden? Schließlich hatte der Professor seine gefühlsmäßig bedingte Erschöpfung überwunden. Plötzlich, gewissermaßen ohne Übergang, wirkte der eben noch so beherrschte Professor paralysiert wie ein Langstreckenläufer, dessen Beine durch einen heftigen Krampf gelähmt waren. Güldenbrack schien hingerissen vom Anblick des ihn verwirrt und gleichsam hoffnungsvoll anstarrenden Studenten. Der erkannte jäh die Schamlosigkeit des ganzen Spiels und hätte fast losgeheult, aber nicht zu erklären gewußt, wie er sich wegen der erhofften Hilfe des Professors bezüglich seines Gedichtsbandes in ein derartig unwürdiges Spiel hatte hineintreiben lassen. Da brach es aus Jakob hervor, und völlig unerwartet schrie er den Professor an, er werde auf solche „Späße“ kein weiteres Mal reinfallen! Er habe alles nur ertragen, um zwischen ihm und dem Professor jeden Mißklang zu vermeiden. Wirklich bedeutend seien ihm jedoch nur die Gedichte gewesen, für deren Druck er, wie sich zeigte, alles auf sich genommen habe, auch wenn damit für ihn unangenehme Situationen verbunden gewesen seien. Er habe schon geglaubt, an einem Abgrund zu stehen, dessen Tragweite jedoch nicht früh genug erkannt. Nun versperre seinen Weg ein Scherbenhaufen, dem auszuweichen er kaum noch genügend Kraft besitze. Bedrückte es Güldenbrack vielleicht doch, seinen wohl nicht freiwilligen Probanden, der sich alle Mühe gab, ein Dichter zu werden, mit der Überlegenheit eines routinierten Literaturexperten zu zwielichtigen Eskapaden provoziert zu haben? Was mochte Jakob empfunden haben, auf krasse Art hinters Licht geführt worden zu sein? Güldenbrack wischte sich die schweißnasse Stirn und versuchte, Jakob nachsichtig zu stimmen, was komisch wirkte bei den harmlos blickenden Augen des Professors. Aus Güldenbrack klang es fast wie eine Beichte hervor, als er wie beiläufig sagte, es tue ihm jetzt, freilich schon ein wenig spät, fürchterlich leid, vergessen zu haben, Menschen, zumal nahestehenden, zu keiner Zeit etwas aufzwingen zu dürfen, von dem sie nicht selbst überzeugt seien. Und was alles sorgfältig übertüncht werde, nur um in der Gesellschaft als Saubermann und Moralapostel gelten zu können. Dementsprechend gestehe er jetzt freimütig, sich nicht anständig verhalten zu haben in seinen Gefühlen gegenüber Jakob, dem Studenten, daß er vielmehr nur Spielereien an ihm vorgenommen habe, was er jetzt aufrichtig bedauere. Er hoffe sehr, sagte der Professor und beugte sich demutsvoll zu Jakob hin, daß er seinen Worten glauben werde und ihm verzeihen möge. Güldenbrack wälzte sich hin und her, hatte das Gefühl, er habe sich das Federbett über den Kopf gezogen und glaubte zu ersticken. Dann war es ihm, als steige er in eine Hochgeschwindigkeitsbahn, fuhr damit in einen riesigen See. Mitten in das wellengepeitschte Wasser hinein. Als er sich schon verloren sah, gelang es ihm gerade noch, einen vorbeischwimmenden Holzbalken zu ergreifen und damit ans rettende Ufer zu paddeln. Dort endlich, nach unsäglichen Mühen, angekommen, stürmte plötzlich eine Schar schwarzer Hengste auf ihn zu, so daß er fürchtete, von ihren Hufen zertrampelt zu werden
Doch als zwischen sich aufbäumenden Tieren unvermutet Jakob hervortrat, wachte Güldenbrack auf, schweißgebadet, als ob er gerade aus einer finnischen Sauna gekommen wäre. Worüber und über wen hatte er dort bloß so grenzenlos phantasiert? Jedenfalls war er meilenweit von der Realität entfernt gewesen. Hatte er das alles mit Jakob wirklich nur geträumt? Der Professor war sich sicher, dem begabten Studenten, und das war er zweifellos nicht nur in seinen Augen, beizustehen auf seinem beschwerlichen Weg zum Erfolg. Er, Adolf Güldenbrack, war vermutlich der einzige, der den feinsinnigen Jungen unter seine Fittiche nehmen konnte. So einem mußte auf die Sprünge geholfen werden, auch wenn er selbst, Güldenbrack, dabei eine Menge Federn lassen mußte. Der Professor schien endlich ins richtige Fahrwasser geraten zu sein, vertraute erneut seiner zuverlässigen Witterung für die Kostbarkeiten des Lebens. Wurde hoffnungsvoll und ahnte zugleich, daß er jetzt sehr an sich arbeiten mußte. Denn er durfte nie wieder, so schwor er sich, derart schauerlich aus dem Konzept geraten. Während Güldenbrack und Jakob die Terrasse betraten und sich in die Korbstühle setzten, versicherte der Professor Jakob erneut, ihm bei der anstrengenden Dichterarbeit behilflich zu sein. Er werde Jakobs Gedichte mit ihm gemeinsam bis ins letzte Komma und Wort durcharbeiten, danach die seiner Meinung nach besten Verse auswählen und rasch für den Druck vorbereiten „Damit du es merkst“, versicherte er Jakob und sah ihn vieldeutig an, „daß ich mein gegebenes Wort einhalte, es ehrlich mit dir meine.“ Er wandte sich erneut an Jakob und blinzelte mit seinen wäßrigblauen Augen, legte ihm die Hände auf die Schultern, vermied es jedoch, ihn an sich zu ziehen. Er wollte nur, beteuerte er, zu verstehen geben, welche Aussichten sich demjenigen eröffnen würden, dem es weder an Begabung noch an Fleiß mangele. Und der es sich leisten könne, faule Kompromisse abzulehnen. Es falle ihm durchaus nicht leicht, mit Jakob so freimütig zu reden, über dessen Sorgen, ein Dichter zu werden. Er beabsichtige, aus ihm, diesem feinsinnigen Burschen, einen Wortkünstler zu machen. Und irgendwann, so fügte er hinzu, vielleicht auch einen Romancier. Mehr könne er Jacob augenblicklich nicht sagen. Der Professor wurde sich klar darüber, daß es ihm die Sicherheit bringen würde, etwas Dauerhaftes aufzubauen. Und verhindern, falsche Wege einzuschlagen. „Deine speziellen Aktivitäten“, ermunterte Güldenbrack den Studenten Jakob und schmunzelte vielsagend, „werden dem Lehrkörper keinesfalls entgehen. Studienkameraden werden dich beneiden, anhimmeln als den Primus im Seminar, der den Wunschtraum eines jeden Germanistikstudenten erfüllt hat, ein Buch aus eigener Feder vorgelegt zu haben, dem, davon bin ich überzeugt, eines Tages noch weitere Publikationen folgen werden.“ Es bliebe jedoch nicht aus, sich manchmal himmelhoch jauchzend zu fühlen und gleichsam zu Tode betrübt! War es jetzt mehr als ein Zufall, daß ihm Goethes weltbekannter Osterspaziergang in den Sinn kam, wo doch Strom und Bäche schon längst vom Eise befreit waren? Der zweifellos talentierte Jakob würde sicher inhaltstiefere Gedichte schreiben und zu Papier bringen als Martin Grabenow, einer von Güldenbracks früheren Studenten, der seinerzeit als Nachwuchstalent galt und dem zugejubelt wurde bei Reimen wie: „Getrieben durch Röhrensysteme steigt Wasser nach oben. Ergießt sich in Gärten und Felder zu lohnender Frucht. Nirgends werde noch Hunger erduldet in einem zur herrlichsten Blüte reifenden Land!“ Alle hatten sie intensiv gelauscht, man hörte kaum noch jemanden durchatmen und war begeistert. Manche glaubten sogar, dieses Gedicht habe die Weimarer Klassik aufgegriffen. Es schien, als wehte eine frische Brise in der sich neu etablierenden Dichterszene, etwas, das die frühere Epoche umzukrempeln verstanden hätte. Und doch besaß vorläufig niemand die Kraft, die notwendig gewesen wäre, den Weltenlauf ausschlaggebend zu ändern. In diesem Augenblick hatte Professor Güldenbrack das Gefühl, er befinde sich wieder in jener damals vom Hochschulklub organisierten „Dichterlesung“ des von ihm betreuten Seminars. Martin Grabenow, in verwaschenen Jeans zu altmodischer Lederweste, thronte an der Stirnfront eines langen Holztisches mit daraufgestellten blauen Kerzen, die gespenstisch flackernde Schatten an die Wände des kleinen Lesesaales warfen. Jetzt sah er Grabenow wieder vor sich stehen, wie er, bis auf einen winzigen Spalt, seine grünlich schimmernden Augen zusammenkniff, wie er sie danach erstaunlich rasch vergrößerte. Selbst die unauffälligste Mimik und Bewegung ihres Dichters ließ seine Kommilitonen noch andächtiger den zwischen wulstigen Lippen hervorgepreßten Reimen folgen. Grabenow bestach immer wieder durch sein Gebärdenspiel, das berechnend war und mit dessen Hilfe es ihm gelang, originelle Kompetenz auszustrahlen. Schien sie doch jedem nahezu perfekt als Ausdruck von Genie. Unablässig die schweißnasse Stirn abwischend, war er gleichzeitig bemüht, seine dürftigen Kopfhaare, so gut es eben ging, vorteilhafter zur Seite zu striegeln, wodurch er, wenn auch höchst zufällig und eigentlich noch zu jung für einen derartigen Personenvergleich, eher einem Finanzbeamten glich als einem Poeten. Während der Dichterlesung irritierte jedoch Grabenows häufiges Räuspern und Schnaufen, was die nachdenklich zuhörenden Kommilitonen in Verlegenheit brachte und auch dem Professor zu schaffen machte. Dazu das fortwährende Zwinkern seiner düster wirkenden Augen, die sich hinter einer getönten Nickelbrille zu verstecken suchten. In mancher Sekunde hätte man selbst das Schwirren einer Stubenfliege nicht herausfiltern können, so beherrschte Geräuschlosigkeit den langgestreckten Raum. Und es schien undenkbar, dieser eingenisteten Stille zu entfliehen. Jetzt wollte der Professor mit einem Paukenschlag endlich wieder Dynamik in diese ausgebreitete Regungslosigkeit holen, bat schließlich Grabenow nach vorn, an die Stirnfront, um von hier aus eigene Gedichte vorzutragen. Doch ohne es zu bemerken, stellte irgendjemand Grabenow ein Bein. Und alles vollzog sich derart schnell, daß keine Aussicht war, den unausbleiblichen Sturz abzuwenden oder sich irgendwo festhalten zu können. Stattdessen riß Grabenow zwei Studenten, während er nun endgültig zu fallen drohte, mit sich zu Boden. Es gelang Grabenow nur mühsam und nicht ohne hämische Blicke seiner Kommilitonen, sich aufzuraffen, zumal er sich wegen der zertrümmerten Brille fast wie ein Blinder bewegte. Doch die schlimmste Offenbarung ereilte ihn, als er mit der Zunge eine große Lücke bemerkte, die ihm bewußtmachte, durch den provozierten Sturz einen oberen Schneidezahn verloren zu haben. Es war für Grabenow unmöglich, mit diesem sichtbaren Handikap die Lesung noch fortzusetzen. Ohne auch nur ein Wort verloren zu haben, drehte sich Grabenow dem Ausgang zu und kehrte dem Ort seiner Niederlage den Rücken. Auch der Professor verließ niedergedrückt den Raum. Kopfschüttelnd und fahl im Gesicht. Es war ihm zumute, als hätte er höchstpersönlich versagt. Und zwar total. Die Rechnung ging nicht wirklich auf, daß man immer nur das fand, was unzerstörbar war, weil man es selbst erobert hatte. Güldenbrack nahm seine zittrig gewordenen Hände von Jakobs kräftiger Schulter. Nur keinen verdächtigen Eifer zulassen, mahnte er sich, wenn es gilt, den Zeitpunkt noch abzuwarten! Hatte er nicht im trauten Umgang mit Jakob ein gewisses Talent bewiesen? Er schloß beruhigt seine Augen und stellte alle möglichen Überlegungen an, die von Jakob nicht zu trennen waren und erst durch ihn möglich wurden. „Ach Jakob“, flüsterte Güldenbrack vor sich hin und stöhnte, ohne daß man es wahrnehmen konnte. Er durfte nicht erneut auf die schiefe Ebene geraten und abstürzen. Dann öffnete er die Terrassentür. Es kam unerwartet kühl herein, als würde man vom Sommer nichts mehr erwarten können. Er atmete hastig. „Wirklich kein schönes Wetter, eher abstoßend“, sagte er fast mürrisch und schloß die Tür hinter sich. Nichts für Spaziergänge! Könne Jakob denn nicht verstehen, wollte Güldenbrack sagen, daß er von ihm, sozusagen als Ausgleich für seine Hilfe bezüglich des Gedichtbandes, bestimmte Gefälligkeiten erwarten dürfe, die zwar nicht erfreulich seien, aber wenigstens erträglich für einen gesunden jungen Mann wie ihn? Doch zuletzt scheute er jedes eindeutige Wort über seine wahren Absichten, verzichtete schließlich darauf und sagte mit der unschuldigsten Miene, daß auf dieser kauzigen Welt alles, selbst die winzigste Mikrobe, auf Vergänglichkeit programmiert sei. Personen, die aus einem Grund unangenehm erscheinen und es real auch sind, beobachte man später oft in einem vorteilhafteren Licht, als es gegenwärtig möglich sei. Zurückblicken aber möchte keiner, weil unsere Existenz wie das ganze Weltgefüge auf dem Glauben beruhe, sich unablässig vergrößern zu müssen. Ob Güldenbrack nachdrücklich spürte, daß er in Jakobs Seele zwiespältige Anwandlungen hervorrief, sie verstärkte, die ihn, den Studenten, wenn er, Güldenbrack, nicht beizeiten die Notbremse zog, aus der Balance stoßen würde? Da nahm Güldenbrack instinktiv Jakobs Hand, drückte sie an sich wie nach einem letzten Strohhalm greifend. Doch ihm schwindelte, bevor er noch erfaßte, wohin er da abdriften könnte, wenn er allen Gefühlen gegenüber Jakob nachgab. Es wurde ihm bewußt, wie gefährlich diese Illusion war, in der er sich befand, und entschuldigte sich damit, daß ihm nicht wohl sei. Ob es ihm jemals gelingen würde, sein oft mißratenes Leben wieder ins Gleichgewicht zu heben? Er versuchte zu scherzen und merkte im gleichen Atemzug, wie schlecht ihm diese Maskerade stand. Jakob, der steif neben ihm saß, gab keinen Laut von sich, verzog nicht einmal andeutungsweise das Gesicht. Wie sollte Güldenbrack bloß dieser ausschweifenden Mittelmäßigkeit entkommen? Und wie sollte er Jakob von sich, dem einflußreichen Professor, befreien? Er spürte, sprachlos zu werden, und nicht nur das, auch handlungsunfähig, je länger er grübelte. Zwischen ihnen lag eine Stille, die, je offensichtlicher sie anhielt, kaum durchzuhalten war. Güldenbrack wußte nicht weiter, nicht jetzt, als er in Jakobs dunkelbraune Augen blickte, erhob sich vom Diwan, fast wankte er die paar Meter zum Fenster hin, schob die Gardine beiseite und beobachtete mit einem gewissen sturen Eifer den im Vorgarten vom Wind geschüttelten Kirschbaum. Die Linderung seiner nervösen Lage wurde dringlich. Wäre doch alles unkompliziert gestrickt, dachte er, wie der scheinbar so gradlinig ablaufende Naturvorgang, er könnte mit dieser Welt halbwegs im reinen sein. Als der Wind zunahm, segelten weiße Blüten wie Schneeflocken durch die Luft, imitierten winterliche Klarheit. Was für hübsche Trugbilder sich ihnen darboten, und Güldenbrack empfand sich als tief gerührt, die den Wissenschaftler in ihm durcheinanderbrachten. Und das inmitten aufwallender Frühlingsgefühle! Er schlurfte zum Sofa hin, wollte diese Gangart eben mal ausprobieren, setzte sich wieder neben Jakob und drückte, eher zufällig, dessen rechte Hand. Aber wohl doch ein bißchen zu mild, wie es ihm vorkam. Das war es also, wenn davon gesprochen wurde, am besten dürfe man sich nur selbst vertrauen. Er wußte es von Madame Bouffier: Jakob war süchtig nach literarischem Ruhm, und zu gern glaubte der Jüngling, nur dafür geboren zu sein. Das Motto: Jedes Wort Unflat sei ein Leser mehr, galt für ihn nicht, war für ihn kein Erfolgsrezept. Güldenbrack blickte nervös zu Jakob, wirkte plötzlich müde und schlug vor, sich die Beine zu vertreten, draußen an der frischen Luft. Machte sich dann frei von Jakobs Arm, den er eben noch an sich gedrückt hielt. Wollte er sich von Jakob zurückziehen, von dessen Gunst, die er, wie er argwöhnte, vielleicht gar nicht wirklich besaß? Machten ihn Jakobs enttäuschte Augen stutzig? War er zu weit vorgeprescht, um Jakob, wenn auch erst nach und nach, gefügiger zu machen? Er verrannte sich womöglich in eine Komödie. Und doch klang jedes Wort von ihm nach Wichtigtuerei in einem falschen Spiel! Und so erfaßte ihn das seltsame Gefühl, eine alte, faule Katze geworden zu sein, die mit sich und der ihr feindselig gesinnten Umwelt nichts Rechtes mehr anzufangen wußte, der es aber gefiel, wenn ihr jemand, und sei es auch nur hin und wieder, das mit den Jahren glanzlos gewordene Fell ein wenig kraulte und sie danach erst einmal in gewohnter Ruhe lassen würde. Das Leben einer Hauskatze zu führen, ging ihm durch den Kopf, ist weiß Gott kein Pappenstiel. Ohne zu spekulieren, verausgabt man sich dabei! Jakob, versuchte Güldenbrack zu überreden, brauche eben Zeit, ihn, den Hochschullehrer, ertragen zu lernen, einen Gelehrten alter Schule, der sich im Dschungel der Welt zwar auskannte, sich jedoch eher mehr als weniger durch bestimmte Neigungen angestachelt fühlte. Bislang aber hatte er sich stets unter Kontrolle gehabt. Würde ihm das weiterhin auch mit Jakob gelingen, der Werthers jugendlichem Goethe so verblüffend ähnlich sah? Bis ins Mark bröckeln sah der Professor seine einstige Fassade. Erst rumorten Herbststürme, dann brach der Winter herein mit Schnee und Eis! War die Chance auf Kommendes, auf Erwachendes gegenwärtig noch vorhanden? Schließlich bedrohte ihn die Furcht, seine offensichtlich sexuell bedingte soziale Isolation immer weniger im Griff zu haben. Doch er stabilisierte sich und gewann neues Selbstvertrauen, ohne jedoch seinen liebgewordenen Plüschsessel zu verlassen. Knipste das Fernsehen an und vernahm, eher gelangweilt und mit halbem Ohr, die immer gleiche Hofberichterstattung über die Gefahren der Finanz- und Wirtschaftskrisen in der Eurozone und anderswo, hörte von bühnenreifen Korruptionsentgleisungen, entsetzlichen Erdbeben an irgendeinem Ende des drangsalierten Planeten, von heimtückischen Terror- und Mordanschlägen, sich häufender jugendlicher Gewalt nicht zuletzt in den entwickelten Industriestaaten. Und von anschwellendem Rassenwahn. Von Booten voller Flüchtlinge, die von Nordafrika aus über das Mittelmeer nach Europa ihrer Not und all dem schrecklichen Elend zu entkommen versuchten. Das alles, die Träume vom leistungslosen Reichtum, konnte und wollte Güldenbrack nicht mehr speichern und nahm sich abermals vor, dem täglichen Medienrummel zu entsagen, sich keine Furcht einjagen zu lassen. Er würde sie nicht begehren, diese ständig aufgetischten Spektakelrunden, gespeist von „namhaft“ genannten Topexperten, belehrenden Kümmelspaltern bzw. Spiegelfechtern und austauschbaren Wortabschneidern. Ein zwielichtiger Punkt des Konsums wurde sichtbar, ein verwirrendes Notlügengerüst. Er wollte keine Schuld auf sich nehmen, ohne daß er wirkliche Schuld fühlte! Beleidigen ließ er sich nicht. Doch aufhängen? Oder ersäufen als mögliche Alternative dazu, weil einem das Genick nicht gebrochen wird und man keinen sichtbaren Schaden nimmt, der zum Nachteil gereichen würde. Also durchaus Gelassenheit erhalten bliebe. Doch wußte er tatsächlich noch, wer und was da aus ihm sprach oder sprechen wollte? Daß Macht wahrnehmbar sein möchte, kannte er zur Genüge. Darum auch verlangt der Chef eines Unternehmens stets das größte Arbeitszimmer, die meisten Schlaf- und Baderäume. Er allein hat das Sagen, und die, die unter seinem Kommando produzieren müssen, werden durch seine unausweichliche Anziehungsgewalt vereinnahmt. Er, der Manager, beschränkt sich auf das Kontrollieren seiner Mitarbeiter, für die Jesus immer neu erfunden wird. Ist das die Freiheit und Gerechtigkeit, wie sie pausenlos verkündet wird? Dem Professor, einem seitens der Fachwelt gelobten und von vielen Kollegen beneideten Hochschullehrer, waren bereits zwei Frauen davongelaufen. Hatten sich, wie manche hinter vorgehaltener Hand plauderten, aus dem Staub gemacht. Mochte sein wegen launischen Gründen, wie man bei aller zugesicherten Diskretion trotzdem tuschelte. Güldenbrack allerdings hatte schon frühzeitig erfaßt, daß Jungen auf ihn einen größeren Reiz ausübten als Mädchen, selbst wenn sie auffallend hübsch waren. Immer häufiger fragte er sich deshalb, und das zunehmend gequälter, warum er nicht genauso tickte wie seine gleichaltrigen Schulkameraden. Längst hatte er viele von Selbstzweifeln geprägte Gespräche hinter sich, um über seine vermeintlich, wie mancher grinsend sagte, abwegige Art ein genaueres Bild zu erhalten. Ob man eines Tages von der allgemeinen Norm abweichende Gefühlsimpulse per Knopfdruck umschalten könnte? Eine verlockende Vorstellung, zumal für Biologen, die seither wichtige Fortschritte bei der Entwicklung von Menschen aus der Retorte erziehlt haben. Auch in früheren Zeiten ein häufiges Thema, über das in wissenschaftlichen Zirkeln heftig gestritten wurde. Doch augenblicklich war bei ihm die Neigung zum gleichen Geschlecht konstant und eben deswegen nur schwer zu kaschieren. Oder die davon Betroffenen müßten heucheln. Und das immer wieder. Doch er wollte unter seine doppelbödige Existenz endlich einen Schlußstrich ziehen, sich in aller Öffentlichkeit dazu bekennen. Dann wäre er weniger angreifbar für die nah und fern lauernde Häme. Zum ersten Mal in seinem Leben, das ihm bisher wenig Befriedigung beschert hatte. Dafür aber jede Menge Reizbarkeit in einem Körper, der äußerlich ein Mann war, innerlich jedoch eine weibliche Gefühlswelt beherbergte. Er wollte zwischen Lügen und Hoffnung nichts verwischen, zwischen den Dingen klare Unterschiede festmachen, auf keinen Fall sie übersehen. Mit seinem Losungswort, anders zu sein als jeder andere, konnte er nur eingeschränkt leben. Güldenbrack spürte, wie seine Augen feucht wurden, und er wollte es nicht glauben, daß es Tränen waren, die ihm die Wangen hinunterliefen. Und das in seiner Position und seinen Jahren! Vielleicht würde sich alles noch fügen. So oder so. Erst im Umgang mit der banalen Meute, dachte Güldenbrack und fühlte, wie entnervt er war. Ihn bestärkte die unbestechliche Tatsache: Dem Leben vertrauen ist der einzige Schutzbrief, der aufrechterhält und stolz macht. Eine fabelhafte Mündigkeit von den unkalkulierbaren Abläufen des Weltgeschehens. Augenblicklich versuchte Güldenbrack, allerdings sah man ihm die Mühe an, ein entschlossenes Gesicht zu basteln, das selten unverfälscht gelang. Dieser Art der Selbstdarstellung hatte er sich früher, als aufsässiger, eigenbrötlerischer Student, immer wieder ausgeliefert. Und gern! Weil ihm stets irgendetwas zu fehlen bzw. zu mißlingen schien. Glaubte er wirklich, die verschlungenen Pfade des irdischen Wahnsinns zu begreifen? Oder hatte er zunächst nur ein Provisorium entworfen, auf dem er später ein dauerhaftes Fundament, seine Perspektiven, errichten konnte? Obwohl Madame Bouffiers maßgebliches Interesse der Literatur galt, schenkte sie ihre Wißbegierde ebenso fasziniert naturnah erhaltenen Landschaften, wobei selbst unscheinbare Pflanzen mit einbezogen wurden. Beides war der Grund, warum sie Jakob eines Tages bat, mit ihr zum Kapellenberg zu fahren, ein in gutmütiger Nachbarschaft zum Dorf gelegenes Granitsteinplateau. Von da aus, lockte Madame Bouffier, könnte man die bewaldete Fläche, den gesamten Landstrich also, bis zum Horizont übersehen. Eine knappe Stunde vielleicht würden sie für die Exkursion benötigen, mitten durch grünende Fluren und dichte Buchenhaine. Weil die schon aus der Ferne erkennbare Anhöhe in dem eigentlich flachen Revier mit jetzt blühendem Flieder bedeckt sei, wäre die Tour besonders im Frühling ein gewiß wunderbares Ereignis, das lange im Gedächtnis nachhallen werde. Gegenwärtig schwebe konkurrenzlos ein himmlischer Duft gleich frommen Wolken über der Bergkuppe, in deren Mitte sich, von mannshohen Ziegelmauern umringt, eine aus Feldsteinen errichtete Kapelle befinde, die vermutlich der spätromanischen Epoche angehöre. In dieser reizvollen Gegend, so schwärmte Madame Bouffier weiter und schöpfte erst einmal kräftig Luft, wobei ihr zierlicher Mund tadellose Zahnreihen freigab, könnten sie hier, in der Einsamkeit der Natur, ehrlich und offenherzig miteinander reden und schwatzen, über sich, Gott und die Welt. Nicht beengt von moralischen Tabus und Befürchtungen oder geplagt von kleinlichen Berührungsängsten. Mißverständnisse zwischen ihnen würden sich wie von selbst lösen. In freudiger Zustimmung nickte Jakob und öffnete seine dunkelleuchtenden Augen, als entstamme er nicht einer nordischen Landschaft, sondern einer sonnenverwöhnten Mittelmeerregion. Am frühen Nachmittag, es mag die Vesperstunde gewesen sein, erreichten Madame Bouffier und Jakob endlich den sagenumwitterten Kapellenberg. Hielten im Schatten einer gewaltigen Eiche. Nach kurzer Rast wanderten sie, hellen Sand unter den Füßen, inmitten von Fliedergesträuch bis an die Basaltkuppe, diesem Ergebnis einer vor Jahrmillionen erfolgten Vulkaneruption. „Was für ein köstlicher Duft!“, rief Madame Bouffier entzückt und streckte wie in einem Gefühlsrausch ihre Hände von sich. Vielleicht erweise sich der liebe Gott, entgegnete Jakob und zog spöttisch die Augenbrauen hoch, auch als Parfümproduzent? Da aber schüttelte Madame Bouffier entschieden ihren Kopf, rümpfte die Nase und meinte streng zu Jakob blickend: „Den bedrücken dort oben ganz andere Sorgen, von denen wir Menschen uns, einfältig genug, absolut keine Vorstellung zu machen imstande sind! Und haben wir schließlich nicht schon mit der Auferstehung des Herrn genug Pflichten und Aufgaben zu erfüllen?“ So schritten sie vergnügt dahin, als gäbe es nirgends einen schöneren Flecken, bis inmitten der Fliederpracht ein spätromanisches Gotteshaus auftauchte, dessen schlichte Architektur überraschte. Doch plötzlich vernahmen Madame Bouffier und Jakob leise Orgelklänge, die, kaum hatten sie eingesetzt, schon wieder abflauten. Hielt sie vielleicht ein Kobold zum Narren? Schließlich kannte man noch von alten Zeiten her den Kapellenberg als düsteren Ort, in dem die Seelen Verstorbener mit ahnungslosen Wanderburschen üble Späße getrieben haben sollen. Hastig eilten Madame Bouffier und Jakob auf die nur wenige Meter entfernte Kapelle zu, da sich am Himmel ein Gewitter bedrohlich zusammenbraute. Schon trieben düstere Wolken auf den Kapellenberg zu, gefolgt von den Attacken eines Sturmes, der die Fliederbüsche niederdrückte. Tausende winziger Blüten wirbelten durch die Luft und verstreuten ein beispielloses Aroma. Dann prasselten innerhalb von wenigen Sekunden wahre Sturzbäche herab, als wollten sie alles unter sich ertränken. Endlich erreichten Madame Bouffier und Jakob, noch bevor das hereinbrechende Gewitter den eben noch sandigen Weg unpassierbar gemacht hatte, die Kapelle, deren Pforte angelehnt war, als sei jemand bereits vor ihnen hastig in das Gemäuer geflüchtet. Ihre Vermutung bestätigte sich, als Madame Bouffier und Jakob, nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, auf der Empore eine nur undeutlich auszumachende Gestalt entdeckten, die, Kappe und Umhang tragend, leicht vorgebeugt an der Orgel saß und dem königlichen Instrument erstaunliche Töne entlockte, indem ihre Hände nur so über die Orgeltasten flogen und dabei von außen eindringende Geräusche überwältigten. Als der Teufelsspieler schließlich die Pedale in das Orgelspiel einbezog, indem er seine Füße kreuz und quer stampfen und springen ließ, dazu noch alle Register ziehend, durcheilten den spätromanischen Raum übersinnlich anmutende Tonfarben. Wollte sich der ihnen unbekannte Meister denn tatsächlich mit den Göttern oder wem auch immer vergleichen? Madame Bouffiers Mund hatte sich, vom Erstaunen überwältigt, leicht geöffnet und sie vermochte ihn lange nicht zu schließen. Das waren sie, die ihr vertrauten Bach’schen Gesänge, die eines unerreichbaren Komponisten, sein Choralvorspiel „Herzlich lieb hab ich dich, o Herr“. Von schwärmerischer Glut fortgerissen, drückte sie Jakobs Hand, murmelte erregt wie im Fieberwahn: „Ist das vielleicht Gottes Stimme, wenn es denn einen geben sollte? Wenn nicht von ihm, dann weiß ich nicht, wer diesen gewaltigen Bau aus Noten errichtet haben könnte!“ Wie auf ein Zeichen verstummte die eben noch brausende Orgel. Madame Bouffier und Jakob vernahmen ein Geräusch, das sich anhörte, als ob ein Deckel zugeklappt würde. Dann Poltern und Ächzen, der Organist schickte sich an, von der Empore herabzusteigen oder eher noch über das mürbe Holz den Abstieg zu wagen. Sie konnten es noch im Halbdunkel erkennen, wie sorgsam er sich am Handlauf festklammerte, um nicht danebenzutreten und womöglich die Balance zu verlieren. Es war das total erschöpfte Atemholen eines in die Jahre gekommenen Mannes, der auf dem steinernen Fußboden des Gotteshauses endlich wieder sicheren Halt fand und sich erneut überzeugen konnte, daß er eine derartige Mühe noch keineswegs zu scheuen brauchte. Jetzt, da er bewiesen hatte, nicht umsonst bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit gelangt zu sein, genoß er diese Erkenntnis in vollen Zügen, im Bewußtsein, alles ausprobiert zu haben, was absurde Lebenszufälle verhindern kann. Als er in der hintersten Bankreihe das innig umschlungene Pärchen entdeckte, schritt er entschlossen auf die beiden zu und gab sich als Kantor der heimischen Stadtkirche zu erkennen. Die tausendjährige Kapelle, verriet er stolz, werde für Gottesdienste und Konzerte genutzt, an denen, außer ihm, dem Organisten, ein Dutzend Musiker beteiligt seien. Ihn heute allein angetroffen zu haben, hänge damit zusammen, daß die Musiker diesmal anderenorts zu Ehren Gottes dienten. Was nun ihn betreffe, so habe er geprobt für den Pfingstmontag, der hoffentlich eine freundlichere Witterung bereithalte als die heutige. Er wüßte es hoch zuschätzen, wenn man sich für Architektur und Geschichte interessiere und daher einem christlich geweihten Ort gebührende Demut erweise. Diese Art, sich kulturellem Vermächtnis zu nähern und, wenn möglich, es auch zu pflegen, sollte zumindest jeden mit Gott ehrlich verbundenen Menschen beflügeln. Sich diskret verneigend, verließ er, ohne sich noch um Madame Bouffier und Jakob zu kümmern, erhobenen Hauptes die lichtdurchflutete Kapelle, über der sich jetzt ein blauer Himmel auszubreiten begann. Nur in der Ferne schwebten noch ein paar Wolken, die einem riesigen Landschaftsgemälde entlehnt schienen und die schon, ehe man es noch bemerkt hatte, zu entfliehen begannen. Jakob kramte aus der Jackentasche einen zerknüllten Zettel hervor, den er zufällig eingesteckt hatte, und notierte, da es ihm an einer festen Unterlage mangelte, in holprigen, vielfach abstürzenden Zeilen: Nichts außer Warten. Eines beliebigen Tages. längst verschollen. unser rasselndes Gelächter, die bodenlose Tollerei, der ewige Freudentanz. aus jungem, unbeholfenem Geschwätz. Der euphorisch knospende Frühling. von damals. jetzt im kurzweiligen Endspiel. aus schriller Buntheit. Irgendwann sind auch wir zerrüttet genug, um dürftig eventuell abzustürzen. Das Wohin eine zügellos gestellte Frage, denn nichts außer Erinnerungen. widerfährt ungereimten Stunden, bis ausbrechen wird diese eine Nacht. zwischen uns beiden Irrlichtern. als zärtlich Verwirrte. aller vorstellbaren Welten. Madame Bouffier gewidmet von Jakob, einem Dichterlehrling. Beschäftigt damit, Jakobs neuestes Gedicht rasch zu enträtseln, zeigte sich Madame Bouffier als eine clevere Literaturkennerin. Sie hatte Jakobs durchaus hemmungslose Verse bis zum letzten Komma und Punkt erfaßt. Zumindest verstanden als Kompliment, mit dem ihr so noch kein Musenfreund vor Augen und Ohren getreten war. Die Frage, mit der sie sich jetzt täglich konfrontiert sah: Käme sie von diesem Jakob jemals wieder los, von diesem amüsanten Träumer, ohne daß sie es leibhaftig versuchte? Würde sie fähig sein, ihn an sich zu fesseln, obwohl faktisch noch nichts entschieden, noch kein Pakt geschlossen war? Zumindest nicht das, was wünschenswert sei, um in dieser einzigartigen Welt gemeinsam etwas bewirken zu können und sich nach vielen Seiten hin umzuschauen. War sie ein Schoßkind von Leichtfertigkeit? Nur ein Rausch, der am liebsten in Schwärmerei flüchtet ? Was alles darf man sich wohl aufladen, wenn der eine nicht durch den anderen verzweifeln soll? Madame Bouffier dachte angestrengt nach und furchte die Stirn fast ein wenig zu heftig. Dann lachten beide, eigentlich war es ein überquellendes Lachen oder vielmehr ein albernes Gejauchze, ohne tatsächlichen Grund. Sie umhalsten sich, in der akuten Gewißheit, daß der ständig lüstern vagabundierende Tod, der Lebewesen in jeder dürren Sekunde zu trennen vermag, noch im Verborgenen umherschlich, somit nicht direkt zu entdecken war. Also durchaus noch in gefahrlosem Jubel verborgen steckte. Madame Bouffier ordnete Jakobs Blicke und begann, sie in verschiedene Kategorien einzuteilen, wie man eventuell ein Mosaik zusammenfügt, bis endlich das gewünschte Bild existiert. Und langsam schien Madame Bouffier zu erkennen, mit wem, mit welcher Begabung sie es zu tun hatte. Sie würden diesen prickelnden Spätnachmittag nicht aus dem Gedächtnis streichen, wie ihre jetzt aufgewühlte Leidenschaft zu Jakob sich unveränderlich zeigte. Sie waren in diesem Moment mehr als entzückt, es war ein Tag allein nach ihrem Willen und Geschmack. Was störte es die übrige Welt, daß die richtigen Worte dafür offenbar noch fehlten, diese Glückseligkeit zu beschreiben und zuletzt dem Papier anzuvertrauen? Jedes noch so gering ausbrechende Gefühl, verlassen zu sein, besaß keine Chancen. Es konnte nur vorangehen mit ihnen. Sie beschlossen, für die Rückkehr einen unbekannten Weg zu nehmen. Wo statt des Flieders kaum passierbares Waldgelände aus Laub- und Nadelgehölz einen langgestreckten Hang bedeckte. Der war so dicht bewachsen, daß sich beide fast verlaufen hätten. Und während sie den Berghang hinabstiegen, ertönte weithin prächtige Renaissancemusik, wie sie oft englische Historienfilme bieten. Jetzt kannten Madame Bouffier und Jakob kein Innehalten mehr, breiteten die Arme aus, als wollten sie immerhin die halbe Welt umarmen und die letzten Meter ihrer spannenden Wanderung im Gleitflug beenden. Höchstens Popstars, so dachten sie fassungslos und sahen sich überrascht an, könnten vielleicht noch grandioser von einer Menschenmenge empfangen werden. Als zu ihren Füßen plötzlich ein gigantischer Zeltplatz auftauchte, wurde soeben das seit Wochen auf Dutzenden von Litfaßsäulen angekündete Burgfest mit pompösen Fanfarenstößen eröffnet, denen glanzvoll ausstaffierte Ritterspiele folgten. Niemand nahm von ihnen, den späten Ankömmlingen, auch nur die geringste Notiz, und so entschwanden sie in der großen, hin und her wogenden Zuschauermenge, die sich mit Hilfe mittelalterlich nachgestalteter Wettspiele köstlich amüsierte. Was damals, in jenen grauen Zeiten, tonangebend schien, war sorgfältig nachgestaltet worden. Vom Feuerspucker und Säbeltanz bis hin zum Ringkampf oder historischen Wagenrennen. Nichts wirkte gekünstelt oder manieriert. Jeder sollte glauben, daß es genau auf ihn, sein Engagement ankomme. Viel mehr war von einem Glücklichsein nicht zu erhoffen. Und wer weiß, was ihnen noch alles bevorstehen wird. Das Breitmachen von Gleichgültigkeit zwischen den Menschen? Doch auf den Tod zu warten, das Ende allen Lebens, ist sicher kein beabsichtigter, wirklichkeitsnaher Ausweg. Kaum waren sie vom Kapellenberg in das Landhaus zurückgekehrt, befand Madame Bouffier, daß der Kleine Saal, seit Jahren als Literatursalon genutzt, heutigen Bedürfnissen nicht mehr entspreche und deshalb renoviert werden müsse. Dabei sollten, wie schon im vorigen Jahrhundert, die grünen Wandflächen dominieren, ohne barocke Zierleisten und Schnörkel wegzulassen. Denn sie glaubte, die Erneuerung einer ihr heiligen Tradition schuldig zu sein. Und namentlich dem Andenken Jean-Claudes, der oft, aus gegebenem Anlaß, die zierliche Dekoration als erhaltenswertes Fragment der barocken Erbauungsphase des Landhauses gewürdigt hatte. Zwar wurde der Salon in Form und Farbe nicht grundlegend verändert, aber zu einem noch sehenswerteren Kleinod der Innenarchitektur geformt. Seitdem streute Madame Bouffier noch häufiger ihr zuvorkommendes Lächeln unter ihre Gäste. Auch Jakob schaute berührt vor sich hin. Nur wischte er nicht Träne für Träne ab mit einem seidenen Taschentuch, wie es Madame Bouffier vorbehalten blieb mit ihrer unnachahmlichen Anmut. Freudige Erregung rann an seinen Wangen herunter, ohne daß er sich womöglich getraut hätte, sie zu tilgen. Er wußte nun endgültig oder glaubte es zumindest, alles würde gut aufblühen zwischen ihnen. Und riß, ohne auch nur ein einziges Wort auszustoßen und mit der Wimper zu zucken, die Arme hoch, inspiriert durch kaum zu bändigende Ergriffenheit. Er fühlte jetzt, daß er sie brauchte und sie ihn ebenso begehrte. Wie von außerirdischer Energie erfaßt, nickte Jakob und drehte den Kopf zu Madame Bouffier hin. Liebkoste ihre Hände, als argwöhnte er, sie könnte sich ihm plötzlich wieder entziehen und von allen Hochgefühlen würden nur Schatten übrig bleiben. Unbetrübt fühlte er sich jetzt wie sonst nur manchmal und doch erstaunlicherweise fast ohne Betätigungsdrang, den er so oft nur vergeudet hatte. Ein freier Mann war er plötzlich wie nur selten einer. So konnte er zwanglos denken, tun und lassen, was er wollte. Nicht wie manche, die immer versuchen werden, nur ihre Töne vorzuspielen. Das alles gewahr werdend, kam er sich prächtig vor und schlief sofort auf dem Sessel ein, in den er sich hineinbugsiert hatte. Und blieb lange darin heimisch. So hätte man sich immer begegnen sollen bis ans Ende seiner Tage mit Madame Bouffier, der prominenten Salonière, in der er jetzt seine Angebetete gefunden hatte, ohne es auszusprechen! Man war sehr einverstanden mit sich. Und man war bereit, gegen alles, was einem nicht in den Kram paßte, schonungslos vorzugehen. Der Himmel, so blau und so tugendhaft über ihnen hängend, blühte noch unübertrefflicher in sich still am Feldrain gesellenden Kornblumen fort. Das Leben, so flötete es allenthalben, und sie fühlten sich ganz und gar überwältigt, war unwiderstehlich! Und endlos voller Überraschungen. Auch wenn das Leben alles andere war als berechenbares Kinderspiel, zu dem man erst fähig sein mußte, um es für künftige Zwecke durchdringen und benutzen zu können. Jakob glaubte sich von Madame Bouffier erforscht, wie sie ihn vorher noch nie angeschaut hatte. Er versuchte, diesem Blick, der ihm schmeichelte, geschickt auszuweichen. Was endlich gelang, allerdings nur, weil er die vertrackte Situation durch Lachen entschärfte und folglich alles Störende zwischen ihnen zerstreute. Da wurde ihnen erneut klar, daß man Vergänglichkeit ebenfalls einzuplanen hat, auch wenn es durchaus nicht leichtfällt, das Aufblühen bereits als Teil stetigen Wandels bis hin zum Tode, dem man nicht ausweichen kann, im Auge behalten zu müssen. Und doch ist das Unwiederholbare einer Menschensekunde, verwebt mit den Gefährdungen aus dem All, grenzenlos kostbarer als jedes scheinbar für die Ewigkeit aufgetürmte Granitmassiv. Und gleichzeitig seine unstillbare Sehnsucht, sich endlich so modellieren zu können, wie er es für authentisch hält. Das aber mußte sich fügen, bevor er die Ohnmacht des Sterbens, das Ende, auf sich zurasen sieht. Wenn er sich jetzt in einer Hängematte räkeln könnte, gemeinsam mit Madame Bouffier? Schon die Illusion, daß er dazu bereit war, und natürlich auch fähig, rührte ihn unsäglich. Als er jedoch die Risiken bedachte, mit denen eine solche Handlung oft untrennbar verkettet ist, entzog er sich den Armen Madame Bouffiers. Nur nicht vollständig ausliefern. Jedenfalls durfte er nichts übereilen. Wenn er das Resultat bereits greifbar vor sich hätte, stünde er nicht wieder am Beginn seiner Überlegungen, was denn konkret zu unternehmen sei. Was er tun mußte für den unausweichlichen Augenblick, auf den es ankam im wirklichen Leben. Er mußte sich das Lachen verkneifen, um nicht albern zu wirken, hielt den Atem an, um klarer sehen und, wenn es sich ergab, auch spontaner handeln zu können. Jakob wollte sich jetzt ein Gläschen Dornfelder, seinen Lieblingswein, genehmigen. Und verbeugte sich dabei, als erweise er einer vornehmen Person die Ehre. Doch es war lediglich die Huldigung vor sich selbst, seinem Übermut, seinem Stolz. Schien er den Aufruhr seiner Hormone wieder fest im Griff zu haben? Und vor allem: Spürte Madame Bouffier das ebenfalls? Er nahm, wie in Kindheitstagen und manchmal noch heute, die Finger zu Hilfe, um zu zählen,wie viele Jahre sie ihm voraus war. Und wie erst an erdnaher Erfahrung oder gar an Einsicht! Natürlich geschah nichts ohne ihr fortwährendes Zutun. Mit dieser Erkenntnis fühlte sich Jacob unzertrennlich von ihr und hoffte, sie wären auch in künftiger Zeit eng beieinander und nicht teilbar. Das erstere war simpel. Da benötigte er nicht einmal die geniale Rechenmaschine aus der Zeit des Universalgelehrten Leibnitz geschweige das modernste Computergehirn. Doch Erfahrungen ließen sich nicht genauso exakt vermessen wie Gegenstände. Da war guter Rat teuer. Es zeigte sich erneut: Wenn es darauf ankommt, erfaßt man nichts oder nur selten etwas, mit dem man oder ein anderer etwas anzufangen weiß. Da hilft nur die Probe aufs Exempel, wenn nicht dröhnende Lautlosigkeit den Kopf beherrschen will bis zum letzten Atemzug. Von wem bedarf es dann nur einen zögerlichen Wimpernschlag, um sämtliche Lebensfunktionen erneut sprühen zu lassen? Jakob kramte nervös in seinen Jeans, dem verwaschenen und öfters von ihm selbst geflickten Statussymbol halbwüchsiger Keuschheit, fand endlich darin den knittrigen Zettel und begann, leicht nach vorn gebeugt, sich häufig unterbrechend und korrigierend, zu formulieren: Standhalten. Wie dunkle Schatten. hasten sie vorüber, die seit jeher mißglückten. und später gepfählten Leiber. unsäglicher Nachbarn. und so mancher Freunde. aus schneidigeren Jahren, da man noch imstande war, sich betörend zu streiten. in würdeloser Bitterkeit. Längst vergessen. unsere entgleisten Gefährten, die sich einst wohl fühlten. auf blumigen Streuwiesen, um erneut nachzugeben. arglistiger Leidenschaft. Gewidmet Madame Bouffier von Jakob, einem Dichterlehrling. Die Salonière bestaunte Jakobs, wie sie überzeugt war, tollkühne Verse. Durfte sie ihn, so fragte sie sich, einen außergewöhnlichen Günstling des Schicksals nennen, meinetwegen auch ein Sonntagskind, dem alles gelingt, wenn nur das richtige Ziel verfolgt wird? Und sollte es sich als notwendig und zugleich vorteilhaft erweisen, müßte sie Jakob gefällig sein. Und schob die Brauen zusammen, als wollte sie prüfen, was ihr ein beunruhigender Traum vorgespielt hatte. Waren sie nicht selbst, wie im Gedicht formuliert, jene dunklen Schatten, die an ihnen vorüberhasteten, jenes von Zwängen geschändete Antlitz? Dieser Jakob dürfte noch manche Bescherung präsentieren! Darunter auch diese und jene Chancen in ihren gemeinsamen Erlebnissen. Wo und wann aber würden sie furchtlos in die Offensive gehen? Er sah noch keine wirkliche Spur, auf der sie beide vorangekommen wären, sich weiterhin erfolgreich am Leben zu beteiligen. Und ohne hartnäckig wegzuschauen von den Streitigkeiten, die scheinbar immerfort aufloderten, wo völlig verschieden entwickelte Menschen miteinander umzugehen versuchten. Man kniff endlich die Augen zusammen, doch keine Minute verschwand der Ausdruck teilnahmsloser Geringschätzung. War nicht eigentlich die besagte Stunde gekommen, überlegte Madame Bouffier andächtig und wiederholte die Verlockung erneut, aber jetzt mit heiter klingendem C-Dur, den verführerischen Duft eines Kaffees zu inhalieren, gebrüht im alten, längst rissigen Keramikfilter aus Grandmamas Zeiten, in denen alles besser zu gedeihen schien, sich alles wohliger anfühlte, jedenfalls klüger als die triste Gegenwart? Sie visitierte Jakob, dabei ihre winzige Falte oberhalb der Nase allmählich besänftigend. Auch jetzt, bei einem trivialen Thema wie dem Genuß von Kaffee, konnte sie schwerlich davon ablassen, ihn aufzufordern, endlich klar Schiff zu machen, welchen Weg er für sich, für sie beide als einzig gangbaren halte. Er wollte sein Universitätsstudium vorantreiben und parallel dazu seine dichterischen Ambitionen, die zugegebenermaßen hochgeschraubt waren, künftig noch effektvoller betreiben. Jetzt endlich ahnte er, schwerelos zu werden, mit neuer Kraft für Sinn und Instinkt, für die wirkliche Anständigkeit im Leben, seine Würde und Tugend. Frei würde er sein wie selten. Nun endlich konnte er sich zwanglos geben, tun und lassen, was er wollte. Nicht wie andere, die stets versuchten, jedem ihre Tonart aufzudrücken. Als er das bemerkte, fühlte er sich mit einem Mal prächtig, schlief dann sogar im Sessel ein und blieb lange darin versunken. So hätte er die Welt mehrmals aushalten können bis ans Ende seiner Tage. So einig war er sich mit Madame Bouffier. Jakob jedoch gab sich plötzlich bejammernswert, und hinzu kam noch ein gewisses Achselzucken, das ihm hätte auf keinen Fall passieren dürfen. Nicht in diesem Augenblick, da er manches, aber keine Geste von Hilflosigkeit aus sich herauspressen durfte. Sehnsucht nach ihr, dem bezaubernden Wesen, schon! Und die wahrscheinliche Übereinstimmung der Gefühle mit ihr. Allerdings mit der Einsicht, daß eine zu große Nähe das Leben bestimmt komplizierter machen würde. Er mußte aufpassen, weder ins Zügellose noch in übertriebene Sanftmut abzugleiten. Dann müßte er den Mut haben, sich Notwendiges, was einen bedrückt und welche Zweifel man herausfordert, ehrlich ins Gesicht zu sagen. Er war überzeugt, daß alles schon ins Lot kommen werde, und atmete sogleich tief durch. Plötzlich fühlte er sich gut, als hätte er wohltuende Nachrichten empfangen. Da sah sie ihn stehen, die Fäuste entschlossen und trotzig ausgestreckt, mehrere Arten von Gesichtern probierend, bis er sich davon die gewünschte Wirkung versprach und gestikulierte, als wollte er den wachsenden Erschütterungen widerstehen. Doch jäh drängte es aus ihm hervor, ob denn wirklich alles einen Sinn habe, sich für irgendeine spektakuläre Idee abzurackern oder, schlimmer noch, gar zu opfern. Wem das zu abenteuerlich sei, der müßte sich eben von jenen ständig nagenden Zweifeln abwenden. Davon war er schlagartig überzeugt, als habe er nie etwas anderes gedacht oder denken wollen, daß es sich lohnt, für eine die Schöpfung bewahrende Idee alles, vor allem sich selbst, in die Waagschale zu werfen! Auch wenn sämtliche Mühen irgendwann oder zumindest zeitweilig vergeblich erscheinen würden. Er neigte sich zu Madame Bouffier, doch die wandte sich zur Seite, weg von Jakob, damit ihr Gesicht nicht dem seinen gefährlich nahe kam. Sie meinte nur, daß dieser Augenblick vielleicht ungeeignet sei, sich nahezukommen, um etwa ihre leiblichen Bedürfnisse zu intensivieren. Jakobs Lockenpracht geriet durcheinander, so heftig hatte er seinen Kopf geschüttelt. Sollte der Abstand zwischen beiden, aus welchem Grund auch immer, umfänglicher geworden sein? Segensreich fand er das beileibe nicht, doch künftig auch nicht als Hindernis. Jakob versuchte seine Augen vor den grellen Sonnenstrahlen zu schützen und zog die bieder aussehende Kopfbedeckung tief in die Stirn. Dann vollführte er eine leidenschaftliche Bewegung, als könnte er dadurch verhindern, was er permanent befürchtete: Plötzlich abwesend voneinander zu existieren, ohne daß er einen triftigen Grund dafür ausgemacht hätte. Dann zog er sich enttäuscht, total ermattet, zurück in den bequemen Sessel. War sie vielleicht in einer völlig anderen Stimmung als er? Zuletzt könnte man wenigstens partiell auskommen, wenn man nicht alles für bare Münze nahm, was man sich, vielleicht auch nur im Überschwange, gegenseitig beteuert hatte. Er wollte seine Fähigkeiten stabil machen, ihnen eine originelle Dynamik geben. Viel mehr war, so dachte er, einstweilen nicht möglich. Was er jetzt benötigte, war eine aufrechte Haltung, die er immer dann besitzen mußte, wenn er das Richtige zu entscheiden hatte. Jedes zusätzliche Wort kam ihm vor wie Schwelgerei, die man lieber vermeiden sollte. Dann wurde Jakob still und schwieg, als müßte er tief Luft holen. Aber zuvor dachte er noch an das kleine Gedicht. Ein Träumer sei er nicht, aber einer, der Träume verwirklichen möchte. Und kann! An einem Mittwoch, der sich zunächst durch nichts von anderen Wochentagen unterschied, empfing Madame Bouffier den für seine Landschaftsgemälde sattsam berühmten Josef Maria Krumbacher, den manche Zeitgenossen allerdings für ziemlich introvertiert hielten. Jedenfalls für einen, von dem manche seines künstlerischen Umfeldes stocksteif behaupteten, daß er seinen Ruf mit unlauteren Mitteln vorzüglich aufzupolieren verstehe. Madame Bouffier, die von den, wie sie empfand, schäbigen Spitzen gegenüber Krumbacher hörte, war jedoch in den Maler, mit dem sie gemeinsam die Akademie absolviert hatte, einst selbst verliebt gewesen und ließ sich auch gegenwärtig von keiner noch so abfälligen Schmähung des Josef Maria Krumbacher negativ beeinflussen. Im Gegenteil, sie stand zu ihm in aller Öffentlichkeit und ließ keine Chance verstreichen, sein Können zu würdigen. Für den Empfang des Malerfürsten, wie sie ihn vor aller Augen nannte, hatte sie ein bis an die Knöchel reichendes weißes Kleid ausgewählt, das ihr, wie ihr Salonmitglieder immer aufs neue beteuerten, besonders gut stehe. Eine um den Hals gelegte Perlmuttkette ergänzte die aufsehenerregende Erscheinung der eleganten Frau, die mit diesem Zierrat als erfolgreiche Salonière vollends zur Geltung kam. Und sie glaubte es wohl auch gern selbst, daß man auf diese Weise klassisch zu empfehlen war. Dann kam er tatsächlich vorgefahren. In einem Mercedes mit heruntergeklapptem Oberdeck. Als er sich endlich aus dem Cabriolet gezwängt hatte, präsentierte er ein ungewöhnlich heiteres Gesicht. Ein Antlitz, das von einem silbrig durchzogenen dunklen Backenbart und einer großen, charakterstarken Nase beherrscht wurde wie auch seine wuchtige Gestalt nicht ihre Wirkung verfehlte. Einen Strauß aus rotem Klatschmohn und blauen Kornblumen umklammernd, überreichte der Gast der von ihm sichtlich vergötterten Salonière Madame Bouffier galant sein Geschenk. Er zeigte hierbei eine Gewandtheit, die nur derjenige aufbringen kann, dem es daran nicht mangelt. Und doch: Niemand erinnerte sich, jemals ein derart nachsichtiges und zugleich Bedürfnislosigkeit ausstrahlendes Gesicht wahrgenommen zu haben. Ein gesellschaftliches Ereignis begann stattzufinden, das eine gewisse Neugier voraussetzte. Schon am nächsten Tag versicherte er, zu seiner charmanten Freundin Madame Bouffier gewandt, er sei bereit, mit dem Dachspinsel die für ein Porträt notwendigen Probeskizzen anzufertigen, sich ihr, rein künstlerisch gesehen, zu nähern. Wofür er sich lange genug vorbereitet habe, und er werde sich ihren Wünschen, fügte er eilig hinzu, anzupassen verstehen. Nun jedoch liege es an ihr, er verneigte sich dezent in Richtung der Salonière, das Format der Leinwand festzulegen, auf der Krumbacher sie in Couleur festhalten wolle. Für die Ewigkeit. Es verstehe sich von selbst, fügte er sanft lächelnd hinzu, nach dem neuesten Modeschrei. Ohne durchblicken zu lassen, worauf genau er hinauswolle. Eins verrate er allerdings, er werde ihren Kopf dorthin setzen, wo er hingehört: ganz nach oben. Denn unten kopfüber zu hängen habe er nicht verdient. Diese Art bringe zwar eine Menge Zaster, habe jedoch in seiner Kunst nichts verloren. Einen Moment herrschte beängstigendes Schweigen, ehe manche der Umstehenden in lautes Lachen und Gekicher flüchteten. Man hatte seine Anspielung offensichtlich genau auf den Punkt verstanden. Madame Bouffier, versicherte er, gegenübersitzen zu dürfen, um sie zu porträtieren, sei für ihn eine großartige Herausforderung, an die er früher nicht zu denken gewagt hätte. Jetzt aber, wo sein Name einen meßbar erhellenden Klang, trotz gelegentlich diffamierender Akzente, besitze und sie, er faßte demonstrativ Madam Bouffiers Hand und zog die Salonière an sich, in der gegenwärtigen Kunstszene eine kaum zu übersehende Rolle spiele, würden sich beide, unbehelligt durch Mißklänge und Eifersucht seitens der Konkurrenz, zu noch höheren Leistungen ermuntern dürfen. Ohne Werteverlust und Einsamkeit. In einer launischen, nicht selten neidgeprägten Gesellschaft, bereite er schon heute den gemeinsamen Auftritt vor, indem er für Madame Bouffiers erst noch in Angriff zu nehmendes Porträt, auf großflächige Leinwand gebannt, einen würdigen Platz in der nächsten Kunstausstellung auszuhandeln versuche. Zumindest hoffe er, mit seinem Kalkül gedeihlich zu sein! Dafür müßten unverzüglich entsprechende Fakten geschaffen werden. Immer dann, wenn er die Fassung zu verlieren schien, streifte er den großen, blauen Diamanten von seinem rechten Mittelfinger, drehte und begutachtete ihn, als könnte er durch diesen einfachen Trick seine ansteigende Unruhe verbergen und eine Rast einlegen. Tatsächlich atmete er bald schon gleichmäßiger und geriet wieder in seine alltägliche Fassung. Kurzerhand probierte er mehrere Arten von Gesichtern. Fand aber kein passendes darunter, mit dem er gewinnen könnte. Schöpfergeist, durchflog es ihn, kann man nicht genügend besitzen, wenn man in wichtigen Dingen am Hebel sitzen will oder ringsum hineinzureden vorhat. Ein Versuch, das wußte er, der nicht redlich funktionierte wie in früher Zeit. Und schließlich doch: „Wir beide kriegen das schon hin“, wandte er sich mit einem Lächeln Madame Bouffier zu, „das mit dem Porträt in der Landesausstellung. Wer denn sonst, wenn nicht Sie!“ Und er wette eins zu hundert, daß es gelingen werde. Das klang opferbereit, allerdings auch gebräuchlich, als wollte er unbedingt erkennen lassen, für ihn sei ein solches Hindernis nicht tatsächlich riskant. Da müßten schon gewaltigere Ereignisse geschehen, die ringsum alles erschütterten. Er schaute vielsagend zu Madame Bouffier und ignorierte mit diesem Blick ihre nicht gänzlich unschuldige Fleischlichkeit. Und dachte jetzt an jenen sich lange hinziehenden Tag, den von ihm zufällig aufgefundenen Vers, dessen Urheberschaft er bisher noch nicht ermittelt hatte. Und fragte sich, was man anfangen wolle mit seinen Händen, wenn sie irgendwann nichts mehr auszuteilen haben? Er blickte mit ernster Miene um sich, als habe er etwas nicht Alltägliches zu verkünden, was Madame Bouffier ein Rätsel aufgab, ehe der Maler Josef Maria Krumbacher mit ungewohnt leiser Stimme vorzutragen begann: Schwerblütige Celloklänge. Wieder einmal der Tod flaniert. mit lüsternem Schritt. durch grünende Auen und Felder. oder witzlose Schlafghettos. Sein schwerblütiges Cello. fährt einem jeden von uns. sterbensscheu unter die Haut. Nichts wird nachhallen. vom süßen Honigmond. aus duftigem Blütenzauber, wenn er zuschlägt unverhofft, dich beseligend dabei anzulächeln. und heim zu tragen ins Tal. verläßlichen Schweigens, wo der letzte Blick. schon dem anderen gehört. Madame Bouffier spürte, wie es ihr zunehmend schauderte und wie sie dagegen ankämpfte. Sie versuchte, tiefgründig einzuatmen. Und erneuerte diesen zeitraubenden Vorgang. Es schien, als ob ihr das Sprachvermögen, wenigstens für einen Moment, verlorenzugehen drohte. Sie zog die schmalen Brauen hoch und ließ es dabei, als ob sie die Erstarrung gar nicht mehr beenden wollte oder konnte. Das Gedicht jedenfalls hatte sie ergriffen. Was aber, wenn das Gedicht überhaupt nicht aus Krumbachers Feder stammte? Sie schnitt eine Grimasse, wodurch ihre schönen weißen Zähne aufblitzten. Das beginnende Zittern ihrer Knie ließ sich nicht mehr verhindern. Der Text jedenfalls hörte sich an, als ob nicht der Maler, sondern Jakob dahintersteckte als der eigentliche Urheber. Zumal die Worte und der Rhythmus nach gleicher Art und Weise verfaßt waren, wie sie es von Jakob kannte. Sie glaube jetzt, sagte Madame Bouffier zu Krumbacher hingewendet, als ob sie noch gewisse Zweifel hegte, daß es von Jakob stamme, das mitten in einem Buch ihrer Hausbibliothek entdeckte Gedicht! Krumbacher zeigte sich aufgewühlt. Sein rechtes, warum auch immer blutunterlaufenes Auge zuckte nervös, bevor es sich zeitlupenartig schloß, da er vollständig sichergehen wollte, daß er alles wahrnahm, was um ihn herum geschah. Und er nichts davon überhörte. Strich mit Daumen und Zeigefinger seinen graumelierten, etwas vernachlässigten Backenbart entlang und fragte mehr sich selbst: Jakob als Urheber der „Celloklänge“? Krummbachers Stimme hatte jetzt einen sonderbar eingefärbten Klang, als konnte er sich damit nicht abfinden: „Dieser Schönling ein Dichter?“ Der Maler schüttelte energisch den Kopf, wobei sein ganzer Körper bebte. Den an seiner Brust hängenden „Bayerischen Verdienstorden“ sah er plötzlich in einer Schieflage. Bei genauerem Hinsehen bemerkte er mit einem gewissen Erstaunen, daß dieser Orden, den er so stolz mit sich herumtrug, nicht einmal perfekt ausgeführt war. Es bestätigte sich wiederum, daß der Mensch auf Weitläufigkeit trifft, wenn er eigentlich Abkürzungen sucht und für unentbehrlich hält. Und manchmal Wahrheiten, die im Leben eher den Schein suchen, den immerfort ruhigen Fluß, ohne gefährliche Schwingungen, damit sie nicht endgültig in Eigennutz und Mißgunst verfallen. Was für Pläne, gestand sich Krumbacher ein und war schließlich verdattert, welche Angelegenheiten sich die Menschen vornehmen und was letzten Endes davon übrig bleibt „Es mutet vielleicht etwas aus der Reihe gegriffen an, aber ich wollte Sie schon längst zu unserer jährlichen Großwildjagd einladen. Dabei könnte man sich näherkommen.“ Der Maler Krumbacher zeigte sich überrascht. Seine mächtigen Augenbrauen hüpften kummerlos hin und her. Mit einer solchen Geste hatte er nicht gerechnet, war aber sofort einverstanden, weil er außer dem Jagdvergnügen auch an verwertbare Skizzen dachte. Diesen wollte er dann den letzten Schliff geben. Im heimatlichen Atelier versteht sich, umgeben von unverzichtbaren Gewohnheiten. Allerdings, so hatte er einzuwenden, wolle er sich noch ordentlich zurechtstutzen, das heißt waidmännische Tracht tragen. Nicht zuletzt den Lederwams und den Filzhut mit einem prächtigen Gamsbart! Das mindeste, was in Bayern, aus dem er ja bei Gott stamme, zu einer löblichen Jagdausrüstung gehöre. Gesagt getan, zwei Wochen später fand er sich mit noch anderen Jagdherren im Friedewald ein, wo man sich zu sechs Uhr früh verabredet hatte. Sogar ein Kavalier alter Schule war angereist, der von den Waidgenossen ehrfürchtig mit „Herr Graf“ begrüßt wurde. Obwohl es lange schon keine Monarchie mehr gab und damit auch keinen Herrn, der sich mit „Graf“ betiteln ließ. Doch der Gentleman war leutselig und legte offenbar nicht allzu großen Wert auf ohnehin fragwürdige Etiketten. „Darf ich helfen beim Ablegen der Jacke?“, bot er einem der Herren in der Runde an. „Ist wohl doch zu warm für diese frühlingshafte Sonne?“ „Danke Ihnen vielmals, Herr Graf, zu gütig“, erwiderte der angesprochene Waidgenosse seelig und, bevor er sich leicht verbeugte, wechselte er plötzlich die Gesichtsfarbe. „Danke bestens“, sagte er nochmals, verunsichert durch die erstaunt blickenden Jagdfreunde. Der Graf, dem der zunehmende Trubel eher störte, vollführte eine abwehrende Handbewegung. Es gehe ja in diesem Leben um wichtigere Dinge „Mir sans ja heutzutage doch irgendwie alle gleich“, klärte er weiter auf und vergaß, daß er sich in Gesellschaft hochdeutsch artikulierender Waidgenossen befand. Strahlte dabei übers ganze Gesicht, das, von nahem betrachtet, einen Stich ins Rohe offenbarte. Man müsse nicht weinerlich einander in die Arme fallen, nahm er seine Rede wieder auf, als sei man brüderlichen Blutes! Eine gewisse Distanz sollte jedoch stets gewahrt bleiben. Den Neureichen mißtraue er ohnehin. Nur die beglaubigte Ahnentafel bezeuge echten Adel. Dabei lächelte er Grambacher an, den neben ihm schreitenden Maler, als wäre er ein seit Jahren vertrauter Duzfreund. Dem aufmunternd zugekniffenen rechten Auge fehlte nur das Monokel, um früheren Glanz zu beschwören. Hätte er herausfiltern können, was der im gleichen Moment seinem Jagdnachbarn zuflüsterte, nämlich ob der Graf denn von allen guten Geistern verlassen sei. Der koche doch auch nur, wie Erdenbürger jeden noch so vornehmen Standes, mit Wasser, vielleicht gar auf dürftiger Flamme! Es gebe dennoch keine identische Augenhöhe zwischen ihnen, zwischen denen, die in einem sogenannten besseren Hause in Windeln gesteckt wurden und denen von ganz unten. Es bliebe immer eine nicht zu übersehende Spur von Verachtung und Widerwillen zwischen den Menschen, wie zugeneigt sie auch äußerlich miteinander verkehrten, wenn es nicht bloßes Schweifwedeln sei. Als ob er ihm oder einem der anderen Waidgenossen einträchtig in die Arme fallen wolle. Ohne viel zu überlegen murmelte er vor sich hin: „Auch einer wie der geht bloß auf den Abtritt, wenn es ihn zu stark drückt.“ Weitere Finessen in diese Richtung ersparte er sich. Bloß nicht abgleiten in Frivolitäten, sich gar noch zum seichten Wortklauber erniedrigen. Ein rasch absterbendes Hohngelächter folgte. Er hatte nichts nötig. Und blieb in seinem Blickfeld keinem etwas schuldig. Grambachers Jagdnachbar schnaufte wie jemand, der mit irgendetwas unzufrieden war, doch zeigte er sich nicht launisch oder gar entrüstet, was nicht verwunderlich gewesen wäre, plagte er sich doch mit seinem aufgedröselten Schnürsenkel, statt sich etwa in philosophische Gespräche einzulassen oder gar zu vertiefen. Anscheinend wollte er mit seiner Gangart zunächst einmal für soliden Schritt und Tritt sorgen. Durfte sich ihm da einer der hochgepriesenen Schnürsenkel verweigern, wenn die Schuhe fest geschlossen bleiben sollten? Verdutzt fragte sich Grambacher, wie man denn Nächstenliebe ausüben will, wo gegenwärtig doch jeder nach Kräften versucht, sich abzugrenzen. Er jedenfalls wollte solid bleiben, das ergründen, wodurch Unzerstörbares gelingt. Auf Dauer wäre damit wohl nicht wirklich voranzukommen. Gleichwohl sei man nicht auf dieser Welt, um wie ein Roboter zu funktionieren! Er möchte, falls nötig, dagegen sein dürfen, gegen das, was andere wollen, sich jedoch nicht trauen, weil sie fürchten, auf diese Weise keine Gewinne zu machen oder streng geheiligte Privilegien für immer zu verscherzen. Und er möchte Wein oder, wenn es sein muß, klares Wasser trinken dürfen, damit sich jede Ader erfrischt und es in der kleinsten Verästelung zu spüren ist. Er möchte schreien dürfen, so leise, daß es endlich einmal nicht nur er selbst hören und verstehen kann, sondern alle in seinem Umfeld. Vor allem diejenigen, die nicht nur mit aalglatten Gemeinheiten unterwegs sind. Eine tiefe Erkenntnis, bei der Momente auftauchten, in denen er sich glücklich wähnte. Er hatte sich aufgerichtet und fühlte, heute könnte ihm alles, was er sich auch vornahm, ohne Schuld gelingen. Da klingelte Mozarts Nachtmusik unmittelbar neben seinem empfindsamen Ohr. Das gottverdammte Handy!, schrie es in ihm. Er tastete unschlüssig, doch behutsam in seiner Hosentasche und glaubte, als er das Handy nicht gleich angeln konnte, er sei zwar einigermaßen bedürfnislos, aber nicht unbedingt ein Technikfreak. Da machte er sich nichts vor. Mit dieser Klarheit würde er niemanden ins Verderben stürzen. Im Gegenteil, er konnte jeden Wipfel bezwingen, wann immer er es für notwendig hielt und wäre nicht abgeneigt gewesen, anderen helfend die Hand zu reichen. Ausgestattet mit diesen Fähigkeiten, konnte Grambacher sein Haupt erheben und zugleich bestürzt sein über den noch vielerorts gepredigten Haß, der am Ende leichtfertig zum Gewehr greift und die einmal angezettelte Schlacht nicht mehr stoppen kann. Und er brachte es außerdem noch fertig, jedem Gernegroß entgegenzutreten, bis der vor ihm devot lächelte. Voller Enthusiasmus entnahm er seinem Nadelstreifenjackett eine Zigarette, drehte sie unschlüssig zwischen Daumen- und Zeigefinger, dachte allerdings nicht daran, sie anzuzünden. So blieb es auch diesmal, wie meistens, nur bei einer symbolischen Geste. Doch würde er seinem Vorsatz treu bleiben und die immer wiederkehrende Versuchung niederhalten? Er mußte abwarten, ob sein Charakter stabil blieb. Hätte er die Zigarette doch angezündet und den rauchigen Dunst genüßlich in die Luft gepafft oder, vielleicht noch klüger, eingezogen, dann wäre die Hornisse nicht plötzlich gegen seine geschliffenen Brillengläser gestoßen, in denen sie einen passenden Landeplatz wahrgenommen haben mochte und sich schließlich sogar festsaugte. Auge in Auge mit dem ängstlich dreinschauenden Grambacher. Er empfand jetzt im Kopf ein zunehmendes Vakuum, das er stets dann bemerkte, wenn er sich gefährdet sah. Doch beim genaueren Hinsehen blickte er in die Facettenaugen eines fast zutraulichen Insektes, das schon Anstalten machte davonzuschwirren, als hätte es im letzten Moment gerade noch erfaßt, wie der unheilbringenden Tuchfühlung mit einem Kraftpaket zu entkommen sei. Denkbar letzte Rettung: abwehrend die Hände auf dem Rücken verschränkt wie Beethoven im Zorn oder dieser Weltbürger Goethe in seinem wahrscheinlich durch Gicht oder andere Schmerzen erzwungenen und zugleich bespöttelten hoheitsvollen Habitus. Sollte man erst dermaßen blockiert sein, um sich ein als stolz oder eher wohl arrogant zu bewertendes Gebaren aufzupfropfen! Da stellte sich ihm erneut die heikle Frage: Sind wir Menschen eigentlich stets das, was wir vorgeben zu sein? Er mußte wieder an diesen unangenehmen Situationen ausweichenden Goethe denken, der sich vielleicht nur um seiner selbst willen nicht durchzuringen vermochte, Christiane Vulpius, seit 1806 Gattin des Weimarer Staatsministers und Geheimrates, an ihrem häuslichen Krankenlager Am Frauenplan aufzusuchen und dringend erforderlichen Trost zu spenden. Und war doch nur drei Zimmer entfernt von den gräßlichen Koliken, die zu beobachten und anzuhören ihm nicht zumutbar waren, ohne daß sie etwa der eigenen Seele und seiner dichterischen Schöpferkraft ernsthafte Verluste hätten zufügen können. Sich leichthin die Finger zu verbrennen war nicht sein Ding. Schließlich kränkelte er selbst, wie auch damals, als er sich bei der Nachricht von Schillers Tod als bettlägerig, gemeinhin als unpäßlich zu erkennen gab, ohne verzichten zu können, diverse Vorgänge unter ihm auf der vorbeiführenden Straße hinter der Gardine zu beobachten. Oder war es am Ende doch seine ihm geläufige Art von Rücksichtnahme, die unser davon und so leicht niedergeschlagener Goethe benutzte, um Christiane, die geliebte, ehrliche Seele, in möglichst selbständiger Willensfreiheit und damit Erinnerung bewahren zu können? Was also zählt in diesem einzigen Leben, das schließlich von anderen Menschen abhängig zu sein scheint? Und wenn sich dabei das Liebste befindet! Mit lässiger Handbewegung wischte Grambacher, der Maler aus dunklen bayerischen Wäldern, jeden auch nur geringsten Zweifel an seinem vermeintlich unbestechlichen Charakter vom Tisch. Warum, fragte er sich, sollte ausgerechnet er seine geradlinige Richtung ändern, wo er doch noch viel Kluges auf den Weg zu bringen hoffte? Alle reden vom Wir, und er hatte dabei ausgesehen, als wolle er sich davonmachen, aber wohin? Ihm stimmte fast jeder zu, aber alle meinten doch nur sich selbst, die eigene Firma. Man bräuchte Dutzende gescheite Köpfe, um sich allerorts in wichtige Vorgänge einmischen bzw. mitzureden zu können. Kein Wunder, daß die Phrasen, wo unterschiedlichste Empfindungen und Geistesrichtungen auszuloten sind, nur so rieseln, damit endlich die richtige Kurve gelingt. Daher solle niemand so tun, als sei das ganze bißchen Leben nichts als ein lästiger Zeitvertreib, bei dem man jede beliebige Figur tanzen läßt bzw. kaltblütig austauscht. Dennoch sollten wir nicht nach jedem Strohhalm greifen, den uns zufällig ein Lüftchen an die Füße weht. Wer permanent der Gerechtigkeit nachläuft, einem naiven Bild, erkennt irgendwann, aber oft zu spät, daß sie nicht zu erreichen ist. Denn selten bleibt der Paradiesapfel von Würmern unbeschadet, weil wir Menschen nichts oder zu wenig dagegen tun, uns aber oft untauglich machen, notwendige Veränderungen vorzunehmen. Da stürzte er während des Gesprächs unvermutet über eine knorrige Wurzel. Schuld daran war sein hinkendes linkes Bein. Allerdings hatte der Sturz auch Nutzen. Von allen Seiten eilten plötzlich mehrere der Jagdbegleiter herbei, boten ihm, dem plötzlich Gestrauchelten, jede mögliche Hilfe an und bastelten bereits an einer tragfähigen Bahre, auf die sich der schwergewichtige Maler legen mußte. Zuvor aber verneigte sich Krambacher noch zu den Männern hin. Es tat ihm gut, sich derart umsorgt zu fühlen. Eines Morgens, die Sonne stand schon ziemlich hoch, da entschloß sich Babette, den Klingelknopf an der Eingangstür des Landhauses der Bouffiers zu drücken. Doch nichts rührte sich, da pochte sie schließlich mehrmals hintereinander. Als auch das nicht half und sie schon den Rückzug hatte antreten wollen, öffnete Jean-Claude, der Hausherr, der ein über die Maßen erstauntes, ziemlich kleines, nicht eben mehr reizvolles Weib vor sich wie angewurzelt sah, das er mit eher ablehnendem Blick für eine alte Jungfer hielt. Und nicht wußte, wohin er sie bloß stecken sollte. Da behauptete die Alte, noch ehe Jean-Claude ein Wort hervorbringen konnte, mit Augenzwinkern, eine leibliche Tante von ihm, dem männlichen Zweig der einst hochwohlgeborenen Familie Bouffier, zu sein, korrekt gesagt seine Großtante. Doch zugleich auch die jüngere Schwester der leider schon dahingegangenen Großmama. So stand sie mit erhaben geformter Nase und skeptisch hochgezogenen Brauen wie eine Verehrung erheischende Vertraute ihrem vermeintlichen blutsverwandten Jean-Claude gegenüber. Der glaubte, das von unzähligen Fältchen gezeichnete Antlitz der Großtante in seinem Leben noch nie gesehen zu haben, bat schließlich das völlig unerwartet aufgetauchte neue Familienmitglied ins Haus. Sie wäre doch sicher erschöpft von den Strapazen der Reise, habe Hunger und Durst. Und da sie bestimmt recht müde sei, würde man ihr selbstverständlich das Gästezimmer anbieten. um sich aufs Ohr legen und ein wenig ausruhen zu können. Doch zunächst schlage er ihr vor, ein ordentliches Mittagbrot einzunehmen. Vielleicht sei ihr eine Portion Schweinebraten mit Knödel willkommen? Die Leibspeise der Bayern habe seine Frau, als wäre ihr eine Ahnung zugeflogen, bereits in die Backröhre geschoben. In wenigen Minuten stünde alles auf dem Tisch. Aus welcher Ecke des Landes sie jedoch in diese ihr unbekannte Gegend gefunden habe und wieso ausgerechnet heute, wollte er noch, und das mit aller Behutsamkeit, erkunden. Zunächst aber überließ man ihr im Südflügel des Landhauses das lauschig ausstaffierte Gastquartier, um dort für die nächsten Tage, an einen längeren Aufenthalt dachte er vorerst nicht, logieren zu können. Da sich die Bouffiers, gab Jean-Claude freimütig zu, ohnehin schon lange nach einer erfahrenen Gesellschafterin umgesehen hatten, bislang jedoch vergebens, wäre Tante Babette so etwas wie ein unerwartetes Geschenk des Himmels. Daher hoffe er, sie möge das Angebot nicht ausschlagen. Freilich wäre zu raten und zu überlegen, ob ihre Kraft ausreiche für die nicht leicht zu besorgenden Aufgaben, die in einem großen Haushalt anfallen würden. Daß man von Babette, ihre fortgeschrittenen Jahre erwägend, nicht zuviel verlange, werde selbstverständlich beachtet. Babette nickte erfreut, verwies jedoch zugleich auf ihren gekrümmten Rücken, wodurch ihr manche Tätigkeit verständlicherweise schwerfalle. Männer dagegen, sagte sie und lächelte, hätten seltener einen Witwenbuckel, was von großem Vorteil sei. Doch wenn es gelte, hart anpacken zu müssen und darum nicht viel Federlesens zu machen, habe sie von Kindheit an sich vor keiner Arbeit gescheut oder gar gefürchtet. Man werde künftig die verbliebenen Kräfte eben gewinnbringender einteilen. Mit einem humoristisch gefärbten Blick ließ die Großtante den Großneffen wissen, daß sie ihre neue Herausforderung gern annehme. Es freue sie, wie es ihr gelingen werde, jede übernommene Aufgabe zu erfüllen. Schonung beanspruche sie nicht, denn in ihren Adern, sie hob die rechte Hand wie um das Gesagte zu bestätigen, stecke noch immer die Urwüchsigkeit eines alten Geschlechts. Blaßwangig stand sie da, lächelte und ließ dabei herausfordernd ihre Augen blitzen. Dann bot sie dem erstaunten Neffen ihre knittrige Wange zum Kuß. Eine zwischen Verwandten übliche Geste, die er auszuschlagen sich nicht leisten wollte. Da bereits die Mittagsstunde schlug, wandte sie den Blick vom Großneffen ab, der sich mit einer stoischen Ruhe wappnete, obwohl Schweißtropfen in dünnen Rinnsalen von seiner Stirn rannen. Das plötzliche Auftauchen der ihm bisher völlig unbekannten Großtante väterlicherseits mußte für ihn, den sensiblen Künstler, wohl ziemlich erschöpfend ausgefallen sein. Noch ein gebieterischer, unaufhaltsamer Trippelschritt, und Babette setzte ihre Füßchen auf die saubergescheuerte Schwelle des Landhauses der Bouffiers, denen zugehörig zu sein ihr ein zufriedenes Lächeln gab. Und es schien ihr zugleich, als habe sie heute nicht das erste Mal dieses Landhaus betreten. Ja, sie fragte sich sogar, ob sie hier nicht schon als junges Mädchen ein- und ausgegangen war. Und so hoffte sie jetzt auf liebevoll begleitende Gesichter, die sie ermutigen könnten, allen um sie herum freundlich entgegenzutreten. Aufgesetzte Attitüden und verzerrte Tonarten würde sie nicht befürchten müssen. Madame Bouffier zeigte sich, als sie von der Geschichte erfuhr, eher bekümmert als ernstlich betroffen. Da besaß Jean-Claude tatsächlich noch eine Großtante, von der man bisher nicht die geringste Ahnung besaß. Denn eigentlich hatte sie nie eine mögliche Verwandtschaft Jean-Claudes interessiert und deshalb zu keiner Zeit darüber nachgedacht oder auch nur ein Sterbenswort verloren. Wenn sie ehrlich war, dann wollte sie auch keinen Faden spinnen zu dieser ihr fernstehenden Großtante von irgendwoher, die barsch sagte, daß man sich eben an sie zu gewöhnen habe wie an ein wohl noch brauchbares, jedoch schon altes Möbelstück. Immerhin sei ihr Blut mit dem von Jean-Claude artverwandt. Das klang so, als wollte Babette sich in ihrem Landhaus einrichten, für längere Zeit oder wenn nicht gar für immer, ob es ihnen paßte oder nicht. Es fehlte aber der plausible Grund, Madame Bouffier eine Abneigung gegen Babette anzuhängen. Doch nun war Großmutters einzige Schwester, die mit ihrem von einer Narbe beeinträchtigten Gesicht bedrohlich wirkte, unerwartet in ihrem Domizil. Und sie, die Bouffiers, hatten sich, wohl oder übel, zunächst mit Babettes hoffentlich kurzer Gastrolle abzufinden, mit ihrer leisen, auf sonderbare Weise geheimnisvollen Stimme. Und obwohl sie eine Frau in vorgerückten Jahren war, verstand sie es noch trefflich, sich in wichtige oder auch nebensächliche Gespräche einzumischen, wenn es ihr half, am Leben, an der Welt, aktiv teilzunehmen. Ihr war es bitter ernst damit, für ganz und gar wichtig genommen zu werden. Ob sich Babette fremd oder gar trostlos fühlen würde in der idyllischen Abgeschiedenheit des Wohnsitzes ihrer Verwandtschaft, zu der sie ja nun offensichtlich gehörte und erste haltbare Fäden gezogen hatte trotz ihres schwachen Altweibergeruchs! Nun könnten schöne Zeiten kommen. Längst war die Sonne tief hinter den Horizont gesunken, als Babette endlich beschloß, auf dem liebsten Möbelstück wohlig ihre Glieder auszustrecken. Todmüde von der, wie sie sich eingestand, ziemlich ermüdenden Expedition zurück an den Ursprung der Jugend, hörte sie plötzlich von irgendwoher einen lange nachhallenden, kräftigen Hahnenschrei. Ob aus der unmittelbaren Nachbarschaft, war nicht genau zu ermitteln, so sehr sie sich auch beeilte, das Fenster zu öffnen und sich herauszubeugen. Der wilde, gräßliche Schrei des Hahnes galt vielleicht der verlorenen Braut, die vom Bussard geschlagen worden war. Aber vielleicht wollte sich der stolze Despot mit diesem zornigen Gebaren einfach nur Luft verschaffen, ohne etwas rückgängig machen zu können. Das prompt folgende Echo seiner Artgenossen schien ihm Genugtuung zu geben. Oder war es der ganz banale Versuch, sich als Souverän eines duldsamen Hühnervolkes zu offenbaren? Babette unterdrückte ihr Aufbegehren gegen das schroffe Unterbrechen der ihr heiligen Ruhe, schloß ihre längst ermüdeten Augen und begann schon auf den bald dämmernden Morgen zu lauern, der sie hoffentlich wieder mit neuem Schwung erfüllen würde. Darauf vor allem war sie gespannt. Anderes würde sich finden. Für sie jedenfalls begann ein neuer Lebensabschnitt, von dem sie freilich nicht wissen konnte, und vielleicht auch nichts erfahren wollte, wie er im einzelnen ablief. Doch vorläufig ging einem die neu erworbene Verwandtschaft nicht aus dem Sinn. Jetzt war ihr Mienenspiel, ehe sie das Bettzeug mit Hilfe ihrer altmodischen Brille sorgfältig beäugt hatte und schließlich hineinschlüpfte, ausdrucksvoll geworden, trotz des schütteren, streng gescheitelten Haares. Energisch wollte sie auch künftig ihre Privatsphäre schützen. Vor allem gegenüber dem Clan und auch möglichen Besuchern, die im Domizil ihres Großneffen und seiner Gattin offenbar freizügig ein- und ausgingen, als gehörten sie wie selbstverständlich zum engsten Familienkreis. Schon der Konzerte wegen, die regelmäßig im Landsitz stattfanden. Sie leckte über die schroffgespitzten Lippen und vergaß auch nicht, ihre Zähne, von denen sich eigentlich nur Restbestände noch zeigten, mit einer Taschenlampe nach sichtbaren Schäden abzusuchen. Dann drehte Babette an diesem spät, eigentlich zu spät gewordenen Abend, was ihr unbedacht vorkam, ein weiteres Mal den Kopf behutsam zur Tür hin, um möglichen Geräuschen zu lauschen. Da sie nichts vernahm, folgte sie noch ein Weilchen dem hurtigen Zeiger ihrer goldenen Armbanduhr und stieg endlich, ohne vorher die perfekt eingeübten Gebete für Nahestehende zu vergessen, ins bereits aufgeschlagene Bett. Todmüde von einem, wie Babette absolut glaubte, schicksalhaften Tag, der sie wesentlich mehr Energie gekostet hatte, als sie ihren Jahren eigentlich noch zumuten wollte. Trotzdem verließ sie noch einmal, obwohl bereits die Nachthaube tragend, ihr Bett. In den Wollsocken, die sie wegen der immer ein wenig kalten Füße sommers wie winters trug, huschte sie lautlos, als befürchtete sie, jemanden aufzuschrecken, ans Fenster, um die elektrisch steuerbaren Rollos herunterzulassen, damit das helle Mondlicht nicht ins Zimmer gelangen konnte. Denn nichts war ihr widerlicher, und das seit Kindheitstagen, als nachts im Schlaf durch große Helligkeit oder Lärm gestört zu werden. Nach wenigen Minuten war sie eingenickt, ohne daß sich der Bonbonrest zwischen ihren Händen gelöst hatte. Frühmorgens, da sie aufzustehen begann und ihrem üblichen Rhythmus folgte, vermochte sie sich an keinen jener sich endlos hinziehenden Träume zu erinnern, als wäre ihr gut funktionierendes Gedächtnis in dieser kurzen Nacht schlagartig gelöscht worden, wodurch sie jedes Mal in Angst geriet, der sie, gegen die Bettkante trommelnd, zu entkommen versuchte. Meistens nur mit geringem Erfolg. Babette preßte den Mund zusammen, eine spärlich dünne Öffnung, und seufzte, da jede Mühe, die lästigen Fältchen ringsum zu straffen, vergeblich war. Diese Welt, das erkannte sie deutlich genug, ließ harmonische Gesten immer seltener zu. Sie richtete sich endgültig auf, was ihr nicht ohne weiteres gelang, denn das rechte Bein war durch einen an sich harmlosen Fehltritt von der Leiter des Bibliothekszimmers noch geschwollen und dazu bläulich verfärbt. Genügend Zeit, sich die krummen Zehennägel wieder einmal zu betrachten und notwendig erscheinende Korrekturen vorzunehmen. Für eine Dame, die wußte, worauf es im gewöhnlichen Leben ankam, auch in ihrem Alter keineswegs unwichtig. Dann griff sie nach einer Juno, deren Filter allerdings irgendwo geblieben war, steckte sie in eine lange silberne Spitze, nahm das kupferne Feuerzeug und zündete die Zigarette an, von der eigentlich nur noch ein Stummel übrig war, den sie tags zuvor in den Aschebecher gedrückt hatte, und begann ihn zu Ende zu rauchen wie jemand, der genug Anspruchslosigkeit in sich trug. Genau wegen solcher Eigenschaften, dachte sie zufrieden mit sich, überkommt uns Menschen weniger Langeweile. Denn nichts ist verläßlicher als ein fortwährender Tapetenwechsel, der beträchtliche Möglichkeiten besitzt, indem wir Menschen uns zunächst gemeinsam wundern, dann uns gnadenlos niederzwingen und endlich lähmen. Sie entnahm dem Kleiderschrank eine zwischen der feinen Unterwäsche verborgene hellbraune Cognacflasche, streckte die müden Glieder aus, als wäre sie noch gern ihren Gedanken nachgewandert. Aber worüber hätte sie sich den eigenen Kopf zerbrechen sollen? Und das zu dieser späten Stunde, also fast um Mitternacht? Sie schloß die Augen und versuchte, es sich auf der rechten Seite des Bettes bequem zu machen, weil sie dadurch schmerzfreier liegen konnte. In der linken Hand eine weiße Schachtel, ihre Herztabletten für den hoffentlich nie eintretenden Notfall. Allerdings fehlte ihr der kleine Hampelmann, den sie in ihrer alten Wohnung stets neben sich im Bett geduldet hatte und der jetzt irgendwo einsam liegen und verstauben würde. Sie machte noch einen letzten kräftigen Zug an der Juno und räusperte sich danach schrecklich, wie immer, wenn sie ihrem Drang nach einer Zigarette schließlich nachgegeben hatte, dann spürte sie noch ihren Kopf zur Seite fallen. Dachte dabei, als wäre es keine Kleinigkeit gewesen, diesen langen Tag wie den heutigen mit allen gewohnten Fratzen ohne größere Blessuren zu überdauern! Was wohl der nächste Morgen bringen würde? Sie kreuzte die Arme, die schlaff neben ihr lagen, und löschte das Licht. Zuvor aber hatte sie noch die Zigarettenschachtel unters Kopfkissen geschoben. Es war genau dieser Augenblick, von dem an sie nichts mehr erschüttern konnte. Nicht einmal vermochte das der riesige Blumenstrauß, der mit seinem Duft das ganze Zimmer durchströmte. Sie fühlte sich rundum wohl, als wäre sie in einem Erholungsheim, in dem sie es lange aushalten würde. Als sie aufwachte, mochten Stunden vergangen sein, denn längst drang die Sonne in Streifen durch die Jalousien, die freilich nie vollständig zu schließen waren. Kein Zweifel, es war der Tagesanbruch, den sie eigentlich mehr fürchtete als die Morgendämmerung, weil da häufig offen blieb, was noch alles bevorstand. Minuten später bemerkte sie hinter den schleierigen Wolken einen sich stetig ausbreitenden Regenvorhang, der sich nicht aufzulösen schien. Die beste Gelegenheit, noch ein weiteres Stündchen im Bett zu kuscheln, ohne über irgendein angeblich wichtiges Ereignis nachdenken zu müssen. Allerdings glaubte sie an Gott, den großen, über den Wolken thronenden Weltenherrscher, der alles regelte, auch für sie, Großtante Babette. Sich nachdenklich auf Gott und dessen gekreuzigten Sohn Christus zurückziehend, wurde jedes Mal, wenn sie über den Herrn des Himmels nachdachte, ein Mensch geboren, der in diesem Augenblick weder Haß noch Mißgunst kannte. Jakob überkam plötzlich eine schon seit langem gehegte Schreibidee, die mit Goethes Ballade vom „Erlkönig“ schwanger ging, und er überlegte aufgewühlt, wie dieses abenteuerliche Geschehen von ihm in eine der Gegenwart angemessene Form zu bringen sei. Ein Vorhaben, das ihn tagelang beschäftigte, wo er normalerweise mit Seminaren und Lesungen zu tun hatte. Schließlich lag Goethes umgeformter dramatischer Reim vor ihm auf dem Schreibtisch, und er staunte, wie er das zustande gebracht hatte. Es folgte ein triumphierendes Lächeln, wobei er sich nunmehr ein Glas Rotwein eingoß und sich zuprostete. Auch das war ein erfolgreicher Tag für Jakob. Erstaunt bemerkte er ein kupfernglänzendes Insekt, das sich auf den soeben ausgedruckten Buchstaben gemächlich fortbewegte, hin und wieder plötzlich innehielt, und weiterhin scheinbar unbeirrt seinen Kurs verfolgte. Jakob war es, als ob ihn eine unberechenbare Macht entschieden zwang, diesen Vorgang sofort zu stoppen. Er nahm das kaum sichtbare Insekt zwischen Daumen und Zeigefinger und schnippte es aus der eingeschlagenen Bahn. Gleichgültig. Dieser „Erlkönig“, darauf bestand er, war einzig und allein sein Eigentum, das er nicht befleckt sehen wollte. Er geriet ins Schwitzen und zuckte die Achseln, als wollte er sich entschuldigen, das ahnungslose winzige Geschöpf so grob behandelt zu haben. Erlkönigs hübsche Töchter. Listig verborgen. zwischen säuselnden Blättern. übel gezauster Kopfweiden. flöten im Mondlicht. Erlkönigs hübsche Töchter. Ihre betörenden Schalmeien. versuchen zu locken. den todgeweihten Knaben. aus des Vaters warmer Obhut. in die Irrgärten des Serail, wo nirgends Heilung erfolgt. Trotz raschem Galopp. des Pferdes mit Müh und Not. nach dem sichren Hof. nichts rettet den Sohn mehr. vor der lächelnden Rohheit. eines Fieberwahnsinns. Von Jakob aufgeschrieben für Madame Bouffier in einer Julinacht 2014, da sich Fußballfans trunken umhalsten. Jakob suchte nach einem zweckmäßigen Kuvert, faltete sorgfältig das beschriebene Blatt und steckte es rasch hinein, als habe er berechtigte Sorge, er könnte es sich noch anders überlegen, und klebte das Kuvert zu. Hing sich eine Tasche um und schwang sich aufs Fahrrad. Er hätte freilich den Brief mit der kostbaren Fracht auch zur Post bringen können, entschied sich dann aber, sie im Landhaus der Bouffiers abzuliefern. Es war ihm, als beschleunige jemand das Fahrrad, als greife selbst der Teufel in die Speichen, um es vorwärtszutreiben. Selten hatte sich Jakob derart ins Zeug gelegt, nur um pünktlich anzukommen. Als er im Landhaus eintraf, schlief Babette auf der Terrasse im Schaukelstuhl, ihren zerknitterten blauen Morgenrock wie eine wärmende Decke um sich gehüllt, obwohl es wirklich nicht kalt war. Fast immer trug sie irgendein Tuch, was er abgeschmackt fand. Das Buch, in dem sie die winzigen Buchstaben mit zunehmender Anstrengung zu entziffern versucht hatte, war ihr entglitten und lag auf dem Steinfußboden. Die Fenster hinter Babette waren geöffnet, und nicht der leiseste Windhauch konnte ihrer sorgsam hochgesteckten Frisur schaden. Als Babette dann endlich Jakob erblickte, sagte sie nur, mit unerwartet tiefer Stimme, daß Madame Bouffier nicht anwesend sei, falls er sie überhaupt zu sprechen beabsichtige. Und das wolle er doch gewiß? Die Hausherrin habe sich in die Stadt begeben, um wichtige Besorgungen zu erledigen. Er, der junge Mann, käme im Augenblick also vergeblich. Und es tue ihr wirklich leid. Sie winkte ab, was ungefähr hieß, er müßte wohl unverrichteter Dinge dorthin zurückkehren, wo er hergekommen sei. Dann stand sie auf und sagte nicht gerade liebenswürdig: „Entschuldigen Sie mich bitte, junger Mann. Ich habe zu tun und weiß wirklich nicht, was ich zuerst anpacken soll!“ Kniff gereizt ihren Mund zusammen, als sei ihr unerwartet eine Laus über die Leber gelaufen. Dann war sie auch schon hinter der Terrassentür verschwunden. Und hatte sich nicht einmal von ihm verabschiedet. Sichtlich enttäuscht schaute Jakob der alten Frau nach. Er hätte sich im Landhaus anmelden sollen, wie es sich für jemand gehört, der Stil besitzt und sich manierlich bewegen kann. Seine dunklen Augen blickten ernst, als er die Terrasse verließ, ohne sich nochmals umzusehen. Dieser Tag war wohl alles andere als erfolgreich gewesen! Dennoch hoffte er, bald eine günstigere Gelegenheit zu finden, Madame Bouffier in die Arme schließen zu können. Eines aber war sicher: Daran, daß man älter wird, stirbt man gewiß nicht. Höchstens an Untätigkeit. Unangenehm war ihm die Vorstellung, sie für längere Zeit aus den Augen zu verlieren. Oder gar wehrlos beobachten zu müssen, daß sie eines Tages ihre Neigung nicht ihm, sondern einem anderem schenken würde. Er wollte sich nicht verirren mit seinen Gedanken, er wollte nicht in eine Welt abgleiten, die ihm nicht entsprach und aus der keine Zufriedenheit zu schöpfen war. Jakob war ein, wie man ihm jederzeit bescheinigen würde, auf Ehre und Haltung bedachter junger Mann, lächelte oft mit geschlossenen Lippen, als hätte er berechtigte Sorge, der Welt mehr als für ihn nützlich war, von seinen Gefühlen preiszugeben, vom Ursprung seines Charakters. Obwohl es niemandem entging, daß er ein größtenteils heiteres Gemüt besaß. Und was vor allem galt: Er war nicht unterzukriegen. Durch seine Lebensfreude stand er weit über den Dingen des Alltags, war jeder Eintönigkeit fremd. Mitunter entwickelte sich alles um ihn herum wie eine frohe Botschaft, die er am liebsten jedem persönlich zugerufen hätte. Und er spürte jetzt sehr deutlich, er hatte sich gerettet aus den zermürbenden Widersprüchen, die ihn zu umgarnen versucht hatten oder eine Nase drehen wollten. Er war mit einem Mal weniger hilflos als eben noch. War auf dem besten Weg, freier mit sich und anderen umzugehen. Holte nicht nur alles Versäumte nach, indem er Fesseln zerriß und Grenzen entfernte. Ohne Scheu konnte er jetzt lachen, worüber er sich früher aufgeregt hätte und genoß die wohltuende Ruhe. Und glaubte, den Trivialitäten des biederen Lebens entkommen zu sein. Zweifellos spürte er ein leises Aufbäumen des Herzens mit sich daraus ergebenden Konsequenzen: Alles geschah jetzt ohne Stocken und Zögern. Keine Zeichen von irgendwelchen Unsicherheiten, die ihn noch vor kurzem in eine verzweifelte Situation gebracht hätten. Mit einem Mal schien alles möglich, unkompliziert und beschwingt. Er bemerkte diesen Wandel mit Erstaunen und wollte ihn mit aller Kraft festhalten. Mit einem Satz: Er war nicht mehr so hilfsbedürftig wie eben noch, atmete müheloser und ungeniert. Wer ihn beobachten konnte, bemerkte es sehr deutlich. Und Jakob legte wieder Bach, Mozart oder Beethoven auf. Hörte mit unglaublicher Inbrunst, als wollte er durch klassische Musik die Psyche des Menschen günstig beeinflussen und eventuell seelische Wunden versuchen zu heilen. Allerdings gehörte er nicht zu den Menschen, die einen prallen Terminkalender mit einem erfüllten Leben gleichsetzen. Dafür war er völlig ungeeignet. Diese Nachricht kam wirklich überraschend für Jakob, der von den Eltern seines Studienfreundes Markus zum Souper am kommenden Freitag eingeladen wurde. Anschließend, so hatten es sich die beiden jungen Leute gedacht, wollten sie noch einen französischen Historienfilm aus der Zeit Ludwigs XIV. ansehen mit Jean Marais in der Hauptrolle, wovon sich Markus und Jakob ein besonderes Erlebnis versprachen. Zunächst aber bat der Hausherr, den enge Vertraute wegen seines dunklen Backenbartes Don Alfredo nannten, Jakob zu Tisch, auf dem seltsamerweise nicht vier, sondern fünf Gedecke aufgetragen wurden, obwohl im Speisezimmer lediglich vier Personen anwesend waren. Don Alfredo rückte ein wenig näher zu Jakob heran, während er ihm erläuterte, was es mit dem fünften Gedeck eigentlich auf sich hatte. So erfuhr Jakob, daß die abwesende Dame, der das Gedeck neben dem Hausherrn galt, dessen Mutter war, die kürzlich wegen eines Oberschenkelhalsbruches, zu dem noch eine schwere Lungenentzündung kam, ins Krankenhaus eingeliefert worden war und dort während der offenbar komplizierten Operation das Bewußtsein verloren hatte und nicht mehr, trotz aller ärztlichen Bemühungen, reanimiert werden konnte. Don Alfredo hob und senkte die Schultern. Es war, sagte er mit traurigem Blick, nichts mehr zu machen. „Seit diesem unheilvollen Tag, an dem sie verstarb, decken wir den Tisch auch für die Großmutter, als gehöre sie immer noch zur Familie.“ Er schaute wehmütig zum Kamin, über dem, mit einem schwarzen Flor umhangen, das Foto der so jäh aus der irdischen Welt gegangenen alten Dame hing, die mit gütigen blauen Augen in den Raum schaute, als könne sie jeden Moment den Bilderrahmen verlassen und wie selbstverständlich den ihr zustehenden Platz an der Stirnfront des Tisches wieder einnehmen. Schon wieder stand der Freitag vor der Tür, an dem sich der Salon gewohnheitsmäßig traf, um Geselligkeit zu pflegen. Außer der üblichen Verlegenheitsplauderei während der Begrüßung sprach man bald von allen möglichen Angelegenheiten, die in erster Linie den Salon, dann städtische sowie nachbarschaftliche Verhältnisse betrafen. Diesmal allerdings machte zunächst ein schreckliches Ereignis die Runde, das sämtliche Mitglieder des Literaturvereins nachhaltig in Aufregung versetzte. Eines der Mitglieder hatte offensichtlich Selbstmord verübt! Dr. Josef Wagenbauer, das älteste Zirkelmitglied, war aus dem Fenster eines Hochhauses gesprungen. Aus dem zehnten Stock, wo er jahrelang einen eher unauffälligen Lebenswandel inmitten der dreiköpfigen Familie geführt hatte. Und außerdem im Salon der Madame Bouvier bemüht war, all seine Fähigkeiten einzubringen. Er hatte das allen Unfassbare gewagt, einfach so, und ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen. Doch wer schreibt denn heutzutage noch Briefe, auf die zu antworten man verstehen muß? Wahrscheinlich nur derjenige, dem es auf den Nägeln brennt, etwas ihm Wichtiges mitzuteilen. Wir Menschen liefern uns oft nur die Gesichter, auf die wir dringend angewiesen sind, die wir benötigen und die wir uns zumuten dürfen oder wollen. Darunter leidet nicht selten das ehrliche Empfinden, das wir benötigen, wenn die Welt vorwärtsgebracht werden soll, ohne uns gegenseitig dem Verderben auszuliefern. Keiner wußte, ahnte nicht einmal, was Dr. Konrad Wagenbauer eigentlich zu diesem dramatischen, unumkehrbaren Schritt getrieben oder gar gezwungen hatte. So ist er nun endgültig einem, wie es zumindest für nicht mit ihm Befreundete aussehen konnte, zukunftsträchtigen Leben entflohen oder doch besser geflüchtet, da kein letztes authentisches Wort mehr von ihm hinterlegt ist. Auch keine letzte Äußerung, nur der unaufhaltsam wirkende Verfall des in der Jugend einst standhaften Willens. Josef, mit dem Madame Bouffier einst die Schulbank gedrückt hatte, lange genug, um voneinander alles oder wenigstens manches zu wissen, mußte sich aufgegeben haben, als könnte einem das je leicht werden, aus einem zehnten Stock herabzustürzen, noch dazu auf Beton. Da hat keiner auch nur die geringste Chance, lediglich mit Knochenbrüchen davonzukommen. Es wäre allerdings zu fragen, in welcher Verfassung sich denn Josef befinden würde, hätte er, ein Wunder vorausgesetzt, den Sturz überlebt, wo er doch gerade deshalb eine solche Höhe gewählt hatte, um sicherzugehen, daß er zugrunde gehen, also nicht überleben würde? Eine heikle Überlegung, gab Madame Bouffier zu bedenken, umso ergebnisloser fielen jegliche Versuche aus, brauchbare Antworten zu finden, je mehr sie darüber ins Grübeln gerate. Sie unterbrach plötzlich ihre Mitteilung und schaute erschöpft über den Tisch hinweg in Gesichter, denen nichts einfiel als die Augenbrauen energisch hochzuziehen, statt Gefühle sprechen zu lassen und sich eindeutig auszuliefern. Man war, banal formuliert, in diesem Moment einfach nur entsetzt, denn für das, was passiert war, gab es keine brauchbaren Worte. Jedem fehlte jetzt die zweckmäßige Vorstellungskraft. Endlich hatte sich die Salonchefin wieder einigermaßen im Griff und verwies darauf, daß sie augenblicklich noch daran glaubte, von eventuellen Motiven nichts entdeckt zu haben oder auch nur im mindesten zu ahnen. Deshalb tappe auch sie völlig im dunklen und verwerfe selbst irgendwelche Vermutungen, die sie in eine fragwürdige Richtung drängen könnten. Nur eins, fügte sie leise hinzu, schien ihr von vornherein klar, daß Erkundungen allein über den Hergang von Josefs Tod nicht zum Anfang der Katastrophe führen würden, dahin, wo sich die Katastrophe allmählich zu entfalten begann. Eher schon würde man sich an jene Jahre halten müssen, die beide, Josef und sie, während der Studienzeit wesentlich gemeinsam verbracht hatten. Wenn das zu entwirren überhaupt möglich sei. Oder es werde niemals ans Tageslicht gelangen „Es ist ein Freitag wie heute“, berichtet Madame Bouffier mit eindringlicher Stimme. Josef, das hat ihr Claudia, seine Frau, inzwischen berichtet, sitzt wie jeden Abend und scheinbar sorglos am großen Familientisch. Spaghetti mit Gulasch, seine Lieblingsspeise, stehen bereit. Nichts deutet auf Unmut oder einen Konflikt, der mit seiner Tätigkeit als Leiter eines technischen Entwicklungsbüros zusammenhängen könnte. Wie üblich fliegen Scherze hin und her, man redet schon vom künftigen Urlaub. Endlich greift jeder zu. Es schmeckt vorzüglich, lobt Konrad seine Frau und drückt anerkennend ihre Hand. Sie verstehen sich und machen nur wenige Worte. Alle Bedenken Claudias ignorierend, nichts sei der Verdauung abträglicher, als während der Mahlzeit zu lesen, läßt er sich von Robert, dem jüngsten Sohn, Zeitungen und Post bringen. Seinen ewigen Spruch, er würde sowieso keine hundert, bleibt diesmal unausgesprochen, denn Claudia ist bereits aufgestanden, um das Geschirr abzuräumen. Den restlichen Tag oder vielmehr Abend hätten sie vom gemütlichen Sessel aus die ganze Palette der Fernsehkanäle durchgecheckt und sich schließlich für irgendeinen der schwachsinnigen Krimis entschieden. Natürlich nur, wie man sich gegenseitig bescheinigte, um sich noch etwas zu entspannen, wie von ihnen das Unvermögen, von der „Kiste“ loszukommen, zu bemänteln versucht wurde. Freilich vergebens. Danach wäre der verschwendete Abend beklagt worden, doch Gott sei Dank blieb ja noch Zeit für drei bis vier Seiten Lektüre über Bettgeflüster und Skandale in der Hauptstadt oder über eine moderne Theateraufführung. Dann würde einer von beiden endlich das Licht ausknipsen und damit den ziemlich anstrengenden Tag beenden. Manchmal auch noch mit einem flüchtigen Kuß. Doch bevor es dazu kam, hatte sich Konrad in Todesannoncen vertieft, eine von ihm zunehmend häufiger gepflegte Beschäftigung, die seine Frau zunehmend irritierte. Den Namen Dörnbrack entdeckte Konrad auf der äußersten linken Spalte unten rechts. Und wie ihm schien bei einem nochmaligen Hinsehen, eingezwängt in einen winzigen, schwarzumrandeten Kasten. Als hätte er nur mit Mühe und Not einen Platz gefunden. Wie oft er auch den ihm vertrauten Namen buchstabiert, es bleibt bei Dörnbrack. Jeder Irrtum ist ausgeschlossen. So wird einem Lebenslauf der Schlußpunkt gesetzt: Man werde des überraschend teuren Entschlafenen in Ehren gedenken, seiner Verdienste um die Gesellschaft. So formuliert wird es jeder, der an seine letzte Ruhestätte herantreten wird, auf dem Grabstein eingraviert finden als löbliche Auskunft über einen verdienstvollen Bürger. Von tückischer Krankheit, gegen die er, natürlich immer auf Genesung hoffend, bis zur letzten Stunde mit aller Energie gekämpft, keine Rede. „Erwähnt dagegen tragische Umstände, die uns allen“, sagt Madame Bouffier mit jetzt fast versiegender Stimme, „Josefs Tod eher noch absurder erscheinen lassen. Müssen wir uns da nicht zu fragen haben, was eigentlich zu Josefs plötzlicher Eskalation bisher ungeschrieben blieb, in der Annonce bewußt vergessen wurde, also unerwähnt blieb und damit für uns nicht nachvollziehbar? Was für Gründe seines Ablebens hat es also wirklich gegeben? Wenn einer von uns schwierigste Situationen in den Griff bekam, sich auf problematische Zeitgenossen einstellen konnte, dann war das eben Josef und kein anderer.“ Das müsse hier, im Salon, einmal deutlich ausgesprochen werden. Um diese Fähigkeit Josefs, das zu verschweigen, was einem Freund Schaden zufügen konnte, habe sie ihn oft beneidet. Eine andere Handlungsweise hätte nicht zu ihm gepaßt, wäre seiner Ehrlichkeit unwürdig gewesen. Diplomat sein ist alles, einer seiner häufig benutzten Sprüche, und er nahm sie ernst, deren Urteil und Einfluß von großem Gewicht waren oder zumindest schienen. Die Dinge vorauszusehen oder zumindest zu ahnen, darauf kam es ihm unbedingt an. Alle nachfolgenden Ereignisse waren für ihn zweitrangig. Und doch war gerade er es, der so einmalig gelassen sein konnte, sich krumm und schief lachte beim komischsten Anlaß. Bald wiederum gefiel sich Josef darin, auf alles und selbst hochrangige Autoritäten einen lapidaren Vers zu machen. Unter seinen, mitunter ausartenden Späßen stürzten nicht selten Götter von ihrem Sockel, schrumpften zu zwerghaften Alltagsmenschen, denen er ihre Masken vom Gesicht riß.“ Madame Bouffier verstummt plötzlich, fährt sich hastig über die Stirn. Und sagt, ohne jeden erkennbaren Übergang, Josef habe seine ihm von wem auch immer geliehenen Jahre hinter sich gelassen, er brauche daher jetzt auf niemanden mehr Rücksicht zu nehmen. Alles, was der Welt noch bevorstehen könnte, müßten jetzt allein die Lebenden oder genauer die Überlebenden anpacken bzw. bewerkstelligen. Sie hebt die feingliedrig geformten Hände und macht eine heftige Pendelbewegung, als wollte sie alles Gesagte damit wegdrängen, es relativieren, als wäre das von ihr beklagte Unglück nicht leibhaftig geschehen, wie es sich alle hier, im Grünen Salon des Landhauses, wünschten oder etwas anderes, das kein so entsetzliches Resultat hervorgerufen hätte. Künftig sollten wir uns gegenüber noch zwangloser bewegen, freundlicher und vor allem ehrlicher miteinander umgehen. Niemanden in seiner Einsamkeit überrunden, sich gar von mühsam erworbener Selbstbestimmung distanzieren. Wie anders könnten wir denn zu größerer Sicherheit gelangen, unsere einzige für uns Menschen noch erträgliche Welt hinreichend vor allen möglichen Übeln sicher bewahren? Wäre da nicht ein ungeheurer Respekt notwendig für die Einsicht, vor allem und bedingungslos an der Lebensbejahung festzuhalten und unserem Dasein mit allen Mitteln und Kräften zu dienen? Nichts Wichtigeres als das, so überlegte Jakob in aufbäumender Begeisterung, sollte die Richtschnur des Handelns sein. Man sollte jeden echten Lebensfunken bewahren und den eigenen Händen anvertrauen und nicht warten, bis es zu spät ist, die verlockenden Seiten daran zu erkennen. Sein Ziel aufgeben darf nie das letzte Mittel sein, wenn scheinbar unüberwindliche Schwierigkeiten den Weg verstellen. Also nicht dem Zufall überlassen, wie sich künftiges Leben entwickeln kann. Jedenfalls darf es nicht vor der Zeit sein für den Abflug in die Unendlichkeit von Raum und Zeit. Professor Adolf Güldenbrack rückte den Notenständer erneut an eine andere Stelle. und das zum fünften Mal. Er mußte einfach denjenigen Zwischenraum justieren, der seinen kurzsichtigen Augen wirklich gerecht wurde. Leider auch eine Folge zunehmender Jahre und ständiger Überanstrengung bei den Anforderungen seitens der Fakultät. Heute, so hatte er sich vorgenommen, würde er Mozarts Jupiter-Sinfonie, für ihn eine seiner gelungensten Werke, im stilvoll eingerichteten Wohnzimmer nach der Schallplatte dirigieren. Obwohl er diese nicht geläufige Art, sich der Wiener Klassik anzunähern, schon lange nicht mehr geübt hatte. Da war es wichtig, nichts falsch zu machen. Er mußte natürlich bei dieser Gelegenheit abermals darauf zurückkommen, daß er ursprünglich Musik studieren wollte, bevor er sich in buchstäblich letzter Minute für Germanistik entschieden hatte und dieses Fach in die entsprechende Liste eintrug. Daß es zuletzt völlig anders gelaufen war, hing mit einem Sportunfall zusammen, bei dem er sich zwei Rippen gebrochen hatte und außerdem die Wirbelsäule in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dem folgte seine Einlieferung in eine Chirurgische Klinik, was ihn dann einige Monate ans Krankenbett fesselte, so daß er mit dem Studium der Germanistik erst ein reichliches Jahr später beginnen konnte. Und viele anstrengende Wochen mit seiner Heilung beschäftigt gewesen war. So mußte er warten auf seine Stunde, die sich allerdings nur ziemlich kompliziert näherte. Olav Wunderlich, jahrzehntelang Redenschreiber und Protokollchef eines Ministers der Vorgängerregierung, war seit gut einem Jahr Mitglied des Salons der Madame Bouffier. Heute nun hatte er seinen ersten Auftritt, das heißt er hielt eine Einstandsrede, die allerdings, wie gleich zu Beginn erkenntlich wurde, kein Ende finden wollte. Jedenfalls unternahm Olav Wunderlich nicht den geringsten Versuch, sich kurz zu fassen. Und vor allem verständlich. Es schien, als habe er den Blick für das Wesentliche in den Dingen verloren oder es zumindest nicht hinreichend beachtet. Er lehnte sich zurück, als suche er eine verläßliche Stütze für seinen Rücken. Komisch wirkte allerdings, daß seine Augen wie nach innen gerichtet lagen. Einleitend erfuhren die Zuhörer mit einer gewissen Spannung, in welcher Branche er tätig gewesen war und was er alles unternommen hatte auf seinem, wie er betont zurückhaltend formulierte, nicht leicht zu bewältigenden Arbeitsgebiet. Daß er manche diffizile Dinge von damals, als er noch im Ministerium, einem respekteinflößenden, kolossalen, alten Neobarockbau, aus- und einging, nicht preisgeben dürfe, jedenfalls nicht vorbehaltlos, würden sie hier in dieser Runde, gewiß verstehen. Er rückte ständig an seiner Brille, die ihm auf die bieder geratene Nase zu rutschen schien. Die grauen Augen, tief eingebettet unter dichten Brauen, wirkten anziehend gegenüber den eher kindlichen Gesichtszügen dieser schon in die Jahre gekommenen, stets besorgt umherschauenden Beamtenseele. Olav Wunderlich war, wenn er sich auf ein bestimmtes Thema versteift hatte, selten zu bremsen. Er sprach wie jemand, dessen Ausführungen klangen, als lägen sie ausgedruckt vor ihm auf einem Pult, von wo er die Sätze, unübersichtlich und dazu noch geschachtelt wie bei manchem gefeierten Moderator, nur noch vorzutragen brauchte. Und doch war alles sorgfältig bis ins kleinste Detail bedacht, nichts blieb dem schnöden Zufall überlassen, auch jede Atempause, zuweilen sogar das Räuspern zwischen den Zeilen, das bedächtige Trinken, eher dem Schlürfen ähnelnd, aus einem gläsernen Becher. Weil der mit unzähligen Themen ausufernde Referent die wuchernde Müdigkeit, in erster Linie unter den älteren Salonmitgliedern, offenkundig nicht bemerkte oder gar nicht bemerken wollte, strapazierte er seine mit wachsender Erschöpfung ringende Zuhörerschaft. Die erhob sich dann auch nach und nach, den Salon verlassend, als wäre irgendwo noch eine andere, tiefgründigere Geselligkeit zu erwarten, in der man vielleicht imstande war, rechtzeitig von allen möglichen Prophezeiungen Abstand zu halten, um ein vollendetes Bild vor Augen zu haben und nicht ein tendenziös gefärbtes, mit dem niemand etwas Ordentliches anzufangen wußte, denn ging es nicht stets auch um die Absicherung des Nachlebens, dem zu huldigen sich niemand schämen wollte? Schließlich war Olav Wunderlich ans Ende seiner, wie er überzeugt glaubte, sorgfältig und zupackend ausgearbeiteten Rede gelangt, um ziemlich ernüchtert feststellen zu müssen, daß der von ihm erhoffte Beifall absolut dünn ausfiel, seine hochgesteckten Erwartungen nicht im geringsten erfüllte. Die gewohnte Welt, seine also, blieb stehen, außerhalb von ihm und verharrte einfach wie ein Körper, der ausgebootet keine Kraft mehr besitzt, den vorgezeichneten Weg noch bis zum Finale durchzustehen. Das alles umzukehren, wird ihm nicht mehr gelingen können. Eher ging ein Kamel durch ein Nadelöhr. Alles verliert sich, nichts wird nach einer solchen uferlos abgesteckten Rede passieren. Weil schon längst alles passiert ist. Nun mußte das Leben in ruhigere Wasserstraßen gelenkt werden, durfte sich nur dort niederlassen, wo der Fels tief genug im Grund verwachsen ruht. Bis auch der eines wahrscheinlich noch unzugänglichen Tages von den Urgewalten der Elemente fortgerissen wird. Bis zu der Stunde, wo erneut ein wunderliches Treiben mit uns sowie allen Geschöpfen der Natur beginnt. Es dämmert keine Alternative: Leben oder Sterben. Dazwischen bleibt kein Platz für triviale Spinnereien. Am Wochenende, zum üblichen Salontreff, öffnete Madame Bouffier mit der ihr eigenen Umsicht ein an sie gerichtetes Kuvert, dem sie einen Brief des, wie sie formulierte, hochgeschätzten Professors Güldenbrack entnahm, der zwar augenblicklich an einem internationalen Meeting der Germanisten teilnehme und dort ein grundlegendes Referat über beängstigend ansteigende Verfremdungstendenzen in der Literatursprache halten werde und diesmal dem Salon leider nicht zur Verfügung stehen könnte, aber schon jetzt für eine Sommerparty auf sein Gartengrundstück einladen wolle. Zumal eine solche Geselligkeit, wie er ausdrücklich hervorhob, rechtzeitig und gründlich vorbereitet werden müßte. Viel Wert lege er, Güldenbrack, darauf, hieß es zu Beginn seiner überraschenderweise handschriftlich gemachten Ausführungen, lebensfrohe Laune mitzubringen und, wenn es dem einen oder anderen möglich sei, persönlich Vorschläge zu präsentieren. Man erhoffe sich davon eine Menge Überraschungen, die jeder Anwesende lange in seinem Gedächtnis behalten würde. In diesem Augenblick war Madame Bouffiers melodische Stimme deutlich zu vernehmen: Es komme darauf an, belehrte sie die Zuhörer und schaute zu den vor ihr sitzenden Zuschauern, die herannahende Gartenpartie so lobenswert als möglich auszurichten. Dann empfahl sie unter starkem Beifall, dem verehrten Professor Güldenbrack unverzüglich ein Telegramm zu schicken und darin zu bekräftigen, daß mit der Zustimmung der Salonteilnehmer zum geplanten Gartenfest zu rechnen sei. Und vor allem: Man werde es an tatkräftiger Mitwirkung nicht mangeln lassen! Jeder freue sich bereits, hieß es dann nachfolgend, des Professors Werk in Augenschein nehmen zu dürfen, das dank der Aktivitäten seines Schöpfers, der von Hause aus promovierter Germanist sei, aber durch seine innige Verbundenheit mit der Natur ein erstklassiges Werturteil, wenn nicht gar Bewunderung aus vielen Teilen des Landes erfahre. So würden Naturfreunde unterschiedlichster Couleur ihr Wissen dauerhaft ergänzen können. Schließlich war der Termin für das erwartete Partyfest gekommen. Der Nebel schwand bereits in den frühen Morgenstunden und wich strahlendem Sonnenschein, bald wehte ein mildes Lüftchen, durch das Hunderte von Schwalben nach Insekten haschten, alles schien heiterer Stimmung zu sein. Der Professor, etwas aufgeregter als sonst wirkend, konnte die zahlreich eintreffenden Gäste empfangen. Er stand wie ein großer, mit einer weißen Halsbinde gekleideter Herr in untadeliger Contenance an der gemauerten Einfahrt, neben der links und rechts auf hohen Granitsockeln jeweils eine schon etwas verwitterte Sandsteinvase thronte, deren neobarocke Formen sich noch in die Gegenwart hinübergerettet zu haben schienen. Über dem breiten Tor des hochaufragenden Eingangsportals schwebte eine kupferne Laterne, die nachts weithin jene von Professor Güldenbrack schon vor Jahren bezogene Villa erleuchtete und gleichzeitig die ebenerdigen Buchsbäume, zu beiden Seiten des stattlichen Gebäudes gleich Wachsoldaten aufgereiht, in dunkle Schatten hüllte. Jetzt aber war der Tag hell, fast schon zu heiß geworden, und alle hatten Mühe, nicht ins Schwitzen zu geraten. Der erste Gast, der aus dem Auto stieg, war die von allen verehrte Madame Bouffier, deren langwallendes Seidenkleid ihren Trippelschritten folgte. Bis auf Jakob und den mit einem indischen Turban dekorierten Dr. Rawalpindri, bisher im Salon selten zu Wort gekommen, war man im Taxi vorgefahren, das gleich für die Rückfahrt gebucht wurde. Schon am Gartentor bekam Jakob große Augen: weiße Kalksteine zu beiden Seiten, fein säuberlich gemauert, schwarz verfugt und darüber ein gewölbtes Dach, abgedeckt mit rotglänzenden Ziegeln, das ihn an eine frühere Reise nach Bulgarien erinnerte. Nachdem die erwarteten Gäste offenbar vollzählig eingetroffen waren, tauschte man seine profane Bürokleidung gegen kimonoähnliche Umhänge und versammelte sich um Dr. Peters, eines seit Jahren dem Salon der Madame Bouffier angehörenden Dozenten, dessen hauptsächliches Forschungsgebiet die Literatur der Frührenaissance war. Zugegeben, die jetzt fernöstlich umhüllten Kuttenträger wirkten eher kurios als anmutig. Sie waren eben doch nur, mit Ausnahmen, stinknormale Europäer, die nicht so recht in orientalische Monturen paßten. Und gleichermaßen gehörte auch der mit dünnen Stäbchen zu verzehrende Imbiß aus geschältem Reis, gegrilltem Hähnchenfleisch und Bambusspitzen nicht zur Tradition in diesem Land. Über das ungeschickte Nachahmen fremdländischer Sitten und Gebräuche amüsierte man sich wahrhaft köstlich. Jakob fühlte sich, nach anfänglichem Erstaunen, zunehmend deplaziert in dieser noblen Gesellschaft zwischen kreischenden Damen und rülpsenden Herren. Nur Madame Bouffier wegen ließ er den ganzen Zauber, wie er das Gartenfest spöttisch nannte, über sich ergehen und blieb bis zum Schluß. Der allmählich zurückweichende Sommer, von behäbigen Spinnenfäden durchzogen, überraschte mit ungewöhnlichen Temperaturen. Ein Altweibersommer eben, wie er im Buche steht und in der frühen Septemberhälfte nicht selten angetroffen wird. Genau an diesem sich sommerlich gebenden Herbsttag hatten sich hinter hochgewachsenen Koniferen und noch immer belaubten Sträuchern auf dem nördlich der Stadt gelegenen Garten des Germanistikprofessors Güldenbrack zwölf Paare, bestehend aus Damen, Herren und leicht homoerotischen Verbindungen, eingefunden, die sich nach Alter, Beruf und Neigung heftig unterschieden. Lediglich er, Jakob, war vorerst ohne intime Begleitung zu beobachten, also ohne die Salonchefin. Dann allerdings gesellte sich, etwas ungelenk wirkend, zu ihm an seine Seite, vergnügt dabei um sich blickend, eine erst kürzlich aufgetauchte Tante der Bouffiers, die bald als deren perfekte Wirtschafterin angestellt worden war und nun, während der Gartenpartie, eine Art Generalprobe absolvierte. Und das mit Bravour, wie man ihr allseits bescheinigte. Plötzlich tauchte in Jakob die Erinnerung an jene Kimonopartie bei Professor Güldenbrack auf, als er voriges Jahr das erste Mal in den Salon eingeladen wurde und ihm sogleich der lauernde Blick eines Dr. Höpfner aufgefallen war, der ihn auf einmal in ein Gespräch zur Dichtkunst der Romantik hineingezogen hatte, da er, der junge Mann, wohl offenbar etwas von jener zwischen Klassik und beginnender Moderne gelegenen Epoche verstehe, wie ihn Salonmitglieder informiert hätten. Jakob wurde in diesem Moment klar, daß diejenigen, die in der Gesellschaft unbedingt emporkommen wollten, einen derart scharfsichtigen Blick zur Verfügung haben mußten. Egal, wodurch ihnen das gelungen war. Danach hatte er Höpfner im Verlauf des Nachmittags aus dem Auge verloren. Wenigstens für einige Stunden. Rawalpindri, der Doktor der Medizin, brachte mit seiner schläfrigen, hohen Stimme den Sinn und Unsinn des, bedrohlich, wie er meinte, global ausartenden Kinderkriegens zur Sprache. Wozu, er stieß wütend seine rechte Hand in die Luft, müßten denn so unglaublich viele Kinder die Kontinente überschwemmen, rief er der um ihn versammelten Gruppe heftig Diskutierender zu, wo man den noch ungeborenen Geschöpfen nicht einmal voraussagen könne, was sie einst, wenn sie den schützenden Mutterleib verlassen müßten, zu erwarten hätten. Sein Lächeln darüber glich eher einer Grimasse. Indem er mit einer unauffälligen Handbewegung auf Claudia Eggebrecht zeigte, die, jeder wußte davon genug, um mitreden zu dürfen, durch eine späte Schwangerschaft befürchtete, ihr Biologiestudium vorläufig nicht abschließen konnte, was für sie einer Katastrophe gleichkam. Jakob hatte rasch begriffen, daß sich für ihn kaum eine günstigere Gelegenheit bieten würde, so viele einflußreiche Leute von ihrer privaten Seite kennenzulernen. Ungeniert wäre es möglich, weitreichende Kontakte knüpfen bzw. schon bestehende festigen zu können. Das, so glaubte Jakob, brauche er dringend, um seinen Horizont auszudehnen und schnell voranzukommen. Nicht eine Minute wollte er verpassen, geschweige denn eine Stunde außer acht lassen, die für ihn enorm wichtige Ereignisse bereithalten konnte oder grundlegende Veränderungen, auf die er sofort reagieren mußte. Er räuspert sich etwas verlegen, als er das schlanke Mannsbild indischer Abstammung direkt auf sich zusteuern sieht. Vor ihm senkt Jakob bescheiden die Augen wie dessen pflichtbewußter Schüler. Gewisse Beziehungen, flüstert Rawalpindri, der ihn endlich eingeholt hat, geheimnisvoll tuend ins Ohr und nimmt den Studenten wie einen engen Vertrauten beiseite, seien für niemanden von ihnen, der nicht ins Hintertreffen geraten möchte, gering einzuschätzen. Das wisse heutzutage jedes Schulkind. Dann, mit überraschender Herzlichkeit, klopfte er ihm freundschaftlich auf die Schulter, so daß jeder Verdacht, der durch seine ungestüme Art, sich zu distanzieren, von einer ihm nicht genehmen Meinung, sogleich verdrängt wurde. Es war, als fiele jedes pathetische Gehabe von ihm ab, scheibchenweise und unwiderruflich. Wie er sich lächelnd in seinen Korbstuhl zurücklehnte, wirkte er geradezu verbindlich, eben sehr menschlich, konzentriert und in gespannter Vorfreude auf die schon während des letzten Salons angepriesenen Überraschungen im Gartenreich des Professors Güldenbrack. Er fühlt sich auserwählt, ein Erdensohn, der vor Wohlbehagen ganz in sich selbst verliebt scheint. Blickt sich um und winkt einem der Gäste zu, die sich eilfertig um ihn bemühen. Nur keinen übersehen, ist Rawalpindris bewährtes Rezept, auch denjenigen nicht, der ihm ohne wahrnehmbare Sympathie nachblickt, ohne Neugier auf ihn, den erfolgreich promovierten Privatsekretär des Dekans, der sich jetzt zu voller Größe erhebt, als wolle er alle Gäste überschatten. Jakob hatte sich nur ungern in den Kimono gehüllt, wobei er noch dazu Rawalpindris Hilfe beanspruchen mußte. Es bereitete ihm einige Verdrossenheit, sich zwischen den launigen Partygenießern durchschlängeln zu müssen. Er kam sich in dieser schimmernden, eigentlich nur jüngeren Frauen stehenden Naturseide recht albern vor und griff sich verlegen an die Stirn. Keinesfalls würde er sich an einem derartigen Karneval erneut beteiligen. Zunächst schritten beide, noch etwas steif und doch voller Bedacht, auf einen Bungalow zu, der sich in einem blaugekachelten, weiträumigen Schwimmbecken spiegelte und seinem Besitzer, Professor Güldenbrack, normalerweise als idyllische und zugleich praktische Schreibwerkstatt diente. Eine solche, im russischen Blockhausstil errichtete Zuflucht, umstanden von Pergolen, an denen sich noch kräftig orangerotblühende Kletterpflanze rankten, hatte Jakob bisher nirgends gesehen, so daß er sich in spätsommerliche Tage versetzt glaubte. Mit weit ausholender Geste bat der Professor seine, wie er vergnügt betonte, geschätzten Gäste und Freunde, Platz zu nehmen am für die traditionelle Gartenparty extra gefertigten Tisch aus abgelagertem Kiefernholz. Campingstühle lockten, um es sich bequem zu machen und je nach Appetit zuzulangen. Man ließ es darauf ankommen, völlig ungeniert zu offenbaren, aus welchem Milieu die Salongäste stammten und wie sie eingefuchst waren, sich erstklassig zu präsentieren. Allein die reichgedeckte Tafel und deren Dekoration mit frischgeschnittenen Rosen und preisgekrönten Weinsorten sprachen Bände: Gänsepastete in Aspik, Rehrücken, Kaninchenkeulen und Wildschweingulasch sowie geschmorter Fasan mit Trüffeln war nur eine Auswahl der mit erlesenen Speisen servierten, silbernen Schlachtplatten, die beinah fürstlichem Luxus vergleichbar waren, so daß es manchem der Partygäste schließlich doch mehr als unbehaglich zu werden schien bei dem allerdings eher flüchtigen Gedanken an den schrecklichen Hungertod in vielen vom sozialen und technischen Fortschritt abgehängten Winkeln der Erde, durch blutige Kriege ortsfremder Mächte auf der arabischen Halbinsel, in Syrien oder in Schwarzafrika, wo sich wegen beträchtlicher Ölfunde und anderer Bodenschätze seit Jahrzehnten bewaffnete Milizen gegenseitig bis aufs Blut bekämpfen und niedermetzeln. Und dabei nicht einmal unschuldige Kinder verschonen. Man seufzt durchaus voller Mitgefühl, erblaßt, zuckt unschlüssig mit den Schultern und mag denken, was kann unsereins dagegen schon wirklich tun? Manche schließen tränenfeucht die Augen, als wollten sie jene Greueltaten wenigstens für Sekunden aus ihrem Gedächtnis treiben. Einige der Tafelgäste glauben, sich durch das Beschreiben nicht selbst erlebter Abenteuer ablenken zu können. In diesem Moment erhebt sich an der Tafel Gustav Mrotzek, eine Person mit unwirschen Zügen, in ihrer ganzen Größe und fordert durch eine heftige Handbewegung Ruhe. „Sollten wir nicht“, ruft er den mit eifrigen Schmatzen und Plaudern beschäftigten Spießern zu, wie er die am Tisch hockende Menge insgeheim bezeichnet, „eine edle Spendenaktion durchführen und den hoffentlich lukrativen Betrag auf ein entsprechendes Konto einzahlen? Oder vielleicht einer internationalen Hilfsorganisation zukommen lassen?“ Er hoffe sehr auf die gewiß vorhandene Herzensgüte der an der offenbar allzu reichgedeckten Tafel versammelten ehrenwerten Damen und Herren! Seine aufgeworfenen Lippen ähneln jetzt einem dünnen Strich, als er rasch und fast beschwörend hinzufügt: „So hätten wir, im Gegensatz zu dieser unvertretbaren Schwelgerei, zu guter Letzt mal etwas Vernünftiges geleistet!“ Er sieht in Gesichter, die inzwischen die Spuren allzu gierigen Essens und unbeherrschten Alkoholgenusses nicht wirklich mehr verbergen können, was auch kein noch so geschickter Hosen- und Anzugschneider zu kaschieren imstande wäre. Mrozeks dringlicher Appell schien den Nerv der Situation getroffen zu haben. Man schaute einander verunsichert in die Augen, da sich niemand in aller Öffentlichkeit diesem humanen Zweck entziehen wollte oder konnte. Doch zunächst entwickelte sich alles völlig anders. Man nickte eifrig und zeigte sich schließlich generös. Alle waren einverstanden, die Spendierhosen anzuziehen. Zuvor aber wollte man noch den im Programmheft vereinbarten Badespaß genießen, an dem sie alle natürlich gern teilnehmen würden. Ohne jede Einschränkung. Wie zu einer üblichen Polonaise legten sämtliche Teilnehmer die Hände jeweils auf die Schulter der vor ihnen taumelnden Person und marschierten bis zum Swimmingpool, wechselten in ihre Badesachen, um sich in das noch sommerlich erwärmte Becken fallen zu lassen. Doch der beabsichtigte Spaß begann mit einer Posse, danach sah es zumindest aus: Dr. Raabe, mit seinen langen, dünnen Beinen wie ein Storch daherschreitend, stolperte kurz vor dem Beckenrand, während er einem majestätischen Flug Dutzender Kraniche nachsah, über eine weggeworfene Blechdose und riß die neben ihm plaudernde Tischnachbarin mit sich ins Wasserbecken. Der grelle Aufschrei der beiden unfreiwilligen Täuflinge hallte über das ganze Grundstück, so daß sich jeder schleunigst vom Beckenrand entfernte, als wäre im Wasser ein Ungeheuer aufgetaucht, vor dem es sich zu retten galt. Da ertönte plötzlich Georg Friedrich Händels gewaltige Wassermusik. Deren CD-Aufnahme hatte Professor Güldenbrack in einem Moment offenbar göttlicher Eingebung, wie es allgemein empfunden wurde, in den extra dafür erworbenen Player gelegt. Claudia Hinze, eine bekannte Journalistin aus der städtischen Kulturszene, hatte das ganze Spektakel aus nur geringer Entfernung beobachtet. Jetzt schloß sie ihre schwarzumrandeten Augen und sagte ziemlich laut, so daß es ringsum jeder mithören konnte, zu den erschrocken verharrenden Gästen, sie müßten wohl alle übergeschnappt sein bei dem unglaublichen Aufwand dieser Gartenparty! Sie verspüre teuflische Lust, von dem idiotischen Spektakel hier diverse Fotos zu schießen und ihrer Redaktion eine gepfefferte Reportage anzubieten. Vielleicht mit einer dicken Schlagzeile: Enthemmte Wohlstandspartie auf privatem Grundstück. Doch ehe eine allgemeine Empörung über das Vorhaben der Journalistin um sich greift, ergänzt Claudia Hinze rasch, daß sie natürlich keinem der anwesenden Gäste die Badefreuden verderben wolle. Dann waren auch jene eingetroffen, an denen Höpfner, der einflußreiche Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, besonders interessiert war: Dr. Rabes Gattin, Privatdozentin an der Medizinischen Klinik. Zu Jakob hin meinte er, als ihm dessen zunehmende Gesichtsröte auffiel, jede noch so gewaltig wirkende Materie sei ohnehin nur Sternenstaub im All, man brauche also niemanden zu fürchten oder niemandem nachzutrauern. Wenn er sich in manchen Dingen, wie es eben unter Männern passieren kann, mit irgendeinem Problem herumärgere, rate er ihm, gelegentlich den Arzt aufzusuchen. Zum Beispiel in der Klinik seiner Frau. Da gebe es genug Spezialisten, die jede Situation wirksam erleichtern könnten. Wie kam nur Dr. Raabe zu derart abgeschmackten Überlegungen, erboste sich Jakob innerlich. Gespenstig dürr, hatte dieser Dr. Raabe trotz vorteilhaftem Hosenschnitt seine Magerkeit nicht verschleiern können. „Aber mit uns Geschöpfen“, erläuterte Dr. Raabe weitere seiner Ratschläge, „ist das alles nicht so einfach, obwohl wir Menschen“, er machte eine winzige Pause, als fehlte ihm vorläufig die bildhafte Erklärung, „nun einmal die interessantesten Objekte auf Gottes Erdboden sind.“ Nur wüßten wir das oft nicht genug zu schätzen oder ahnten es nicht einmal. „Es blitzt in keinem unserer Augen“, beendete Dr. Raabe sein belehrendes Gehabe, „etwas Überirdisches, das sich lohnt, für alle Ewigkeit in Schrift und Ton konserviert zu werden.“ Während sich die Gäste allmählich vom Tisch erhoben, um sich zu verabschieden und nach Hause aufzubrechen, starteten aus dem benachbarten Grundstück Hunderte Ringeltauben zu einem nachmittäglichen Rundflug. Das Rauschen ihrer Flügelschläge war noch weit über den Garten hinaus bis an die nahe Stadtgrenze zu hören. Als fast schon alle Gäste des Professors das Gartenreich verlassen hatten, waren lediglich nur die Salonchefin Madame Bouffier und ihr Verlobter Jakob geblieben. Als sie aufgestanden waren und sich in einiger Entfernung nochmals umsahen, ließen sich Dutzende der blaugrauen Ringeltauben auf dem Tisch nieder, um geschickt die letzten Krümel aufzupicken. Jakob, sich mit einem liebenswürdigen Blick zu Madame Bouffier hinwendend, sprach von der Flüchtigkeit des Lebens und dachte dabei an die erst kürzlich vom Turmfalken bedrängte Taube, die in den Saal des Landhauses geflüchtet und mit voller Wucht gegen den über dem Kamin hängenden Wandspiegel geprallt war, der daraufhin klirrend herabfiel, wodurch dahinter die Mumie, auf einem Barocksessel in sich zusammengesunken, sichtbar wurde. Zum Entsetzen der im Saal aufkreischenden Gesellschaft. Den zwischen sanften Hügeln schlummernden Ort hatte man noch vor kurzem ein stilles, abgelegenes Nest genannt, das, selten auf handelsüblichen Touristenkarten verzeichnet, eigentlich so gut wie unbekannt seit Jahrhunderten dahindämmerte. Doch als im Landhaus der Bouffiers unter gewiß kuriosen Umständen eine Mumie aufgetaucht war, sollte sich vieles ändern. Der lange Jahre verträumte Winkel wurde buchstäblich über Nacht, gleichsam mit Pauken und Trompeten, aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Aus allen Ecken des Bundeslandes, ja sogar weit darüber hinaus, stellten sich plötzlich, auch von außerhalb Deutschlands Grenzen, zahlreiche Touristen ein, die sonst nicht einmal im Traum daran gedacht hätten, hier aufzukreuzen, gewissermaßen am Ende der Zivilisation. Die Bouffiers hatten eines der Nebengebäude, einstmals als schmucke Kavaliershäuser errichtet, zur würdevollen Aufbewahrung der Mumie, des zu Ende des Alten Regimes mit seiner Familie im letzten Augenblick aus dem benachbarten Frankreich geflüchteten Patrons, unter Beibehaltung der historischen Fassade modern umgestalten lassen. Ohne wirklich ahnen zu können, welchen Besucherstrom diese erstaunliche Veränderung des Dorfes entfachen würde. Madame Bouffier und der zu Jahresbeginn dem Salon beigetretene Germanistikstudent Jakob Breitenbach waren inzwischen ein vertrautes Paar, das, obwohl nicht verheiratet, schon wie selbstredend im Landhaus logierte und die vielfältigen Aufgaben sowie Probleme des Salons gemeinsam bewältigte, was im Umkreis eine Menge Staub aufwirbelte und viel Zeit erforderte, zumal die letzten Sommertage bereits zu welken anfingen, obwohl einige Blüten ihre Pracht erst noch entfalten mußten. Die kleine Dorfkirche nahe dem Landhaus der Bouffiers, erbaut Mitte des 12. Jahrhunderts, bedeckten jetzt, statt der verwitterten, spröden Holzschindeln, rote Biberschwänze, von sachkundigen Zimmerleuten aus der nahen Stadt in kurzer Frist verlegt. Und da man schon am Renovieren des Gotteshauses war, wurden auch sämtliche Kirchenfenster herausgenommen und durch doppelglasige ersetzt. So schlug man, wie der Volksmund treffend formulierte, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Zudem wurde das Bethaus jetzt wesentlich attraktiver für in- und ausländische Touristen. Außerdem brauchte man strenge Winter nicht mehr zu fürchten wie in früherer Zeit, da moderne Heizkörper das Kirchenschiff und seine Nebenräume für Besucher angenehm zu erwärmen vermochten. Woran jedoch die Dorfinsassen vermutlich am wenigsten gedacht hatten, war der neue Asphaltbelag, mit dem das bisher eher vorsintflutlich anmutende Straßenpflaster überzogen wurde. Den Vogel aber schoß wohl eine ehemalige LPG-Bäuerin ab, die ihren Hof, seit Jahren schon Witwe, allein bewirtschaftete. Sie traf eines Morgens eine durchaus wagehalsige Entscheidung, die ihr bisheriges Leben umkrempeln sollte. Während sie in der Küche auf dem stets von ihrem Ehegatten für sich beanspruchten Lehnstuhl saß, hing sie allen möglichen Erinnerungen nach. Es war unendlich viel zu bedenken nach all der langen Zeit und schlug plötzlich, als wäre sie von einer ungewöhnlichen Inspiration erfaßt worden, mit ihrer von schwerer Arbeit gezeichneten Hand auf den Küchentisch. Sie wußte in diesem Augenblick, als habe sie ein Geistesblitz getroffen, was ihrem Leben, das jetzt immerhin gut 50 Lenze zählte, noch alles bevorstehen könnte?!
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