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Erster Band
ОглавлениеAls halbwüchsiges Mädchen hatte sich Ilse in einen Leutnant verliebt. In Deutschland ist der erste beinahe immer ein Leutnant. Dieser war Dragoner. Was Wunder also, daß zu jener Zeit der Himmel Ilse besonders schön dünkte, mahnte er sie doch an eine geliebte blaue Uniform; was Wunder auch, daß sie, wenn die ersten Sterne zu funkeln begannen, flugs nach dem Orion suchte – dies ferne Gestirn erschien ihr ja nur wie das himmlische Abbild einer glänzenden Schärpe und zweier Epauletten und Sporen, das eigens für sie allabendlich am nachtblauen Himmelszelt angezündet wurde! – Den Leutnant unter den Sternen kannte Ilse viel besser wie den lebenden Leutnant auf Erden. Diesen kannte eigentlich nur Papa, vom Club her, wo sich abends die Herrenwelt des Städtchens traf – und da er Papa grüßte, hatte es sich allmählich so gemacht, daß er auch Ilse grüßte.
In jenem fernen Frühling stand Ilse viel an den Fenstern des Eckhauses der Reh- und Breitenstraße, das sie mit ihrem alten Vater und dem alten Hausfräulein Greiner, genannt Greinchen, bewohnte. Gegenüber erstreckte sich ein weiter Garten voll blühender Büsche und hoher rauschender Räume, und in einem umgitterten Gehege dicht an der Straße liefen da viel zahme Rehe und Hirsche umher; furchtlos streckten sie das schwarze feuchte Geäse zwischen den Stäben hervor, ließen sich füttern und auf der braunen weichen Decke streicheln. Ilse hatte dies als kleines Mädchen täglich getan, und wenn sie jetzt so häufig am Fenster stand und hinausschaute, glaubten der alte Vater und das alte Hausfräulein nicht anders, als daß ihre Blicke den Rehen galten und freuten sich ob ihres noch so kindlichen Sinnes. – Aber nicht den Tieren des Waldes, die hier in behäbiger Gefangenschaft einstmalige Freiheit vergaßen, schenkte Ilse so reges Interesse, nein, sie spähte die Breitestraße hinab, durch die, von der Kaserne kommend, das Dragonerregiment morgens früh, blink und blank mit klingendem Spiel zum Exerzierplatz auszog und durch die es einige Stunden später, heiß und verstaubt, zurückzukehren pflegte.
Manchmal geschah es, daß der blaue Leutnant Ilse oben am Fenster gewahrte; dann zog er die Zügel plötzlich scharf an und benutzte unmerklich die Sporen, so daß sein schwarzes Pferd, erstaunt ob so unsanfter Behandlung, unruhig zu tänzeln begann, wodurch der tadellose Sitz seines Reiters so recht zur Geltung kam; der grüßte dabei mit eleganter Bewegung zum Fenster hinauf, als wolle er sagen: ein wildes Roß zu bändigen, läßt mir noch immer Muße, nach einem hübschen Mädchen zu blicken.
Nach solchem Morgengruß lag auf dem ganzen Tag ein festlicher Glanz für Ilse.
Doch noch andere Gelegenheiten fand sie, den blauen Helden ihrer Träume zu erblicken.
Soweit Ilse zurückdenken konnte, war sie alle Nachmittage mit der alten Hausdame spazieren gegangen. Diese hegte eine besondere Vorliebe für die stille vornehme Rosalienstraße, in der eine erstaunliche Anzahl wohlhabender alter Jungfern und Witwen wohnte und ein durch Kaffeevisiten und die Beobachtung der Nächsten mild gewürztes Dasein führten. Zu letzterem Zweck hatten sie an denjenigen Parterrefenstern ihrer Häuser, hinter denen sich ihre Lieblingssitzplätzchen befanden, kleine in die Straße hinausspringende Spiegel anbringen lassen, in denen sie die wenigen Leute, die unten vorübergingen, bequem sehen konnten. Ilse haßte schon als Kind die Straße mit den kleinen Spiegeln, hinter denen die alten Damen wie Spinnen lauerten; sie hatte damals sogar eine Neigung gezeigt, vor jedem der kleinen Scheiben die Zunge herauszustrecken, bis ihr bedeutet worden, daß dies ein Körperteil sei, den sittsame kleine Mädchen nur dem Arzt auf Verlangen weisen dürfen. – Jetzt aber dünkte sie die Langweile der Rosalienstraße, in deren Einöde sich nur selten eine blaue Uniform wagte, ganz unerträglich. Mit viel List gelang es ihr, Greinchen manchmal die Breitestraße hinabzuführen, an deren Ende sich die große gelbe Dragonerkaserne erhob. Ihr gegenüber lag eine kleine schäbige Konditorei, und Ilse, die sonst gar nicht gern Kuchen aß, erklärte nun häufig ein besonderes Verlangen nach einer bestimmten Tortenart zu empfinden, die nirgends so gut wie dort zu haben sei. Solch kindlichen Wunsch erfüllte Greinchen natürlich gern, und während Ilse in dem ärmlichen Laden langsam und mit Überwindung ein Stück Torte nach dem anderen verzehrte, spähte sie nach der Kaserne – und wirklich traf es sich bisweilen, daß sie den Leutnant dort ein- oder ausgehen sah.
Auch entdeckte Ilse in ihrer Seele ein plötzliches warmes Interesse an den Predigten des Militärpfarrers Schmidt, die dieser Sonntags früh um acht Uhr, in der Stadtkirche auf dem Marktplatz mit dem Obelisken, vor den von ihren Offizieren geführten Dragonern zu halten pflegte. Alle Sonntag Morgen ging sie nun dorthin. Ilses Liebe gebot eben über Opferfreudigkeit mannigfaltigster Art!
Auf diesen schwachen Grundlagen hatte Ilse, mit der Genügsamkeit frühester weiblicher Jugend, die vor Greifbarerem beinahe ängstlich zurückschreckt, ein traumhaft zartes Zauberschloß in ihrer Phantasie errichtet. Fein wie Spinnengewebe waren seine Wände, vor jedem Hauch rauher Alltäglichkeit wäre das duftige Gebilde zerronnen – und doch war es in seiner durchsichtigen Körperlosigkeit die eine große geheimnisvolle Realität ihres Daseins geworden. Ein in völliger Einsamkeit aufgewachsenes Kind, führte sie in diesem selbst ersonnenen Märchenlande ihr eigentliches Leben; was sich da zutrug, erschien ihr viel wahrer wie das, was man Wirklichkeit nannte, und die traumhaften Harmonien, die sie dort vernahm, übertönten des Alltags gleichmäßig leiernde weise; durch jene Gefilde schwebte ja auch ein blauer Märchenprinz, der auf Erden ein Dragoneroffizier war.
Und welch seltsame Möglichkeiten malte sich Ilse doch aus, wenn sie abends spät im Dunkeln noch einmal ans offene Eckfenster trat. Drüben im Garten schliefen dann längst die Rehe, aber den Fliederduft und das raunende Rauschen der Bäume wehte der Nachtwind ihr zu. Geheimnisvolle Lieder glaubte sie zu vernehmen, süße Töne, die sie wie auf weichen Schwingen in ferne Sphären trugen. Ihr Herz dehnte sich dabei in einer unendlichen Sehnsucht – wonach sie sich aber sehnte, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Worte gab es dafür nicht, nur in leisen Melodien – die von selbst aus ihres Wesens Tiefen auf ihre Lippen stiegen, erzählte sie es alles der lauschenden Nacht. Es war in ihr ein beinahe schmerzhaft starkes Empfinden der Frühlingsschönheit da draußen, ein unbewußter Wunsch, dies Empfinden noch irgendwie bis zur Unerträglichkeit zu steigern, ein hilfloses Tasten in lauter Unbekanntem, ein Bedürfnis der Hingabe, der Aufopferung, der Selbstvernichtung. Aber strahlende Persönlichkeiten, hehrste Aufgaben müßten es sein, für die sie das eigene Ich darbringen würde. Mit dem kränklichen Papa abends Patiencen legen, Greinchen die Strickwolle wickeln, das waren keine Dinge, für die man sich begeistern konnte – und Begeisterung – ja Begeisterung war das Element ihrer Seele. Im Schwung und ergriffen von etwas Großem – da würde sie alles vermögen, da würde Opfer Wonne sein.
Von Kriegsgefahren war zu jener Zeit, wie so oft im Frühjahr, mal wieder die Rede auf der Welt. Ilse durchfuhr das Wort wie eine scharfe Klinge; sie sah sofort im Geiste das blaue Regiment stolz und glänzend ausrücken, sah es in steter Gefahr weiter ziehend durch feindliches Land, sah den blauen Ritter in mörderischer Schlacht. Aber – nicht allein sollte er da sein – nein, als Marketenderin, als barmherzige Schwester, irgendwie würde es ihr gelingen, bei ihm zu stehen, und irgendwie würde sie die ihm bestimmte Kugel auffangen, würde sich schützend vor ihn werfen und sein Leben durch Hingabe des ihren retten! Und bei dem Gedanken an solch Sterben, für ein des Sterbens wertes Ziel, glaubte sie nicht banges Trauergeläut zu vernehmen, sondern ihre Seele war erfüllt vom siegreichen Klang einer jubelnden Fanfare.
Eine verspätete, in nüchterne Jahrzehnte verschlagene Romantikerin mußte wohl die kleine Ilse sein, mit der regen, Gaukelbilder schaffenden Phantasie, der nach großen Erlebnissen dürstenden Seele, der schwärmenden Begeisterung – doch daß sie es war, ahnte sie nicht, war sich selbst noch größtes Geheimnis, wußte auch nicht, daß wem die Fähigkeit jauchzenden Jubels gegeben, ebenso die des grenzenlosen Verzweifelns eigen zu sein pflegt.
Statt eines Krieges brachte dann aber der Frühling einen verspäteten Ball. Von einigen Familien wurde er im Klub des Städtchens arrangiert. Es war das erste derartige Fest, das Ilse mitmachen durfte. Ganz plötzlich hatte Papa den Entschluß gefaßt, sie hinzuführen. Papa auch war es, der ihr dort einen Herrn von Zehren vorstellte – ein belangloser, älterer Herr, wie es Ilses siebzehn Jahren schien – der Besitzer eines großen Gutes, wie Papa ihr nachher erzählte. Herr von Zehren führte Ilse korrekt und würdevoll durch die verschiedenen Touren einer Française, und führte sie ebenso zum Souper. Er sprach dabei von dem ethischen Werte des die Gesinnungen befestigenden Landlebens; er schilderte den segensreichen, zurückhaltenden Einfluß, den Großgrundbesitzersfrauen berufen seien, auf die dem zügellosen Stadtleben zustrebende ländliche Bevölkerung auszuüben; er erwähnte, daß seine eigene Mutter das Muster einer also tätigen Landedeldame sei. Ilse schaute ihn bei diesen Worten zum erstenmal näher an: er mußte doch wohl jünger sein, wenn er noch solch eine Mutter besaß. Sie selbst hatte längst keine mehr. – Ein Gefühl der Einsamkeit überschlich sie da mitten im Balle, und es fuhr ihr durch den Sinn, wie schön es sein müßte, gerade heute eine Mutter zu haben. Aber das alles war nur wie ein Vorbeihuschen von Schatten. Nichts von all den neuen Eindrücken dieses Abends zählte ja neben dem einen langen Walzer, den sie mit dem blauen Märchenprinzen tanzte. Der allein war Wirklichkeit, weil er Traum war. Und er würde ewig unvergeßlich bleiben! Als sie längst daheim in ihrem weißen Bettchen lag, glaubte sie noch des Walzers Weise zu hören. Dies sanfte Wiegen, dies wehmütig Süße, das also war des unbekannten Lebens Melodie? Und wie seltsam war doch das Gefühl gewesen, das sie beschlichen hatte, als er zuerst beim Tanz den Arm um sie gelegt – anders wie bei all den anderen – beinah, ja beinah wie ein bißchen Angst. Aber wovor? War es vielleicht eher Angst um ihn? Er gehörte ja einem heldenhaften, aber so gefahrvollen Berufe an! Jeden Augenblick konnte das Vaterland sein Leben fordern! Was für ein Idealist war doch solch ein Dragonerleutnant! Und welch schmerzliche Seligkeit müßte es sein, um ihn sorgen und zittern zu dürfen!
Während der nächsten Tage war eine große erwartungsvolle Unruhe in Ilse; immer wieder eilte sie zum Eckfenster, summte leise des Walzers Melodie vor sich hin und spähte hinab auf die Straße – aber die eine blaue Uniform, nach der sie Ausschau hielt, kam nicht vorüber.
Statt dessen kam Herr von Zehren Papa zu besuchen, und Papa behielt ihn zu Tisch da. In aller Eile gab Greinchen für Friedrich ein Paar frische weiße Baumwollhandschuhe zum Servieren heraus und ließ noch schnell ein Gericht einschieben – eine Büchse Schoten und gewickelte Eierkuchen als Beilage – und das Kompott wurde als süße Speise serviert mit Waffeln vom Konditor, die das Stubenmädchen atemlos geholt hatte.
Bei dieser Gelegenheit erfuhr Ilse, daß ihr Vater Herrn von Zehrens Mutter früher gekannt hatte. Wie tätig sie damals war, hob auch er hervor. Ja, solch eine energische Frau! welch Glück für den Mann, welch Beispiel einem ganzen Hauswesen! Greinchens gutmütiges Bulldoggengesicht nahm dabei einen ganz ungewohnt bissigen Ausdruck an, und Ilse dachte an die eigene tote Mutter – ob die wohl auch energisch gewesen? Sie wußte eigentlich gar nichts von ihr.
Und dann wandte sich Herr von Zehren mit der Frage zu ihr, ob sie das Landleben liebe? Ilse, die die Gabe besaß, bei Worten immer gleich Bilder zu sehen, erblickte im Geiste einen mit gelben Narzissen besäten Wiesengrund, durch den, unter überhängenden Erlen, ein Flüßchen plätscherte, zwei Menschen schritten Hand in Hand am Wasser entlang, zwei Menschen, die in Ilses Märchenland stets zusammen wandelten. »Oh ja!« antwortete sie inbrünstig, nur die selbst beschworene Vision sehend, »das Landleben müßte … himmlisch sein«. »Das freut mich sehr«, sagte Herr von Zehren so feierlich, als ob er Begleitworte zu einer Kirchengrundsteinlegung spräche.
Und wieder vergingen einige Tage, was konnte nur geschehen sein, daß er gar nicht mehr vorbei kam? War er krank oder verunglückt? Einen schrecklichen Sturz draußen in der Setzallee des Waldes, wo die Offiziere ihre Pferde trainierten, sah Ilse sogleich vor sich, aber dann sagte sie sich, daß solches Begebnis doch im ganzen Städtchen längst bekannt geworden und auch zu ihr gedrungen wäre. Und dann kam die Erklärung.
Das Abendessen war eben abgetragen worden, Greinchen hatte die Brille aufgesetzt und aus ihrem Arbeitskorb die defekte Damastserviette genommen, die sie heute noch stopfen wollte, da trat Friedrich ein, der alt war wie alles in diesem Haushalt und überreichte Papa die Abendpost. Der schaute zuerst ein bißchen in die Zeitungen, dann öffnete er den einen Umschlag der dabei lag. Ilse konnte sehen, daß er eine gedruckte Anzeige enthielt.
»Schau, schau«, sagte Papa, nachdem er sie gelesen, »der hat sich also verlobt«. Er schob das Blatt Ilse hin: »Ein hübscher flotter Kerl – ich glaub, du hast neulich auf dem Ball auch mal mit ihm getanzt – die Familie der Braut kenn ich dem Namen nach – reiche Industrielle vom Rhein – für ‚nen armen Leutnant höchst erfreulich, wirklich höchst erfreulich! – Ja, und nun Ilse, reich mir die Karten her – ich will dir noch einmal die Myrtenpatience zeigen, aber du mußt auch wirklich acht geben, daß du sie endlich lernst.
Tagelang nachher ging die arme kleine Ilse mit dem Gefühle umher: »So etwas überlebt man nicht«. Ältere Menschen würden ob dieses Glaubens gelächelt haben, mit ein bißchen wehmütiger Sehnsucht nach den eigenen Jahren, da solch Empfinden noch möglich war; aber keine älteren Menschen erfuhren ja, daß dem Kind eine Welt vernichtet worden, wenn auch nur eine geträumte Welt. Ilse besaß niemand, mit dem sie sich aussprechen konnte, die Wirklichkeit, die sie umgab, war für Gefühlsgeständnisse wenig geeignet – vielleicht war das mit ein Grund, daß sie sich so leicht ein Märchenschloß geschaffen hatte. So versenkte sie sich ganz in das, was ihre siebzehn Jahre für einen lebenslänglichen Kummer hielten. – Was wäre denn das auch für ein Gefühl, das nicht lebenslänglich wäre? fragte sie sich mit der Intransigenz der Jugend, die nur Werden und noch nie Vergehen erlebt hat.
Als sie dann aber bemerkte, daß die Tage sich aneinander reihten, ohne den erwarteten Tod zu bringen, ja daß sogar der anfängliche Appetitmangel und die Schlaflosigkeit vor der Macht der Zeit wichen, sagte sie sich: »Ich bin offenbar zum Sterben zu gesund und vielleicht ist das gut so, denn für den armen kränklichen Papa wäre es doch hart, ganz allein mit Greinchen zurück zu bleiben, aber aller Hoffnung und Lebensfreude bin ich gestorben, für mich kann es nur noch ein Dasein strengster Pflichterfüllung geben«. Und wie einst das Zauberschloß des blauen Ritters so malte sie sich nun die graue Stadt des Entsagens aus. Zwischen Papa und Greinchen würde sie die vielen, vielen Jahre vorüber schleichen sehen, und je älter Greinchen würde, desto mehr würde es ihr zufallen, die Damastservietten zu stopfen und aufzupassen, daß die Fenster ganz so blitzblank geputzt würden, als ob es sich je noch verlohnen könnte, durch ihre Scheiben hinauszublicken. Ja, so würde des Lebens Melodie werden! Keine wiegende, wehmütig süße Walzerweise – nein, eintönig knarrend wie ein Göpel, den müde Pferde im Kreise drehen.
Ilses Interesse an den Rehen des gegenüber liegenden Gartens, den Torten des schäbigen Konditorladens und den frühen Predigten Pastor Schmidts war völlig geschwunden, und wenn sie jetzt von weitem das Pferdegetrappel ausrückender Schwadronen vernahm, so schloß sie eiligst das Eckfenster, setzte sich ans Klavier und übte Tonleitern, mit aller Kraft ihrer schlanken Finger. Es war überhaupt merkwürdig, wie sehr in dieser Zeit der alte Flügel sie anzog, von dem sie mal gehört, daß er noch von der Mutter ihrer Mutter stamme. Als sei er ihr einziger Freund. Ein Freund, von dem sie dunkel ahnte, daß er Töne für alle leiden berge, wenn es nur gelänge, sie ihm zu entlocken. Suchend tastete sie nach dem, was in den Saiten schlummern mochte, in schmerzlichem Bedürfnis sich selbst auszusprechen, wußte nicht, daß dieser künstlerische Drang, für inneres Erleben eine besondere Sprache zu finden, ein ererbtes Gut war, von der einstmaligen Besitzerin des Flügels auf sie, die Enkelin, übergegangen. – In Einsamkeit stand sie vor all dem sich unbewußt leise in ihr Regendem. Der wohlmeinende, aber stets kränkelnde Papa, das um dessen Gesundheit dauernd besorgte Greinchen waren wohl nicht die geeigneten Menschen, dem Kinde sein inneres Wesen zu erklären und seinen Lebensweg so zu leiten, daß die Anlagen, die ihm durch Abstammung überkommen sein mochten, Entfaltung fänden. – So kam es, daß Ilse weniger noch von sich wußte als andere Siebzehnjährige, und bei der völligen Abgeschiedenheit, in der sie gelebt, auch gar nicht ermessen konnte, welcher Boden künftig ihrer Entwicklung gedeihlich sein würde.
So vergingen einige Monate, die Ilse so schrecklich lang schienen, wie die Zeit nur die noch ganz Jungen dünkt.
Dann erhielt sie einen Heiratsantrag von Herrn von Zehren.
Sie erhielt ihn durch Papa übermittelt, denn der Bewerber war ein korrekter Mann und hatte sich vor allem der väterlichen Zustimmung vergewissert.
»Ich brauche dir nicht erst zu versichern, daß du in deinen Entschließungen völlig frei bist«, sagte Papa, »aber ich kann nicht umhin, zu bemerken, wie sehr ich hoffe, daß du den ehrenvollen Antrag dieses ernsten Mannes wohl überlegen wirst«.
»Möchtest du denn nicht lieber, daß ich immer bei dir und Greinchen bliebe?« fragte Ilse.
»Wie könnte ich etwas so Unvernünftiges wünschen«, erwiderte Papa, »ich bin alt und krank, und in Herrn von Zehrens Händen wüßte ich dich sicher geborgen, wenn ich mal die Augen schließe. Seine Charaktereigenschaften bieten die Gewähr für ein solides, fest begründetes Familienglück«. Dann sprach Papa weiter von der materiellen Lage, die durchaus befriedigend und sicher sei. »Seit dem Tode seines einzigen Bruders ist Herr von Zehren Besitzer des Fideikommisses Weltsöden im Kreise Sandhagen, das er mit Hilfe seiner Mutter selbst bewirtschaftet. Er hat mir klar und offen über die dortigen Verhältnisse Aufschluß gegeben; es scheint ein Besitz zu sein, aus dem sich mit Kapital noch viel machen ließe. Und du hast ja das Vermögen deiner Mutter. Auch an künftige politische Betätigung denkt Herr von Zehren. – Auf eines freilich muß ich dich aufmerksam machen: er ist ein pflichteifriger Mann, gewohnt sich selbst nie zu schonen – als solcher wird er auch große Anforderungen an seine Frau stellen. Ein Leben ohne Verantwortung wie bisher wirst du dort nicht führen können: Du wirst großen Pflichten und Aufgaben gegenüber stehen.« Was Papa beinahe widerstrebend, um der Forderung unparteiischer Sachlichkeit zu genügen, hinzugesetzt hatte, und was manch anderes Mädchen abgeschreckt hätte, das war nun gerade für Ilse das Entscheidende. Hohe Pflichten und Aufgaben? Die wünschte sie sich ja! Nach einer Enttäuschung wie der jüngst erlebten, konnte es ja gar nichts anderes mehr für sie geben, – das Leben sollte hart und schwer sein und viel von ihr fordern, sie war bereit, großen Zwecken zu dienen. – An Herrn von Zehren selbst dachte sie dabei kaum – es erschien ihr wie eine Erleichterung und Rechtfertigung, daß sie für ihn so gar nichts von dem empfand, was ihre Phantasie für den Helden ihrer einstmaligen Träumereien erfüllt hatte.
So erklärte sie ihrem sichtlich erfreuten Vater ihre Bereitwilligkeit, die Werbung des ernsten pflichteifrigen Mannes anzunehmen.
Papa eilte aus dem Eckzimmer, wo die Unterredung stattgefunden und kehrte alsbald mit Herrn von Zehren zurück. Ilse hatte sich sein Erscheinen nicht so unmittelbar vorgestellt, und nun ward ihr doch etwas bang zumute, besonders als Papa sagte: »Jetzt sprecht Euch aus, liebe Kinder, ich will nicht stören«, und sie mit dem Fremden allein ließ.
Herr von Zehren kam mit langen Schritten zu ihr ans Eckfenster und ergriff ihre Hand. Er war sehr lang und sehr mager, und seine hagere Gestalt mit den abschüssigen Schultern endete in einem auffallend kleinen Kopfe. Er nahm in Wahrheit wenig Platz ein, aber Ilse war, als fülle er plötzlich das ganze Zimmer mit seiner Gegenwart. Unwillkürlich trat sie noch dichter ans Fenster zurück.
»Die Antwort, die mir soeben übermittelt worden ist, beglückt mich unendlich«, begann er. Sie wußte nicht, was darauf zu sagen und schwieg daher. Er fuhr fort: »Ich heiße Theophil, liebe IIse, willst du mich so nennen?«
»Ja, Herr von Zehren,« antwortete sie, »ich werde Sie Theophil nennen, wenn Sie es wünschen.«
Er lächelte, wie mädchenhaft scheu sie doch war!
»Aber du mußt auch du zu mir sagen«, sagte er.
»Ja, das werde ich wohl müssen, … aber … meinen Sie wirklich … schon jetzt?«
»Ich bitte dich darum!« Plötzlich beugte er sich von seiner ganzen langen Höhe herab, und sie hatte die Empfindung, als sei sie unter die Klinge eines scharfen Taschenmessers geraten, das auf sie niederklappte. Sie hielt den Atem an. – Es tat aber nicht weh. Er hatte sie auf die Haare geküßt, und ein bißchen von dem Kuß hatte noch gerade ihre Stirn gestreift. Es war eine gleichgültige Empfindung … eigentlich gar keine. – »Bei den meisten Dingen ist offenbar die Angst vorher das Schlimmste«, philosophierte Ilse innerlich, »was verheiratet sein eigentlich ist, weiß ich nicht, und hab ja auch niemand, den ich fragen könnte – aber damit wird es wohl ebenso gehen!«
»Hast du mich denn etwas gern?« hörte sie indessen Herrn von Zehren fragen.
»Nicht so sehr wie Papa und Greinchen«, antwortete sie sofort, »ich kenne Sie, … dich ja auch noch nicht so lange.« Und dann setzte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, hinzu: »Wenn Sie aber meinen, daß das nicht genug ist, um sich zu verheiraten, so sagen Sie es mir bitte, nicht wahr? Ich habe so ein Gefühl, als ob es beim Heiraten vieles geben mag, was Sie besser wissen müssen als ich!«
Es war doch erquickend, solcher Unberührtheit in unserer Zeit zu begegnen, dachte er und sagte: »Du empfindest genau, wie man es von einem wohlerzogenen Mädchen unserer Gesellschaft nur wünschen kann, liebe Ilse. Wir erwarten ja auch von der Frau, die wir heiraten, eine andere Art Gefühle wie … wie … nun wie von den anderen. Und Liebe? – Nun, die findet sich bei gut gearteten, pflichtbewußten Frauen ganz von selbst in der Ehe.«
Am Abend dieses Tages schrieb Herr von Zehren seiner Mutter: »Sie ist in allem noch sehr jung, beinahe ein Kind, aber voll der besten Absichten und sicherlich leicht lenkbar, so daß alles Unerwünschte, genial Künstlerische, was etwa von der singenden Großmutter auf sie übergegangen sein könnte, ohne Mühe im Keim zu ersticken sein wird. Möchte es Dir, verehrteste Mutter, gelingen, sie zu modeln, daß sie Dir möglichst ähnlich werde! Ihre Gesundheit, nach der Du fragst, scheint mir vortrefflich: sie hat tadellose Zähne und volles Haar; sie ist noch recht mager, aber von ihrem guten Appetit konnte ich mich überzeugen und ich hörte, wie Fräulein Greiner sie ob ihres üblichen zehnstündigen Schlafes neckte; ich hielt es für richtig, da gleich zu erwähnen, daß in Weltsöden Winters um sechs und Sommers um fünf aufgestanden wird. Das Vermögen, das sie von ihrer Mutter direkt geerbt hat, das aber, wie Du weißt, vom alten Herzog Bernhard, ihrem morganatischen Großvater, stammt, ist größer noch, als wir dachten – so bildet es immerhin eine Entschädigung für die durch die Großmutter so sehr gestörte Ahnenreihe. Die Zinsen hat der Vater nicht, wie ihm freistand, verausgabt, sondern sie alljährlich zum Kapital geschlagen. Ich werde es jetzt, bei der Urbarmachung von Wüste Teufelstrift, gut verwenden können. – Der Vater scheint mir recht abgängig zu sein, und von ihm hat sie ja auch noch mal ein Erkleckliches zu erwarten. Väterlicherseits hat sie nur ganz entfernte Verwandte, wie Du wohl schon aus dem Gotha ersehen haben wirst; mütterlicherseits sind überhaupt keine vorhanden, was unter den gegebenen Verhältnissen ja eine Erleichterung ist.«
Gleich nach der Verlobung reiste Herr von Zehren auf sein Gut zurück, und Ilse hatte die Empfindung, als sei eigentlich gar nichts Besonderes geschehen, nur daß sie an einem ihrer schlanken Finger einen glatt goldenen Reif, ihren künftigen Trauring, trug, der die Tendenz hatte, leicht herabzurutschen, und daß Greinchen sie häufig lang und innig ansah, sich die Augen wischte und flüsterte: »So eine glückliche Braut, das ist doch was zu Schönes«.
Und dann fuhr Papa mit ihr auf einige Tage nach Berlin. Dort sollte sie verschiedene Verwandte ihres Verlobten kennen lernen und mit ihrer künftigen Schwiegermutter zusammentreffen, die es bereitwillig übernommen hatte, für Ilse die Ausstattung auszusuchen »wie sie sich für Weltsöden schicke«. – Dieser Begegnung ging Ilse mit sehnsüchtig pochendem Herzen entgegen, denn wie nun auch das Verheiratetsein sich erweisen mochte, eine Mutter zu besitzen, mußte unter allen Umständen schön sein!
Die verwitwete Frau von Zehren, geb. von Saßmacken, war beinahe ebenso lang wie ihr langer Sohn, aber wo er vertrocknet und verwittert war, hatte sie sich ausgedehnt, nicht zu Rundungen, sondern zu weiten Flächen. Es war alles groß an ihr, mit Ausnahme der Augen, die klein, schlau und wie versteckt hinter den weiten Backenflächen lagen. Die laute, häufig in polterndes Lachen übergehende Stimme erweckte zuerst nur den Eindruck ländlich ungenierter Derbheit; sie schien zu sagen: »Ich habe stets so laut sein dürfen, wie ich wollte, denn ich erscholl ja immer nur über eigenen Feldern«. Sie konnte aber auch bisweilen eine zweite Klangart annehmen, die weniger bieder, sondern mehr hart und herrisch war.
Mit kräftig zupackenden Händen, die an breiten Gelenken saßen, faßte Frau von Zehren ihre künftige Schwiegertochter bei den Schultern, zog sie ans Licht und sagte: »Also dich hat sich mein Theophilchen ausgesucht? na, laß dich mal anschauen«.
Ilse hatte dabei die Empfindung, als würde sie von einem Elefanten inspiziert; es beruhigte sie, sich dabei zu erinnern, daß diese Dickhäuter in der Naturgeschichtsstunde als gutmütige Tiere geschildert wurden – besonders rührende Geschichten gab es ja über ihre Freundlichkeit gegen die kleinen Kinder in Indien – doch als sie zu Frau von Zehren aufschaute und in ihre kleinen Augen blickte, erinnerte sie sich plötzlich, gelesen zu haben, daß die Elefanten bisweilen auch sehr böse werden können und dann in der Wut alles niedertreten.
Die Schwiegermutter war doch ganz anders, als sich Ilse eine Mutter vorgestellt hatte!
Frau von Zehren ihrerseits äußerte, nach diesem ersten Zusammentreffen mit der künftigen Schwiegertochter, zu ihren beiden Schwägerinnen, Askania und Lidwine, die für die große Gelegenheit ebenfalls nach Berlin gekommen waren: »Wenn man von der Ilse abrechnet, was die Schneiderin an Spitze und Chiffon hinzu getan hat, so bleibt für mein Theophilchen wenig genug übrig.«
»Aber im wesentlichen ist es doch eine erfreuliche Partie, liebe Gottliebe,« warfen die Fräulein von Zehren schüchtern ein. Sie waren magere, eingeschrumpfte alte Jungfern; in ihrer Jugend hatte man ihnen die sich ihnen bietenden Heiratsmöglichkeiten ausgeredet, »damit das Geld nicht aus der Familie gehe«; jetzt lebten sie abwechselnd in Weltsöden und in dem benachbarten adligen Stift zum heiligen Dornenkranze, dem sie angehörten, und die Familie, der man sie einst geopfert, war zu ihrem Götzen geworden. Sie darbten und sparten an allen Ecken, um dem in Theophils hagerer Person verkörperten Begriff dereinst etwas mehr hinterlassen zu können.
Am Abend dieses Tages gab Frau von Zehren in einem der großen Berliner Hotelrestaurants zu Ehren der Verlobten ein Diner, bei dem sie die Zehrensche und Saßmackensche Verwandtschaft vereinigte.
Man konnte sofort erkennen, zu welcher der beiden Familien die Einzelnen gehörten. Die Zehren waren alle dürr und zusammengeschrumpft, die Saßmacken dagegen breit und auseinanderfließend, so daß die ewig hungrig ausschauenden Zehren wie verwitterte Felsen zwischen den weiten Flächen der wohlgenährten Saßmacken hervorragten. Die Herren hatten alle das Johanniterkreuz aus weißem Tuch auf den Frack geheftet; ein paar Damen trugen Diamanten in geschmacklosen Goldfassungen, andere begnügten sich mit Broschen aus Hirschzähnen; Tante Askania und Tante Lidwine aber hatten, wie bei allen ganz feierlichen Anlässen, die blank getragenen Schwarzseidenen angelegt, in denen sie dereinst auch begraben sein wollten, und auf ihren verkümmerten Busen ruhte, gleich einem Symbol der Entsagung, das silberne von einem Dornenkranz umschlungene Kreuzabzeichen ihres Stiftes.
Laute Stimmen hatten sie alle; die Männer sprachen, als kommandierten sie auf Exerzierplätzen, die Frauen, als trieben sie Mägde auf Gutshöfen zur Arbeit an. Papas Stimme konnte Ilse in dem Gedröhne gar nicht vornehmen. Wie fein und schmal er doch mit seinem welken, leidenden Gesicht neben Frau von Zehren aussah! Und Ilse, für die Papa bis dahin eigentlich nur eine entfernte, geheimnisvolle Respektsperson gewesen war, empfand da plötzlich und zum erstenmal ein Gefühl naher Zusammengehörigkeit. Sie hätte dem gern nachgesonnen, aber da stand schon der Onkel Zehren-Kummerfelde – Eiffel-Zehren, wie man ihn nannte – in seiner ganzen Länge auf, klopfte ans Glas und erklärte schnarrend, daß in den hier vertretenen altpreußischen Familien von jeher jedwedes Lebensereignis zuerst einen Blick zum Throne hervorgerufen habe, und daß dieser Geist noch heute in ihnen allen lebendig sei – und in diesem Sinne fordere er die Anwesenden auf, mit ihm zu rufen: Seine Majestät, der König, Er lebe hoch! hoch! hoch! – Alle Anwesenden waren aufgesprungen; die ältere Generation stimmte in das Hoch schallend ein; die jüngeren Herren dagegen schrien eifrig: Hurra, Hurra, Hurra!
Kaum hatte sich der Onkel Zehren-Kummerfelde gesetzt, so erhob sich der Vetter Zehren-Kandau und bewillkommnete die Braut in der »Familie«. Dies Wort mußte sicher mit lauter großen Buchstaben geschrieben sein, so feierlich wurde es ausgesprochen. Und Ilse erfuhr, daß die Zehren viel älter landeingesessen seien als das Herrscherhaus, zu dessen Throne sie bei allen Gelegenheiten emporblickten; sie hörte, wie Thilo und Witold Zehren einst der Schrecken der Straßen gewesen waren, und die Reisenden des Mittelalters Gott mit Zähren um Schutz vor den Zehren angefleht hatten; sie hörte, daß alle Zehrensche Burgen und Güter im dreißigjährigen Kriege zerstört worden seien, und noch heute die Wüste Teufelstrift öde und verlassen an der Stelle läge, wo einst blühende Gehöfte gestanden, die die Kaiserlichen und Schweden niedergebrannt hatten. Das erste Haus, was nach jenen Schreckensjahren von dem einzig überlebenden Zehren, Kaspar Zehren, wieder aufgebaut worden war, hatte er dann »Weltsöden« genannt. Und Segen hatte auf diesem Hause gelegen, es war zum Stammsitz des seitdem weitverzweigten Geschlechts geworden, die jüngeren Linien Zehren-Kummerfelde, Zehren-Kandau, Zehren-Wansen waren aus ihm hervorgegangen. Ja wahrlich, Gottes Verheißung: Dein Same soll sein wie Sand am Meere, war an den Zehren in Erfüllung gegangen! – Sie alle hatten dann als Staatsbeamte und Militärs, vor allem aber als Landjunker, jene kernigen Eigenschaften besessen, von denen man wohl sagen darf, daß die Größe Preußens auf ihnen beruht, erklärte der Redner mit biederer Selbstgefälligkeit, und ihre Frauen hatten sämtlich auch noch zum guten alten Schlag gehört, wo die Frau in den Interessen des Mannes aufgeht und nichts eigenes mehr kennt; eine jede von ihnen hatte auch das Hab und Gut der Familie wacker gemehrt. – Als Schlußeffekt erwähnte dann Vetter Zehren-Kandau, daß ein Ahnherr eine vom Landesfürsten einst beabsichtigte Standeserhöhung abgelehnt habe, weil kein Menschgeborener einen Zehren zu erhöhen vermöchte.
Die Rede sollte eigentlich Ilse gelten, aber es war eine Eigentümlichkeit aller Zehren, daß sie stets auf die eigene Bedeutung zu sprechen kamen, und als der Kandausche Vetter sich setzte, hatte er so viel Rühmliches über »die Familie« gesagt, daß Papa, der nun aufstand und auf sie sprechen wollte, kaum Neues mehr hervorzuheben fand. So entstand denn ein allgemeines Hochrufen und Anstoßen auf das Brautpaar. Dabei fiel Ilses neuer Ring, der die Tendenz hatte herabzugleiten, von ihrem schlanken Finger nieder und rollte auf den Tisch. »Ich glaube, wir müssen ihn wirklich etwas enger machen lassen,« sagte sie zu Theophil, aber Frau von Zehren warf ein: »Trag ihn doch vorläufig auf dem Zeigefinger, denn in Weltsöden sollst du mir schon dicker werden, da rutscht er nicht mehr herunter; Zehrensche Eheringe halten fest.«
Nach dem Essen stand man noch etwas bei Kaffee und Zigarren herum, und es wurde die blöde Glücksstimmung zur Schau getragen, in der sich die Menschen bei Verlobungen nun einmal gefallen, als habe noch niemand je von unglücklich ablaufenden Ehen gehört. Über den Likörgläsern machten Onkel und Vettern mit geröteten Gesichtern allerhand täppische Späße und flüsterten in wohl vernehmlichen stimmen Theophil all die zarten Neckereien ins Ohr, die, nach ihrem ländlich derben Geschmack, der Gelegenheit zu entsprechen schienen. Während dem wurde Ilse von Tanten und Basen gemustert und beurteilt und bekam noch viel über Weltsöden und die Familie zu hören.
Aber es wurde bald aufgebrochen, denn eigentlich war man sich doch ganz fremd. Die des Stadtlärms ungewohnten Landdamen gähnten schon längst verstohlen vor sich hin und sehnten sich, schlafen zu gehen, während die Herren im Gegenteil nur darauf brannten, den Frack mit dem keuschen weißen Kreuze gegen unscheinbarere Tracht zu vertauschen, um dann den angebrochenen Abend in Berliner Lokalen möglichst fidel zu beschließen.
»Heiliger Theophil, du mußt mit!« riefen die Jüngeren.
»Kindings, das schickt sich doch nicht für einen Bräutigam!« warf Onkel Eiffel-Zehren ein.
»Ach was! Nicht wahr, er darf doch? Du gibst ihm Urlaub, Cousinchen?« wandten sich einige Vettern lärmend an Ilse. Und ein ganz junger sagte beruhigend mit verschwommenen weinseligen Äuglein: »wir werden schon auf ihn achtgeben.«
»Achtgeben? Das hat unser Theophil doch nicht nötig,« rief ein anderer.
Während die Gesellschaft noch also im Hotelflur stand, und Mäntel und Hüte aus der Garderobe gebracht wurden, trat von der Straße kommend ein großer, schlanker Mann durch die Drehtüre ein. Sobald er Theophil erblickte, kam er auf ihn zu, und sie begrüßten sich wie alte Bekannte.
»Also Sie sind wieder in Deutschland?« fragte Herr von Zehren, »ich vermutete Sie in Petersburg?«
»Ach nein, von dort bin ich längst fort,« antwortete der Fremde. »Zuletzt war ich in Japan und augenblicklich habe ich einige Wochen Urlaub. – Doch Sie selbst? was führt Sie nach Berlin? ich dachte, Sie lebten jetzt ganz auf Ihrem Gute?«
»Allerdings, seit dem Tode meines Bruders ist das ja meine erste Pflicht,« antwortete Zehren gemessen, »denn nichts kann auf dem Lande die Aufsicht des Herrn ersetzen. Aber ich habe mich verlobt, und meine Mutter hat gerade heute hier ein Familiendiner für uns gegeben. Sie müssen meine Braut kennen lernen,« und sich zu Ilse wendend, sagte er: »Erlaube mir, dir Baron von Walden vorzustellen.«
Der Fremde verbeugte sich tief vor Ilse, und als er sie dann anblickte, fuhr sie plötzlich zusammen. Beinahe erschrocken, wo hatte sie denn schon solche Augen gesehen? und woher kam ihr sein ganzes Wesen so bekannt vor? woran erinnerte er sie nur? – Wie ein verblaßtes, aus weiter Vergangenheit auftauchendes Bild sah sie da, während eines kurzen Augenblicks, das Gesicht des blauen Ritters ihrer frühesten Träume noch einmal vor sich – aber schon war es fern, fern, wie in dichtem Nebel zerflossen. – Glich Herr von Walden etwa jenem? – Seltsam! sie konnte sich jetzt auf die einst so wohlbekannten Züge nicht mehr genau besinnen – es war, als habe der Fremde sie da in dieser Sekunde aus ihrem Gedächtnis verwischt.
»Wer war denn das?« fragte sie, als er sich empfohlen hatte und starrte ihm nach wie einer rätselhaften Vision.
»Wolf von Walden?« sagte Herr von Zehren gleichgültig, »oh, den kenn ich schon lange. Er kam auf die Universität ein Semester ehe ich abging, und jetzt ist er in der Diplomatie.«
»Wolf von Walden,« wiederholte Ilse leise, als sei es eine geheimnisvolle Zauberformel, deren verborgenen Sinn sie hinter dem melodischen Klange suche, »Wolf von Walden – ich habe doch den Namen noch nie gehört.«
»Nein, wahrscheinlich nicht,« antwortete Herr von Zehren, »er stammt nämlich aus einer Familie Siebenbürger Sachsen und erst er ist als ganz junger Mensch nach Deutschland zurückgewandert.«
»Warum tat er das denn?« fragte Ilse, und es war ihr dabei, als zwänge sie fremder Wille zu fragen.
»Na, vermutlich, weil die Deutschen sich dort nicht sonderlich wohl fühlen,« erwiderte Herr von Zehren. »Und er ist jemand, der sich gern betätigen und hervortun möchte. Schon als Student hatte er allerhand hohe Ziele und Ideen, schwärmte für ein Großdeutschland und solche gute Dinge.«
»Oh, das finde ich schön,« sagte Ilse wie träumend, »jemand, der von weither zu seiner ursprünglichen Heimat zurückkehrt und nun etwas ganz Großes für sie leisten möchte.«
»Na ja,« antwortete Zehren gönnerhaft, »ist ja auch ganz nett – aber eigentlich haben wir in Deutschland Deutsche genug.«
»Morgen um acht Uhr holst du mich ab,« hatte Frau von Zehren nach dem Diner zu Ilse gesagt, »hier in der Stadt sind die Leute ja alle Langschläfer, da findet man früh die Läden leer und kann in Ruhe aussuchen.«
Und so geschah es. Frau von Zehren hatte eine lange Liste all dessen aufgestellt, was in Weltsöden fehlte, und danach wurde nun Ilses Ausstattung zusammengesetzt. Dieses Ergänzungsverfahren war zwar praktisch und den Begriffen Zehrenscher Weltordnung wohl angemessen, aber für Ilse bot es wenig Befriedigung; sie konnte kein Interesse an all diesen vereinzelten Stücken gewinnen, die zu lauter ihr unbekannten Sachen passen sollten. Und während Frau von Zehren Heißwasserkannen und Linoleumteppiche für einige Fremdenzimmer bestellte, wo diese Dinge gerade schadhaft geworden sein sollten, schweiften Ilses Gedanken weit ab. was konnten das wohl für große Ziele sein, die für Deutschland zu erreichen waren? fragte sie sich sinnend. Und ihre Phantasie malte ihr abenteuerliche Entdeckungszüge in dunkle Erdteile aus und Verhandlungen mit wilden schwarzen Häuptlingen, worin diese, gegen einige Schnüre Glasperlen, weite Gebiete zur Besiedlung an blonde germanische Männer abtraten. – Über solche Bilder sah sie gar nicht die Emailwaschgeschirre, die Frau von Zehren für Dienstboten kaufte.
In einem Laden aber erwachte doch ihr Interesse. Da hatte man ihr weiße Möbel mit großblumigen Kretonnebezügen gezeigt, und sie rief: »So möchte ich mein eigenes Schlafzimmerchen haben!« Aber Frau von Zehren antwortete mit entschiedenem und alles weitere abschneidendem Tone: »Euer Schlafzimmer ist überhaupt fix und fertig. Es ist dasselbe, was mein seliger Mann und ich bewohnt haben, und wo auch mein Theophilchen geboren wurde. Die Einrichtung ist noch wie neu, Nußbaum mit hellbraunem Rips und Straminborten, die ich alle selbst zu meiner Aussteuer gestickt habe. Man war zu meiner Zeit fleißig mit der Nadel.«
Danach überließ Ilse alles ganz der Schwiegermutter, was diese selbstverständlich zu finden schien. Auch Theophil gab ja in allem seiner Mutter nach; er hatte sonst recht entschiedene Ansichten, wie Ilse allmählich erkannte, aber vor einer Einsprache der herrischen alten Dame wichen sie sofort. – Frau von Zehren verstand es eben meisterhaft, sich überall Geltung zu verschaffen; sogar die Berliner Ladenkommis flogen bei den Befehlen dieser Landedeldame mit der lauten Stimme, den langen flachen Hängebacken, listigen Äuglein und großen groben Händen, die so genau Leinwand auf Wert oder Unwert zu befühlen verstanden. – Als sie aber einmal in einem Laden nicht rasch genug bedient wurde, sah sie den Verkäufer durchbohrend an und sagte: »Guter Mann, sie scheinen nicht zu wissen, mit wem sie zu tun haben: Ich bin die Frau von Zehren auf Weltsöden.« – Und merkwürdigerweise wirkte es auf den verdutzten Jüngling, als habe sie gesagt: Ich bin der Polizeipräsident von Berlin.
Die mit Besorgungen angefüllten Berliner Tage glitten an Ilse vorüber wie der wirre Fiebertraum einer kranken Wirtschaftselevin. Allerhand ernsthafte, langweilige Dinge, Kupferkasserollen und Staubtücher, Spirituslampen und Bettvorleger, die alle seltsam bedrohliche Fratzen zu schneiden schienen, zogen da in feierlicher Polonaise vorüber. Sie wußten, das wichtigste für eine Ehe waren sie. Und Frau von Zehren erwies sich als unermüdlich in der Beschaffung dieser sicheren Grundlagen des neuen Hausstandes. Sie ließ Ilse dabei kaum zu Atem kommen, denn sie sagte: »Unnütz solle man nicht in den teueren Berliner Hotels herumhocken und nicht mehr als durchaus nötig gutes Geld vom Lande an die Städter verausgaben.«
Als Ilse dann wieder mit Papa zurück war in ihrem heimatlichen Städtchen, ging auch dort die Zeit schneller vorüber als je zuvor, und plötzlich war der Herbst und mit ihm der Hochzeitstag gekommen. – Ilse hatte einmal nach Weltsöden geschrieben, wie schön es doch sein würde, eine kleine Hochzeitsreise nach Italien zu machen, aber Theophil antwortete, daß er dazu leider keine Zeit haben werde, da er die Arbeiten in Wüste Teufelstrift selbst überwachen müsse. Frau von Zehren, der ihr Sohn offenbar Ilses Brief mitgeteilt hatte, schrieb ihrerseits: »Sie halte nichts vom faulen Herumlungern in welschem, katholischem Lande als Beginn eines norddeutschen Ehelebens – die Ehe sei kein Spaß, sondern die Übernahme ernster Pflichten gegen Land und Bevölkerung, man solle daher auch dort beginnen, wo man von rechtswegen hingehöre.«
Ernste Pflichten. Ja, ja, die wollte Ilse ja auch übernehmen, waren es denn nicht gerade die, die sie zuerst angelockt hatten? Ja – ja – aber – sie war doch vielleicht schon etwas weniger pflichtenthusiastisch als damals bei der Verlobung – und es blieb doch recht schade, daß die Reise nach Italien aufgegeben werden mußte.
Von ihrem Hochzeitstag erinnerte sie sich wenig. Wenn sie später daran zurück dachte, war es mehr ein theoretisches Rekonstruieren, wie es alles gewesen sein mußte. Die vielen Zehren und Saßmacken, die geschäftige Aufregung von Greinchen, der längs des gutmütigen Bulldoggengesichts beständig Tränen herabsickerten, die Feierlichkeit des alten Friedrich. Die Trauung hatte in der Stadtkirche auf dem Marktplatz stattgefunden. Theophils neun lange und eckige Nichten hatten mit allzu hohen Stirnen und straff zurückgekämmtem weißblonden Haar als Brautjungfern hinter ihr gestanden; die eine hatte gerade ein Gerstenkorn und die andere eine entzündete Oberlippe. Dann mußte wohl das Dejeuner gekommen sein mit den Reden und dem Vorlesen der von allerhand Ilsen meist unbekannten Menschen gesandten stereotypen Glückwunschtelegramme. – All das war unpersönlich und konnte bei vielen anderen Hochzeiten genau ebenso gewesen sein.
Nur an einen Augenblick erinnerte Ilse sich später als an ihr eigenstes Erlebnis. Als sie schon ihr Reisekleid angehabt hatte, blieb sie noch einmal am Fenster des Eckzimmers stehen und schaute hinüber zu dem großen Garten; die alten Bäume rauschten im Herbstwind, und die Rehe hatten sich eng aneinander gedrängt, unter ihrem Schutzdach vor dem beginnenden Regen geborgen. Papa war hereingekommen, um ungestört von ihr Abschied zu nehmen und da, ganz plötzlich, hatte sie sich ihm in die Arme geworfen, wie noch nie im Leben, mit einer sinnlosen, rasenden Angst im Herzen, die wie ein Ertrinken war. Sie hatte kein Wort herauszubringen vermocht, so sehr schüttelte sie ein krampfartiges Weinen. Und Papa hatte auch die Fassung verloren. Er klopfte sie unablässig auf die Schulter und sagte in einem fort: »Es ist ja gar nicht so schlimm, es ist ja gar nicht so schlimm.« Und bei diesen immer wiederholten Worten mußte Ilse, ebenso unvermittelt wie sie geweint, nun auf einmal lachen – denn gerade so und mit demselben Tonfall hatte ihr Papa einst zugeredet, wie sie als Kind krank gewesen und die Arznei nicht hatte nehmen wollen: »Sie schmeckt gar nicht so bitter, sie ist wirklich nicht so bitter.«
In diesem Augenblick hatte Frau von Zehren ins Zimmer geschaut und ungeduldig gemahnt: »Ilse, Ilse, es ist die höchste Zeit, der Wagen wartet.« Als sie aber das tränenüberströmte Gesicht ihrer Schwiegertochter erblickt, hatte sie sie mit kräftig zugreifenden Händen bei den Schultern gepackt und gerufen: »Ich glaub gar, du weinst? Du gehst doch in dein Glück! So einen Mann wie mein Theophilchen kriegt wahrhaftig nicht jedes Mädchen!« »Sie müssen das Kind entschuldigen,« hatte Papa sanft geantwortet.
Dann hatte Ilse plötzlich mit Theophil im geschlossenen Wagen gesessen, und in dem stärker und stärker gegen die Scheiben klatschenden Regen war es die Breitestraße hinunter und zum Bahnhof gegangen. In dem Eisenbahnkupee, als der Zug aus der Halle gerollt war, und die Stadt mit der nächsten ihr noch wohlbekannten Waldumgebung verschwand, und die Gegend fremd, wie ein neues Leben, wurde, hatte das krampfartige Weinen Ilse noch einmal gepackt, stumm und unbeholfen saß Herr von Zehren ihr gegenüber, in dem großkarrierten Reisemantel und einer ebensolchen Mütze, die für seinen Kopf etwas zu weit war. Seine langen, ungelenken Beine sprangen über den Sitzplatz weit vor, so daß seine mageren Kniee ihr Kleid streiften. Er tat ihr plötzlich leid, so daß sie noch schluchzend sagte: »Du mußt mir nicht böse sein.« Und Theophil antwortete feierlich: »Ich achte deine Gefühle, liebes Kind; sie sind mir eine Bürgschaft für die Zukunft, denn eine anhängliche Tochter wird sicher auch eine pflichttreue Frau werden.« – Da schlug Ilses Weinen unvermittelt in Lachen über, und sie rief: »Oh Theophil, genau dasselbe hat ja der Pastor heute früh bei der Trauung gesagt.« – »Ja,« antwortete er gemessen, »es war eine gute Rede – und nun – da wir ja hier allein sind, gestattest du wohl, daß ich mir eine Zigarre anzünde, ich kam nach dem Dejeuner nicht mehr dazu, und sie fehlt mir nach dem Essen.«
Abends spät trafen sie in Berlin ein. Dort wollten sie die Nacht bleiben und am nächsten Morgen weiterreisen nach Weltsöden.
Und nun war der nächste Morgen gekommen, wie auch solche Morgen schließlich einmal kommen. – Sie standen unten im Bahnhof Friedrichstraße. Ihr Mann nahm die Billette und gab das Gepäck auf. Er hatte nicht viel Übung im Reisen und schien nervös und hastig. Dadurch dauerte es sehr lange. Sie wartete etwas abseits beim Handgepäck. Mit großen Augen, in denen ein neuer, erschreckter Ausdruck lag, starrte sie vor sich hin. Unaufhörlich fuhren Droschken vor. Koffer, die von dem noch immer niederströmenden Regen durchnäßt waren, wurden von draußen angeschleppt und dann am Gepäckschalter nach den verschiedensten Weltgegenden aufgegeben – arme, zerstoßene, in dem grauen Wetter kläglich aussehende Dinge, die willenlos hierhin, dorthin mußten, nach fremdem Geheiß. Ist man denn selbst etwas so sehr anderes? dachte Ilse.
»Guten Morgen, gnädigstes Fräulein!« tönte es da plötzlich an ihr Ohr.
Überrascht wandte sie sich um.
»Herr von Walden?« sagte sie erstaunt und empfand wieder bei seinem Anblick jenes unerklärliche Gefühl, als habe sie ihn schon lange gekannt und fände ihn wieder.
Er hatte die Zigarette, die er rauchte, fortgeworfen und war zu ihr getreten; sie fühlte, daß er sie forschend betrachtete.
»Welch reizendes Zusammentreffen,« sagte er, »aber kann ich Ihnen nicht vielleicht irgendwie behilflich sein?«
»Oh nein, ich danke Ihnen,« antwortete sie, »ich warte nur … auf … die Billetts. Aber,« setzte sie hastig hinzu, »was tun Sie hier? verreisen Sie?«
»Ja,« antwortete er, »mein Urlaub ist abgelaufen, und ich stehe gerade im Begriff, mich auf meinen neuen Posten zu begeben – nach Marokko.«
»Ach,« rief Ilse sehnsüchtig, »wie schön muß das sein, solche Reisen machen zu können.«
»Ich freu mich auch sehr darauf,« sagte er, »aber Sie selbst, gnädigstes Fräulein, reisen doch auch, was ist denn Ihr Ziel?«
»Wir … wir fahren … nach …«
In diesem Augenblick kam Theophil, erregt und geschäftig, vom Gepäckschalter zurück. »Na endlich ist das erledigt,« sagte er, »was hat man mit den Kerls für eine Schererei! Nun komm aber rasch hinauf, liebes Kind! Da hast du dein Billett, du mußt es oben vorzeigen – aber verlier es nur nicht.« Jetzt erst gewahrte er Walden, der neben Ilse stand und verwundert von ihr zu ihm schaute, »Was, sie sind da, Walden? Guten Tag! Guten Tag! Aber verzeihen Sie! Wir müssen schnell hinauf!«
»Ja, mit welchem Zuge reisen Sie denn?«
»Schnellzug nach Sandhagen.«
»An der Ostbahn? Oh, da haben Sie noch Zeit. Na, ich begleite Sie hinauf, mein Zug geht ein paar Minuten nach dem Ihrigen.«
Während Herr von Zehren mit langen Schritten voranstürmte, hatte Walden Ilses Handtäschchen genommen und schritt neben ihr die Treppe hinauf.
»Also Sie sind schon verheiratet?« sagte er, und in seiner Stimme war jetzt ein anderer Klang.
»Ja,« antwortete sie leise, »seit gestern.«
»Wie … seltsam … ist doch das Leben,« murmelte er vor sich hin, und dabei fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er irgend eine Vorstellung verscheuchen.
Und wieder fühlte sie, daß er sie einen Augenblick forschend betrachtete, als läse er in ihren Zügen etwas Neues, etwas, das gestern noch nicht darin gestanden.
Da senkte sie die Augen.
Als sie wieder aufblickte, waren sie oben in der großen Bahnhofshalle angelangt. Er schaute sie jetzt nicht mehr an, sondern sprach mit Theophil.
»Ein interessantes Land, Ihr neuer Posten!« hörte sie ihren Mann zu Walden sagen.
»Ja,« antwortete dieser, »und eines der letzten, wo noch nicht alles an andere vergeben ist – es wäre schön, wenn sich da etwas für Deutschland machen ließe.
»Na, na,« meinte Theophil, »machen Sie man dort vor allem keine Verwicklungen! Schwärmer wie Sie haben schon oft Feuer und Blut über die Welt gebracht, und das Fatale bei solchen Geschichten ist, daß wir Steuerzahler nachher dafür aufkommen müssen, und daß die sozialdemokratischen Stimmen dadurch anwachsen.«
»Ich gehe ja nur als bescheidener Sekretär hin,« erwiderte Walden lachend, »da werde ich schwerlich Gelegenheit haben, ein Muspili zu entfachen.«
»Na Gottlob!« sagte Theophil und setzte dann hinzu: »Und wenn Sie das nächstemal auf Urlaub kommen, so besuchen Sie uns doch in Weltsöden.«
»Es wäre schon möglich, daß ich mal in Ihre Gegend käme,« antwortete Walden, »mein früherer Chef, Helmstedt, ist doch wohl Ihr Nachbar?«
»Sogar mein allernächster. Aber er ist bisher immer nur kurz dagewesen – die Gräfin hat, fürchte ich, keinen rechten Sinn für unser norddeutsches Landleben – aber vielleicht sind sie jetzt nach seinem Rücktritt mehr in Frohhausen.«
Doch da donnerte der Zug auch schon dröhnend und dampfend in die Halle. Die Waggontüren flogen auf. Eilige Menschen stiegen aus den Wagen, noch eiligere klommen hinein. Hurtige Träger belegten Plätze mit Handgepäck.
Nun lehnte Ilse am offenen Fenster ihres Abteils. Walden stand mit abgenommenem Hute unten auf dem Bahnsteig.
»Also – gute Fahrt!« rief er hinauf.
»Ihnen auch – glückliche Reise,« antwortete sie von oben.
Dann ging es wie ein plötzliches Erschauern durch die lange Reihe großer schwerer Wagen. Der Zug setzte sich in Bewegung.
Ilse schaute noch einmal zurück, und da war ihr, als habe sich Waldens Gesicht in dieser Sekunde völlig verändert – woher kam das Mitleid, die Trauer, die Ungeduld, in die sie da blickte? Wozu machte er die paar raschen Schritte dem Zuge nach, als wolle er ihn anhalten? Was hatte das zu bedeuten?
Aber schon waren sie aus der Bahnhofshalle heraus, ehe sie recht wußte, ob sie das alles denn auch wirklich gesehen hatte.
»Seltsam,« sagte sie sinnend, »wie wir diesem Herrn von Walden begegnen! Zuerst gleich nach unserer Verlobung und jetzt wieder gleich nach unserer Hochzeit – hat es nicht etwas – etwas Schicksalhaftes?«
»Schicksal,« antwortete ihr Mann, »ist ein Wort, das man nicht gebrauchen sollte – wir haben Pflichterfüllung und Gottvertrauen.«
Dabei zog er aus der Tasche seines großkarrierten Mantels die Kreuzzeitung, schob sie Ilse hin und vertiefte sich dann selbst in eine Broschüre über die Maul- und Klauenseuche.
Ilse hatte sich in die entfernteste Wagenecke gesetzt, wo seine weit vorspringenden Kniee ihr Kleid nicht streifen konnten. Sie schloß die Augen.
Es war später Nachmittag, als der Zug in Station Sandhagen hielt. Aus den tief hängenden Wolken drieselte ein feiner kalter Regen herab auf das weite, sandige, ewig dürstende Land. Ganz flach dehnte es sich aus, nur stellenweise anschwellend zu einstmaliger Dünenbildung. Kümmerliche, nordischem Krummholz gleichende Kiefern wuchsen da kärglich, alle durch den stetig wehenden Ostwind wie in trauernder Sehnsucht gen Westen geneigt. Die Stadt selbst lag weiter landeinwärts, man sah ihre Umrisse mit dem einen mächtigen Trutzturm grau in grau am Horizonte verschwimmen.
Einige Honoratioren waren von dort zur Station gekommen, um Herrn von Zehren zu beglückwünschen und als erste daheim erzählen zu können, wie die junge Weltsödensche Frau denn eigentlich ausschaue. Mit diesen stämmigen, vierschrötigen Herren mußte ein Glas geleert werden in dem kleinen Bahnhofsrestaurant, wo Töpfe mit verkümmerten Myrten am Fenster standen und auf der schokoladefarbenen Tapete, zwischen allerhand agrarischen Anzeigen, ein Öldruckbild der unglücklichen Königin Luise prangte, die einst in dieser Gegend auf ihrer Flucht gerastet haben sollte.
Jochem der Kutscher und Jürgen der Knecht, beide mit arg verregneten hochzeitlichen Sträußen im Knopfloch, verluden mittlerweile die Koffer zwischen Stroh auf dem Leiterwagen und breiteten eine Plane darüber; darauf fuhr Jürgen damit ab.
Als man dann endlich aus dem Bahnhofsgebäude heraustrat, sagte Herr von Zehren: »Aber Jochem, du hast ja den geschlossenen Wagen genommen?« »Ich dachte doch,« antwortete Jochem und kratzte sich hinterm Ohr, »von wegen die junge gnädige Frau, die doch aus der Stadt ist.« »Aber jetzt ist sie eine Landfrau, Jochem, und mit dem offenen Jagdwagen wären wir viel rascher vom Fleck gekommen.« – »Ja, zwei Stunden werden die Herrschaften bei den Wegen heute schon brauchen,« meinte der Stationsvorsteher, der Ilse in die schwere geschlossene Kutsche half. Dann stieg Theophil ein, Jochem knallte mit der Peitsche, an die er ebenfalls ein kläglich herabhängendes Sträußchen befestigt hatte, und das Gefährt setzte sich in Bewegung.
»Fatale Gewohnheit der Leute, dies Biertrinken,« knurrte Herr von Zehren nach einer Weile, »ich fürchte, die Kälte ist mir auf den Magen gefallen – aber weißt du, die Stadt Sandhagen wählt mit in unserem Kreise, und die Sozialdemokraten wühlen da schon gerade genug gegen uns – drum darf man‘s eben mit den paar guten Elementen nicht verderben.«
Nach einigen Minuten Fahrt hielt der Wagen, und durch die vordere Fensterscheibe gewahrte Ilse, wie Jochem oben auf dem Bock den Zylinder mit der Kokarde abnahm, ihn sorgfältig in eine Hutpappschachtel tat, die er hinter seinen Beinen wohl verborgen hielt und statt dessen eine Livreemütze aufsetzte. Dann ging es weiter.
Es dunkelte rasch. Ilse konnte bald nichts mehr von der Gegend unterscheiden. Sie fühlte nur, daß der Wagen die Chaussee verlassen hatte und dann auf tiefem Sandweg schwer und langsam weiter fuhr in die Finsternis hinein. An einigen besonders schwierigen Stellen hörte sie Jochem den Pferden ein ermunterndes »Man tau, man tau« zurufen – oder war das Papa, der zu ihr sagte: »Es ist nicht so schlimm, es ist nicht so schlimm« – sie wußte nicht mehr, was wirkliches Erleben, was träumendes Erinnern war. Aber sie mußte dann doch wohl eine Zeitlang fest geschlafen haben, denn plötzlich schreckte sie auf, konnte sich zuerst gar nicht recht besinnen, wo sie war und hörte dann Herrn von Zehren sagen: »Gleich werden wir ankommen.«
Der Wagen war in einen weiten Hof eingebogen. Auf der einen Seite sah Ilse hoch oben an einem Gebäude ein Transparent, an dem das Wort »Willkommen« in dem immer heftiger wehenden Winde unruhig hin und her flackerte, noch einmal aufflammte und dann zu erlöschen schien.
»Das hat der Verwalter am Giebel des Wirtschaftsgebäudes angebracht,« erklärte Theophil, »drüben auf der anderen Seite wohnen wir.«
Nun hielten sie vor dem Herrenhause. Aus der weit geöffneten Tür fiel Lichtglanz hinaus ins Dunkel, viele Menschen standen da wartend. Und Theophil stellte vor: Der Verwalter Rumkehr und seine Frau, die Hofmeister der Vorwerke, der Förster. »Na Treumann,« unterbrach er sich, »Sie haben sich ja auch mittlerweile mit der Anne Dore verheiratet?«
»Zu Befehl, vor vier Tagen,« antwortete strammstehend der große junge Förster, von dessen gebräuntem Gesicht die blaßblonden Haare und Brauen und die blauen Augen beinahe weiß abstachen.
»Und wo ist denn Ihre Frau?«
Eine junge rosige Frau, die mit strahlenden Augen zu dem Förster aufschaute, trat vor.
Wie glücklich sie aussieht! dachte Ilse, während Herr von Zehren weiter zu Treumann sprach: »Morgen komme ich raus und seh nach, wie weit Ihr in Teufelstrift seid.«
»Morgen schon?« entfuhr es dem erstaunten Förster.
»Gewiß,« antwortete Herr von Zehren feierlich und so laut, daß alle Umstehenden ihn hören mußten, »denn das Bewußtsein, eine Familie gegründet zu haben, muß uns erst recht mit neuem Arbeitseifer erfüllen.«
Und dann nannte er Ilse die noch übrigen, den Gärtner, seine Gehilfen, die Gartenweiber, den Schweizer, den Schäfer, die Mamsell, den Diener, die Mädchen.
Es waren beinahe lauter Leute aus der Gegend, die zum Teil schon lange auf dem Gute waren. Aus ihren meist wässerig blauen Augen schauten sie Ilse prüfend, aber ohne sonderliches Wohlwollen an: Sie war die neue Frau – ja – aber sie war vor allem eine Fremde, und vorläufig würde man sich ihr gegenüber abwartend verhalten. Unwillkürlich empfand das Ilse, und die wohlbekannten Gesichter der Leute daheim bei Greinchen stiegen in ihrer Erinnerung auf; sie hätte so gern ihr eigenes langgewohntes Mädchen von dort mitgenommen, aber Frau von Zehren hatte dagegen entschieden: »Fremde paßten nicht nach Weltsöden.«
Von den Menschen blickte nun Ilse zu den Dingen. An den Türen waren Girlanden aus Tannenreisern und Herbstlaub angebracht. Georginen saßen darin wie bunte regelmäßige Rosetten.
»Wie hübsch Sie alles geschmückt haben,« sagte Ilse freundlich.
»Ach wir hatten ja auch draußen so viel chinesische Laternen angebracht,« erzählte der Verwalter, »aber der Wind hat sie alle ausgelöscht – es wollte gar nicht recht festlich werden.«
»Auch die Georginen müßten viel schöner sein,« sagte der Gärtner, »aber sie sind mir zu sehr verregnet.«
»Ja,« warf die Mamsell ein und rümpfte die Nase, »sie riechen ganz säuerlich und lassen schon die Blätter fallen – wir werden die Girlanden bald wieder abnehmen müssen – auf alle Fälle, ehe die gnädige Frau Mutter zurückkommt, sie kann das nicht sehen, wenn irgendwo auch nur ein Stäubchen liegt.«
»Aber nun wollen wir zu Abend essen, Mamsell,« unterbrach sie Herr von Zehren, der die übrigen schon entlassen hatte, »ich möchte endlich was Warmes zu mir nehmen. Das kalte Bier von vorhin liegt mir immer noch auf dem Magen. Komm, liebes Kind!« Und damit führte er Ilse in das lange, niedrige, dunkel getäfelte Speisezimmer, in dem eine von Hirschgeweihen gehaltene Hängelampe den Eßtisch beschien. »Aber du hast ja falsch gedeckt, Peter,« wandte er sich sofort verweisend zum Diener, »hier oben an der Spitze ist doch der Platz meiner Mutter, der hat immer für sie frei zu bleiben; die gnädige Frau und ich werden rechts und links von ihr sitzen.“
Als Peter den Tisch umgedeckt hatte, sagte Theophil zu Ilse: „Es ist besser, daß das von Anfang an so gemacht wird, Mama kömmt ja in einer Woche hierher zurück.“
So saßen sie an jenem ersten Abend im Weltsödener Speisezimmer. Es gab da nahrhafte warme ländliche Gerichte, und Mamsell hatte rasch einen heißen Grog für Theophil gebraut. Der tat ihm wohl; er wurde sichtlich vergnügter, verlangte, daß Ilse auch davon koste, und einmal, als Peter gerade das Zimmer verlassen hatte, haschte er sogar über den Tisch nach ihrer Hand und drückte die dicken roten Lippen darauf, die wie ein Widerspruch in seinem mageren Gesichte standen. Ilse fuhr erschreckt zusammen, denn es war ihr gerade jetzt an diesem Tisch, der mit seinen Blumen und Früchten etwas beruhigend Behagliches hatte, zum erstenmal gelungen, all das aus ihrem Gedächtnis zu bannen, was sie den ganzen Tag wie ein unheimliches Gespenst hinter sich gefühlt hatte. – Sie schaute ihren Mann angstvoll an und gewahrte in seinen Augen den seltsamen Ausdruck wieder, den sie seit gestern abend kannte.
Sie schob ihren Teller weg und wäre am liebsten davongelaufen – den ganzen weiten Weg zurück zu Papa und Greinchen – aber das war ja unmöglich. Sie kam sich plötzlich völlig verloren und hilflos vor. Nun zwang sie sich, recht langsam weiter zu essen. Das hielt wenigstens Peter im Zimmer. – Aber auch das zierlichste Spielen mit einer Treibhaustraube, das gedankenverlorenste Zerpflücken der Verveineblättchen im Wasser der Fingergläser und das sorgfältigste Abtrocknen der gewölbten rosa Nägelchen muß schließlich ein Ende nehmen.
Herr von Zehren war aufgestanden.
»Nun wirst du mir das ganze Haus zeigen, nicht wahr?« bat sie.
»Nein, dazu ist es heute wirklich zu spät, liebes Kind,« antwortete er, zog ihren Arm durch den seinen und sagte schmunzelnd: »Wir wollen in unser Zimmer gehen.«
Es war das Zimmer, das Frau von Zehren Ilse geschildert hatte. Nußbaum mit hellbraunem Rips. Über den Gardinen waren Lambrequins aus Straminstickerei angebracht, lila Stiefmütterchen zwischen rehfarben abschattierten gotischen Ornamenten; ebensolche Streifen zierten die Polstermöbel und waren alle Werke von Frau von Zehrens rührigen Händen. Auf der braun und goldenen Tapete hingen Daguerreotypen und Photographien von vielen Zehrens und Saßmackens, die, gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als die ganze bräutliche Einrichtung neu gekauft worden war, selbst auch jung und frisch gewesen sein mochten. Zwischen ihren verblaßten Gesichtern prangten verschiedene eingerahmte Bibelsprüche.
An einer Wand aber standen ernst und feierlich die beiden in Nußbaum geschnitzten Betten dicht nebeneinander, gemischte Vorstellungen von Altar und Schlachtbank erweckend. Auf dem schneeweißen Kopfkissen des einen Bettes lag, weithin sichtbar, ein Buch.
»Was ist denn das?« wandte sich Herr von Zehren, darauf weisend, an das derbe rothändige Stubenmädchen, das eben die Vorhänge an den Fenstern zusammenzog.
»Die gnädige Frau Mutter hat vor ihrer Abreise das Buch auf das Bett der jungen gnädigen Frau gelegt,« antwortete das Mädchen und stapfte mit einem mühsam unterdrückten Grinsen auf dem breiten Gesicht aus dem Zimmer.
Ilse nahm das Buch und schlug es auf. Theophil schaute neugierig über ihre Schulter hinein, und zusammen lasen sie:
F. A. Ammon.
Mutterpflichten.
Darunter stand in Frau von Zehrens steiler Handschrift:
»Meiner Schwiegertochter zu Beherzigung.«
»Ja, ja,« sagte Theophil, »Mama ist wie das Landrecht, sie denkt vor allem an den Zweck der Ehe – na, und weißt du, kleines Ilseken, der ist eben für einen Majoratsherrn auch wirklich verflixt wichtig.«
Ilse lernte zwei ganz verschiedene Inkarnationen desselben Theophil kennen. Da war der Theophil der Tage, gemessen und würdevoll; in Geste und Tonfall an Kanzel- und vaterländische Vereinsredner mahnend, deren Sätze auf Amen oder Hurra auszuklingen pflegen. Lehrreich und herablassend nannte der sie: »Liebes Kind.« – Und daneben gab es einen ganz anderen Theophil, jenen, der, wie manche Kakteen- und Violensorten, nur mit einbrechender Dunkelheit sein wahres Wesen offenbarte. Sobald die ihm Halt verleihende Tagesgewandung von ihm abglitt, gingen seine ungelenken Glieder wie ausgerenkt auseinander, und mit dem allzu kleinen Kopf auf dem allzu langen Halse und den abschüssigen Schultern glich er dann in seiner Dalbrigkeit einer verliebten Giraffe. Mit heißem Atem in ihr Ohr flüsternd, nannte sie dieser Theophil: »Mein Lutschbonbonchen!«
Ja, immer genauer lernte sie die beiden so verschiedenen Inkarnationen kennen! Lernte auch beobachten, daß, je ungemessener der eine Theophil sich seinen Gefühlsäußerungen hingegeben hatte, der andere um so feierlicher des nächsten Tages war. Als schäme er sich nachträglich dessen, was er einige Stunden vorher doch Liebe genannt. Als fürchte er, sich durch dies Gefühl zu sehr an Ilse zu verlieren und etwas von der Autorität einzubüßen, die ihm als Mann und Zehren zustand, wie um das Gleichgewicht wieder herzustellen, sprach er dann besonders viel über Pflicht. Von den Pflichten der Regierung zur Erhaltung des so notwendigen Standes der Großgrundbesitzer, von den Pflichten des Geistlichen gegenüber dem Kirchenpatron, von den Pflichten all seiner eigenen Angestellten hatte er ja stets gern geredet; jetzt aber, wo er sich für »eine junge ungefestigte Frau verantwortlich fühlte«, sprach er am allermeisten über »die Pflichten des Weibes«. – Er wußte deren eine ganze Liste, und sie bedeuteten eigentlich nichts Geringeres, als ein völliges Aufgeben jeglicher eigenen Persönlichkeit. Die Selbstauflösung als höchste sittliche Forderung. Das Besessenwerden des einen Menschen durch den anderen, der passive Daseinszweck, dem sich Ausleben dieses anderen zu dienen. – Geschmack, Ansichten, Stimmungen, Sehnsuchten der Frau waren in der Zehrenschen Weltordnung wertlose Faktoren. Die Aufgabe des Weibes bestand darin, möglichst rasch und auf allen Gebieten zur gänzlichen Unterordnung und Anschmiegung an den lebenslänglichen Herrn, den Mann, zu gelangen. – Mit weihevollem Augenaufschlag nannte Theophil dies alles zusammenfassend »das Aufgehen in den Interessen des Mannes«. – Als Gegenleistung stellte er Ilse den etwas vagen Begriff in Aussicht, »sie in Ehren halten zu wollen«, wie es einem deutschen Edelmann gezieme und schon Tacitus an den alten Germanen rühme.
Es war kein leichter Kursus, den die kleine Ilse bei diesem Lehrmeister durchmachte!
Und doch sagte sie sich, daß alles, was die Tage brachten, vielleicht zu ertragen gewesen wäre. Aber sie lernte ja auch den Ekel vor sich selbst kennen und die brennende Sehnsucht, irgendeinen Winkel auf Erden zu besitzen, wo man sich gegen jedermann einschließen und wieder »ich« sein darf. Das späte Einschlafen bei verhaltenem Schluchzen kannte sie, den immer wiederkehrenden Traum, daß es ja alles gar nicht wahr sei, und dann das Entsetzen beim Erwachen, es doch alles wahr zu finden.
»Nur noch Pflichten« hatte sich die kleine Ilse einst gewünscht, nach jener ersten Lebensenttäuschung, die ihrer ahnungslosen Jugend beschert worden – wenige Monde nur war das her, heut aber dünkte sie ihr ganzes damaliges Empfinden in graue Fernen gerückt, heut, wo sie erfahren, daß es Dinge gibt, die, sobald sie Pflicht scheinen, Erniedrigung bedeuten. – Sie sagte sich dies alles aber nicht gleich so deutlich, denn während dieser ersten Zeit ging sie wie verstört umher in dem neuen fremden Leben, erst allmählich dämmerte es in ihr auf, daß sie grausam betrogen worden war. »Hätt ich das alles gewußt, ich würde nie ja gesagt haben,« dachte sie und erschrak, daß sie es dachte. Denn ach, wie sollte sie es nur anfangen, dies Leben zu ertragen, das eigene Unwissenheit und Irrtum anderer in falsche Bahnen gelenkt und das so unabsehbar lang vor ihr zu liegen schien?
Die verregneten chinesischen Laternen, die Festgirlanden mit den säuerlich riechenden rosettenartigen Georginen waren abgenommen worden. Mamsell hatte ein großes Reinmachen veranstaltet; in Holzpantinen wateten dabei die Mädchen durch das Seifenwasser, das sich über die Steinfliesen des Flures ergoß; mit Waschen und Wischen, Schütteln und Klopfen wurde der Dämon Staub vertrieben. – Und dann war die gnädige Frau Mutter zurückgekehrt. Theophil hatte sie von Sandhagen abgeholt. Nun war der Platz am oberen Ende des Eßtisches wieder besetzt. Und nicht er nur. Frau von Zehren füllte das ganze Haus. Sie füllte es mit ihrer Stimme und mit ihrer rastlosen Emsigkeit. In die verborgensten Winkel drangen ihre kleinen tückischen Augen, und vom eigenen Sohn bis zur letzten Magd im Schweinestall prüfte ein Jeder, ob nicht geheime Schuld sein Gewissen drücke.
Ilse mußte der Schwiegermutter überall folgen, treppauf, treppab, vom Boden bis zum Keller, durch die Wirtschaftsräume, Vorratskammern, Waschküche und Ställe. Für den nahenden Winter gab es da so viel vorzubereiten, als ginge man einer Belagerung entgegen, lauter Dinge, von denen Ilse im kleinen städtischen Haushalt Greinchens nichts geahnt hatte. »Ahnungslos« war ja überhaupt das Wort, das Frau von Zehren in ihrem Innern oft wiederholte, als endgültiges Urteil über die kleine zierliche Schwiegertochter, mit den großen erschrockenen Augen. Sie gab sich auch nicht viel Mühe, Ilse zu unterweisen, denn es war so viel leichter, die Dinge, wie seit Jahren, mit Mamsell selbst weiter zu besorgen. Aber dabeistehen sollte Ilse, darin lag ein für ungefestigte Jugend heilsamer Zwang; sie sollte nicht etwa persönlicher Anlage folgend, eine eigene unabhängige Tätigkeit suchen, denn das wäre der gestrengen Frau von Zehren als Zeitvergeudung erschienen, als Mißachtung des geheiligten Begriffes »in den Interessen des Mannes aufzugehen«.
So schaute denn Ilse zu, wie Mamsell im Obstkeller Birnen und Äpfel auf langen Borden ausbreitete und aus den Mottenkisten Winterdecken hervorholte, die weithin einen tränentreibenden Duft von Naphthalin, Pfeffer und Tabak verbreiteten. Eine unheimliche Handlung des häuslichen Kultes, der Ilse mit fasziniertem Interesse folgte, war auch das Zerhacken der großen Zuckerhüte in unregelmäßige Stücke; sie zitterte bei jedem Schlag um Mamsells Finger, und das Knirschen des Zuckers gemahnte sie an Eis, aus dem sich Nordpolfahrer Hütten bauen. Aber das Schlimmste dünkten Ilse doch die Schlachttage – da hob sich ihr das Herz, wie damals in der Geschichtsstunde, wo die Menschenopfer der Azteken geschildert wurden, ein dunkler Strudel tat sich vor ihr auf, der sie unentrinnbar hinabzog – sie konnte einfach nicht dabeibleiben.
Und das also waren die großen Pflichten? Sie sollten das Leben füllen? sie und die Schrecken dunkler Stunden?
Ob die Männer vielleicht höhere, ernstere Aufgaben besaßen? Sie hatten doch alle soviel von »der Familie« gesprochen, in dem bloßen Wort schon hatte Ruhmesklang gelegen. Und Ilse suchte mehr von der Familie zu erfahren.
Treueste Hüterinnen dieses Wissens vom Zehrentum, seinen Anfängen, Kämpfen und Zielen, waren anerkanntermaßen die beiden alten Tanten, Askania und Lidwine, die, wenn sie nicht im Stift zum heiligen Dornenkranze weilten, in einem kleinen Häuschen am Ende des Weltsödener Gartens ihr stilles Dasein führten. Es war dies eigentlich Wittumhaus, aber Frau von Zehren hatte es den Schwägerinnen überlassen, da sie ja bei dem Sohn im Haupthaus wohnte. Die beiden verhutzelten Fräulein, mit den flachen Busen und schwarzen Kleidern, pflegten von den toten Zehren des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts wie von jüngst verstorbenen Verwandten zu reden, über deren Verlust es schwer hält hinweg zu kommen. Herren, die, in Allongeperücke, friderizianischem Haarbeutel oder prall anliegenden Uniformen der Freiheitskriege, aus wurmstichigen Rahmen von den Wänden herabblickten, wurden Ilse als der teure Gisbert, der unvergeßliche Job, der früh abberufene Kuno genannt. Das Interesse, das die hübsche junge Nichte für all die alten grauen Histörchen über diese Längstentschwundenen zeigte, schmeichelte den beiden Stiftsdämchen. Aber wie sehr Ilse auch fragte und lauschte, besonders Hervorragendes und Begeisterndes konnte sie nicht entdecken. Die Familie war eine sehr alte, aber sie war stets in ereignisloser Mittelmäßigkeit stecken geblieben. Mittlere Zivil- und mittlere Militärämter hatten die Zehren gelegentlich bekleidet und dazu mittelgroße Güter besessen. Eine gewisse Größe lag nur darin, daß sie dies seit so vielen Jahrhunderten getan hatten. Mit der gleichen Konsequenz hatten sie auch, soweit es in dieser nicht reichen Gegend möglich gewesen, seit altersher stets getrachtet, wohlhabende Mädchen zu heiraten – aber auch darin waren sie über ein gewisses unauffälliges Mittelmaß, das Neigung als Motiv immer noch glaubhaft erscheinen ließ, nie hinausgekommen. Es war sogar ein charakteristischer Zug des Zehrentums, im Biedermannston von der Liebe zu reden, auf der sich alle Zehrenschen Ehen aufbauten – man glaubte es ihnen schließlich beinahe, daß sie ideal und uneigennützig angelegte Edelnaturen seien, und es war sicher nur eine Folge des besonderen, auf ihnen ruhenden Segens, daß ihre Gefühle sich nie finanziell Unwürdigen zuwandten.
Auf dem Gottesacker, rings um die Weltsödener Dorfkirche, lagen alle seit dem dreißigjährigen Kriege gestorbenen Zehren begraben, und noch ältere Leichensteine, die nach jener allgemeinen Verwüstung wieder aufgefunden worden, waren da nachträglich aufgestellt. – Nach dem Gottesdienst, bei dem allsonntäglich der himmlische Segen auf »den Patron dieser Kirche und sein ganzes Haus« herabgefleht wurde, wobei die Gemeinde verstohlen zum Zehrenschen wappengeschmückten Gestühl blickte, und Theophil sich darin würdevoll und doch demütig in ganzer Länge aufrichtete, – nach solcher Erbauung blieben die Tanten Askania und Lidwine gern an den Gräbern stehen und erklärten Ilse die verwitterten alten Inschriften, während die herbstlichen Birken- und Ebereschenblätter auf sie niederrieselten. – Da lag Gudulla Borgwedde, die mit Claus Caspar verheiratet gewesen – deren Geld hatte zum Wiederaufbau des Weltsödener Herrenhauses beigetragen; Radegunde Ramschwagin, Hans Ellarts Frau und Erbtochter auf Vorwerk Todtenbehr, das sie in die Familie gebracht; Hetelwine Eptingen, Tam Segewins Ehegemahl, mit deren Mitgift Dürrenheide urbar gemacht worden war. Und so ging es weiter – eine lange Reihe von Frauen, deren Geld in den hungrigen, sandigen Boden gesteckt worden war, ohne ihn fett machen zu können, und die nun längst selbst in ihm schliefen. Jede von ihnen hatte, zu ihrer Stunde, der Bereicherung und Fortpflanzung der Familie Zehren gedient und war von ihr aufgesogen worden, ohne doch ihre magere Mittelmäßigkeit zu wandeln.
Und im Rieseln der herbstlichen Blätter sann Ilse nach über all diese toten stillen Frauen, sann nach, wie wohl ihr Leben gewesen, und ob auch sie morgens die Angst vor dem Tage, abends die Furcht vor der Nacht gekannt?
Eine Ecke des Kirchhofs war für diejenigen Zehren freigehalten, die künftighin noch sterben würden. Askania und Lidwine hatten sich hier längst schon ihre beiden Plätzchen ausgesucht und sprachen mit solchem Gleichmut von der Zeit, wo sie, in den blank getragenen Schwarzseidenen, da liegen und auf die Auferstehung warten würden, als handle es sich um eine Reise, für die sie im Eisenbahnkupee gute Eckplätze belegt hätten. – Ilse aber erschauerte angstvoll im rauhen Herbstwind bei dem Gedanken, auch einst hier auf dem Kirchhof zu liegen. Sie konnte es sich nicht vorstellen, daß ein mit dem Zehrenschen und ihrem eigenen Wappen geschmückter Grabstein auf ihr lasten würde, und künftige Kirchhofsbesucher sich über die Inschrift beugen und dann sagen würden: »Ilse, des Theophil Frau – ach ja, mit deren mütterlichem Erbteil ist damals wüste Teufelstrift angeschont worden.« – Aber es war nicht so sehr der Begriff des Totseins, gegen den sich ihr junges Leben sträubte, als die Vorstellung, mit diesen Menschen, denen sie sich so wesensfremd fühlte, für alle Zeiten vereint schlummern zu müssen.
Unter dem neuesten der Grabsteine ruhte Gotthold, Theophils älterer Bruder, durch dessen Tod diesem Weltsöden zugefallen war. Er hatte eine Witwe mit neun Töchtern hinterlassen. Im Alter von zweiundzwanzig bis herab zu sechs Jahren standen die Nichten, denn mit einem ans Heroische grenzenden Eigensinn hatte die jetzt verwitwete Schwägerin, Mechtildis, sich immer neuem Versuche hingegeben, ob nicht doch noch der ersehnte Sohn und Erbe ihr entsprießen würde. – Aber statt seiner war Tochter auf Tochter gefolgt, und nun, nach ihres Mannes Tode, wohnte sie mit ihnen allen, kümmerlich und verbittert, in einem früheren Pächterhaus, das sie von Theophil mietete. Es waren dies die Mädchen, die Ilse zuerst als Brautjungfern bei ihrer Hochzeit gesehen, groß und eckig, mit allzu hohen Stirnen unter straff zurückgekämmtem weißblonden Haar, alle neun litten sie leicht an geröteten Augen oder entzündeten Ohren und Lippen, stießen beim Sprechen mit der Zunge gegen die Zähne und schienen um Mund und Nase stets leicht geschwollen zu sein. Aber sie trugen ihre Häßlichkeit wie eine Schickung Gottes, gegen die anzukämpfen frevelhafte Auflehnung sein würde.
Aus diesem Hause wehte Ilse eine besonders kühle Luft entgegen. Den Augen der bei der ständigen Pflege ihrer Töchter bitter grübelnden Mechtildis erschien die junge Schwägerin als die sie verdrängende Siegerin, die nun sicher den Erben gebären würde, der ihr selbst versagt geblieben. Bei jedem Besuch musterte sie sie verstohlen und erkundigte sich mit krankhaft regem Interesse nach Ilses Gesundheit; es zog die blutleere, ausgemergelte Frau immer wieder hin zu der Nachfolgerin auf Weltsöden, und ob sie gleich nicht wollte, konnte sie es doch nicht lassen, stets von neuem in all diesen verschleierten Fragen zu spüren. Sie hätte es nie zugegeben, und es konnte ihr selbst ja auch nichts mehr nützen oder schaden – aber in den tiefsten Gründen ihres Wesens erblickte sie in jedem schwindenden Tag, der das Kommen eines Zehrenschen Erben nicht näher brachte, eine Genugtuung für sich, die töchterreiche Frau.
Und da waren noch andere Augen, die lauernd zu Ilse hinblinzelten und in unbewachten Augenblicken feindlich auf ihr ruhten. Fräulein von St. Pierre, die Hofdame bei einer kleinen Fürstlichkeit und Cousine von Mechtildis war, verbrachte bei dieser häufig ihre Urlaubszeiten. Theophil, der eckig magere, hatte sich früher von diesem reifen Mädchen mit der glatten weißen Haut und den behaglichen Rundungen jahrelang verschwiegen anschwärmen lassen. Es war ihm das ein wohlig umschmeichelndes Gefühl gewesen, etwa wie das Bewußtsein, daß irgendwo ein weicher Lehnsessel stände, stets bereit, ihn mit geöffneten Armen zu umfangen. Aber er ließ sich nicht umfangen – höchstens, daß es mal zu einem verstohlenen Händedruck gekommen – im Gegenteil betonte Theophil damals, daß er als jüngerer Sohn an Heiraten gar nicht denken könne. Als ihm dann aber durch des Bruders Tod Weltsöden zugefallen war, hatte Fräulein von St. Pierre bestimmt gehofft, daß die magere Hand, die sich bisher nur im verborgenen von ihren eigenen wohlgepflegten Fingern hatte streicheln lassen, nunmehr offen nach ihr greifen würde, um sie aus allen bitteren Abhängigkeiten des Hoflebens hinaus in die süße Geborgenheit einer standesgemäßen Ehe zu führen. – Aber es widersprach allen Zehrenschen Grundsätzen, ein armes Mädchen zu heiraten, und Theophil verstand es, sein Herz zu stählen und Grundsätzen wenigstens treu zu bleiben. – Fräulein von St. Pierre war zwar gleich nach des seligen Gotthold Tod zu der trauernden Mechtildis geeilt, doch Theophil vermied alle Gelegenheiten, in den verschwiegenen Alleen des Parks, oder an dem von trautem Zusammenleben summenden Teekessel, mit der appetitlich molligen Hofdame allein zu sein. Mit weihevollem Augenaufschlag und dem abgeklärten Lächeln der Entsagenden sprach er von der nicht näher definierten »Pflicht« als einzigen Richtschnur im Leben eines Majoratsherrn. – Bei seiner bald darauf erfolgenden Vermählung richtete sich Fräulein von St. Pierres Enttäuschung dann auch nicht gegen Theophil, in dem sie ein Opfer sah, sondern gegen die ahnungslose Ilse, die ihr als kokette Herzensräuberin erschien. Denn Fräulein von St. Pierre dachte in Quadersteinen; es gab kein Rütteln, das ihre einmal gefaßten Anschauungen verschoben hätte; sie lebte in einer Welt unumstößlicher Begriffe, wie es ihr als einer Hofdame wohlanständig erschien: Man war Herr oder Dame, hoffähig geboren oder nicht, gut oder böse. Ilse ward ungesehen und ungehört den Bösen zugezählt, und Fräulein von St. Pierre widmete ihr jenen gefährlichen Haß, dessen geistig Unbemittelte fähig sind.
Ilse empfand, dunkel und ohne sich noch die Gründe recht zu erklären, das Feindliche, das sie umgab. Zuweilen, wenn sie zwischen ihrer Schwiegermutter, Mechtildis und Fräulein von St. Pierre saß, war ihr, als sei die Luft mit lauter spitzen Glassplittern erfüllt, die von allen Seiten auf sie eindrangen. Dann überkam sie ein Gefühl des Frostes und der Armut, daß sie hätte betteln mögen – aber um was, wußte sie selbst nicht recht – vielleicht um jenes kostbarste aller Geschenke, ein bißchen Zärtlichkeit.
Die gab ihr niemand. Theophil am allerwenigsten. Er kannte nie fremde Sehnsucht, nur immer eigenes Verlangen. – Ilse erinnerte sich später, daß sie in jener ersten Zeit, wo sie sich oft wie gestrandet vorgekommen, bei einbrechender Dämmerung einmal allein in ihrem Zimmer gesessen hatte, das Herz schwer von innerer Verlassenheit. Da war Theophil eingetreten, und unwillkürlich und unüberlegt hatte sie ihm die Hand hingehalten. Sie empfand ja solch ein Bedürfnis nach leisen freundlichen Worten, nach etwas Musik des Herzens! – Aber statt dessen war es dann alles so garstig gewesen! – Gab es denn wirklich zwischen Mann und Frau immer nur diese eine Tonart? Durfte das sein, daß ein Mensch den anderen zu einer willenlosen, ihm gehörenden Sache erniedrige?
Er aber, der vor der herrischen Mutter in lebenslänglicher schwächlicher Nachgiebigkeit verharrte, fand einen seltsamen Reiz darin, sich selbst immer wieder zu beweisen, daß er dieses scheuen, zag zurückschreckenden Wesens Gebieter sei.
So glitten die Tage dahin und reihten sich aneinander zu Wochen und Monden.
In wüste Teufelstrift wurde fleißig gearbeitet. Vom Morgengrauen an war Förster Treumann mit seinen Leuten draußen, wenn sie in der Frühe kamen, lagerte der dichte Nachtnebel noch bläulich kalt und alles verbergend über der Erde; die Arbeiter tappten hinein und verschwanden schon nach ein paar Schritten in dem wehenden Grau, wie Schiffe auf nebliger See. Trieb aber ein Lufthauch den Dunst auseinander, daß der Boden für einen Augenblick dazwischen sichtbar wurde, so erhöhte dies noch den Eindruck unheimlicher Meerfahrt, denn langhin rollenden Wogen gleich schien dann die gelbbraune Sandfläche sich bis in weite Fernen zu ziehen.
Nach Tische pflegte Theophil seine Mutter und Ilse im kleinen Jagdwagen hinauszufahren. Dann stand man draußen eine Weile herum, und immer wieder wurden dieselben Dinge mit dem Förster besprochen. Boden siebenter Klasse war stellenweise Wüste Teufelstrift! Da mußten die schlimmsten Partien erst mal mit Besenpfriem angepflanzt werden, und wo der Sand gar zu sehr verwehte, wurden Spriegelzäune gebaut, ihn zu halten. – Bessere Teile bepflanzte man gleich mit zweijährigen Bankskiefern. Zwei Männer mit der Kulturleine schritten voraus, steckten sie mit Pflöcken an beiden Enden fest und bezeichneten dann die Stellen, wo die jungen Pflänzchen, anderthalb Meter auseinander, hinkommen sollten. – Ihnen folgten zwei Reihen Frauen; die ersten gruben mit Spaten die Löcher, die zweiten pflanzten die Bäumchen schnell ein, daß die geöffnete Erde nicht noch mehr austrockne. – Auf einer anderen weiten Strecke dagegen wurden jetzt nur die Löcher gegraben, daß sich während des Winters der Schnee darin sammle, und im Frühjahr gepflanzt werden könne. – Eine dritte Schonung endlich ließ Theophil mit besonderer Sorgfalt anlegen. Dort wurde gute Erde in Wagen angefahren und dann mit Karren in Haufen zwischen die Reihen geschüttet, und in jedes aufgegrabene Loch taten die Frauen etwas von der schönen dunklen Erde um die Wurzeln des Bäumchens, das sie pflanzten. – Das war das teuerste Verfahren, aber dank Ilses mütterlichem Erbteil konnte man sich solchen Versuch wohl mal leisten.
So wurde auf Wüste Teufelstrift mit den Bäumchen experimentiert, und es gab auch da solche, denen von Anfang an, ohne ihr Verdienst und Zutun, günstigere Lebensbedingungen geboten wurden als anderen.
»Werden das denn wirklich jemals schöne große Bäume werden?« fragte Ilse, auf die kümmerlichen Pflänzchen weisend, den Förster.
Der zuckte die Achseln. »Die Bäumchen an sich sind nicht schlecht, gnädige Frau,« antwortete er, »aber auf solchem Boden ist auch von der anspruchslosesten Pflanze nicht viel zu erwarten. Nach sechs Jahren können diese hier ungefähr einen Meter hoch sein, falls wir bis dahin nicht zu arge Dürre haben, und sie nicht die Schütte kriegen.«
»Nun und dann später?«
»Ja, – nach zwanzig Jahren muß man sie abtreiben, aber in der Zwischenzeit haben sie doch vielleicht den Boden etwas gebessert, durch ihren Schatten, die angesammelte Feuchtigkeit und den Nadelabfall.«
Zwanzig lange Jahre hier im Sande stehen, nur um den Boden zu verbessern für die, so nachher kommen würden! Der achtzehnjährigen Ilse klang das endlos lang. Sie fröstelte im matten Schein der sinkenden herbstlichen Sonne. – War das wirklich des Lebens ganzer Zweck und Inhalt? ein Jeder immer nur Vorbereitung für einen Künftigen? – Gab es nichts Höheres, wie nur geduldig still halten an dem Platze, den Zufall oder eigene Blindheit bestimmt? – Pflichten waren ihr früher, halb unbewußt, stets als schwer zu vollbringende, heroische Taten erschienen, und nun dämmerte es vor ihr auf, daß, in der Jugend, schwerer als alles Tun, das tatenlose Verzichten ist.
Eines Nachmittags, als Theophil seine Mutter und Ilse wieder einmal nach Wüste Teufelstrift kutschiert hatte, trafen sie dort des Försters junge Frau.
»Schau mal an,« sagte Frau von Zehren, »die Anne Dore hat es ohne ihren Mann nicht aushalten können und ist ihm nachgelaufen.«
»Ja – es gibt auch solche Frauen,« murmelte Theophil.
Die Anne Dore war rot und verlegen geworden, und Treumann entschuldigte ihre Anwesenheit.
»Nun, wenn sie Sie nur nicht von der Arbeit abzieht …«, meinte Theophil herablassend.
Während er dann mit seiner Mutter und dem Förster den Fortschritt der Arbeiten besichtigte, blieben die beiden jungen Frauen zurück.
»Mein Mann ist jetzt schon von früh ab hier draußen,« sagte Anne Dore, »da wollt ich doch mal nach ihm schauen – die gnädige Frau werden das sicher begreifen.«
»Sind sie wirklich so gern mit ihm zusammen?« fragte Ilse.
»Na, das will ich meinen!« antwortete Anne Dore lachend, »den ganzen Tag und – die ganze Nacht!« Und dann setzte sie hinzu: »Dazu heiratet man doch!«
Ilse sah sich um, ob niemand sie hören könne, und ohne die junge Försterfrau anzublicken, fragte sie dann eilig und leise: »Wußten sie denn … was das eigentlich heißt … sich zu verheiraten?«
»Na gewiß doch,« antwortete die andere, »und es war oft schwer genug zu warten während unserer langen Brautzeit – bis er die Stelle hatte, auf die hin wir heiraten konnten – na, aber jetzt! —«
Aber Anne Dore lief ihrem Mann den langen Weg bis Wüste Teufelstrift nicht mehr häufig nach, sie sah blaß und müde aus. Einen Sonntag nach dem Gottesdienst rief Frau von Zehren sie beim Verlassen der Kirche zu sich und stellte eine Art Verhör mit ihr an, während Treumann abseits stehen blieb und halb stolz, halb schuldbewußt den Jägerhut zwischen den Fingern drehte. Nachdem sie dann Anne Dore mit gnädigem Kopfnicken entlassen halte, trat Frau von Zehren wieder zu Theophil und Ilse, die am verschneiten Grabe des töchterreichen Gotthold auf sie gewartet hatten. »Bei Anne Dore ist‘s soweit,« sagte sie unsanft zu Ilse gewandt, »die kriegt ein Kind – hat zur selben Zeit geheiratet wie ihr – ja, so eine Frau kann das – na, ich hoffe bestimmt, du machst es ihr bald nach.«
Aber trotz dieses Wunsches, der wie ein Befehl des Zehrenschen Familiengeistes klang, ergab sich für Ilse keine Veranlassung, die in F. A. Ammons Werk erhaltenen Ratschläge anzuwenden. – Und es begann allmählich eine erbitterte Stimmung in Weltsöden zu herrschen. Die rund herum auf ihren Gütern sitzenden Vettern fingen an Theophil leise zu necken, wenn sie ihm bei Jagden, Kreistagen oder Familienvereinigungen begegneten: »Na, heiliger Theophil, was Neues zu Haus?« – Theophil kehrte dann mit dem Ausdruck beleidigter Würde heim; bisweilen hüllte er sich in langes mürrisches Schweigen, oder er gab Ilse zu verstehen, daß sie sein Ansehen in der Familie mindere. Bei seiner Mutter beschwerte er sich, als würde ihm vorenthalten, worauf er ein gutes Recht habe.
Frau von Zehren aber konnte und wollte es nicht glauben, daß auch in der Ehe dieses ihres zweiten Sohnes der heiß ersehnte Erbe ausbleiben könne. Damit wäre ja die älteste Linie der Familie ausgestorben und Weltsöden, dem sie die Kräfte ihres ganzen Lebens geweiht hatte, würde übergehen auf den Kummerfelder Zweig! So etwas konnte der liebe Gott doch nicht zugeben? – Vor allem aber würde sie selbst es nicht zugeben, man konnte dem lieben Gott nicht alles überlassen, was auch Pastor Rockstroh darüber sagen mochte, es mußte Ihm manchmal helfend beigesprungen werden – dazu gab es ja Ärzte auf der Welt.
So wurde der alte Arzt aus der Kreisstadt, der seit vielen Jahren die jungen und alten Zehren behandelte, nach Weltsöden berufen.
An der ganzen Person des alten Dr. Liebetrau war der auffallendste Teil sicher seine Nase. Vom feurigen Rosenrot bis zum tiefsten Violett erglühend, thronte sie in seinem Gesicht wie eine Herrscherin, umgeben von einem Hofstaat seltsamer kleiner Protuberanzen; zwei Wäldchen schwarzer Borsten erstreckten sich aus den breiten Nasenlöchern bis herab zu den finsteren Forsten des Schnurrbarts. Mit Schnupftabak, den er in einer mit dem Schattenriß Nettelbecks gezierten Horndose stets bei sich führte, bediente Dr. Liebetrau diese Nase, wie eine Weihrauch heischende Gottheit, und er schneuzte sie in rote Foulard-Taschentücher, auf deren türkischen Mustern die Spuren des Tabaks wenig sichtbar waren.
Zitternd erwartete Ilse den Doktor. – Wie sehr sehnte sie sich doch nach der Zeit zurück, da sie von Papa und Greinchen so wohl gehütet worden war, daß sie nichts von des Lebens Wirklichkeiten geahnt hatte! Und welch bitteres, dem Haß ach so verwandtes Gefühl, stieg doch bisweilen in ihrer geheimsten Seele gegen den auf, der ihr Traumdasein zerstört und an seine Stelle nur Grauen und Widerwillen gesetzt. Die ganze Welt erschien ihr heute angefüllt mit schauerlichen physischen Dingen. Tierische Triebe lagen als Ursprung hinter allem Lebenden; die ganze Schönheit der Welt, an der sie sich einst kindlich gefreut, war Trug und Blendwerk, sie entstieg ja eklen Tiefen. Manchmal wurde die arme kleine Ilse von solchen Bildern verfolgt wie von Dämonen, daß sie vor sich selbst schauderte. Wo waren all die zarten schönen Gebilde, die ganze große Sehnsucht ihrer Mädchentage hin verweht? – Dann zog sie sich voll Scham und krankhafter Überempfindsamkeit in sich selbst zurück, beneidete die Schnecken um ihr Gehäuse, in das sie sich allzeit verkriechen können und schuf sich ein Ideal einsamer Askese. Als Wehr gegen all das, was sie als Erniedrigung empfand, träumte sie von Nonnentum, von Welten ätherisch geschlechtsloser Wesen – und vernahm doch schon in dem verborgensten Innern ihres Wesens eine Stimme, die leise flüsterte: Du willst verneinen, was du ja noch gar nicht kennst.
Und nun sollte dieser Arzt kommen und würde an all das rühren, was sie so gern vergessen wollte.
Aber Dr. Liebetrau erwies sich als gar nicht erschreckend. Mit den kleinen klugen Äuglein, die wie vergessen zu beiden Zeiten der heroischen Nase lagen, schaute er Ilse gutmütig an. »Also man kann es nicht erwarten, daß wir ein eigenes Wickelkind haben?« sagte er, »sind ja selbst beinahe noch eins!«
Und als er nachher von Frau von Zehren eifrig nach etwa notwendigen Kuren oder Operationen ausgeforscht wurde, antwortete er: »Tun Sie vorläufig gar nichts. Lassen Sie das junge Frauchen erst mal heranwachsen und zu Kräften kommen. Es ist ein zartes Pflänzchen. Und wozu auch die Ungeduld? Warten Sie‘s doch ruhig ab – Rom ist auch nicht an einem Tage erbaut worden.«
»Aber bester Liebetrau,« entgegnete Frau von Zehren, »ich hab doch mein Lebtag noch nicht gehört, daß zu so was viele Tage nötig seien, und Sie reden heut ganz anders wie neulich, wo ich entdeckte, daß die Küchendörte ein uneheliches Balg erwartet – da meinten Sie, ich solle ihr verzeihen, denn so ein Unglück sei doch nun mal gar so rasch geschehen.«
Um aber Frau von Zehren die Beruhigung zu gewähren, daß doch etwas geschähe, um das Kommen des künftigen Erben zu beschleunigen, verordnete Dr. Liebetrau viel Ruhe und gute Ernährung und verschrieb Eisen und Arsenikpillen. Während er dann den mit Nettelbecks Bild gezierten Deckel der Horndose aufklappte und seiner Nase das Tabaksopfer darbrachte, sagte er: »Ich halte es übrigens wirklich für ein Unglück, so sehr jung ein Kind zu bekommen.«
»Aber bester Liebetrau,« rief Frau von Zehren, »es gibt doch viele Frauen, die nicht älter sind wie meine Schwiegertochter und die doch gesunde Kinder kriegen!«
»Ich dachte nicht nur an die physische Seite,« antwortete der alte Arzt, »aber vom Gefühlskonto geht solcher allzu jungen Mutter leicht das Beste verloren, denn sehen Sie, wo keine Zeit zu wahrer Sehnsucht gewesen ist, da kann nachher auch nicht die rechte Freude sein.«
»Aber ich würde mich doch freuen,« meinte Theophil würdevoll.
Einstweilen freute sich nur die Schwägerin Mechtildis. Über ihre bleichsüchtigen, verhärmten Züge huschte jetzt bisweilen der Schatten eines triumphierenden Lächelns. Sie fragte und forschte nach alledem mit der spürenden Neugier der ausgemergelten Frau, die ihr Leben zwischen Schwangerschaften und Niederkünften verbracht; auch ihre Mägde mußten sich bei denen des Herrenhauses stets von neuem erkundigen, und sie wußten bald, daß sie einem sonst verdienten Tadel leicht entgingen, wenn es ihnen nur gelang, rechtzeitig hinzuwerfen: »Na, bei der jungen Gnädigen drüben ist‘s noch immer nichts.«
»Wie sehr begreife ich deinen Kummer, liebste Mama!« sagte Mechtildis mit süßsauren Lippen zu Frau von Zehren, als diese sie eines Nachmittags zum Kaffee besuchte. »Bei mir konnten wir doch bis zuletzt hoffen – neunmal im ganzen – und wer weiß, was noch geschehen wäre, wenn mir der Himmel meinen teuren Gotthold nicht so frühzeitig entrissen hätte – aber hier, wo so gar nichts ist …«
Mechtildis hatte gerade ihrer Tochter Adelgunde, die mal wieder an geschwollenen Drüsen litt, ein mit Salbe beschmiertes Läppchen hinter das Ohr gelegt und schickte sich nun an, ihrer Tochter Hugoline Tropfen in die entzündeten Augen zu träufeln. Sie kam aus solchen Verrichtungen nie heraus bei den vielen stets an irgend etwas kränkelnden Mädchen.
»Ja, Mechtild,« antwortete Frau von Zehren und schaute den häßlichen Enkelinnen nach, die das Zimmer nach vollendeter Operation verließen, »ja, neunmal war es – aber wenn man‘s heut bedenkt, wär das alles doch besser nicht gewesen – denn was soll aus den vielen armen Mädels werden?«
Doch da fuhr die sanfte, farblose Mechtildis auf, als ob in ein blasses, abgebrühtes Suppenhuhn plötzlich Leben wiederkehre, und sie sagte mit erregter Stimme und brennenden Flecken auf den Wangen: »Nun, meine Töchter sind alle im adligen Stift vorgemerkt und können da eintreten – sollte Ilse dagegen Töchter kriegen, so beständen die die Ahnenprobe freilich nicht.«
»Du meinst wohl wegen ihrer Mutter?« fragte aufschauend Fräulein von St. Pierre, die sich gerade auf Urlaub vom Hofdienst bei Mechtildis aufhielt, »wie war doch gleich die Geschichte?«
Fräulein von St. Pierre kannte die Geschichte aufs genaueste, aber es freute sie, immer von neuem etwas zu hören, was Ilse in ihren Augen irgendwie herabsetzte, und Mechtild tat ihr den Gefallen. Eifrig wiederholte sie: »Nun ja, Ilses Mutter war doch nur die Tochter der Sängerin Ingeborg Thor Hacken, die mit dem Herzog Bernhard von Mömpelgarde morganatisch verheiratet gewesen sein soll.«
»Das ist allerdings nichts Stiftsfähiges,« sagte Fräulein von St. Pierre und rümpfte die Nase. Mit überlegenem Lächeln betrachtete sie dann ihr eigenes Bild in dem aus drei Stücken zusammengesetzten Mahagoni-Trumeauspiegel zwischen den beiden Fenstern von Mechtilds Wohnzimmer. Sie wiegte sich dabei etwas in ihren zur Breite neigenden Hüften, als wolle sie sagen: Bei mir sind nicht nur die zweiunddreißig Ahnen in Ordnung, sondern ich wäre auch fähig gewesen, diese Vorzüge auf kräftige Nachkommen zu übertragen.
Nur die Tanten Askania und Lidwine, die sich auch gerade bei Mechtild zum Nachmittagsstippkaffee eingefunden hatten, versuchten zum Guten zu reden.
»Ich erinnere mich noch ganz genau an die Ingeborg Thor Hacken,« meinte Tante Askania, »und kann‘s begreifen, daß sich der Herzog in sie verliebte, wie sang sie die Lucia! und was war sie hübsch! Nicht wahr, Lidwine?«
»Ja, ja,« antwortete eifrig das andere alte Stiftsdämchen, »und wißt ihr, manchmal will‘s mir scheinen, als habe unser reizendes Ilschen auch so etwas Apartes von ihr abbekommen.«
»Na, da sei aber Gott vor!« rief Frau von Zehren inbrünstig aus.
Die beiden alten Stiftsdamen zogen erschrocken ihre gehäkelten Tücher, deren sie stets mehrere bei sich trugen, fester um die flachen Busen, und Lidwine sagte verschüchtert, aber doch immer noch im Bestreben, für das Lieblingsnichtchen einzutreten: »Ich meinte ja nichts Schlimmes, liebste Gottliebe – und die Thor Hacken war ja auch durchaus anständig – und hat nachher nur noch für Wohltätigkeitszwecke gesungen – ich wollte bloß sagen, daß das Ilschen anders ist … wie die Mädchen hier in der Gegend … so … als stecke vieles in ihr, was wir nicht kennen.«
»Ja, ja,« fiel Tante Askania ein, die nun auch wieder Mut gegen die gefürchtete Schwägerin gefaßt hatte, »sie kann sich so prachtvoll begeistern, wenn man ihr erzählt, und sie so dasitzt mit den großen weitgeöffneten Augen. Mir ist‘s immer – als ob sie etwas Schönes suche!«
»Aber sie hat doch alles!« riefen gleichzeitig Frau von Zehren und Fräulein von St. Pierre.
Während also bei Mechtild über sie gesprochen wurde, saß Ilse in einer Bodenkammer des Weltsödener Herrenhauses. Ganz zufällig, als einmal im Spätherbst große Wäsche gewesen und die Mägde in dem weiten Raum unter dem hohen Giebeldach die Wäsche an den kreuz und quer gespannten Stricken zum Trocknen aufhingen, hatte sie diese Kammer entdeckt. »Da drin sind nur alte Bücher und solch unnützer Kram,« hatte die Schwiegermutter auf ihre Frage geringschätzig geantwortet, »das meiste stammt von Onkel Thilo.«
Damals hatte Ilse nur einen Blick in das Zimmer werfen können, aber jetzt, wo Dr. Liebetrau Ruhe verordnet hatte und ihr daher mehr freie Zeit gegönnt wurde, schlich sie sich oft hinauf und kauerte nieder zwischen den vielen Büchern, die sich am Boden in Stößen und Ballen türmten und die Regale an den Wänden bis zum Dache füllten. Zuerst hatte sie scheu geblättert, wie ein kleines Mädchen, das fürchtet, bei verbotener Lektüre ertappt zu werden. Bald aber las und las sie mit großen Augen und glühenden Wangen und vertiefte sich ganz in die verschiedenen Welten, die die Bücher verschiedener Länder und Zeiten ihr offenbarten.
Aber so verschieden diese vielen Bücher auch waren, erkannte Ilse staunend doch bald, daß sie alle immer wieder, jedes auf seine Art, von demselben handelten: von der Liebe. Schon vor Jahrhunderten an felsiger, vom atlantischen Ozean wild umbrauster Rüste, hatte sie Dichter zu Gesängen begeistert, die heute noch immer fortklangen. Die Sage von Tristan und Isolde las Ilse und vernahm, wie jene zwei stolzen Herzen, von der Liebe Zaubertrank bezwungen, Welt und Gesetz vergaßen. Nach dem gewaltigen Sturmlied der Leidenschaft, das Ilse aus dem alten Epos entgegenschallte, erschienen ihr spätere Schriften matt und verzärtelt; sie blätterte nur flüchtig in den französischen Werken des achtzehnten Jahrhunderts, die Onkel Thilo gesammelt hatte. Die waren mit zierlichen Vignetten und Stichen illustriert, auf denen schelmische Amoretten die Vorhänge reich verzierter Rokokobetten neckisch lüpften, und eine ruhende Schöne von einem galanten Pagen in holder Verwirrung überrascht wurde, leicht und tändelnd wurden da die Dinge der Liebe behandelt – doch auch hier wieder als die eine große Lust der kurzen Erdentage gepriesen. – Andere Gefächer waren gefüllt mit empfindsamen deutschen und englischen Romanen. Die Helden und Heldinnen dieser Geschichten schwelgten bei Mondschein in wehmütig süßen Gefühlen, schwärmten und dichteten sich an, während die Nachtigall flötete, lehnten in fließenden Gewändern an Urnen tragenden Postamenten, bauten der Freundschaft Tempel, ritzten des geliebten Gegenstandes Namen in die Rinde der Bäume. Ätherische Wesen waren sie, denen die Tränen gar leicht an den langen Wimpern hingen, schöne Seelen, die, um sich von Trennungspein und Liebesgram zu befreien, mit blassen schlanken Händen die selbstmörderische Waffe gegen den Busen zückten.
Doch neuere Bücher auch fand Ilse. Die Romane der George Sand und ihrer zahllosen modernen Nachfolger. Da las sie von Frauen, die nicht ob einmaligen Irrtums den lockenden Freuden des Lebens entsagen, sondern mit verlangenden Händen greifen, wonach ihr Herz begehrt. All die berückenden Worte von der befreienden Macht der Leidenschaft gegenüber der starren Gewalt des Gesetzes tönten der kleinen Ilse aus den lang geschlossenen Zeiten entgegen, und sie vernahm auch hier das Rauschen jenes alten Liedes vom Recht auf Glück und Liebe, dessen betörender Klang schon so manches junge Herz hingerissen hat. Da war nicht die Rede von selbstverleugnendem Ausharren auf ödem, freudlosem Feld, sondern die Heldinnen dieser Bücher ließen sich von den mächtigen Schwingen eines starken Willens zur Lebenslust über alle Schranken hinweg zu den Zielen ihrer Sehnsucht tragen, woran die leichtlebigen Marquisen des achtzehnten Jahrhunderts in den kurzen Jahren zwischen ihrem Austritt aus dem Kloster und der Karrenfahrt zum Schafott nur verstohlen und lächelnd genascht hatten – worüber die blutarmen und gefühlsreichen Schönen empfindsamerer Zeiten in Sehnsucht zerschmolzen und hingestorben waren – das nahmen sich diese Töchter jüngerer Tage mit der Gebärde selbstherrlichen Rechtes.
Und vielleicht lag hierin etwas, das verborgene Saiten in Ilses Wesen anschlug. Einer alles überwindenden Begeisterung für ein Ziel fühlte auch sie sich fähig. – Nur das Ziel selbst verstand sie nicht recht. Und mit aufgekrauster Stirn, den Kopf zwischen die Hände gestützt, grübelte sie nach: um was drehte sich denn eigentlich alles? – schließlich wollten alle diese Heldinnen doch immer nur dasselbe: statt des einen Mannes einen anderen. – Konnte das wirklich etwas so ganz verschiedenes sein?
So begann sie zu ahnen, daß es Geheimnisse geben müsse, von denen sie nichts wußte, Gefühle, die sie nicht kannte, Gewalten, vor denen alles andere schweigt, daß es einen auch heute ebenso mächtigen Zaubertrank gäbe, wie zu den fernen Zeiten von Tristan und Isolde. Eine Art Neugier regte sich bisweilen in ihr. Dann las und las sie eifrig weiter, als ob sie in den Büchern Aufklärung finden müsse. – Manchmal auch hielt sie inne und träumte in der Dachkammer vor sich hin, ließ die Menschen an sich vorübergleiten, die sie in ihrem kurzen Leben nicht gekannt, aber doch gesehen hatte. Ein junger Klavierlehrer tauchte in ihrer Erinnerung auf, der mehr Ausdruck in seine Augen wie in seine Finger gelegt hatte, wenn er ihr die Sonaten vorspielte, die sie üben sollte; der engbrüstige Geistliche, der sie eingesegnet hatte, Spaziergänger, denen sie in der Straße begegnet war, und die ihr nachgeblickt hatten; auch der blaue Märchenritter ihrer kindischen Träume, der den Gang ihres Lebens ahnungslos so sehr beeinflußt hatte und dessen Züge in ihrem Gedächtnis doch nur noch ganz verschwommen standen. – Ach, sie alle konnten ihr nichts sagen.
Doch weiter dachte sie dann inmitten Onkel Thilos verstaubter Bücher an ihre Verlobung und Hochzeit, an all die neuen Gesichter, die sie damals zuerst gesehen. Da löste sich von den Übrigen Herrn von Waldens Gestalt, wie aus weiter Ferne schien er langsam auf sie zuzuschreiten und schaute sie an – anders als all die anderen. Sollte er ihr etwas zu sagen haben?
Aber sie mußte selbst über diesen Einfall lachen. Zu Herrn von Walden waren ihre Gedanken wohl nur durch eine unbewußte Ideenverbindung mit Onkel Thilo gewandert. Denn wie Walden heut, war ja Onkel Thilo einst Diplomat gewesen, hatte auch in fernen, fremden Weltteilen gelebt. Ferner und fremder noch als jetzt mußten sie zu seiner Zeit gewesen sein – damals reiste man ja noch meist mit Segelschiffen! – von seinem letzten exotischen Posten hatte Onkel Thilo einen Papagei, einen Affen und ein Leberleiden nach Weltsöden heimgebracht. Das Leberleiden hatte ihn gar bald auf den Friedhof gebracht, der Papagei und der Affe dagegen waren nach ihrem Tode ausgestopft worden und prangten noch heute unten in Theophils Stube an der Wand, zwischen den Hörnern und Geweihen heimatlicher Böcke und Hirsche. Mit den vielen Büchern hatte sich Onkel Thilo in dem entlegenen Lande sicher oft die Zeit vertrieben, denn sie waren wohl gelesen, und viele Stellen hatte er unterstrichen und mit Randbemerkungen versehen. – Ob wohl Herr von Walden auch so viel las, dort, wo er jetzt war? – Aber der wollte ja nicht nur einen Papagei und Affen mitbringen, sondern »allerhand« für Deutschland erringen, – er hatte »Ziele«, wie Theophil gesagt – da blieb wohl nicht viel Zeit für Bücher. – Ziele, hohe Ziele haben! – Das mußte schön sein, das bedeutete wohl, diejenigen Dinge zu tun, von denen die anderen Leute nur in Büchern lesen. – Ach, glückliche Menschen!
Aber was für Ziele haben denn Frauen? dachte Ilse weiter. Eigentlich gar keine selbständigen, keine, für die man sich so recht zu begeistern vermöchte. Bekommen sie einen Mann, der sich große Aufgaben stellt, so dürfen sie ihm vielleicht helfen und dienen – und das müßte freilich schön sein. – Ja, den richtigen Mann zu bekommen, das war offenbar der eine Hauptzweck im Leben jeder Frau – darin stimmten ja auch die verschiedensten Bücher Onkel Thilos überein. Des Sinnens müde vertiefte sich Ilse von neuem in ein Buch, das ihr an diesem Tage gerade in die Hände gefallen war. »Die Wahlverwandtschaften« hieß es, und darin gab es auch viel Not und Verwirrung, weil zwei sich geirrt hatten und der eine für den anderen wohl nicht der Richtige war. Sie hatte gelesen bis zu der Stelle, wo Charlotte in den Zügen ihres Kindes eine Ähnlichkeit mit dem Hauptmann und in seinen Augen die Augen Ottiliens wiedererkennt. Ganz ergriffen war sie von diesem, geheimstes Sehnen offenbarenden Wunder. – Doch nun sprang sie erschrocken auf, denn es fiel ihr ein, daß es bald Essenszeit sein mußte. Noch ganz benommen von dem eben Gelesenen rannte sie aus ihrem Versteck herunter. Aber glücklicherweise waren weder Theophil noch Frau von Zehren heimgekehrt.
Dagegen saß Anne Dore im Flure. Schwerfällig wollte sie sich erheben, als sie Ilse gewahrte, doch diese drückte sie mitleidig in den Sessel nieder.
»Ich warte auf die gnädige Frau Mutter,« sagte Anne Dore, »ich bringe ihr das Muster eines Kinderhemdchens zurück, das sie mir geliehen hat. Ich habe schon viel für die kleine Ausstattung fertig.«
»Ihnen ist wohl recht bange?« fragte Ilse leise und schaute teilnehmend auf die entstellte Gestalt und das müde Gesicht, dessen einstmalige Röte unter großen gelben Flecken verschwunden war.
»Ach nein,« antwortete Anne Dore lächelnd, »zum Sterben wird‘s ja wohl nicht gleich kommen. Na, und geht‘s auch das erstemal schwer, so hat man doch was vom Leben gehabt.« Und dann setzte sie hinzu: »Ich wünsche mir, daß es ein strammer Jung« ist, der meinem Mann recht ähnlich sieht!«
Ilse hörte ihr schweigend zu und wieder fühlte sie, daß sie, wie droben bei den Schilderungen der Bücher, so hier im wirklichen Leben, vor Unbekanntem stand, und daß der schlichten Anne Dore ein bescheidenes Tröpfchen jenes geheimnisvollen Zaubertrankes zuteil geworden, der ihr selbst vorenthalten geblieben. – was mußte das für ein mächtiges Gefühl sein, das diese Frau so gefaßt von Schmerz und Gefahr reden ließ? – Und dann dieser Wunsch für das Aussehen des Kindes?
In diesem Augenblick traten Frau von Zehren und Theophil eilig und erhitzt von draußen ins Haus. Und wie nun Ilse die Gestalt ihres Mannes sah, mit dem langen Halse und den abfallenden Schultern, die an die Umrisse einer Champagnerflasche mahnten, und in dem hageren Gesicht die dicken roten Lippen gewahrte, die wie ein Widerspruch zu allem übrigen wirkten, da flammte plötzlich der leidenschaftliche Wunsch in ihr auf: »Nie, nie ein Kind, das ihm gleicht! Mein, ganz mein müßte es sein! … oder? … Charlotte? … —«
Aber der kleinen Ilse Herz war ja leer von Bildern.
Bald nach ihrer Ankunft in Weltsöden hatten Theophil und Frau von Zehren Ilse in der Nachbarschaft vorgestellt; da aber die meisten umliegenden Güter von lauter Zehren bewohnt wurden, so war durch diesen Verkehr kein sonderlich neues Element in ihr Leben getreten. Sie wurden zu mehr oder minder feierlichen Diners eingeladen, deren Stunde zwischen drei und sechs Uhr schwankte. Man saß lange zu Tisch bei kräftig nahrhaften Speisen und stand schwer und mit geröteten Köpfen auf. Von den Angelegenheiten der verschiedenen Verwandten wurde gesprochen, von Kornpreisen, Viehzucht, künstlichem Dünger und Holzverkäufen. Manchmal auch streifte man Fragen der inneren Politik, da aber alle Anwesenden zu derselben Kaste gehörten und über solche Dinge nur die in dieser Kaste als selbstverständlich geltenden Ansichten hegten, so kam es nie zu einer Diskussion: etwas so Unstandesgemäßes wie abweichende Meinungen über derartige fundamentale Begriffe hätte keiner dem anderen überhaupt zugetraut. Eher schon gab es in landwirtschaftlichen Fragen auseinandergehende Anschauungen, weil da jeder persönliche Erfahrungen gesammelt hatte.
Sobald nach dem Essen Kaffee und Liköre von den anwesenden jungen Mädchen gereicht worden waren, wanderten die Herren, lange schwere Zigarren paffend, zu den Wirtschaftsgebäuden, um Vieh und Scheunen, Brennerei und Ziegelei zu besichtigen. Frauen, die ihre Güter selbst bewirtschafteten, schlossen sich solchem Rundgang der Männer bisweilen auch an, während die anderen in Wohnzimmer oder Veranda sitzen blieben, oder auch, durch Park und Gemüsegarten schlendernd, gegen die Sehnsucht nach dem gewohnten Mittagsschläfchen ankämpften.
Die Damen befanden sich bei diesen Vereinigungen immer in der Mehrzahl, denn die Söhne der verschiedenen Familien waren abwesend, auf Universitäten und in Regimentern, während die zahlreichen Töchter daheim saßen und in standesgemäßer Tatenlosigkeit einer Schicksalswendung entgegenharrten. Sie alle besaßen irgendein kleines Talentchen, das gepflegt wurde, um die vielen Stunden der langen Tage zu füllen. Die liebe Emmy malte für Weihnachten und Geburtstage Blumen auf seidene Fächer; Karolinchen brannte unter heftigem Benzingeruch Ritterburgen auf hölzerne Schreibmappen für die Brüder, Hirschköpfe auf die Ofenbank in Papas altdeutschem Zimmer; unsere Hedwig übte fleißig Clementi; Gabriele verstand es sogar, Geschehnisse des Familienlebens in artige Knittelverse zu kleiden und mit solchen bei festlichen Gelegenheiten zu erfreuen. All diese Dinge wurden mit Wichtigkeit von Müttern und Tanten behandelt, die doch alle wußten, daß sie nur das wohlerzogene Warten verbergen sollten und in den erhofften Ehen alsobald verschwinden würden.
In diesen Diners wurden häufig die jeweiligen Gutspastoren mit ihren Frauen geladen. Es entsprang dies nicht besonderen religiösen Bedürfnissen, denn Religion war den meisten mehr eine Schicklichkeits- wie Herzensfrage, etwas, worüber man eigentlich gar nicht nachdenkt, sondern was so selbstverständlich ist, wie daß man vor dem König Front macht. Aber man wollte nach außen dokumentieren, daß weltlicher Besitz und geistliche Macht zusammengehören, und Theophil sagte würdevoll: »wir benötigen den Einfluß des Pastors bei den Wahlen, daher müssen wir auch seine soziale Stellung möglichst stützen.«
Ein anderer in der ganzen Gegend oft hinzugezogener Gast war Dr. Liebetrau. Nicht etwa geistiger Übereinstimmung halber. Hatte doch die Cousine Zehren-Kandau sogar einst über ihn geflüstert: »Ich fürchte bisweilen wirklich, unser alter Liebetrau glaubt nicht mal an den lieben Gott,« worauf die Tanten Askania und Lidwine beschwichtigend antworteten: »Dann würde der liebe Gott ihm doch sicher nicht die Gnade zuteil werden lassen, so viele Menschen zu heilen.« – Es ging aber von dem alten Mann mit der gebirgsartigen Nase und den klugen Äuglein ein solcher Zauber von Wohlwollen und Verständnis für jedes Leid aus, daß ihm alle Frauen halb unbewußt gewogen waren. – Und Dr. Liebetrau, der vor langen Jahren schon als Witwer in die Gegend gekommen und seitdem einsam hauste, studierte auch außerhalb des Krankenzimmers mit Vorliebe seine weiblichen Patienten. Nach den Diners blieb er immer im Kreise der Damen.
An einem solchen Nachmittag des frühen Frühjahrs erzählte er: »Ich war heute morgen in Frohhausen – der Graf und die Gräfin sind wieder da.«
Man spitzte die Ohren. Augen, die sich schon in einschläfernder Verdauungslangweile schlossen, öffneten sich wieder. Auch Ilse, die im Kreise würdiger Landmatronen saß, horchte gespannt auf, denn sie war schon oft an den geschlossenen Pforten des großen Frohhausener Parks vorbei gekommen und hatte bedauert, daß dieses, Weltsöden zunächst gelegene Gut unbewohnt war.
Die Gastgeberin, Frau von Zehren-Kandau, sagte seufzend: »Ich habe es auch schon gehört – ja, wenn die Helmstedts nur nicht gar so schlecht zu uns paßten.«
»Das ist nicht zu verwundern,« meinte Theophils Mutter abfällig. »Sie haben hier ja nie dauernd gelebt, sondern sind immer in der Welt herumgezogen.«
»Ach Designatus, wie schrecklich muß das sein!« sagte die alte, behäbige, glatt gescheitelte Pastorin zu ihrem Mann, dem alten Pastor Rockstroh. Der antwortete: »Ja, ja, die Gebundenheit an die ländliche Scholle ist und bleibt eben doch das stärkste Bollwerk gegen die zersetzenden Kräfte eines Weltbürgertums.«
»Ich meine aber nicht nur das,« fuhr Frau von Zehren-Kandau fort, »bei dem Beruf des Grafen sind ihm allerdings die natürlichen Interessen eines landeingesessenen Edelmannes etwas abhanden gekommen, aber unsere Herren würden ihm jetzt, wo er den Abschied genommen hat, ja gern helfen, daß er hier die richtige Stellung gewinnt, in den Kreisausschuß und sogar in den Provinziallandtag kömmt, – nein, nein, viel schwieriger ist die Frage mit ihr!«
»Ja, da hast du recht,« warf Frau von Zehren-Kummerfelde ein, »denn man weiß wirklich nicht, worüber man mit ihr sprechen soll. Bei all ihrer Liebenswürdigkeit fühl ich mich doch immer ungemütlich, und ich kann den Verdacht nicht los werden, daß sie eigentlich im stillen auf uns herabsieht.«
»Na, dazu hat sie doch wahrhaftig keinen Grund!« rief die blasse Mechtild so eifrig, daß auf ihren farblosen Wangen rote Flecken aufflammten. »Man weiß doch, wieviel über sie und ihre erste Ehe gemunkelt worden ist – die vielen Kurmacher! Und … ihrem jetzigen Manne soll sie ja schon damals recht … nun … recht nahe gestanden haben.«
Die welken Gesichter der alten Stiftsdamen erröteten verschämt, und Tante Askania sagte begütigend: »wir dürfen nicht vergessen, sie ist eben keine Deutsche.«
Und Tante Lidwine setzte hinzu mit dem Gefühl, alle Mängel zu erklären: »Sie ist vor allem keine Protestantin.«
»Aber mein gnädigstes Fräulein,« griff nun der alte Pastor Rockstroh mit dem Bewußtsein ein, lobenswerte Objektivität zu üben, »ich muß doch bemerken, daß auch die katholische Kirche die Nichtbeachtung des sechsten Gebotes verdammt.«
»Mag sein, Herr Pastor, mag sein,« entgegnete Frau von Zehren-Kandau, »aber sie werden uns nie einreden, daß solche Fragen von Leuten wahrhaft ernst genommen werden, die nur zu beichten brauchen und dann gleich von neuem anfangen können.«
»Die Beichte,« sagte der alte Pastor, »ist mir eigentlich das Sympathischste in der katholischen Kirche – man muß dadurch mancher armen Seele helfen können.«
»Aber Designatus!« entfuhr es vorwurfsvoll der alten Pastorin, die mit Beichtstühlen vage, unheimliche Vorstellungen verband.
»Ja, ja,« stimmte Dr. Liebetrau sinnend dem Pastor zu, »es läßt sich in der Tat manches dafür anführen. Den Protestantinnen ersetzen übrigens wir Ärzte und gelegentlich auch Rechtsanwälte die Beichtväter.«
»Na, na, bester Liebetrau, wer hätte denn Ihnen schon gebeichtet?« fragte Theophils Mutter.
»Aber viele, meine gnädigste Frau, viele!« antwortete der alte Arzt, »denn man beichtet ja oft, ohne es selbst zu wissen! Um übrigens auf Gräfin Helmstedt zurückzukommen, so habe ich immer gehört, daß sie allen Grund gehabt hätte, in ihrer ersten Ehe sehr unglücklich zu sein.«
»Das ist aber doch keine Entschuldigung!« rief Mechtild.
»Ob es eine Entschuldigung ist?« sagte Liebetrau bedächtig, »dabei käme es wohl auf das Forum an. Aber die häufigste Erklärung für das, was man Unrechttun nennt, wird wohl immer das Unglücklichsein bleiben!«
In diesem Augenblick wurde zum Abendimbiß gerufen, mit dem solche Zusammenkünfte ihren Abschluß fanden. Dr. Liebetrau blieb einen Augenblick in der Veranda zurück, klappte den mit Nettelbecks Bild gezierten Deckel der Horndose auf und brachte seiner hügelreichen Nase den langentbehrten Schnupftabak dar. Ilse hatte auf ihn gewartet und spielte gedankenverloren mit ihrem Trauring, der immer noch die Tendenz hatte, leicht herabzugleiten. Nachdem Dr. Liebetrau reichlich geschnupft, geniest und geschnaubt hatte, sagte er zu ihr: »Die Gräfin Helmstedt hat mich übrigens sehr nach Ihnen gefragt.«
»Nach mir?« fragte Ilse erstaunt, »warum denn?«
»Wenn ich recht verstand, hat sie durch gemeinsame Bekannte von Ihnen gehört, und sie freut sich darauf, Sie kennen zu lernen, – während sie den meisten Menschen hier, wie Sie ja schon hörten, eher kühl gegenübersteht. Ich glaube übrigens, Ihnen wird Sie gefallen.«
Ilse errötete, ohne recht zu wissen, warum. Unter Dr. Liebetraus klugem und zugleich nachsichtigem Blick hatte sie die Empfindung, als habe auch sie, ohne es zu wissen, ihm schon gebeichtet, und als ahne er, daß wer ihrer Umgebung kühl gegenüberstand, vielleicht wohl Aussicht hatte, ihr selbst verwandt zu sein.
Bald darauf wurden die Wagen gemeldet, und die Gäste, die nicht, weiter Entfernungen halber, in Kandau selbst übernachteten, bekleideten sich mit all den verschiedenen Hüllen, Staub- und Regenmänteln, Lodenkapes, flauschigen weiten Fahrulstern, Kapuzenkragen und weichen Tüchern, wie sie sich nur in alten Landhäusern ansammeln. Dann fuhren sie in den verschiedensten Richtungen davon.
Auch Frau von Zehren, Theophil und Ilse hatten den offenen Weltsödener Wagen bestiegen und waren abgefahren. Nach einigen Minuten hielt Jochem an und vertauschte den Livreezylinder, den er in die mitgebrachte Pappschachtel tat, mit der Mütze. Dann ging es in mildem Trab weiter.
Es war eine seltsam laue und einschläfernde Luft, und wirklich vernahm Ilse auch bald die regelmäßigen Atemzüge Theophils und seiner Mutter; sie selbst blieb wach und genoß dies Gefühl, allein wach zu sein. Sie ward sich plötzlich bewußt, daß während der letzten Wochen unendlich viel bisher Ungeahntes in dämmerhaften Umrissen an ihrem Horizonte aufgetaucht war, durch die Bücher, die sie gelesen, wie auch durch manche Aussprüche Dr. Liebetraus. Sie fühlte sich hilflos und wie beängstigt vor all diesem Neuen. Die Welt war voller Fragezeichen.
Nun kamen sie an Frohhausen vorüber. Heute brannte Licht in der alten Laterne über dem großen Eingangstor zum Parke. Zu beiden Seiten standen alte einstöckige Pförtnerhäuschen mit hohen, abgesetzten Dächern. Dahinter erstreckte sich die dunkle Baummasse der breiten Lindenallee, die zum Schlosse führte. Der Fahrweg folgte von da ab eine Strecke lang der Umfassungsmauer des Parks. Es war sandiger Boden. Aus dem milden Trab waren die Pferde in Schritt übergegangen. Oben auf dem Bock senkte Jochem den Kopf, ein paarmal vorwärts, ein paarmal seitwärts, richtete sich dann aber jedesmal erschrocken wieder auf – doch schließlich war auch er wie seine Herrschaft eingenickt.
Und in der tiefen nächtlichen Stille war es Ilse, als schwebe zu ihr, der allein wachenden, aus der Richtung des unsichtbaren Schlosses der leise Klang eines fernen, unbekannten Liedes.
Am nächsten Nachmittag hatten sich einige Verwandte im Weltsödener Gartensaal zum Tee eingefunden, als Graf und Gräfin Helmstedt gemeldet wurden. Und wie Ilse die Gräfin nun wirklich eintreten sah, hatte sie das Gefühl: dies ist ein Erlebnis. Sie empfand für sie sofort jene mit Scheu gemischte Bewunderung, die ganz junge Mädchen gerade für ältere Frauen bisweilen hegen. An die Jahre, die Gräfin Helmstedt zählen mochte, dachte freilich niemand bei ihrem Anblick. Sie war wie jemand, der vielleicht nie sehr jung gewesen und sicher nie sehr alt erscheinen würde. Ihr volles duftiges Haar schimmerte bisweilen grau, doch konnte man es ebensogut für ein unbestimmtes Blond halten, und neben den bunten Waschblusen und derben Sergeröcken der anderen Damen schien, was sie trug, kein wirkliches Kleid zu sein. »Gewänder« war das Wort, das Ilse einfiel. Und auch darin hatte sie etwas Zeitloses.
Die langstielige Lorgnette vor die Augen haltend, die zwischen lang bewimperten, halb geschlossenen Lidern blinzelten, kam sie von weitem auf Ilse zu. Doch wie sie nun, vor ihr stehend, die Augen plötzlich aufschlug, waren diese so klar und leuchtend, daß die Lorgnette nur noch ein Spielzeug der weißen Hände mit den Perlenringen schien.
»Also nun seh ich Sie endlich,« sagte die Gräfin, »Wolf Walden hat mich nämlich ganz begierig gemacht, er schrieb so viel von Ihnen.«
»Von mir?« fragte Ilse erstaunt, »aber er hat mich ja kaum gesehen. Meinen Mann freilich kennt er schon lange.«
»Ja, das kömmt vor, daß man den Mann lange kennt und doch mehr über die Frau schreibt,« antwortete die Gräfin mit einem leicht perlenden Lachen, das den Eindruck machte, als glitte es mit verständnisvoller Nachsicht über alle Vorkommnisse des Lebens dahin. »Er fragte in seinem letzten Briefe, ob ich Sie kennen gelernt hätte – ja, und nun möcht ich Sie wirklich kennen lernen.«
Die Gräfin hatte in allem, was sie tat, die selbstverständliche Souveränität von Frauen, die viel gefeiert worden sind. Als sich bald darauf die ganze Gesellschaft vom Saal in den Garten begab, um die ersten Tulpen zu sehen, schritt sie neben Ilse durch die mit Buchsbaum eingefaßten Kieswege. Und Ilse wußte nicht recht, wie es zuging, aber sie hatte dieser fremden Frau bald all die Einzelheiten ihres Daseins anvertraut, während sie sprach, empfand sie, welche Wohltat es war, so reden zu können, und daß sie sich solche Aussprache wohl schon längst gewünscht haben mußte. Sogar von den Büchern droben in der Bodenkammer erzählte sie. Die Gräfin kannte all die Werke, die Ilse nannte; sie hörte mit nachsichtigem Lächeln ihre glühende Schilderung der allen Hindernissen zum Trotz glücksuchenden Heldinnen Georges Sands, und dann sagte sie milde: »Ja, ja, davon träumen einmal wohl alle armen Kettenträger – und wen die Götter lieben, dem erfüllen sie den Traum – aber sie lassen auch manchen dran zugrunde gehen.« Dann brach sie ab und sagte mit plötzlicher Lebhaftigkeit: »Aber nun erzählen Sie mir vor allem von Ihrer Musik – denn Sie, eine Enkelin von Ingeborg Thor Hacken müssen ja ein ganz besonders begnadetes Menschenkind sein! Sie singen doch natürlich?«
Ilse errötete, sie wußte ja nun längst, daß die Zehrens ihr diese Großmutter nie verziehen hatten, diese längst verstorbene Großmutter, die sich ein kunst- und schönheitsbegeisterter Sprosse fürstlichen Geblüts als einzige »Tat« seines Lebens mit der linken Hand von der Oper fortgeholt hatte. Es war seltsam, nun plötzlich eine so andere Bewertung kennen zu lernen, zu erleben, daß der Name dieser Großmutter, der von den Zehrens behandelt wurde, wie ein unvertilgbarer Rostfleck auf einem Tischtuch, den man durch Blumen oder Konfektschalen scheu verbirgt, von der Gräfin laut gerühmt wurde, als gäbe er der Enkelin ein Anrecht, zu den besonders Begünstigten des Lebens zu gehören! Und Ilse antwortete: »Als Kind habe ich sehr viel Klavier gespielt und auch immerzu gesungen, so ganz von selbst – und Papa sagte, wenn ich erst alt genug sei, solle ich auch Gesangunterricht erhalten – aber – da hab ich mich ja verheiratet.«
Es klang so herzbrechend traurig, als ob ein armes Mäuschen piepste: da fiel die Fallentür hinter mir zu, dachte die Gräfin. Und sie sagte eifrig: »Das ist aber doch kein Grund, nicht jetzt mit dem Singen anzufangen. Ich bin ja ganz sicher, es steckt Talent in Ihnen. Wir werden es probieren und ausbilden. Kaliwoda ist jetzt für einige Zeit bei uns, und Lydia Neuland, die sollen Ihnen Unterricht geben. Sie müssen recht viel zu mir kommen.«
Die ganze Gesellschaft war nun bei dem Rondel angelangt, wo um alte Sandsteinfiguren die flammenden Tulpen in großen Beeten blühten. Und Gräfin Helmstedt wandte sich zu Theophil: »Nicht wahr, Sie erlauben mir, Ihnen Ihre Frau diesen Sommer manchmal zu entführen?« und sich an seine Mutter richtend, sagte sie: »Töchterlose Frauen wie ich sind auf Anleihen angewiesen.«
Theophil fühlte sich geschmeichelt, denn wenn man auch über Gräfin Helmstedt gern klatschte, so lag vor allem doch viel Neid in dem, was man über sie vorbrachte. Es ließ sich ja nicht fortleugnen, daß sie eine Frau war, die eine Rolle in der Welt gespielt hatte, die an jedem Hofe bekannt war und mit allen Berühmtheiten in Verkehr stand. Von ihr bemerkt zu werden, war immerhin eine Auszeichnung. Darum verzog auch Mechtild den Mund bittersüß: Es wäre doch natürlicher gewesen, wenn Gräfin Helmstedt bei diesem plötzlichen Wunsch nach töchterlichem Anschluß an eine ihrer neun Mädchen gedacht hätte! Während wiederum Frau von Werbach-Stolfitten, geborene von Zehren, sich sagte, daß von allen jungen Damen der Verwandtschaft für die kunstenthusiastische Gräfin doch nur ihre Gabriele hätte in Betracht kommen können, die die Begebenheiten des Familienlebens in so artige Verse zu bringen wußte. – Allerhand Begierden waren in diesen mütterlichen Herzen wach geworden durch der Gräfin Worte. Sie war bisher keiner der Damen in der möglichen Rolle einer gutmütigen Tante erschienen, in deren Hause die Mädels gratis erstklassige Musikstunden ergattern konnten. Warum aber sollte nun gerade Cousine Ilse solche Vorteile genießen? Cousine Ilse, die ja schon einen Mann hatte, wodurch an sich Musikstunden doch wirklich überflüssig wurden, und die obendrein diesen anfechtbaren Stammbaum besaß und sich nicht einmal beeilte, ihre erste und wichtigste Frauenpflicht zum Fortbestand der Familie zu erfüllen.
Später auf der Rückfahrt nach Frohhausen sprach Gräfin Helmstedt dann mit Lebhaftigkeit über Ilse, während ihr Mann ihr mit derselben liebevollen Bewunderung zuhörte, die er vor zwanzig Jahren für sie empfunden hatte, damals, als sich jener Roman zwischen ihnen Zutrug, über den noch heute die Edeldamen des Kreises Sandhagen sich gerne gruselnd unterhielten.
»Wir müssen diesem armen Kinde beistehen,« sagte die Gräfin.
»Ja, wir müssen,« antwortete er, ihren überzeugten Ton nachahmend, »denn das ist nun einmal deine Spezialität, Gisi! Du hast sicher irgendein Tröpfchen von Don Quichotes Blut in den Adern und erblickst überall Unterdrückte, denen du helfen mußt.«
»Es ist ein Abtragen eigener Glücksschuld, Ludwig,« sagte sie leise, »und diese kleine Ilse tut mir nun mal gar zu leid – sie sieht ja so erschrocken aus wie ein Elfchen, das zwischen lauter Ichthyosauren verirrt wäre.«
»Und das hätte dann doch wenigstens Flügel und könnte davon,« antwortete ihr Mann.
»Ja, die kann ich ihr freilich nicht geben,« sagte die Gräfin, »aber wenigstens soll sie oft zu uns kommen – weißt du, sie erinnerte mich beinahe schmerzlich an mich selbst, wie ich war, damals, ehe ich dich kannte.«
In dem Wagen stahl sich ihre Hand in die seine, als wären sie zwei junge Liebesleute.
»Dann aber wuchsen dir die Flügel,« sagte er.
»Die schenktest du mir ja,« antwortete sie, »daß ich mit dir könnte.«
»Und du hast es nie bereut —? —« Es sollte eine Frage sein, aber er war ihrer Antwort so sicher, daß es mehr wie eine dankbare Behauptung klang.
Sie antwortete auch gar nicht, sondern lachte nur ihr leise perlendes Lachen.
»So wenig bereut,« fragte er nun, »daß du sogar dasselbe Erleben einer anderen wünschen würdest?«
»Ja,« antwortete sie ohne Besinnen, »wenn der andere wie du wäre.«
Sie lachten nun beide, und der Graf sagte, indem er auf die flache nüchterne Gegend wies, aus deren sandigem Boden es spärlich sprießte: »Ich glaube etwas an den Einfluß der Umgebung auf die Erlebnisse – wir beide trafen uns in Griechenland – hier in dieser Gegend muß man sehr sicher sein vor allen befreienden Begebenheiten.«
»Ja, Kummerfelde, Sorgental, und wie die Orte alle heißen – das klingt freilich nicht nach Flügelwachsen! – Wie verschieden, Ludwig, müssen doch deine Vorfahren von den Zehrenschen gewesen sein! Ganz zur selben Zeit, nach dem dreißigjährigen Kriege, bauten sich eure beiden Ahnherren hier wieder an, der eine nannte sein Haus Weltsöden, der andere aber schuf sich unser liebes Frohhausen!«
»Er ahnte vielleicht dein einstmaliges Kommen, Gisi – und all das Beste hier hast doch du geschaffen!«
Der Wagen verließ nun die Landstraße. Durch das weit geöffnete Tor, über dem die alte schmiedeeiserne Laterne hing, fuhr er, vorbei an den beiden niedrigen Pförtnerhäuschen mit den hohen abgesetzten Dächern und bog in die lange Allee uralter Linden. Ganz am Ende, über der ansteigenden Rampe, schimmerte lockend das weiße Schloß.
Dort in dem weißen Schlosse schrieb Gisi Helmstedt noch am selben Abend:
»Lieber Walden! Da säßen wir denn auf der »heimatlichen Scholle«, wie es ja wohl heißt. In vergangenen Jahren bin ich zwar schon oft während der kurzen Urlaubsreisen meines Mannes ein paar Wochen hier gewesen, aber jetzt, wo seine amtliche Laufbahn beendigt ist, werden wir wohl häufiger und länger hier sein und wollen gleich dies Jahr mindestens bis in den Spätherbst bleiben. – Bei jenen früheren Besuchen habe ich auch hier Land und Leute nur mit dem gewissen, zwar rasch erfassenden, aber doch etwas oberflächlichen Diplomatenblick betrachtet, den wir uns alle angewöhnen, um uns schnell in den wechselnden Milieus zurecht zu finden, durch die fremder Wille unser nomadisierendes Dasein treibt. Jetzt aber ist mit allem äußeren Zwang auch alle Eile aus dem Leben geschwunden, und ich kann diese Welt mit jener Gründlichkeit betrachten, die ein Charakterzug meiner angeheirateten Landsleute sein soll. Ich kann – um ganz deutsch zu reden – trachten, zu ergründen, was hinter den Erscheinungen als eigentliches Wesen steht.
Und da will es mich nun dünken, daß dies Eigentlichste etwas ganz Feststehendes, Unveränderliches ist, so daß die Menschen hier, Männer wie Frauen, nicht so sehr differenzierte Persönlichkeiten der modernen Welt zu sein scheinen, als vielmehr Inkarnationen von unwandelbaren Begriffen – von Begriffen, die wohl aus dem kärglichen Boden des Landes stammen und mit seiner Geschichte zusammenhängen. – Leute sind es, deren Vorfahren von jeher unter oft harten und beinahe immer einengenden Lebensbedingungen aufwuchsen und die das Verbum »müssen« häufig genug konjugiert haben mögen. Dadurch wird wohl dies Trotzige und zugleich doch streng Disziplinierte in sie gekommen sein, das uns Menschen weicheren Materials so oft auffällt – eine Wesensmischung, die aus zwei sich scheinbar widerstreitenden Elementen besteht und die doch den festen Kitt bildet, der hier alles zusammenhält.
»Du sollst dich auf der ererbten Scholle behaupten« ist, glaube ich, eines jeden oberster, unanfechtbarer Glaubenssatz. Was diesem Ziele dient, muß gestützt, was ihm hinderlich ist, bekämpft werden. Da gibt es kein Schwanken noch Zaudern. Denn all die Leute hier sind, glaub ich, ganz ehrlich überzeugt von der Richtigkeit und Heilsamkeit derjenigen Weltordnung, die sie repräsentieren, weil es eben diejenige ist, auf der sich von altersher ihr Preußen aufgebaut hat und die dabei die Existenz ihres eigenen Standes sicherstellt. Etwas, das diese Weltordnung beeinträchtigt, müßte ihnen als ein ebensolcher Frevel erscheinen, wie eine absichtliche Deteriorierung des Grund und Bodens, in dem ihr ganzes Dasein wurzelt. Von inneren Kämpfen, Entwicklungsgängen und Wandlungen, von dem quälenden Zweifel »was ist Wahrheit?« wird wohl schwerlich jemand hier angefochten, und ein jeder könnte bei der Konfirmation neben dem religiösen auch zugleich ein Gelübde der staatlichen und sozialen Überzeugungen ablegen, die er bis zu seinem seligen Ende treu bewahren wird.
Solchen versteinerten Anschauungen gegenüber wird jedes Anderssein zur Schuld, und ich fühle, wie hier nicht nur mein Ausländertum, sondern auch Ludwigs von der hiesigen etwas abweichende politische Färbung mit Mißtrauen betrachtet wird. Ja, jede eigenartige Individualität ist schon unbeliebt und erscheint als gefährlich, weil sie in den Verdacht kommt, am Bestehenden eine unerlaubte Kritik üben zu wollen. Und Menschen, die selbst sicher bereit wären, für ihre Überzeugungen Opfer zu bringen, ja sich dafür nötigenfalls totschießen zu lassen, schöpfen aus diesem Bewußtsein eigener Unanzweifelbarkeit die Berechtigung des Hasses gegen jeden Andersdenkenden, wehe aber besonders dem, der, aus ihren Reihen sich lösend, angestammter Tradition entgegentreten wollte! Den würden sie erbarmungslos als geächteten Deserteur verfolgen!
Und in dieser Umgebung der Schroffheit und grazienlosen Härte habe ich nun die junge Frau Ilse von Zehren kennen gelernt, die sie neulich in Ihrem Briefe erwähnten! Ein Wesen aus einer ganz anderen Welt, dem man das künstlerische Blut und die übersensitive, schwärmerische Anlage sofort anmerkt. – Da kann man sich wohl fragen: wie wird sie, die wie eine Verkörperung von Glücks- und Schönheitssehnsucht erscheint, sich hier Zurecht finden, wo eine so völlige ästhetische Bedürfnislosigkeit herrscht, und wo das wenige, was an Kunst als zulässig geduldet wird, auch noch den Stempel autoritativer Genehmigung tragen muß?
Nun, ich will auf alle Fälle suchen, sie möglichst zu uns zu ziehen, und es wird mir selbst ja eine Freude sein, etwas Schönheit in ihr Dasein zu bringen, vor allem will ich sehen, ob sie eine ausgesprochene Verausgabung zur Musik hat, wie es bei ihrer Abstammung von der berühmten Sängerin Ingeborg Thor Hacken eigentlich anzunehmen ist. – Das wird Sie gewiß interessieren, lieber Walden, der Sie mir mit Ihrem Singen so oft schöne Stunden bereitet haben.«
Gräfin Helmstedt gehörte zu den Menschen, deren Wünsche immer durch äußere Begebenheiten gefördert werden. So erfüllte sich auch ihr Wunsch, Ilse häufig bei sich zu sehen, ganz von selbst. Theophils Mutter, die vielleicht einen ihr allzu intim dünkenden Verkehr verhindert hätte, wurde zu ihrer plötzlich schwer erkrankten Schwester berufen; sie war zwar eine der Frauen, die über dem Verwandtenkreise des Mannes ganz den eigenen vernachlässigen, aber dieser Depesche der Schwester mußte sie folgen. Nach eindringlichen Ermahnungen an die alte erfahrene Mamsell, nur ja nicht das rechtzeitige Einmachen von grünem Stachelbeermus zu vergessen, und Anweisungen an den langjährigen Gärtner, über die Zeitabstände, in denen Erbsen und Bohnen gelegt werden sollten, und unter völliger Übergehung der Schwiegertochter bei all diesen Anordnungen fuhr sie seufzend ab – im Gefühl, die Weltsödener Wirtschaft allerhand tückischen Gefahren zu überlassen.
Ilse hätte nun eigentlich gern gezeigt, was sie konnte, und vielleicht auch an diesem ersten selbständigen Walten Freude gefunden, aber es gab gar keine Gelegenheiten zum Eingreifen in diesen seit vielen Jahren einer regelmäßigen Routine folgenden Haushalt. Die junge Frau des Besitzers war ein Gast im Hause und nicht mal ein sonderlich hoch bewerteter. Denn wenn auch der Zauber ihrer allzu zarten Schönheit bisweilen auf diesen oder jenen wirkte, und besonders der Gärtner sie oft anschaute, wie eine der fremdländischen Blumen, mit denen er sich so viel mehr Mühe wie mit den landläufigen Pflanzen geben mußte, so wußte man doch längst in Hof und Haus, daß neben der alten Gnädigen die junge nur eine sehr geringe Autorität war. Und all diese überaus einfach und natürlich empfindenden Menschen achteten ja auch in jeder Frau hauptsächlich nur die Mutter.
Vielleicht hätten Theophil und Ilse nun in dieser ersten Zeit längeren, ungestörten Zusammenseins den Weg zueinander noch zurückfinden können, aber dieser Weg war doch wohl schon allzu weit geworden, und gar zu viel trennende Hindernisse lagen darauf. Ganz zu Anfang, wenn Theophil Ansichten aussprach, die Ilses Überzeugungen entgegengingen, hatte sie pochenden Herzens, aber mit einer seltsamen Tapferkeit widersprochen: nicht aus Rechthaberei, sondern weil sie noch den Wunsch und die Hoffnung hegte, mit ihm zur Verständigung zu kommen. Da hatte sie Theophil aber kopfschüttelnd angesehen und dozierend gesagt: »Du erstaunst mich, liebes Kind, durch dies förmliche Suchen nach eigenen, mir widersprechenden Einwänden. Du solltest dir doch sagen, daß ich nur dein Bestes will, und daß es vom Herrn also gefügt ist, daß du dich wie meinem physischen Schutz so auch meiner geistigen Führung anvertrauen sollst.«
Diesen anfänglichen Wortgefechten trachtete Ilse nun schon längst aus dem Wege zu gehen, und sie war während der letzten Monate sehr still geworden, weil sie einzusehen begann, daß ihre wohlgemeinten Aussprachsversuche doch zu nichts führten. Theophil dagegen, der in diesem neuerlichen Schweigen weniger die der Frau wohl anstehende Selbstauslöschung zu erkennen glaubte, wie vielmehr ein Beharren in verborgenem Trotze, stellte nun oft absichtlich Behauptungen auf, von denen er ahnte, daß sie ihr widerstreben mußten. Es machte ihm denselben Spaß, sie zu Entgegnungen zu reizen, wie junge Hunde zu necken, bis diese zuschnappten, worauf er ihnen dann einen erzieherischen Klaps auf die Schnauze zu versetzen pflegte. Ließ sich Ilse aber wirklich zu einer widersprechenden Äußerung verleiten, so seufzte er gekränkt und sagte verweisend: »Die Insubordination liegt dir offenbar im Blute,« was eine Anspielung auf Ilses fürstlichen Großvater und musikalische Großmutter sein sollte, die sich so eigenwillig einst ihren Lebensweg gebahnt. Theophil strafte Ilse dann, indem er tagelang gar nicht mehr mit ihr sprach, und es konnte dabei vorkommen, daß er überhaupt vergessen hatte, was eigentlich der ursprüngliche Anlaß zu seiner Mißbilligung gewesen war.
Aus diesen zuerst einzelnen Anlässen ging dann allmählich eine dauernde Wandlung in ihrem Verkehre hervor. Mehr denn je verbrachte Theophil jetzt seine Morgen auf dem Felde, in den Ställen und dem Walde, von dem ererbten Mißtrauen geplagt, daß Rumkehr und Treumann strengster Beaufsichtigung bedürften. Heiß und müde kehrte er heim zum Mittagessen, bei dem er die während seiner Morgenwanderungen eingetroffenen Zeitungen und Briefschaften las.
Nachher zog er sich mit der Zigarre in sein Arbeitszimmer zurück, zu kurzem Schlaf und umständlicher Erledigung der verschiedenen Eingänge; danach ging er wieder aus bis zum Abend. Auch während der von Ilse so sehr gefürchteten Stunden in dem braunen mit Straminstickereien gezierten Zimmer, blieb er jetzt meist kühl und zerstreut – es war, als habe das Erzwingen eigenen Willens allmählich an Reiz verloren. Häufiger als früher benutzte Theophil alle Anlässe, in die Kreisstadt zu fahren, für deren Honoratioren der Besitzer von Weltsöden ein großer Herr war. Und häufiger auch als sonst kehrte er unterwegs bei Mechtild ein – in einen Sessel gestreckt schaute er wohlgefällig zu, wie Fräulein von St. Pierre sich über den Teetisch beugte, zwischen Zuckerdose und Butterbrötchen mit den rundlichen, weißen Händen hantierte und ihm, weichen, wiegenden Ganges, die dampfende Tasse an seinen Platz brachte, als sei es eine symbolische Handlung, die sagen sollte: Hier war eine Frau, die keine eigenen Ansichten gekannt und nur dem Mann gedient hätte.
Theophil bemerkte es kaum, daß währenddessen in Ilses Leben neue Einflüsse traten.
Beinahe täglich war sie jetzt im nahen Frohhausen, und wenn die Gräfin sie nicht im Wagen holen ließ, so legte sie den kurzen Weg zu Fuß zurück.
Als Ilse das erstemal dort eintrat, war sie ganz benommen gewesen von dem Fremden, das sie sah. Aus allen Orten, wohin ihres Mannes Laufbahn sie geführt, hatte Gräfin Helmstedt Andenken mitgebracht. In ihrem Hause konnte man einen Spaziergang durch ihr Leben machen, und da ihr Leben sich in den verschiedensten Ländern abgespielt hatte, war es eigentlich ein Spaziergang durch die ganze Welt. Aber es lag in alledem nichts von der Kühle unbenutzter Sammlungen. – Die persischen, mit seinen Miniaturen geschmückten Bände wurden aufgeschlagen und studiert; die japanischen Vasen dienten wirklich großen Sträußen; und mit den verblaßten chinesischen Sammeten waren alte italienische Möbel bespannt, zu deren abgeriebenen Vergoldungen sie seltsam harmonisch stimmten. Alle Dinge hatten eine tatsächliche Beziehung zu ihren Besitzern. Darum fühlte sich Ilse bald heimisch in Frohhausen – heimisch auch bei dem antiken Eros mit den geschlossenen Augen und tastend ausgestreckten Händen, der auf hohem Sockel im lichten Hausflur stand und den Graf und Gräfin Helmstedt einst aus Griechenland heimgebracht hatten, aus Griechenland, wo sie sich vor zwanzig Jahren zuerst gesehen.
Immer inniger und dankbarer schloß sich die vereinsamte Ilse ihren neuen Freunden an. Sie wurden ihr zu Führern in bisher unbekannten Welten. Denn fremder noch wie die Gegenstände aus fernen Ländern waren die Gedanken und Erzählungen, die Ilse in Frohhausen vernahm. Andächtig lauschte sie, wie da Menschen, die zu den bekanntesten der Erde gehörten, als Freunde, Kollegen, als frühere Mitarbeiter oder Gegner erwähnt und beurteilt wurden. Und es konnte manchmal irgendein zufälliges Wort plötzlich vor ihr enthüllen, wie sehr dem Grafen einst die Begebenheiten der Weltgeschichte nicht Dinge gewesen waren, von denen man überrascht in den Morgenzeitungen liest, sondern an deren Werden er in manch schlafloser Nacht mitgearbeitet hatte.
In dem Zimmer, wo die Besitzer Frohhausens Ilsen also erzählten, blickten von den Wänden die Porträts etlicher Souveräne auf sie herab. Fremde und heimische. Und allerhand andere höchste Huldbeweise waren da aufgespeichert – Dosen, Nippes, kostbar eingerahmte Photographien, Vasen königlicher Manufakturen und was der Dinge mehr sind, durch die Gunst sich äußert und die sie meist überdauern. – »Requisiten der Vergangenheit« nannte die Gräfin all diese Sachen, die den Besuchern aus den Nachbargütern gewaltig imponierten und Graf Helmstedt in ihren Augen ein großes Ansehen verliehen. Er war doch der einzige in der Gegend, der Herrscherbilder besaß und Photographien, auf die allerhöchste Hände in einem Augenblick froher Laune huldvolle Grüße, scherzende Worte hingeschrieben hatten. Worte, die, so nach Jahren gelesen, wie versteinertes Lächeln wirkten, dessen Grund niemand mehr kennt.
Ilse ließ sich von dem Grafen die Episoden erklären, auf die da angespielt wurde. In wieviel Begebenheiten und Charaktere hatte er doch Einblick gehabt! Ihr Herz schlug höher bei dem Gedanken an solch ein Leben, das wirklich Leben gewesen. Und dann wieder schien es ihr unendlich hart, daß das alles hier so endete, und die ungenutzte Kraft dieses Mannes nur noch im Ertragen der weiteren Jahre verbraucht werden sollte. – War denn wirklich Entsagen immer und überall das letzte Wort? In jedem Dasein, auch solchem, das sich mit so stolzem Fluge weit über Durchschnittsmaß erhoben? – Sie wollte nicht zugeben, daß dies ein Allen geltendes Gesetz sein könne. Der Jugend Glaube an Sonderrecht und ihre Zuversicht, Unerreichtes doch zu erreichen, sträubten sich gegen solche Erkenntnis. Sie begriff oft kaum, wie der Graf die ihm jetzt beschiedene ländliche Stille so heiter und gut ertragen konnte.
»Sehnen Sie sich nicht oft ganz schrecklich nach Ihrem früheren Leben zurück?« fragte sie ihn einmal in der ihr eigenen, oft noch ganz kindlichen Art.
Und er antwortete: »Nach dem früheren Leben, wie es in Wirklichkeit war? Oh nein. – Wohl aber nach dem einstmaligen Glauben, so viel im Leben schaffen zu können. – Im übrigen kann, wer in den Geschäften ist, nie früh genug nach einer schicklichen Gelegenheit spähen, sich aus ihnen zu entfernen, denn keiner noch starb in den Sielen, dem nicht der Nachruf geworden wäre: Er ist zu lang im Dienst geblieben.«
Oft auch malte sich Ilse sehnsüchtig aus, wie das Schicksal der Frau neben dem des Mannes gewesen sein mußte. Mit welcher Begeisterung sie gewiß an allem teilgenommen und geholfen hatte. – Ja, jener waren eben Ziele gewiesen worden, die jeder Hingabe würdig waren! Und Ilse fühlte, wie sich in ihrem eigenen innersten Wesen die Fähigkeit zu unendlicher Aufopferung beinahe stürmisch regte – wenn ihr nur auch Aufgaben geworden wären, die sie mit sich fortgerissen hätten!
Wie sie nun die Gräfin nach jenem früheren Leben einst fragte, antwortete diese mit leisem Lächeln und halb geschlossenen Augen: »Ja, es war erhebend, dies Gefühl, großen Zwecken gemeinschaftlich zu dienen, diese Hoffnung, erreichen zu können, was wir kurzlebige Menschen bleibende Erfolge nennen, und was doch meist nach fünfzig Jahren überholt, verändert, entwertet ist. – Aber das wirklich Schöne, das war doch nur, daß wir beide uns liebten und wußten, daß das, inmitten aller wechselnden Bilder, das Bleibende sei.«
Da mußte sich Ilse sagen, daß nicht nur der äußere Bau ihres Lebens kläglich und dürftig neben dem der neuen Freundin erschien, sondern daß ihm vor allem das gleiche, starke und alles tragende Fundament fehlte. – Und das war etwas, was sich bei einem Bau nicht mehr nachholen läßt.
Wenn aber solch plötzliches Erkennen gar zu trostlos in Ilses schimmernden Augen zu lesen stand, dann streichelte die Gräfin sie mitleidig, wie ein armes Kind, das im Schlafe beraubt worden ist, und diese sanfte Frauenfreundschaft beschenkte mit so viel, daß Ilse darüber vergaß, wie arm sie eigentlich war.
Doch wie eine Angst überkam sie manchmal der Gedanke, daß dies Zusammensein doch einmal aufhören müsse. »Was soll aus mir werden, wenn Sie erst wieder fort sind?« klagte sie.
» Sie müssen, wenn wir im Winter in Berlin sind, auch eine Zeitlang hinkommen« – antwortete die Gräfin.
»Das ist unmöglich, wir sind hier ja wie eingewurzelt,« seufzte Ilse, deren Jugend alle Zustände noch als Endgültigkeiten erschienen.
»Ach Kindchen,« sagte die ältere Frau, »scheinbare Unmöglichkeiten räumen sich oft ganz von selbst aus dem Wege, so daß man manchmal glauben könnte, im Wünschen läge wirklich eine zwingende Macht.«
Aber Ilses tägliche Besuche vergingen nicht nur in Gesprächen, vor allem sollten sie ja ihrer musikalischen Ausbildung gelten.
Kaliwoda und Lydia Neuland hatten sie geprüft, ihr Klavierspiel, Gehör und Geschmack gelobt und ihrer Stimme eine schöne Entwicklung prophezeit, vom Glauben der Gräfin an die von der Großmutter ererbte Begabung getragen, wähnte nun Ilse, da läge die Zukunft und Möglichkeit, ein allereigenstes Dasein zu führen. Sie begann zu hoffen, ihre Stimme würde sich als so groß und schön erweisen, daß sie es vielleicht erreichen würde, ihrer Ausbildung halber im Winter nach Berlin zu dürfen. Der Gedanke, selbständig etwas leisten zu können, verlieh ihr Flügel. Sie entsann sich, wie sie einst, als ganz kleines Mädchen, ein Feuerwerk gesehen, wie sie den glänzend aufschwirrenden und in tausend Sternen zerstiebenden Raketen nachgeschaut und das bewundernde »ah« – der Menschen vernommen hatte, und wie da der kindische Wunsch in ihr entstand, auch einmal solch ein leuchtendes Etwas sein zu können, das strahlend zu Himmelshöhen steigt und nächtliche Finsternis zu blendendster Helle wandelt. – Und nun glaubte sie, daß dieser kindische Wunsch in Wahrheit ein Vorausahnen der in ihrer Eigenart begründeten Zukunft gewesen, und daß er sich ihr endlich erfüllen solle. Denn in der Kunst, da konnte ja auch eine Frau zu Höchstem gelangen und lichten Glanz über ein sonst dunkles Leben breiten.
So sang und übte Ilse mit dem ganzen Tatendurst ihrer Seele. Wie stürmende Belagerer steile Höhen erklimmen, wie Schiffbrüchige in leckem Boot zum Ufer rudern, so arbeitete sie. – Leben, mehr als Leben galt es ja.
Nie hatten Kaliwoda oder Lydia Neuland eine derartige Schülerin unterrichtet.
»Mir ist manchmal bang um sie,« sagte der Pianist zu Lydia, »weil ich fürchte, daß sie dran zugrunde gehen würde, wenn etwas ihren Flug unterbräche.«
»Und das könnte leicht geschehen,« antwortete die Sängerin, »denn das eigentliche Stimmmaterial ist doch schwächer in ihr wie die Begeisterung.«
Kaliwoda nickte. »Ja, diese Begeisterung! Als wir ihr zuerst sagten, daß ihre Ausbildung sich lohne, da kam über sie ein erlöster Ausdruck, den ich nur einmal früher gesehen habe. Bei meiner Tournee in Amerika war es, in einer Minenstadt des Westens – da wurden gerade verschüttete Arbeiter aus einem Bergwerk zutage gebracht – die hatten diese selbe verzückte Glückseligkeit, als sie das Licht erblickten.«
Die beiden großen Künstler förderten Ilse mit ihrem ganzen Können. – Zuerst hatten sie es nur aus Gefälligkeit für Gräfin Helmstedt unternommen, die ihnen, den ruhelos wandernden, durch vieles Getrennten, in Frohhausen einen Sommerhafen bot, wo sie, nach des Jahres Anstrengungen und Fahrten, einmal nebeneinander vor Anker gehen konnten; dann waren ihre feinen Künstlernerven von Ilses eigentümlichem Zauber berührt und in Schwingung gebracht worden, und schließlich interessierten sie sich für die Aufgabe selbst. Denn Ilse machte überraschende Fortschritte. Gräfin Helmstedt war bei dem Unterricht oft zugegen. Sie hatte ihr ganzes Leben Künstler um sich versammelt, gehörte zu den Menschen, die in Bayreuth und bei allen Musteraufführungen anzutreffen sind und verbrachte selbst täglich Stunden am Klavier. Ilses künstlerische Erweckung war so recht eine Tat nach ihrem Herzen, das überall impulsiv beglücken und befreien wollte. Ilse, die Unverwöhnte, empfand das. Es kettete sie an die Freundin. »Ich werde Ihnen das Glück meines Lebens verdanken,« sagte sie schwärmerisch.
So verging eine selige Zeit mit unbegrenztem Arbeiten und unbegrenztem Hoffen.
Ilses Vater hatte eigentlich in diesen Wochen seinen längst angesagten Besuch in Weltsöden ausführen wollen, aber dann schrieb Greinchen für ihn ab, weil er wieder von seinen alten Herzbeschwerden geplagt würde. – Statt seiner traf ein schöner Flügel ein, den er Ilse schenkte, nachdem sie ihm von ihren Musikstudien geschrieben hatte. Sie stellte das Instrument in ein Zimmer neben der braunen mit Straminstickerei gezierten Schlafstube. Es war dies ein unbenutzter Raum, wie er von voraussichtigen jungen Paaren für alle etwaigen Vorkommnisse bereit gehalten wird, und der in Weltsöden noch nicht seinen eigentlichen Namen führen konnte, sondern mit einer gewissen vorwurfsvollen Schärfe als »das leere Zimmer« bezeichnet wurde.
Da stand nun der Bechstein, und Stunden konnte Ilse davor verbringen. Denn hier war sie ganz ungestört, niemand lauschte; und neben den von Kaliwoda und Lydia vorgeschriebenen Übungen und Stücken fanden ihre Hände und ihre Stimme allmählich eigene Begleitungen zu eigenen Melodien. Tastend und unbeholfen noch und doch für sie selbst unendlich beglückend. Als ob der Bann der Einsamkeit von ihr genommen würde, war dies Erlebnis, eine Sprache gefunden zu haben, in der sie all das große unklare Sehnen ausdrücken konnte, für das sie Worte nicht wußte. Ihre ganze Persönlichkeit entfaltete und kräftigte sich daran. Die Musik war ihr zur inneren Befreiung geworden.