Отрывок из книги
Ich bin die ältere von zwei Schwestern und in meiner Kindheit mit der Rede vom Kompromiss immer wieder an und über meine Grenzen getrieben worden. Was zwischen meiner kleinen Schwester und mir strittig war – und das war das Meiste, das in dem kleinen Zimmer geschah, in dem wir aufwuchsen –, sollte über Kompromisse geregelt und gelöst werden. Es war das moralische Diktat unserer Eltern, darin zeigten sie sich kompromisslos. Wer sich weigerte, am Kompromiss mitzuarbeiten oder einem von ihnen vorgeschlagenen Kompromiss zuzustimmen, wer weiterhin aufstampfte, an den Haaren der anderen zog, boxte und schrie, war diskreditiert und somit jeder weiteren elterlichen Vermittlung unwürdig. Man könnte auch sagen: man kompromittierte sich durch Kompromisslosigkeit. Verhandlungswilligkeit musste zumindest geheuchelt werden, damit man sich nicht ins Unrecht setzte, nicht alle Chancen sofort verlor: auf das Spielzeug, den Vortritt an der Rutsche, die größere Portion vom Eis.
Avishai Margalit, der israelische Philosoph und moderne Theoretiker des politischen Kompromisses1, würde dafür kaum das Wort gelten lassen. Er teilt Kompromisse in zwei Gruppen: in die anämischen, also blutleeren Kompromisse, unter die unsere kindischen Streitereien gefallen wären. Denn der schöne, wertvolle Begriff Kompromiss wird gern – missbräuchlich, mindestens verschwenderisch, wie der Philosoph andeutet – auf alles angewendet, was sich nur irgendwie verhandeln lässt. Ein Handel, mahnt Margalit, sei aber kein Kompromiss, denn ein Handel laufe letztlich auf die Frage »take or leave it« hinaus, was man auf Deutsch vielleicht noch etwas harscher mit »friss oder stirb« übersetzen könnte. Also haben meine Eltern, die sich vermutlich für Meister der Vermittlung hielten, in Wahrheit bloß Handelsbedingungen formuliert und diese als Kompromisse bezeichnet, und deshalb war immer mindestens eine Partei, meine Schwester oder ich, am Ende wütend, empört und fühlte sich über den Tisch gezogen. Meistens beide.
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Den anderen, den seiner Meinung nach echten und einzigen Kompromiss, nennt Margalit »sanguine compromise«. Darin steckt das lateinische »sanguis«, Blut, im präzisen Gegensatz zum anämischen Kompromiss. Dieser also, der Vollblutkompromiss, ist die Königsdisziplin der politischen Kunst. Er hat nichts mit aufsehenerregenden Showeinlagen wie etwa dem Durchschlagen des gordischen Knotens zu tun, der merkwürdigerweise vielen einfällt, wenn sie sich einen gelungenen Kompromiss vorstellen sollen. Dabei ist höchstens der Effekt ähnlich, den ein guter Kompromiss auf die Konfliktparteien hat – eine tiefe Erleichterung, die im besten Fall so groß und haltbar ist, dass einem die Opfer leicht werden, die man dafür bringen musste. Beim gordischen Knoten hat keiner ein Opfer gebracht: Alexander der Große zerstörte das kunstvolle Geflecht voller Ungeduld und wurde dafür noch als tatkräftiger Draufgänger gefeiert. Eine ziemlich problematische Heldengeschichte, von heute aus betrachtet. Denn Draufgänger braucht man am allerwenigsten, wenn es darum geht, Konfliktparteien, die oft seit vielen Jahren blutig und rachsüchtig miteinander verstrickt sind, zur Zusammenarbeit zu bewegen. Die Draufgänger beginnen die Kriege, sie brechen sie mutwillig vom Zaun, und es braucht Kompromissfähige, die sie später mühsam beenden.
Kompromisse werden langsam und unter Schmerzen geboren. Sie erwachsen aus einer Zusammenarbeit, gegen die sich erst einmal alles sträubt: com-pro-missum. Zusammen haben zwei feindliche Parteien etwas vorausgeschickt, in die Zukunft gesandt im Sinne von versprechen/promettre/promise: Sie versprechen einander etwas und sind darin aneinander gebunden, beinahe wie in einer vom Krieg gestifteten Ehe. Sobald einer das Vereinbarte bricht, ist auch die Verpflichtung des anderen erloschen. Das Blutvergießen wird aufs Neue beginnen.
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