Liebe gesucht – Im Herzen gefunden
Реклама. ООО «ЛитРес», ИНН: 7719571260.
Оглавление
Eva Walter. Liebe gesucht – Im Herzen gefunden
Impressum
Teil 1 – Ansichten. Christas Kindheit und Jugend. Erika und Arthur kamen sich endlich wieder nahe und verliebten sich neu. Kurze Zeit später fühlte sich Erika schwanger. Als der Arzt ihre Vermutung bestätigte, jubelte sie, kaufte Kuchen und Blumen und deckte den Kaffeetisch. „Was gibt es denn zu feiern?“, fragte Arthur erstaunt, als er von der Arbeit nach Hause kam. Der kleinen Gisela lief das Wasser im Mund zusammen. „Ah, Streuselkuchen mit Pudding. Darf ich anfangen?“ „Warte einen Moment. Ich möchte euch doch erst sagen, was es zu feiern gibt. Ich bekomme ein Baby!“ Kurze Stille. Dann fragte Gisela: „Bekomme ich einen Bruder?“ „… oder eine Schwester“, ergänzte Erika. Mit versteinerter Miene verließ Arthur den Raum „Mir ist auch der Appetit vergangen“, sagte Arthurs Mutter und folgte ihm. Erika war fassungslos „Mutti, warum freuen sich die beiden nicht? Ich freue mich und möchte jetzt den schönen Kuchen essen.“ Erika wollte Gisela nicht enttäuschen und zwang sich ein Stück zu essen. Die Wohnungstüre knallte ins Schloss. ‚Was ist denn in Arthur gefahren?‘, fragte sich Erika. Sie dachte an ihre erste Schwangerschaft vor zwei Jahren. Gisela war ein Wunschkind. Beide hatten sich auf ihr Kommen gefreut. Dass sich Arthur über ein zweites Kind nicht freuen würde, war ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Sie beruhigte sich mit dem Gedanken, dass er etwas Zeit brauchte, die neue Situation zu überdenken. Als das Paar am Abend alleine war, fragte Arthur mit Anspannung in der Stimme: „Bist du dir ganz sicher, Erika?“ „Ja. Der Arzt hat es bestätigt. Aber was ist denn los, Arthur? Wieso freust du dich nicht?“ „Freuen? Ich soll mich freuen?! Ich verstehe nicht, wie das möglich war. Ich habe doch aufgepasst. Das Kind ist nicht von mir!“ Mit diesen Worten ließ er seine Frau alleine. So oft es Erika versuchte, es war absolut nicht mit ihm darüber zu reden. Zwischen den Erwachsenen wurden nur noch die aller nötigsten Worte gewechselt. Monatelang behandelten die beiden Erika sehr abweisend. Setzte sie sich abends mit in das gemeinsame Wohnzimmer, wurde ihr mit Sticheleien deutlich gemacht, dass sie nicht dazugehört. Die im Mutterleib wohnende Seele spürte die starken Stimmungsschwankungen zwischen hoffnungsvoller Freude, Sorge und Angst. Erika befürchtete, dass die Liebe ihres Mannes zu ihr womöglich ganz erkalten würde. Einen Monat vor der Entbindung zog Erika mit der kleinen Gisela zu ihrer Mutter Ilse. Sie konnte die Kälte ihres Mannes nicht mehr ertragen. Bei der Oma wohnten sie zwar dicht gedrängt auf kleinstem Raum, aber die Liebe und Fürsorge ihrer Mutter war Balsam für Erikas Seele. Kurz nach Weihnachten kam das Baby zur Welt. Erika gab dem Mädchen den Namen Christa. Die Kinderschwestern nannten es „Rosenblättchen“ Zwei Wochen später kam Arthur, um seiner Frau mitzuteilen, dass er die Scheidung eingereicht hat. Das Kind sah er kaum an. In der Hoffnung, eines Tages doch wieder als Familie zusammenzufinden, lehnte Erika die Scheidung ab. Dass Arthur keine Liebe mehr für sie empfand, tat ihr höllisch weh. Doch sie erlaubte sich nicht, ihre Traurigkeit zuzulassen. Gefühle der Schwäche würden es ihr nur schwerer machen, ihre Pflichten zu erfüllen, glaubte Erika. In ihrer Schulzeit, während des zweiten Weltkrieges, war ihr eingeschärft worden, nur Härte gegen sich selbst könne einem die Stärke geben, die Aufgaben, die einem das Leben stellt, zu bewältigen. Das Leben war nun mal kein „Zuckerschlecken“. So befahl sie sich eiserne Disziplin, um ihre Verantwortung zu erfüllen. Sie holte sich Rat und Anleitung aus Fachbüchern über Gesundheit, Pflege, Erziehung und hielt sich streng an die Empfehlungen. Solange ihre Kinder noch sehr klein waren, trug Erika einen weißen Kittel und Mundschutz bei näherem Körperkontakt. Da sie bereits zweimal schwer an Lungentuberkulose erkrankt war, wollte sie die Kinder nicht gefährden und versagte sich schweren Herzens mit ihnen zu schmusen. Ein Küsschen auf den Po war das Einzige, was sie sich erlaubte *(Dass Kinder, die nicht die körperliche Zuwendung bekommen, die sie brauchen, später als Erwachsene Schwierigkeiten mit körperlicher Berührung in Partnerbeziehungen haben können, darüber stand nichts in den Büchern.) * Anmerkung der Autorin. Erika gelang es, in einem Leipziger Stadtteil eine größere Wohnung zugewiesen zu bekommen. In der Hoffnung, dass Arthur doch zu ihr zurückkehren würde, lud sie ihn ein, mit seiner Familie in dieser Wohnung zusammenzuleben. Er lehnte ab. „Ich lasse meine Mutter nicht im Stich.“ „Ach nein. Aber mich und unsere Kinder kannst du im Stich lassen!“, entgegnete Erika außer sich. „Du kommst sehr gut alleine zurecht. Meine Entscheidung steht fest!“ Damit ließ er Erika stehen, in der eine Welt zerbrach. Ihre Träume von einer harmonischen Familie zerplatzten wie Seifenblasen. Zutiefst gekränkt verhärtete sie ihr Herz. Obwohl Erika an den Kindern Freude hatte, fühlte sie sich mit ihrer Situation überfordert. Und so holte sie ihre Mutter zu sich. Die gütige Ilse war ihr eine große Hilfe. Im Kindergarten steckte sich Gisela mit Keuchhusten an und lag fiebrig im Bett. Christa blieb zunächst verschont. Als die große Schwester fast gesund war, erwischte es die Kleine doch noch und eine Lungenentzündung kam hinzu. Das Kindchen drohte zu ersticken. Die Kinderärztin hielt es aber nicht für nötig, es in einem Krankenhaus behandeln zu lassen. Erika nahm Christa nachts mit zu sich ins Bett, um ihr das Köpfchen abzustützen. Als es noch schlimmer wurde, bestand sie auf der stationären Behandlung des Kindes. Im Krankenhaus war man außer sich über den Zustand der Kleinen. Während der wochenlangen Behandlung bangte Erika um ihr Kind. Doch dank der Liebe und Sorgfalt, die man dem Mädchen schenkte, konnte Christa geheilt werden. Als Erika endlich das Töchterchen wieder abholen konnte, sagte die Ärztin: „Ich dachte anfangs nicht, dass sie uns lebend verlässt.“ So war Christas erster Versuch, diese Welt, die sie kalt und unsicher empfand, zu verlassen, gescheitert. Sie sollte leben und wurde gerettet. Erika gab die stundenweise Arbeit als Sekretärin auf, um sich ganz den Kindern zu widmen. Arthur kümmerte sich nicht um sie „Wenn er wenigstens den Unterhalt für die Kinder pünktlich überweisen würde“, sagte sie zu ihrer Mutter. „Ich muss schon wieder das Gericht einschalten.“ Ohne Omas Hilfe, die im Krankenhaus arbeitete, wären sie nicht zurechtgekommen. Aus abgetragenen Sachen nähte Erika Blusen und Röcke für die Kinder. Schon früher hatte sie für sich selbst schöne Kleider genäht. An den Wochenenden gingen die vier schmucken Weiblichkeiten sehr gerne im Leipziger „Rosental“-Park spazieren. Die sonst so angespannte Mutter war in der Natur wie verwandelt. Sie trällerte mit den Vögeln um die Wette. Oma flocht Blumenkränze für die Kinder, die sich vergnügt auf der Wiese tummelten und mit Mutter Ball spielten. Die Unterschiedlichkeit der Mädchen bereitete Erika Kopfzerbrechen. Christa gehorchte, war pflegeleicht. Gisela verhielt sich öfters provozierend, widerspenstig, mit starkem eigenem Willen. Sie glaubte, die kleine Schwester würde ihr vorgezogen, und war eifersüchtig. Deshalb bemühte sich Erika, mit Christa besonders sachlich umzugehen. Die Schwestern fühlten sich von Mutter nicht geliebt und sehnten sich vergebens nach Bestätigung, Lob und mal in den Arm genommen zu werden. Wenn Mutter krank war und viel Ruhe brauchte, war die Kleine besonders artig. Sie dachte, es läge an ihr, wenn es Mutti nicht gut ging. Gisela nervte das Liebsein der Schwester. Ihretwegen musste sie sich mit den kleinen Heimlichkeiten sehr vorsehen, da Christa sie verpetzte. So hatte Mutter in Giselas Bett die Tüte mit den Bonbons gefunden und ihr eine Ohrfeige verpasst „Ich habe dir doch verboten, Süßigkeiten mit ins Bett zu nehmen! Wo hast du die Bonbons überhaupt her?“ Die Tochter blieb stumm. Es war ein Geschenk. Von wem, brauchte Mutter nicht zu wissen. Die Wange schmerzte. Gisela unterdrückte die Tränen. Sie war zu stolz, als dass sie Mutter den Triumph gönnte, sie klein zu kriegen. Wenn Mutter so grob war, schmerzte es Christa. Sie bekam Angst vor ihr. Und ihre Schwester tat ihr leid. Sie hätte ja der Mutter auch nichts zu sagen brauchen. Aber die schärfte ihnen ein, immer ehrlich zu sein. Für Christa hieß das, dass sie immer alles sagen sollte. Was war denn richtig? Sie wollte doch mit beiden Frieden haben. Erika nahm ihre Verantwortung, die Mädchen zu ehrlichen, zuverlässigen, ordentlichen, pflichtbewussten, fleißigen Menschen zu erziehen, damit sie mit den Schwierigkeiten des Lebens zurechtkommen würden, sehr ernst. Sie selbst hatte oft zu spüren bekommen, wie hart es zugehen konnte. Im Laufe ihrer zweiunddreißig Lebensjahre, sie war 1927 geboren, hatte Erika viel Extremes erlebt. Mit fünf Jahren hatte sie ihren Vater verloren, der an Lungentuberkulose gestorben war. Und eigentlich hatte sie auch einen Bruder gehabt, der ein Jahr jünger war. Als dieser noch klein war, hatte ihre Mutter ihn weggegeben. Die Gründe blieben im Verborgenen. Um mit diesen schmerzvollen Erfahrungen irgendwie fertig zu werden, hatte Erika die Fähigkeit entwickelt, leidvolle Gedanken zu verdrängen, den Gefühlen der Schwäche mit Härte zu begegnen. Sie war gerne in die Volksschule gegangen. Doch die Schulzeit während des Krieges zu erleben und von den Lehrern mit dem Rohrstock geschlagen zu werden, hatte tiefe Spuren in ihr hinterlassen. Sie wollte sich nie wieder von jemandem demütigen lassen. Am Anfang ihrer zwei Ehen war eine Weile alles gut gelaufen. Aber bald waren Probleme aufgetreten, die sie miteinander nicht lösen konnten. Auf zwei gescheiterte Ehen zu schauen, tat weh. Die Überzeugungen der Erwachsenen, die sie so oft in der Kindheit und Jugendzeit gehört hatte: „Das Leben ist kein Zuckerschlecken! Man muss kämpfen und stark sein, um zu überleben“, bestätigten sich für sie immer wieder. Und mit ihren Erfahrungen war sie auch zu der Meinung gelangt, dass auf Männer kein Verlass ist **(Erika nährte diese intensiven Gedanken mit negativen Gefühlen immer wieder, sodass Überzeugungen daraus wurden. Sie ahnte nicht, dass sie sich damit unbewusst selbst weiterhin ein Leben erschuf, in dem sie immer wieder würde kämpfen müssen und wiederholt Enttäuschungen mit Männern erleben würde.) ** Anmerkung der Autorin. Gisela wurde ein Schulkind und freute sich darauf. Zur Einschulung kam sogar ihr Vater. Es war eine merkwürdige Situation. Außenstehende konnten die Familie für intakt halten. Christa, die ihren Vater in ihren vier Lebensjahren noch nie gesehen hatte, ging so selbstverständlich mit ihm um und strahlte vor Glück, als wäre er immer dagewesen. Arthur ließ sich von Erika mit seinen Töchtern fotografieren, um jedes Kind einen Arm gelegt. Ihm machte das Freude. Erika sah es mit sehr gemischten Gefühlen. Als „Vati“ dann nicht mehr wiederkam, machte sich in Christa tiefe Traurigkeit breit. Ihr Herzenswunsch, die Eltern wieder vereint zu sehen, erfüllte sich nicht. Das Leben ging weiter. Es gab Neues zu entdecken. Die Kleine liebte ihren Kindergarten. Das war ihre Bühne, auf der sie ihre Lebendigkeit auslebte. Zu Hause erzählte sie eifrig von ihren Erlebnissen. Erika wurde es manchmal zu viel. „He, du Quasselstrippe, jetzt halte mal den Mund!“, rief sie dann. Auch in ihren Träumen hatte Christa den Kindergarten im Bett, rief Namen, sang, lachte laut. Zum Glück schlief ihre Schwester sehr tief. Erika wollte ihren Töchtern so lange wie möglich die kindlichen Freuden erhalten. Sang sie mit ihnen Lieder, las Märchen vor, erzählte selbst erfundene Geschichten und malte Bilder mit ihnen, fühlte sie sich wieder jung. Wurden im Radio Operettenmelodien gespielt, stellte sie lauter, sang und tanzte fröhlich mit. In ihrer Kindheit hatten Erikas Mutter und die Tante sie oft mit in Märchen- und später in Operettenaufführungen mitgenommen. Begeistert war sie in diese Welt eingetaucht und konnte ihr Leben lang von diesen Schätzen zehren. Das vermittelte sie auch ihren Kindern. Besonders in der Weihnachtszeit ließ sich Erika gerne von der Aufgeregtheit der Mädchen anstecken. Wenn sie mit ihnen Ketten aus Buntpapier als Schmuck für den Tannenbaum bastelte, Teig für Stollen und Plätzchen zubereitete, mit den Kindern Weihnachtslieder sang, schwang Glückseligkeit im Raum. Erika erwartete wieder ein Baby. Die Schwestern betasteten vorsichtig und neugierig Mutters wachsenden Bauch und lachten, wenn das Baby eine Beule in die Bauchdecke boxte. Mit seiner Ankunft wurde Andreas liebevoll von der Weiblichkeit um ihn herum begrüßt. Als Erika das Baby zum ersten Mal auf dem runden Wohnzimmertisch von der Stoffwindel befreite, sahen die Mädchen fast atemlos zu. Während Giselas Augen und offener Mund immer größer wurden, platzte Christa lachend heraus: „Was hat denn Andreas da? Das sieht ja aus wie ein kleines Bockwürstchen.“ In dem Moment schoss daraus ein nasser Strahl im hohen Bogen empor und tränkte Mutters Schürze. Sie prusteten laut lachend los. Zehn Monate später erkrankte Erika an offener Lungentuberkulose. Sie musste für längere Zeit in eine Heilstätte. Der Kleinste wurde in einer Wochenkrippe untergebracht. Oma holte ihn an den Wochenenden nach Hause. Die Kinderfürsorgestelle ordnete die Unterbringung der Schwestern in einem Kinderheim an. Das war eine harte Zeit für alle. Gisela und Christa litten anfangs sehr unter Heimweh und fühlten sich von den Kindern, die ihnen mit Argwohn begegneten, ausgegrenzt. Sie weinten oft. Die Grobheiten der anderen Kinder ängstigten sie. Gott sei Dank gab es aber auch einen Engel. Eine Erzieherin nahm die beiden manchmal mit zu sich nach Hause, wo sie wenigstens ein paar Stunden Herzenswärme verspürten. In dieser schwierigen Zeit hielten die Mädchen fest zusammen und trösteten einander. Die ältere beschützte ihre jüngere Schwester. Sie kam auch zunehmend besser mit den Gegebenheiten zurecht. In die Heimzeit fiel auch Christas Schulanfang, den sie ohne Eltern erlebte. Als Erika nach zehn Monaten ihre Kinder abholte, erfuhr sie, dass es ein „Heim für schwer erziehbare Kinder“ war. In ihrer Freizeit hörte Erika am liebsten Radio, schrieb manchmal Kommentare zu Hörspielen und Artikel für die „Leipziger Volkszeitung“. Sie schloss sich dem Zirkel „Schreibende Arbeiter“ an und lernte den Leiter und Schriftsteller Erwin Düren allmählich kennen. Die beiden wurden ein Paar. Er war achtzehn Jahre älter, wirkte jedoch mit seiner Sportlichkeit und humorvollen Art jünger. Es spielte für Erika keine Rolle. Sie war glücklich, dass dieser Mann nicht davor zurückschreckte, sie mit den drei Kindern zu heiraten. Freudig unterstützte er sie in allem. Mit seiner Heiterkeit und optimistischen Lebenseinstellung brachte er Schwung in die Familie. Erika blühte auf, lachte viel und die Kinder freuten sich. Ging es Mutter gut, war der Himmel blau! Als freischaffender Künstler und Autor konnte sich Erwin die Zeit frei einteilen. Gerne unternahm er mit den Mädchen kleine Ausflüge. Während Christa die männliche Verstärkung der Familie gefiel, war Gisela verhaltener in ihrer Freude. Womöglich kam nun noch mehr Erziehung auf sie zu. Die Familie zog in eine Kleinstadt bei Leipzig in eine alte Villa. Vom großen Dachboden gelangte man über eine Holzstiege in ein Türmchen. Christa kletterte oft hinauf und bewunderte die Aussicht. So entdeckte sie am Ende der Sackgasse, in der sie wohnten, eine große Obstplantage, ihr künftiges Kletterparadies. Das Haus war sehr reparaturbedürftig. Die hässlichen, nur mit Makulatur gestrichenen Wände mussten abgeschrubbt und tapeziert werden. Christa fragte, ob sie dem Vater helfen dürfe. Er zeigte ihr, wie man Tapeten einkleistert, Pinsel und Farbe handhabt und Werkzeug gebraucht. Bald konnte sie sogar schon Nägel in die Wand schlagen. Erwin verlegte die herunterhängenden Stromleitungen unter Putz. Er hatte Elektriker gelernt und bastelte auch selbst Lampen. Gebraucht zu werden und neue Fertigkeiten zu entwickeln, gefiel Christa. Sie war für vieles schnell zu begeistern, auch für den Klavierunterricht, den ihr Vater gab. Diese Begeisterung ließ jedoch bald nach. Wiederholte sie ein Stück, das ihr besonders gefiel, zu oft, rief Mutter: „Fingerübungen!“ Tonleitern rauf und runter zu üben, machte ihr keinen Spaß. Manchmal rammte Mutter ihr die Faust in den Rücken, wenn sie nicht gerade auf dem Klavierhocker saß. Der Theorieunterricht war ihr zu anstrengend. Trotzdem gab sie sich Mühe, um ihre Eltern nicht zu enttäuschen. Konnte sie ein Menuett fehlerfrei spielen, war sie auch stolz auf sich. Als im Haus alles wohnlich eingerichtet war, holten die Eltern auch Erikas Mutter zu sich, die inzwischen Rentnerin geworden war. Sie zog im hinteren Anbauzimmer ein und gestaltete es sehr gemütlich. Dass nun auch ihr „Ömchen“, wie die Schwestern sie liebevoll nannten, wieder bei ihnen war, freute die Mädchen sehr. Doch der Zauber eines neuen Anfangs in der Familie ließ nach. Mutters übertriebene Ansicht vom „Ernst des Lebens“, dass man sich alles hart erarbeiten müsse, kam wieder zum Vorschein. Ein Außenstehender hätte meinen können, die Mädchen seien doch „schwer erziehbar“, so streng wie die Mutter mit ihnen umging. Als wieder mal ein Schuljahr endete und die Mädchen stolz und fröhlich mit ihren Zeugnissen nach Hause kamen, erschraken sie. Mutter trug schwarze Kleidung. Gestorben war niemand. Erika sah in den Zeugnissen, die die Lehrer den Kindern ausstellten, einen Trauerakt. Denn wie oberflächlich die Leistungen beurteilt wurden, ihrer Ansicht nach, sah sie als fahrlässig an. Wie verletzend ihre Demonstration von den Mädchen aufgenommen wurde, nahm sie gleichgültig hin. Christa hatte im fünften Schuljahr in allen Fächern die Note Zwei erhalten. Trotzdem beantragten die Eltern bei der Schulleitung, dass sie diese Klassenstufe wiederholen sollte. Ihrer Meinung nach hatte ihre Tochter vieles von dem Lehrstoff nicht umfassend verstanden. Doch sie kamen mit ihrer Forderung nicht durch. Die schmerzhaften Gefühle, die Christa und Gisela aufgrund dieser Demütigung empfanden, weil ihre Lernarbeit und ihre Leistungen von den Eltern nicht anerkannt, nicht gewürdigt wurden, setzten sich in ihnen fest. Unbewusst entwickelten sie daraus Gedanken, die zu starken Überzeugungen für ihr weiteres Leben wurden: „Ich leiste nicht genug. Ich verdiene keine Anerkennung. Die Eltern lieben mich nicht, egal, wie sehr ich mich bemühe.“ Christa nahm sich die herabwürdigende Art ihrer Mutter sehr zu Herzen, entwickelte starke, natürliche Emotionen des Kummers, der Wut und Angst, die sie jedoch krampfhaft unterdrückte, weil Mutter forderte, nicht so empfindlich zu sein, sonst könne sie es im Leben zu nichts bringen. Die nicht zum Ausdruck gebrachten Gefühle ihrer Traurigkeit stauten sich in ihr. Häufig war ihr zum Weinen zumute. Wenn die Tränen liefen, wurde sie von Mutter „Heulsuse“ genannt „Lass das Heulen! Das hat noch keinem geholfen!“, war Mutters harte Anweisung. Diese Gefühlskälte wirkte in Christa wie Gift. Sie hatte eine sehr blasse Haut und häufig entzündete Polypen und Mandeln. Immer wieder litt sie unter Gerstenkörnern, die sich am unteren Rand ihrer Augen bildeten, sehr unangenehm drückten und juckten ***(Da sich das Kind nicht willkommen fühlte, die Spannungen in der Familie nicht aushielt und meinte, den Eltern im Weg zu sein, bildete sich seelisches und körperliches Leid in ihm, das mit den o. g. Symptomen deutlich zum Vorschein kam und sich im „Untergrund“ zu chronischer Depression entwickeln wird, die 30 Jahre später zum Ausbruch kommt.) *** Anmerkung der Autorin. Gisela, die ja die gleichen Kränkungen und Mutters starke Hand öfter zu spüren bekam, gelang es, anders damit umzugehen. Sie tröstete sich mit Süßigkeiten. Und hinter dem Rücken der Eltern machte sie sich Luft. „Phh! Ich lasse mir von denen nicht meine Freude verderben! Denen kann man es doch sowieso nicht recht machen! Dann verprügelt sie mich eben. Mir doch egal! Wenigstens tut ihr danach die Hand weh. Sollen sie mich doch für faul und unbegabt halten. Ich mache, was ich will!“ Gisela entwickelte Stärke, mit Schwierigkeiten im Leben zurechtzukommen. Sie fühlte sich in ihrem Inneren auch sehr ungerecht behandelt und gekränkt. Aber das sollte niemand wissen. Andreas, der 5-jährige Bruder, hatte es leichter, brauchte nichts zu erfüllen. Als Vater ihm Klavierunterricht gab, zeigte sich, dass Andreas das absolute Gehör besaß. Er bekam von den Eltern viel Lob und Anerkennung. Auch später ließen sie ihm mehr Freiheiten. Dass die Mädchen so streng kontrolliert und diszipliniert wurden und die Mutter kein anerkennendes Wort für sie hatte, lag wohl an ihrer Meinung, Jungs wären von Natur aus gescheiter und stärker. Die Spannungen im Elternhaus nahmen zu. Gehorchten die Töchter nicht so, wie Mutter es forderte, oder entgegneten ihr mit einer anderen Meinung, wurde sie ausfallend. „Du Klapsmine! Was fällt dir ein? Was meinst du, mit wem du hier sprichst? Ich dulde keine Widerrede!“ Gisela schaltete auf Durchzug. Christa ging in eine unterwürfige Haltung. Wenigstens bei ihr erreichte Mutter ihr Ziel: Gehorsam. Erika war der festen Überzeugung, dass ihre Erziehungsmethoden den Kindern nicht schadeten. Ihr hatte doch die harte Erziehung der Lehrer, die sie schmerzhaft und einprägsam erfahren hatte, auch nicht geschadet, glaubte sie. Im Gegenteil, es hatte ihre Entwicklung zu einer sehr selbstbewussten, stolzen Persönlichkeit mit starkem Durchsetzungsvermögen gefördert. Und das wollte sie bei den Mädchen auch erreichen ****(Dass sie aufgrund dieser Härte gegen sich selbst und andere ihre wahren Bedürfnisse nach Zärtlichkeit, Wärme und Geborgenheit verleugnete und ihr Körper zunehmend darunter litt, war Erika nicht bewusst. Ihr Körper und ihre Seele verlangten schon viele Jahre nach gefühlvollem, liebevollem Umgang **** Anmerkung der Autorin. Aus ihrer Sicht verfolgte Erika eine gute Absicht mit ihrer Sorge um die Kinder und damit, ihnen Gründlichkeit und Disziplin einzutrichtern. Doch wenn etwas nicht mit Liebe gesät wird, wird es dann gesunde Früchte hervorbringen? Der Körper vergisst verletzte Gefühle nicht und bringt sie oft erst viele Jahre später sehr heftig zum Ausdruck, wie sich in dieser Geschichte und den Lebensgeschichten sehr vieler Menschen widerspiegelt.) Eines Tages erlebte Christa, wie Mutter ihrer Schwester eine so gewaltige Ohrfeige verpasste, dass sie durch die Esszimmertüre stürzte. Gisela hielt sich die Wange und rannte weg, stürmte hart getroffen die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Mutter brüllte: „Komm mir ja nicht unter die Augen!“ Christa kämpfte gegen ihre Tränen. Am liebsten wäre sie der Schwester gefolgt, um sie zu trösten. Mutter las ihr diesen Wunsch von den Augen ab und herrschte sie an: „Deine Schwester hat es nicht anders verdient. Fang ja nicht an zu heulen! Du übst jetzt Klavier!“ ‚Vielleicht will Gisela mein Mitgefühl ja gar nicht haben‘, dachte Christa. Sie ahnte, dass sie davon überzeugt war, ihre jüngere Schwester hätte es besser. Doch so war es nicht. Sie trug den Kummer ihrer Schwester mit. Während sie automatisch die Tonleitern übte, liefen ihr nun doch die Tränen ‚Warum ist Mutter so grob?‘ Tiefer Schmerz durchbohrte das verängstigte Mädchen. Es sehnte sich danach, getröstet und in den Arm genommen zu werden. ‚Gisela geht es bestimmt genauso. Jetzt wird sie wohl in ihr Kopfkissen weinen.‘ Danach wuchs Giselas Widerstand gegen die Mutter noch mehr. Sie entwickelte starken Ehrgeiz, zum Gymnasium zu kommen, um weit weg von der Kontrolle der Eltern zu sein. Sie schaffte es und wurde von der Oberschule ans Gymnasium delegiert. Leider kam es nicht zu der Versetzung. Zwischen dem Vater und ihr geschah etwas, was vor Christa verheimlicht wurde. Er musste ins Gefängnis und ihre Schwester wurde in ein Dorf verbannt, das 600 Kilometer entfernt war, wo es nur Landwirtschaft gab. Während der Ausbildung in der Rinderzucht konnte Gisela zwar den Zehnklassenabschluss erreichen, aber ihr Traum, Architektur zu studieren, war geplatzt. Doch der von ihr gewünschte Abstand zur Mutter war zustande gekommen. Die Familie erlebte eine leidvolle Zeit. Christa fühlte sich verlassen. Ein dunkler Schleier legte sich auf ihr Gemüt. Sie sah die Verzweiflung der Mutter, die alle Hebel in Bewegung setzte, ihren Mann frei zu bekommen. Selbst wenn er sich schuldig gemacht hatte; ohne ihn konnte es nicht weitergehen. Erika arbeitete stundenweise als Sekretärin, mehr war ihr gesundheitlich nicht möglich. Doch davon konnten sie nicht leben, auch mit Omas Unterstützung nicht. Der drohende Geldverlust und die Verantwortung für die zwölfjährige Christa und den sechsjährigen Andreas lasteten auf ihr. Ihre Nerven lagen blank. Sie grübelte nächtelang, wie es nun weitergehen sollte. In ihrer Verzweiflung ging sie zum Pfarrer der evangelischen Gemeinde und bat ihn um Rat und Hilfe. Wenn es wirklich einen Gott gibt, der einem in der Not hilft, wenn man ihn bittet, so würde er sich ihrer Familie erbarmen, hoffte Erika. Wie sich der Pfarrer für die Familie Düren einsetzte und ob dies den Ausschlag dafür gab, dass Erwin aus der Haft entlassen und das Urteil durch ein Gericht revidiert wurde, blieb ein Geheimnis. Da in der Schule Gerüchte kursierten, schickten die Eltern Andreas und Christa an eine andere Schule. Erwin erhielt Berufsverbot. Seine Manuskripte durften nicht mehr veröffentlicht werden. Er wurde aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ausgeschlossen und verlor alle sozialen Ämter. Christa erfuhr nicht, was vorgefallen war. Als sie die Oma um eine Erklärung bat, zeigte Ilse mit Tränen ihre Traurigkeit und streichelte sie. „Es tut mir so leid für euch beide. Aber ich darf dir nichts sagen. Deine Mutter hat mir verboten, darüber zu reden. Vielleicht ist es auch besser so.“ Christa vermisste ihre große Schwester. Trotz der Verschiedenheiten hatten sich beide gern. Es gab ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit einem gemeinsamen Ziel, auch wenn ihnen das nicht voll bewusst war. Beide hatten sich tief in ihrem Herzen irgendwann einmal gewünscht, das versteinerte Mutterherz erweichen zu können. Nun, da die Eltern tief erschüttert waren, erinnerten sie sich an Gott und fanden kirchlichen Beistand. Sonntags gingen sie zum Gottesdienst und zu Hause beschäftigten sie sich mit der Bibel. Um seine Familie ernähren zu können, arbeitete Erwin im Alter von 56 Jahren in drei Schichten als Produktionsarbeiter in einer Spinnerei, bis er schwer an Lungenentzündung erkrankte. Als er wieder genesen war, fing er in einem Wasserwerk als Wächter an. Christa saß in ihrem Zimmer an den Schulaufgaben, als ihr Vater hereinkam. Er lobte sie, weil sie so fleißig war und das Lernen ernst nahm. Sie staunte. Das war noch nie vorgekommen. Er legte seinen Arm um ihre Schultern. Da sie sich immer wieder sehr danach gesehnt hatte, mal von den Eltern gelobt zu werden, freute sie sich „Mach doch mal Pause, mein Mädchen und nimm Platz auf meinem Schoß“, lud er sie ein. Christa hatte ihren Vater gern. Von Anfang an hatte sie sein weiches Herz gespürt. Von ihm ging eine sanfte Ausstrahlung aus. Sie vertraute ihm. Er streichelte über ihren Rücken und die Arme und sagte, was für ein hübsches, liebes Mädchen sie sei und dass er sie gern hat. Es war der Zwölfjährigen zwar fremd, aber angenehm, einmal so liebevoll behandelt zu werden. Der Vater kam öfter. Nun sollte auch Christa zärtlich zu ihm sein. Er hatte ihr gesagt, wie schön es für ihn sei, von ihr an seinem Geschlechtsteil gestreichelt zu werden. Sie wollte ihn nicht enttäuschen, geriet jedoch zunehmend in Bedrängnis und sträubte sich. „Ich kann das nicht. Ich möchte das nicht!“ Er redete auf sie ein. „Das ist doch nicht schwer. Ich habe dir gezeigt, wie es geht. Du kannst es. Mach mir doch die Freude.“ Wenn sie es hinter sich gebracht hatte, kam die Ermahnung, Mutter nichts davon zu erzählen. „Das bleibt unser Geheimnis.“ Doch als sie eines Tages seinen Penis in den Mund nehmen sollte, ekelte sie sich so sehr, dass sie zur Toilette rannte. Als Erika nach Hause kam, fiel ihr das verstörte Gesicht der Tochter auf „Was ist mit dir?“, fragte sie etwas besorgt. Christa überlegte, ob sie die Wahrheit sagen sollte. „Mir war etwas übel.“ Mutter drückte ihr einen Einkaufszettel und Geld in die Hand. „Frische Luft wirkt Wunder, mein Kind.“ Ihren Mann fand Erika Pfeife rauchend im Arbeitszimmer. Christa hielt es nicht mehr aus. Die Belästigungen mussten aufhören! Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und sagte eines Tages ihrer Mutter, was er mit ihr machte „Du lüüügst!“, brach es zornig aus ihr heraus. Christa schreckte zurück, hielt ihren rechten Arm schützend vor das Gesicht. „Das ist ja die Höhe! Erst Gisela und jetzt du? Das glaube ich nicht! Wenn du noch einmal so etwas Unerhörtes behauptest, lege ich dich übers Knie! Und wage es ja nicht, anderen so etwas zu erzählen!“ Christa stürmte in ihr Zimmer und weinte bitterlich über diese Ungerechtigkeit. Mutter wusste doch, dass sie nicht lügen konnte. Ihr war, als müsse sie in einem Tränenmeer versinken. Warum waren die Eltern so? Oder war sie selbst schuld, weil sie mitgemacht hatte? ‚Was hätte ich denn tun sollen? Er ließ mich doch nicht in Ruhe, obwohl ich mich wehrte!‘ Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie fühlte sich von Finsternis umgeben und furchtbar verlassen. Leider hatte sie Gott und all die guten Empfehlungen ihrer Seelengeschwister vergessen, die sie ihr auf den Weg ins Reich der Gegensätze mitgegeben hatten. „Fürchte dich nicht, wenn du von Finsternis umgeben bist!“, hatten sie gerufen. Damals fehlte ihr das Verständnis, was mit „Finsternis“ gemeint ist. Jetzt erfuhr sie es. Und es tat in ihr höllisch weh. Wie sollte sie sich nicht fürchten? Die Verängstigte spürte auch die Angst der Mutter. Christa kämpfte dagegen an, verdrängte die mächtigen Emotionen und schluckte ihren Kummer und ihre Wut herunter. Schluchzend weinte sie sich in den erlösenden Schlaf. Am Morgen schien alles vergessen. Sie freute sich auf die Schule. Als sie am Nachmittag Vater begegnete, nannte er sie „Petze“. Doch von da an war sein übles Spiel zu Ende. Später, als Christa die achte Klasse erreichte, Anfang der 1970er-Jahre, sollten die Jugendlichen im Biologieunterricht über die körperlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau und die Zeugung der Babys „aufgeklärt“ werden. Die meisten Jungen lachten und die Mädchen kicherten. Ihnen wurde ein Film gezeigt, in dem es um Liebe und Sex ging. Doch Christa verstand nicht, was dabei mit Liebe gemeint war, und fragte ihre Mutter danach. Die lachte nur ‚Was ist daran so lustig? Habe ich wieder eine dumme Frage gestellt?‘, dachte Christa. „Ach Kind, Liebe gibt es doch nur in Märchen und Filmen. Alle anderen Vorstellungen von Glückseligkeit im geschlechtlichen Zusammensein mit Männern führen einen in die Irre. Die Männer wollen nur ihren Samen loswerden.“ *****(Diese erschütternde Behauptung der Mutter grub sich tief in Christas Gedächtnis ein. Sie wird ihr Verhältnis zu Männern später in erheblichem Maße verunsichern. Unbewusst entwickelte sie den mächtigen Gedanken: ‚Ich will keinen Mann. Ich will nicht die gleichen Enttäuschungen erleben wie meine Mutter.‘) ***** Anmerkung der Autorin. Christa sehnte sich nach Abstand zu den Eltern, wie einst ihre Schwester. Und so war sie überglücklich, zum Gymnasium gehen zu dürfen. Als sie den ihr gigantisch erscheinenden Gebäudekomplex der alten Fürstenschule in Grimma zum ersten Mal betrat, empfand sie Ehrfurcht, Ansporn und Stolz. Trotz aller Bedenken der Eltern hatte sie die Vorbereitungsstufe für das Abitur erreicht! ‚Ich werde mir diese neue Welt erobern!‘, nahm sich Christa vor. Bis auf die naturwissenschaftlichen Fächer lief alles gut. Im Chemieunterricht bemühte sie sich, den Aufbau der Formeln zu verstehen, die der Professor ellenlang an die Tafel schrieb, während er auf seine Unterlagen auf dem Lehrertisch schaute. Gleichzeitig dozierte er vor sich hin, als wäre er alleine. Ein groteskes Bild. Christa konnte bald nicht mehr folgen. Warf der Lehrer doch mal einen Blick auf die Schüler, vielleicht um zu schauen, ob sie noch da waren, entging ihm, dass fast alle mit anderen Dingen beschäftigt waren. Freudvollen Ausgleich zum vielen Stillsitzen und konzentrierten Lernen erlebte Christa im Singe-Club und der Geräteturnriege der Schule. In beiden konnte sie endlich wieder ihre Lebendigkeit und Begabungen mit den anderen gemeinsam zum Ausdruck bringen. So ließen sich die Standpauken der Eltern auch leichter ertragen. Diese verfolgten die Aktivitäten der Tochter mit Skepsis und kritisierten an ihren Leistungen herum, die nach ihrer Meinung hätten besser sein müssen. Anstatt herumzuturnen, solle sie ihre Nase viel mehr in Lehrbücher stecken und so lernen, dass sie den Inhalt auch wirklich versteht und bessere Zensuren bekäme. Auch mangle es ihr an logischem Denken und sie sei viel zu oberflächlich „Du hast nicht bis zu Ende gedacht, sonst hättest du deine Fehler bemerkt“, war einer ihrer Standardsätze. Sie sollte viel mehr ihren Verstand benutzen und nicht so emotional sein. „Bei dir stehen Gefühl und Verstand in einem irrationalen Verhältnis. In dieser Welt ist rationales Denken überlebenswichtig“, wurde ihr eingeredet. So entstand in Christa der Eindruck, es sei nicht richtig, ihre Gefühle zu zeigen. ‚Aber ich habe doch nun mal diese Empfindungen. Was ist falsch daran, sie auf meine Art zum Ausdruck zu bringen? Bin ich deshalb nicht in Ordnung? Wieso können sie nicht auch mal etwas Anerkennendes sagen, meine Fortschritte sehen? Ich gebe mir doch wirklich Mühe, ihren Anforderungen zu genügen. Wie soll ich denn bis zu Ende denken? Was ist damit gemeint? Wo ist denn das Ende? Ich kann damit nichts anfangen‘, rumorte es in Christas Kopf. Dass ihre Entwicklung von den Eltern nicht gewürdigt wurde, tat weh. Doch eine vom Herzen kommende starke innere Liebe half ihr, immer wieder in die Freude zurückzufinden und den Eltern nichts übel zu nehmen. Da in der Schule ihre Fähigkeiten anerkannt wurden, ging sie zunehmend aus sich heraus. Eingeengt und nicht verstanden, zog sie sich im Elternhaus zurück. Vom Erledigen der Schulaufgaben, dem Klavierüben und der Hausarbeit war Christa abends viel zu müde, um noch für Mathematik und Chemie lernen zu können, was nötig gewesen wäre, um über das „Genügend“ hinauszukommen. Entgegen der Prognosen der Eltern erreichte sie jedoch die elfte Klasse. Bei der feierlichen Eröffnung des neuen Schuljahres durfte Christa ein Klavierstück vortragen. Zum ersten Mal spielte sie vor Publikum und erfuhr heftig, was Lampenfieber ist. Das Warten auf ihren Auftritt war nervenaufreibend. Andauernd wischte sie sich die schweißnassen Hände am Taschentuch ab, das sie mit ihren Fingern knebelte. Endlich am Flügel sitzend, atmete sie tief durch und tauchte mit den ersten Tönen ab in die Musik, war ganz eins mit ihrem Spiel. Das Bach-Präludium schwebte durch die Aula. Als ihr nach dem letzten Ton Applaus geschenkt wurde, hüpfte ihr Herz. Ihr war so leicht, als würde sie gleich fliegen können. Sie hatte sich etwas zugetraut, sich öffentlich gezeigt, ihren Gefühlen den passenden Ausdruck gegeben. Der Verstand war abgeschaltet; ein herrlich unbeschwerter Zustand!! Was für ein Glücksgefühl!! Nach dem offiziellen Teil verabschiedete sich Christa von den Klassenkameraden. Da stellte sich ihr ein schlanker Junge mit blonden kurzen Haaren und blauen Augen in den Weg. „Hallo Christa. Willst du etwa schon gehen? Die Disco fängt doch gleich an. Dein Auftritt hat mir sehr gefallen. Du hast schön gespielt und so selbstvergessen an manchen Stellen gelächelt. Ich bewundere deinen Mut, vor der ganzen Schule zu spielen. Ich heiße Rainer und möchte gerne nachher mit dir tanzen. Bleib doch bitte noch.“ Verlegen schaute sie auf ihre Armbanduhr. Liebend gerne würde sie bleiben. Rainer gefiel ihr, brachte etwas in ihr zum Schwingen ‚Es ist bestimmt schön, mit ihm zu tanzen‘, blitzte es in ihr auf. Doch sie dachte auch an die mahnende Stimme ihrer Mutter. Sie sollte so früh wie möglich nach Hause kommen. Christa musste sich entscheiden. „Weißt du, Rainer, meine Mutter besteht darauf, dass ich im Hellen nach Hause komme.“ „Aber warum sollte sie dir den Tanzabend nicht gönnen? Lass dir doch diese Freude nicht entgehen!“ Christa folgte ihrem Herzen. Sie wollte sich diesem Vergnügen hingeben, wie es alle anderen um sie herum auch taten. Im Wechsel der schnellen Titel mit langsamen Schmuse-Songs schwebte Christa im „Siebten Himmel der Liebe“. Den Kopf an Rainers Schulter gelehnt, wünschte sie sich, dieses Glück möge niemals enden. Nach der Disco brachte Rainer Christa zum Zug. Hand in Hand gingen die beiden wie verzaubert zum Bahnhof und küssten sich fast unter jeder Laterne. Die Moralpredigt der Mutter ertrug die Glückliche mit Leichtigkeit. Giselas Worte fielen ihr ein: „Ich habe doch zwei Ohren.“ Zwischen Christa und Rainer entwickelte sich eine wunderbare Freundschaft. Siebzehnjährig erlebte Christa, wie es sich anfühlt, Schmetterlinge im Bauch zu haben. Die beiden spazierten im Wald über dem Mulde-Ufer. Rainer erzähle von Hünengräbern, die es dort gab und hielt Ausschau nach Steinen mit kristallinen Einschüben für seine Sammlung. Christa wurde zu den Eltern ins Arbeitszimmer gerufen. Ihr Magen zog sich zusammen. Mutters strenger Blick verhieß nichts Gutes „Du bist in letzter Zeit kaum noch zu Hause, vernachlässigst das Klavierüben und deine häuslichen Pflichten. Wir glauben nicht, dass es sich immer um Schulisches handelt, wenn du kaum noch zu Hause bist. Mit wem gehst du heute wirklich ins Kino? Dass du mit deiner Freundin vorige Woche nicht im Kino warst, wissen wir bereits. Denke nicht, dass du uns weiter belügen kannst. Das ist deiner Schwester schon nicht gut bekommen. Also, wie heißt der Junge?“, fragte Mutter energisch. „Rainer“, sagte Christa leise. „Hat er keinen Familiennamen? Und sprich lauter.“ „Pohl.“ „Wie alt ist er? Was macht er? Wo wohnt er? Lass’ dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Wir haben ein Recht darauf, zu erfahren, mit wem du zusammen bist.“ Widerwillig gab Christa Auskunft. „Er ist auch 17 Jahre alt, besucht das gleiche Gymnasium und hilft mir manchmal bei den Chemiehausaufgaben.“ „Etwa bei ihm zu Hause?“ „Ja.“ „Seid ihr da alleine?“ Christa fragte sich, warum Mutter das alles wissen wollte. Sie taten doch nichts Unrechtes „Ich habe dich etwas gefragt“, hakte Erika nach. „Der ältere Bruder und die jüngere Schwester sind auch da.“ „Wir möchten nicht, dass du bei fremden Leuten ein- und ausgehst. Dein Zuhause ist hier. Du kommst ab sofort gleich nach der Schule hier her und erfüllst deine Aufgaben! Gerade du kannst dir Vergnügen neben der Schule nicht leisten, wenn du das Abitur auch nur einigermaßen gut bestehen willst. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?“ Christa brachte keinen Ton heraus, wandte sich zum Gehen „Ich erwarte eine klare Antwort!“, forderte Mutter. „Ja.“ In ihrem Zimmer warf sie sich aufs Bett und weinte bitterlich. „Warum verbieten sie mir alles, was mir Freude macht?“, jammerte sie. „Warum gönnen sie mir nicht, dass ich mich auch bei anderen Menschen wohlfühle? Ich habe doch in meinen Leistungen nicht nachgelassen. Ich verstehe das nicht. Das ist so ungerecht!“, schimpfte Christa ihren Ärger ins Kissen. Und dann dachte sie an ihre Schwester. Sie stellte sich vor, dass es Gisela viel besser hatte, ohne Kontrolle der Eltern tun zu können, was sie wollte. Mit welchen andersgearteten Schwierigkeiten ihre große Schwester in der Fremde zu kämpfen hatte, konnte sie nicht wissen. Es gab kein Kontakt zwischen ihnen. Als Christa am nächsten Tag Rainer in der Schule traf und ihm von der Zurechtweisung ihrer Mutter berichtete, wunderte er sich sehr über dieses sonderbare Verhalten. „Du hast wirklich außergewöhnlich rückständige, harte Eltern“, stellte Rainer fest. „Warum vertrauen sie dir nicht? Meine Eltern vertrauen mir voll und ganz. Ich kann sie alles fragen, über alles mit ihnen reden und auch Besuch mitbringen.“ „Das weiß ich doch. Deshalb fühle ich mich ja so wohl bei euch. Ihr geht offen und verständnisvoll miteinander um. Da kann ich aufatmen, ich selbst sein, ohne mir jedes Wort reiflich überlegen zu müssen. Ich glaube, meine Mutter erträgt es nicht, wenn ich mich bei euch wohler fühle und sie mich nicht kontrollieren kann. Ich will nicht auf unsere Freundschaft verzichten. Es ist so schön mit dir. Du verstehst mich. Bei dir fühle ich mich leicht und glücklich.“ „Mir geht’s mit dir genauso, liebe Christa.“ „Was können wir nur machen, Rainer?“ „In ein paar Tagen wirst du achtzehn. Dann können sie dir das Zusammensein mit mir nicht mehr verbieten.“ Ihren 18. Geburtstag konnte sie nicht so feiern wie gewünscht. Obwohl sie nun volljährig war, machte es im Elternhaus keinen Unterschied. Eines Tages behauptete Mutter, es kämen anonyme Anrufe, ihre Tochter würde Minderjährige verführen. Christa verwirrte diese seltsame Anschuldigung so sehr, dass sie nicht in der Lage war, etwas zu erwidern. Da konnte ihre Mutter so viel fragen und auf sie einreden, wie sie wollte. Bei ihr war Sendeschluss. Sie zog sich völlig in sich zurück und sah durch ihre Eltern hindurch. Das brachte Erika auf die Palme. „Du hörst mir ja gar nicht zu! Du glaubst wohl, nur weil du volljährig bist, brauchst du auf uns nicht mehr zu hören? Da bist du auf dem Holzweg. Solange wir für dich sorgen und du deine Beine unter unseren Tisch steckst, musst du dich nach unseren Regeln richten. Du solltest mich inzwischen gut genug kennen, dass ich mir von niemandem auf der Nase herumtanzen lasse!“ Christa dachte an Rainers Satz, mit dem er gemeint hatte, wenn sie achtzehn ist, könnten ihr die Eltern den Kontakt mit ihm nicht verbieten. Sie konnten! „Wenn du glaubst, du kannst auf stur schalten, hast du dich geirrt. Wir werden jetzt ein Schreiben aufsetzen, in dem du dich verpflichtest, dich nicht mehr mit diesem Jungen zu treffen.“ ‚Das ist ja unglaublich!‘, schrie es in ihr. ‚Wie kann ich mich dagegen wehren? Gisela haben sie in die Landwirtschaft geschickt. Wer weiß, wohin sie mich abschieben, wenn ich nicht gehorche‘, fürchtete sie. Ängstlich und widerwillig, sich ohnmächtig fühlend, unterschrieb Christa. Eine starke Stimme in ihr revoltierte: ‚Warum muss Mutter alles dramatisieren? Ich will nie so werden wie sie!‘ Erika stand auf. „Ich bringe deine Verpflichtung jetzt zu seinen Eltern, damit die Geschichte ein für alle Male ein Ende hat.“ Obwohl das Geld bei ihnen knapp war, ließ sich Erika mit dem Taxi fahren. Rainers Eltern konnten nicht fassen, was sie da erlebten. Dass Eltern ihre erwachsene Tochter zu so einer Unterwerfung zwangen, war ihnen unverständlich. Und das im 20. Jahrhundert! Diese resolut auftretende Frau verkündete kurz und bündig ihre Meinung, ließ auch gar nicht mit sich reden und verschwand wieder. Es tat ihnen leid für Rainer und Christa. Ehrgeizig paukte die zu tiefst Verletzte für die Abiturprüfungen. So gelang es ihr halbwegs über ihren Kummer hinwegzukommen. Ihr Bruder Andreas, der inzwischen in die sechste Klasse ging, freute sich, dass seine Schwester ihm nun wieder öfter bei den Hausaufgaben in Russisch half. Andreas nutzte seine Freiheit und traf sich nach der Schule mit Freunden, bevor er mit dem Zug nach Hause fuhr. Aber wenn der Sohn nicht pünktlich von der Schule kam, war es etwas anderes. Trotz ihrer großen Aufgeregtheit bestand Christa alle Prüfungen und war danach überglücklich und stolz. Steine fielen ihr vom Herzen. Sie strahlte die Welt an und feierte fröhlich mit allen Abiturienten dieses Ereignis auf einem Ball. Dass Christa noch keinen Studienplatz hatte, war an diesem Abend vergessen. Sie wollte in Leipzig Theaterwissenschaften studieren und hatte sich, ohne die Eltern zu fragen, dafür beworben. Am nächsten Tag kam das nüchterne Erwachen. Sie hatte wieder einmal nicht bis zu Ende gedacht und einen möglichen Einspruch der Eltern – im Glauben an ein Wunder – von sich gewiesen. Als die Eltern fragten, was sie nach dem Abitur zu tun gedenke und Christa ihren Berufswunsch äußerte, lachte Mutter schallend. „Du? Schauspielerin? Da lachen ja die Hühner! Erwin, was sagst du dazu? Du kennst dich doch aus. Du hast schließlich ein paar Jahre am Landestheater in Dessau gespielt. Bist du der Meinung, dass Christa Talent dafür hat?“ Erwin sog an seiner Pfeife und lächelte. „Na ja, Christa, du bist musikalisch und hast tänzerisches Talent. Aber eine Schauspielerin konnte ich nicht in dir entdecken. Du hast bisher auch nie diesen Wunsch geäußert.“ ‚Wozu auch?‘, dachte sie. Als der Wunsch in ihr aufgekeimt war, fürchtete sie schon, dass ihre Eltern sie nicht ernst nehmen und ihr das Studium verbieten würden „Wie bist du denn auf diese Idee gekommen?“, fragte Mutter. „Das ist schon lange mein Traum. Ich bin überzeugt, dass ich eine gute Schauspielerin werden kann.“ Erika wechselte einen amüsierten Blick mit ihrem Mann. Die Eltern hatten bisher absichtlich noch nicht mit der Tochter über ihre Zukunft gesprochen. Für sie stand fest, dass diese so schnell wie möglich Geld verdienen und das Haus verlassen sollte. Darüber würden sie auch gar nicht erst diskutieren „Also wir sehen das anders“, verkündete Erika. „Wir sind davon überzeugt, dass es am besten für dich ist, einen Beruf zu erlernen, dir praktische Fähigkeiten anzueignen und dich ans Arbeiten zu gewöhnen. Danach kannst du immer noch studieren, wenn du es dir leisten kannst“, machte ihr Mutter unmissverständlich klar. „Aus dir kann eine gute Sekretärin werden. Oder du könntest eine Lehre als Buchdruckerin aufnehmen. Ich habe da gute Beziehungen.“ Wut und Enttäuschung schnürten Christa den Hals zu. Sie zog eine innere Mauer hoch. ‚Nein!‘, schrie es in ihr. Als sie ablehnte, hatte die Mutter sofort einen anderen Vorschlag. „In dem Wasserwerk, in dem Erwin arbeitet, ist eine Ausbildungsstelle frei. Du kannst sofort eine Schlosserlehre aufnehmen.“ „Schlosser?“, brach es aus Christa heraus. „Ich soll Schlosser werden?!“ Sie kämpfte mit den Tränen. „Wieso nicht? Du bist handwerklich begabt. Das hast du schon oft bewiesen. Du hast sogar mit deinem Vater zusammen einen Hühnerstall gebaut.“ Obwohl es das erste Mal war, dass Mutter eine Fähigkeit ihrer Tochter anerkannte, schmeckte es wie eine bittere Pille. Vater ergänzte noch den „großen Vorteil“, dass sie aufgrund des Abiturs die Lehre schon in zwei, statt in drei Jahren abschließen könne. Anschließend wäre ein Ingenieurstudium möglich. Der Boden schwankte unter Christas Füßen. Kein Ausweg! In Theatern nachzufragen, ob sie als Hilfskraft arbeiten könne und vielleicht eine Unterkunft bekäme, dazu fehlte ihr der Mut und das Selbstbewusstsein. Zutiefst traurig zog sie ihre Studienbewerbung zurück, begann die Lehre und ging auf Zimmersuche. Wohnraum war jedoch sehr knapp. Nicht mal ein möbliertes Zimmer war zu finden. In der Werkstatt, in der Christa lernte, flirtete ein junger Mann mit ihr. Sie witzelten herum, hatten Spaß. Manchmal lud Klaus sie ins Kino oder zum Tanz ein. Eines Tages fragten die Eltern: „Wann stellst du uns deinen Freund denn mal vor?“ Christa sah ihre Mutter fragend an „Wir wollen wissen, mit wem du verkehrst.“ Von „verkehren“ konnte keine Rede sein. Da Christa wusste, dass Mutter keine Widerrede duldete, schluckte sie nur. Als ihr kürzlich ein Einwand herausgerutscht war, hatte Mutter einen Stuhl vom Boden hochgehoben, konnte sich jedoch gerade noch beherrschen, diesen nicht nach ihr zu werfen. Die Eltern bestanden darauf, Klaus kennenzulernen und luden ihn schriftlich zum Kaffeetrinken ein. Und der sagte auch noch zu! Klaus kam. Nach einem kurzen allgemeinen Gespräch wandte sich Erika an ihre Tochter „Wir möchten uns jetzt gerne mal alleine mit Herrn Friedrich unterhalten.“ Christa gehorchte und verließ den Raum. Es kam ihr nicht mal in den Sinn, auf ihrer Anwesenheit zu bestehen. Als sie gerufen wurde, verabschiedete sich Klaus und lächelte verschmitzt. „Einen patenten jungen Mann hast du da kennengelernt“, legte Erika freudig los. „Er hat ein höfliches Auftreten, eine gute Allgemeinbildung, macht einen zuverlässigen Eindruck, ist belesen und hat dich wirklich gern. Er ist pflichtbewusst und verfügt über ein festes Einkommen. Eheerfahrung hat er auch schon.“ ‚Was soll das hier werden?‘, wunderte sich Christa. Da ließ Mutter die Katze aus dem Sack. „Wir finden, dass er der richtige Mann für dich ist. Ihr solltet heiraten. Er ist übrigens damit einverstanden“, verkündete sie hoch erfreut über diese großartige Lösung aller Probleme auf einmal ‚Das darf doch alles nicht wahr sein!‘, wehrte sich eine Stimme in Christa. ‚Ist das hier ein Theaterstück? Spielen wir das nur? Werden jetzt meine schauspielerischen Fähigkeiten getestet?‘ Christa nahm ihren Mut zusammen und protestierte. „Ich will gar nicht heiraten! Ich werde in drei Monaten neunzehn Jahre alt. Ich bin viel zu jung dafür …“ „Es überrascht uns nicht, Christa“, fiel ihr Mutter ins Wort, „dass du dir keine ernsthaften Gedanken über deine Zukunft machst. Deshalb müssen wir das für dich übernehmen. Der junge Mann hat auch angeboten, dass du nach der Hochzeit bei ihm einziehen kannst. Er wohnt in einer Werkswohnung. Also, besser kann es für dich gar nicht kommen. Herr Friedrich wird gut für euch sorgen“, beendete Erika ihre begeisterten Ausführungen. Christa senkte ratlos und traurig den Kopf. Da sie von klein auf zu Hause nie ihre eigene Meinung äußern durfte und ihr über all die Jahre vermittelt worden war, dass sie nicht wisse, was gut für sie sei, hatte sie sich zum Duckmäuser entwickelt. Es zerriss sie jetzt beinahe vor Wut auf sich und ihre Eltern, als sie das erkannte. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Sich gegen die Macht der Eltern, die über sie bestimmten, zu wehren, schien unmöglich zu sein. Deren Plan stand fest. „Das mag zwar jetzt alles sehr überraschend für dich kommen“, setzte Erika ihre Rede fort. „Aber du kannst uns glauben, dass dies die beste Lösung für dich und deine Zukunft ist. Oder hast du bessere Vorschläge?“ „Im Augenblick nicht.“ „Na also. Und wir sind nicht mehr gewillt, länger auf deinen Auszug zu warten. Du wolltest doch erwachsen sein. Nun kannst du beweisen, ob du es bist. Wir bereiten eure Hochzeit vor.“ Christa verließ wütend das Haus, kletterte in der Obstplantage auf einen Baum und sprudelte weinend ihren Kummer heraus „Das ist alles so ungerecht! Was ich denke und fühle, zählt überhaupt nicht! Ich will keinen Mann heiraten, den ich nicht liebe! Ich hatte so gehofft, dass Heiraten mit großen Glücksgefühlen verbunden ist. Es fühlt sich aber für mich nicht so an. Wenn es doch Rainer wäre! Bei ihm hat mein Herz immer freudig geschlagen. Einen Mann zu heiraten, den ich kaum kenne, damit mich die Eltern aus dem Haus haben, ist furchtbar! Gibt es denn keinen anderen Weg für mich? Ich verstehe das alles nicht. Ich fühle mich so ausgeliefert!“ Im Kopf wie benebelt, kam ihr kein rettender Gedanke. „Mir bleibt nichts anderes übrig. Ich muss mich fügen. Gegen die Eltern komme ich nicht an.“ Dank Erwins Beziehung zur Baumwollspinnerei des Ortes bekam er als ehemaliger Kollege sehr günstig schönen Stoff, aus dem sich Christa unter Anleitung der Mutter ein zweiteiliges Hochzeitskleid nähte. Als es fertig war, drehte sich das Fräulein stolz vor dem Spiegel. Es ließ sich in dieses Abenteuer fallen. Klaus’ Eltern waren Christa sympathisch. Sie strahlten Freundlichkeit und Harmonie aus. Bei ihnen war sie herzlich willkommen. Gerne hätten sie die Feier ausgerichtet, aber Christas Eltern setzten sich durch und verfolgten zielgerichtet ihre Absichten. Ohne das Brautpaar zu informieren, luden sie Erwins Bruder und dessen Frau aus Westdeutschland ein. Mit dieser Hochzeit verschafften sie sich auch eine passende Gelegenheit, zu besprechen, wie sie in den Westen übersiedeln könnten. Ihr Ausreiseantrag lag schon bereit. Während der Trauung fühlte sich Christa wie in einem Traum. Sie spielte in einem Theaterstück eine Braut, die Frau Friedrich werden sollte. Es berührte sie zwar, was die Standesbeamtin sagte, und sie empfand auch eine gewisse Freude an dem feierlichen Geschehen, aber es kam ihr nicht real vor. Auch die Feier zu Hause erschien ihr seltsam. Am nächsten Tag, als sich das junge Paar verabschiedete, hielt Erika ihre Geldbörse in der Hand und sah Christa erwartungsvoll an. „Meinst du nicht, dass wir noch Geld bekommen?“ „Wieso? Ich habe dir doch Geld gegeben, wie abgesprochen.“ „Wir hatten zusätzliche Gäste. Darüber hast du wohl nicht nachgedacht?“ Christa sah ihre Mutter ungläubig an. Die wurde wütend. „Raus!“, brüllte sie und wies mit ihrem ausgestreckten Arm und Zeigefinger auf die Tür. „Lass dich vorläufig hier nicht blicken!“ Ehe-, Mutter- und Berufsleben und Absturz. Mit neunzehn Jahren sollte Christa nun eine Ehefrau sein und mit ihrem Mann auf engem Raum wohnen. Es gab einen Kleiderschrank, ein schmales Bett, einen Tisch, zwei Stühle und den Küchenherd. Das war nun ihr neues Zuhause. ‚Irgendwie wird sich wohl alles finden‘, ging Christa optimistisch an diese Geschichte heran. Den Kontakt zu ihren Eltern hatte sie abgebrochen. Obwohl die junge Frau die Ausbildung als „Facharbeiter für Instandhaltung in der Wasserwirtschaft“ mit sehr guten Ergebnissen abschloss, wurde nichts aus dem Studium, das der Betrieb ihr in Aussicht gestellt hatte. Christa kündigte und nahm eine Stelle als Büglerin in einem Leipziger Kostümverleih an, bei dem ihr Mann den Hochzeitsanzug ausgeliehen hatte. Dort wollte ihr der Abteilungsleiter zu einer Ausbildung als Kostümbildnerin verhelfen. Christas Hoffnung, doch noch zum Theater zu kommen, flammte auf. Doch leider wurde nichts daraus. Auf der Zugfahrt von der Arbeit nach Hause erfuhr Christa aus dem Gespräch zweier Frauen, dass die Verwaltung eines Leipziger Großbetriebes dringend eine Sekretärin suchte. „Entschuldigen Sie“, mischte sie sich ein. „Muss es eine Fachkraft sein? Ich habe an der Volkshochschule einen Kurs in Stenografie und Maschineschreiben absolviert und hatte Freude daran.“ „Also kann ja aus Ihnen eine Sekretärin werden. Wenn Sie wirklich Interesse daran haben, stellen Sie sich doch einfach in der Personalabteilung mit Ihren Zeugnissen vor.“ Christa konnte sofort mit der Arbeit beginnen. Dank betrieblicher Unterstützung nahm sie auch an der Volkshochschule eine Ausbildung zur Sekretärin auf. Eine versierte, charmante, humorvolle Direktionssekretärin arbeitete sie ein. Die begehrlichen Blicke einiger Männer auf diese attraktive Dame entgingen Christa nicht. Sie schaute sich vieles von dieser flotten Frau mittleren Alters ab. Mit ihren knapp zwanzig Jahren fing sie ja erst an, eine Frau zu werden. Nach und nach konnte sich das junge Paar neue Möbel leisten, vor allem eine ausziehbare Doppelbettcouch. Christa nähte Gardinen und Kissenbezüge, knüpfte einen großen Wandbehang und stellte Zimmerpflanzen auf. So wurde es gemütlicher. Körperlich zog es beide nicht besonders zueinander. Da Christa keine Ahnung hatte, wie es zwischen Mann und Frau sein kann, wenn beide einander begehren und beglückenden Sex haben, fehlte ihr diese Erfahrung. Der seltene Beischlaf gehörte eben zur Ehe. Auch gab es keine anregenden Gespräche zwischen ihnen. Nur Christa erzählte manchmal von ihrer neuen Arbeitsstelle. Klaus war ziemlich wortkarg. Er ruhte in sich und liebte die Bequemlichkeit. Manchmal fuhren sie mit dem Zug zu seinen Eltern. Dort ging es sehr liebevoll, heiter und gemütlich zu. Das war schön, aber die junge, hübsche Frau verlangte es nach mehr. Sie war lebenshungrig. Und so nutzte sie jede Gelegenheit kollektiven, fröhlichen Zusammenseins im Betrieb. Es gab dort immer wieder Anlässe zum Feiern. Da wurde getanzt, gesungen und gewitzelt. Unter den erfahrenen Kollegen die Jüngste zu sein, gefiel ihr sehr gut. Christa nahm die Verhütungspille. Nach zweieinhalb Jahren empfahl ihr der Frauenarzt eine Pillen-Pause von drei Monaten, um Nebenwirkungen zu vermeiden, hieß es. Kurz vor Ablauf dieser Frist wurde die junge Frau schwanger. Klaus freute sich sehr auf das Kind. Christa fühlte sich überhaupt nicht reif dafür, schon Mutter zu werden. Sie hatte doch vom Leben und Lieben so gut wie keine Ahnung, fing gerade erst an zu entdecken, welche Persönlichkeit in ihr steckte. Und nun kam eine so große verantwortungsvolle Aufgabe auf sie zu. Das machte ihr Angst. Als Christa dann zum ersten Mal Kindesbewegungen verspürte, fühlte es sich erstaunlich und erfreulich schön an. Von da an freute auch sie sich auf das Baby. Im fünften Monat erkrankte sie plötzlich an Thrombose. Ihr linkes Bein wurde immer schwerer und schwoll an. Der Arzt verordnete Bettruhe und das Bein hoch zu lagern. Doch es wurde schlimmer. Eine gefährliche Beckenvenenthrombose bildete sich. Kurz nach Weihnachten wurde Christa mit Blaulicht in die Kreisklinik gebracht. Die Ärztin jagte ihr mit der Feststellung: „Seien Sie froh, wenn wir Ihr Leben retten können, ob Sie das Baby behalten, ist jedoch fraglich“, einen großen Schrecken ein. Doch Christa und ihr Baby entwickelten starken Lebenswillen. Sie waren sich beide im Stillen einig, dass sie es schaffen. Drei Monate musste die Schwangere im Krankenhausbett liegen, ohne auch nur einmal aufstehen zu dürfen. Sie bekam morgens und abends Heparin-Spritzen und hoffte sehr, dass es dem Baby nicht schadete. Als Erika vom Schwiegersohn erfuhr, dass Christa im Krankenhaus liegt, besuchte sie ihre Tochter. So mitfühlend und fürsorglich hatte diese ihre Mutter noch nie erlebt „Vielleicht möchtest du für euer Kindchen etwas stricken. Ich würde dir Wolle und Strickanleitungen mitbringen“, bot sie ihr unter anderem an. „Das ist eine großartige Idee. Hier ist es sehr langweilig!“ Endlich bekam sie etwas zu tun und hatte Freude am Stricken der schönen Babysachen. Der Geburtsvorgang zog sich mit den Wehen, die scheinbar nie enden wollten, über die ganze Nacht hin. Als dann die Hebamme endlich das kleine Mädchen in die Höhe hob, rollte durch Christa eine so überwältigende Welle der Erlösung, dass sie vor Freude und Erleichterung glücklich weinte. Sie hatten es beide geschafft und gezeigt, welche enorme Kraft in ihnen steckte! Als Klaus sein Töchterchen Doren in den Arm gelegt bekam, lächelte er liebevoll und bewunderte das kleine Wesen. Oma Erika nahm ebenfalls rührenden Anteil an diesem Ereignis und gab der Tochter manchen guten Tipp in Bezug auf das Stillen, die Hygiene und wie sie das Baby am besten hinlegte, damit die Wirbelsäule gerade blieb. Auch Klaus’ Eltern, die einst vier Jungen das Leben geschenkt hatten, freuten sich sehr über das Mädchen. Ein halbes Jahr später, nach der Stillzeit, ging Christa wieder arbeiten. Mit der Ausbildung musste sie von vorne beginnen. Es war ihr wichtig, sich beruflich weiterzuentwickeln. Doren wurde tagsüber in der Kinderkrippe betreut. Klaus holte sie nach der Arbeit ab. Zu jener Zeit kannten die jungen Eltern noch keine Pampers. Der Babypopo war von einer dicken Stoffwindel umhüllt, in der eine gefaltete Stoffvorlage die Feuchtigkeit aufsaugte. Eine Waschmaschine besaß das junge Paar nicht. Die Windeln wurden in einem großen Wassertopf auf dem Kohleherd in der Küche in Seifenlauge gekocht. Es war mühsam, den schweren Topf vom Herd zu heben, um den heißen Inhalt in das Spülbecken zu kippen und dann die Ladung mehrmals mit den Händen zu spülen. Da brauchte man kein Fitnessstudio, um Armmuskeln zu bekommen. Doren entwickelte sich prächtig. Sie beobachtete alles sehr aufmerksam, lachte viel, staunte, erfreute sich am Leben. Besonders lustig sah es aus, wenn sie mit ihrem Nachttopf über den Dielenfußboden ritt, dabei ein Bilderbuch hielt und vor sich hinplapperte. Dank der regelmäßigen Sitzungen brauchte die Kleine nach anderthalb Jahren keine Windel mehr. Sie spielte auch gerne mit anderen Kindern. Das lebhafte Töchterchen schenkte ihren Eltern sehr viel Freude, doch es war auch das einzige Bindeglied zwischen ihnen. Beide liebten das Kind, aber füreinander empfanden sie nicht mehr als Sympathie. Christa sehnte sich nach tieferen Gefühlen und geistigem Wachstum in der Partnerschaft. Ihr Arbeitskollektiv wurde von einem Betriebsteil des großen Kombinates nach Halle zum Sportfest eingeladen. Es ging sehr heiter zu. Anschließend saßen alle fröhlich in einem Saal bei Tanzmusik zusammen. Ein Kollege aus Halle tanzte mit Christa. Es gefiel ihr sehr, sich von diesem Herrn tanzend führen zu lassen und seinen streichelnden Blick zu spüren. Beim Abschied am Bahnhof küsste er sie zärtlich. Hin und wieder, wenn der Kollege in Leipzig war, lud er Christa zum Essen ein. Von ihm fühlte sie sich intensiv wahrgenommen. Er ging auf sie ein. Sie unterhielten sich angeregt über Lebensinhalte und Partnerschaft. Der Mann vermisste Herzenswärme in der Ehe, in der es ebenfalls ein Kind gab. Die besondere Aufmerksamkeit, mit der er seine Umgebung wahrnahm, das rege Interesse an Christa und seine zärtlichen Berührungen zogen sie zu ihm hin. Er brachte ihr Herz zum Hüpfen. In ihr entwickelten sich erstaunliche Gefühle, die sie bisher noch nicht kannte. Die Anziehungskraft und das Verlangen beider nach Vereinigung waren schließlich so groß, dass sie sich einander hingaben. Endlich erlebte Christa die Zärtlichkeit und Erregung, nach der sie sich gesehnt hatte. Neue Kräfte und Wünsche erwachten ‚O, so fühlt es sich also an, Frau zu sein!‘, dachte Christa. ‚Ist das schön! Wenn ich das doch so mit meinem Mann erleben könnte!‘ Sie dachte über Scheidung nach. Doch wie konnte sie mit Klaus darüber reden? Sie waren so weit voneinander entfernt. Wäre es denn überhaupt möglich, ihre Beziehung nach vierjähriger Ehe zu ändern? Christa wollte Doren so gerne eine intakte Familie geben. Aber wie sollte sie es auf Dauer in einer Ehe aushalten, in der sie sich nicht wohlfühlt? Es tat ihr sehr leid und machte sie traurig. Doch sie sah keinen Weg, es zu ändern. Bei dem Gedanken, sich zwingen zu müssen, ihre Lebendigkeit wieder einzusperren, auf die beglückende Freude körperlicher Liebe zu verzichten, verkrampfte sich alles in ihr. Die Beziehung zu dem anderen Mann beflügelte Christa enorm. Es kamen Seiten ihrer Persönlichkeit zum Vorschein, die im Verborgenen geschlummert hatten. Dank der Bestätigung, eine anziehende, geistreiche, liebenswerte Frau zu sein, keimte Selbstbewusstsein in ihr auf. Sie beendete die Ausbildung als Sekretärin mit „Sehr gut“ und einer Feier. Als Christa an jenem Abend früher nach Hause kam, als beabsichtigt, erlebte sie eine Überraschung. Auf ihrer Betthälfte lag eine andere Frau. Klaus und Christa passten mit ihren sehr unterschiedlichen Wesen nicht zueinander. Sie gestanden sich ein, dass es zwischen ihnen nicht so sein konnte wie mit einem Partner, zu dem sie sich hingezogen fühlten. Die Ehe wurde einvernehmlich geschieden. Christa war traurig, mit Klaus nicht die Liebe gefunden zu haben, um für immer eine harmonische Familie zu sein. Schweren Herzens stellte sie in Leipzig einen Wohnungsantrag. In der jungen Frau meldete sich eine Stimme, die ihr riet, das Verhältnis zu dem anderen Mann zu beenden. Christa war sehr dankbar, durch ihn erfahren zu haben, wie es sich anfühlt, wenn Mann und Frau in Liebe beieinander sind, wie es für sie ist, glücklich zu sein und tiefe Verbundenheit zu spüren. Sie empfand es als große, wunderschöne Bereicherung ihres Lebens. Doch so konnte das Versteckspiel nicht weitergehen. Es tat ihr im Herzen sehr weh, dem Mann zu sagen, dass sie die Beziehung beendet. Sie hatten beide einen dicken Kloß im Hals und Tränen in den Augen. Es traf ihn hart. Christa bedankte sich für die schöne Zeit. „Ich werde diese Erinnerung in meinem Herzen bewahren. Die Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen. Aber mein Herz sagt mir, dass es so richtig ist.“ Sie stellten ihre Treffen ein. Christas Eltern hatten immer wieder Anträge auf Ausreise in die BRD gestellt. Nun, da Andreas achtzehn Jahre alt geworden war, erhielten sie die Genehmigung und die Aufforderung binnen 24 Stunden die Republik zu verlassen. Andreas hatte zwar von der Absicht der Eltern gewusst, aber nicht an die Verwirklichung geglaubt. Daher fühlte er sich völlig überrollt, als ihm am nächsten Tag sein Lehrausbilder mitteilte, dass seine Lehre beendet ist und er nach Hause gehen kann. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Da er nun volljährig war, lag die Entscheidung bei ihm, mitzugehen oder zu bleiben. Sich von seinen Freunden und der vertrauten Umgebung trennen zu müssen, würde ihm sehr schwerfallen. Wie würde es mit seinem Leben dort weitergehen? Mit der bevorstehenden Entscheidung war der junge Mann überfordert. Als er Christa mit dieser Mitteilung überraschte, sah sie ihn ratlos an „Unsere Familie verstreut sich in alle Richtungen“, stellte sie traurig fest, verdrängte jedoch gleich ihre aufkommenden Gefühle und schaltete ihren Verstand ein, um die schwierige Situation nüchtern zu betrachten. „Andreas, willst du denn mit in den Westen, wo du niemanden kennst und es dort viele Arbeitslose gibt? Im Staatsbürgerkundeunterricht haben wir doch gelernt, dass das Wesen des Kapitalismus in der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen besteht. Ich glaube, dass es der Wahrheit entspricht und du dem Arbeitgeber egal bist. Hauptsache, du bringst ihm Gewinn. Ich würde nicht dort leben wollen. Hier bekommst du mit Sicherheit Arbeit und brauchst keine Angst zu haben, sie zu verlieren. Und du hast Freunde.“ Christa dachte, dass ihr Bruder diesen unumkehrbaren Schritt eines Tages vielleicht bereuen würde. Das war eine große Entscheidung, vor der er so unvorbereitet stand. Da konnte sie ihm nicht helfen. Sie würde ihn vermissen und wünschte, er bliebe „Ach Schwesterherz, was soll ich denn machen? Mir bleibt doch nichts anderes übrig. Wo soll ich denn jetzt hier bleiben?“, antwortete Andreas hilflos. Er entschied sich für die Ausreise. Ihren Eltern und ihrem Bruder am Bahnhof „Lebewohl“ zu sagen, sie wegfahren zu sehen – für immer? –, das konnte Christa nicht. Sie hielt den Schmerz der Abschiede kaum noch aus und fühlte sich mit einem Male von allen verlassen. Wie gut, dass sie ihre Verpflichtungen hatte, für Doren zu sorgen und arbeiten zu gehen, und noch bei Klaus wohnen konnte. Doch ihr war elend zumute. ‚Ein paar Tage Urlaub! Etwas anderes hören und sehen und willkommen sein!‘, wünschte sich Christa. Ob sie ihre Schwester besuchen dürften? Die Schwestern hatten über zehn Jahre keinen Kontakt gehabt. Christa wusste nur, dass Gisela mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in ländlichen Verhältnissen in Mecklenburg-Vorpommern wohnt. Wie schwer sie es gehabt hatte, in so jungen Jahren sich ein eigenes Leben aufzubauen, ahnte die jüngere Schwester nicht. Als Gisela mit 15 Jahren von den Eltern in diese Gegend geschickt worden war, um weit weg von ihnen zu sein, und eine Ausbildung zur Rinderzüchterin aufnehmen sollte, stand ihr ein harter Weg bevor, auf den sie sich jedoch mit aller Kraft einließ. Nach vielen Tränen aus Enttäuschung und Wut auf die Eltern, weil sie sich bestraft und ungerecht behandelt fühlte und ihre Wünsche unerfüllt blieben, entwickelte sie einen enormen Ehrgeiz, sich etwas Eigenes aufzubauen. Auf keinen Fall sollten die Eltern sie kleinkriegen! Die harte körperliche Arbeit in den Rinderställen und das tägliche, sehr frühe Aufstehen machten ihr zu schaffen. Der Körper schmerzte. Nach der Arbeit war sie sehr müde und erschöpft. Jeder Tag war ein Kampf, durch den sie erstaunliche Kraft entwickelte. Gisela nahm sich vor, die Schule und ihre Ausbildung mit Auszeichnung zu bestehen, um zur Fachschule delegiert zu werden und eines Tages eine leitende Position einzunehmen. Sie kam zielgerichtet immer besser voran und freute sich darüber, von den engen Bandagen der Mutter befreit zu sein. „Ich werde ihr beweisen, dass ich aus eigener Kraft mit Stärke und Durchsetzungsvermögen mein Leben meistere!“ So spornte sie sich an und erreichte ihr Ziel. Mit Fleiß, Lernen, Mut und beharrlichem Streben hatte sie sich ihren Wunsch nach einer leitenden Position erfüllt. Sie war die jüngste Frau, der man das Vertrauen schenkte, die Leitung der Genossenschaft zu übernehmen. Und sie stand ihre Frau, von den meisten geachtet. Ihre Aufgaben als Vorsitzende der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG), Mutter und Ehefrau nahmen sie voll in Anspruch. Oma Ilse, die vor ein paar Jahren auch in dieses Dorf umgezogen war und im Haus nebenan wohnte, war ihr im Haushalt und bei der Betreuung der Kinder eine große Hilfe. Christa rief die Schwester an, schilderte ihre Situation und fragte, ob sie eine Woche mit Doren zu Besuch kommen dürfe. Gisela und ihr Mann waren einverstanden. Christa fiel ein Stein vom Herzen. Mit jedem Kilometer, den der Zug auf der Strecke von Leipzig nach Schwerin zurücklegte, gewann sie Abstand von den Geschehnissen der vergangenen Wochen. Sie atmete durch und konnte mit Doren, die noch nie eine so lange Zugfahrt erlebt hatte, diese Reise genießen. Als sich der Zug Schwerin näherte und an großen Seen vorbeifuhr, rief Doren erstaunt: „O, so viel Wasser!“ Die beiden Besucherinnen wurden herzlich von Gisela und ihrer Familie begrüßt. Giselas Kinder waren drei und fünf Jahre jung. Da es ein großes Kinderzimmer mit vielen Spielsachen gab, war Doren schnell mit den beiden dort verschwunden. Oma Ilse freute sich sehr, ihre Enkelin und die Kleine endlich wiederzusehen. Christa kannte ihre Schwester so gut, dass sie wusste, was sie ihr mit gewissen Blicken zu verstehen gab: „Du bist hier mit deiner Tochter willkommen, aber sprich bitte nicht über unsere Eltern!“ Das war ihr sehr recht. Auch sie wollte einfach nur ein paar friedvolle Tage erleben und entspannen. Gisela half ihr dabei. „Christa, hast du Lust, mit uns am Samstag ins Kulturhaus zu gehen? Da spielt eine Band alte und neue Schlager. Anschließend lädt sie zum Tanzen ein. Unsere liebe Oma passt auf die Kinder auf.“ „Das ist ja toll! Und ob ich Lust habe!“ Während des Abends fing Christa mehrmals das Lächeln eines jungen Mannes auf, der sie beobachtete. Plötzlich stand er vor ihr und bat sie um den nächsten Tanz. Dabei kamen sie zwar nur holprig zurecht, dafür aber leicht ins Gespräch. Er war sichtlich erleichtert, als die Band Pause machte. Vor dem Kulturhaus gingen sie zu einer Bank. Mit seiner rechten Hand am Herzen verbeugte er sich „Ich heiße Mario Heuer.“ Christa lächelte amüsiert und stellte sich ihm mit einem Knicks vor. „Christa, möchtest du sitzen?“ Er zog ein großes, gebügeltes Taschentuch hervor und breitete es auf der Bank aus. Während der Unterhaltung erfuhr Mario, dass sie am übernächsten Tag mit ihrem Töchterchen wieder nach Leipzig fährt. „Was, du bist schon Mutti?“, fragte er erstaunt. Ich schätze dich nicht älter als achtzehn Jahre.“ Christa bedankte sich für die Verjüngung. „Ich werde vierundzwanzig und bin erst seit Kurzem geschieden.“ Die junge, hübsche, lebensfrohe Frau imponierte ihm. „Schade, dass du schon so schnell wieder abreist. Ich würde auch gerne deine Tochter kennenlernen. Wie alt ist sie denn?“ „Doren ist zweieinhalb, ein sehr aufgewecktes Mädchen.“ „Wir könnten morgen zu dritt spazieren gehen, Christa. Hast du Lust?“ Sie verabredeten sich. Am nächsten Tag holte Mario die Schönheiten ab. Beim Spazieren gingen die drei locker und fröhlich miteinander um. Mario erzählte von seinen Eltern und Geschwistern und wie sehr sie als Familie zusammenhielten. An den Händen der Erwachsenen fühlte sich Doren eine Weile wohl, aber bald befreite sie sich und bestaunte wortreich die Gräser und Blumen am Feldrand „Mama, wie heißt die Lume?“, fragte sie alle paar Meter. Die Großen ließen sich auf ihren Wissensdurst, ihre vielen Warum-Fragen ein. So schaffte es Doren geschickt, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken „Doren, möchtest du auf meinen Schultern sitzen?“, fragte Mario. „Von da kannst du noch viel mehr sehen.“ Als Christa beobachtete, wie es der Kleinen in dieser Höhe gefiel, von starken Männerhänden festgehalten zu werden, durchströmte sie Wehmut. Ihr Vater hatte sie nie auf seinen Schultern getragen. ‚Seltsam, dass mich das jetzt überkommt. Das ist so viele Jahre her. Habe ich als Kind meinen Papa vermisst? Ach, ist doch nicht mehr wichtig, tut bloß weh‘, schob sie diese Gedanken weg. Doren so zufrieden zu sehen, war einfach schön. Mario war entschlossen, den Kontakt beizubehalten und beide näher kennenzulernen. Erst einmal war er noch dabei, sein Ingenieurstudium zu Ende zu bringen. Sie schrieben sich Briefe. Christa hatte noch nie so viele Briefe empfangen und geschrieben. Dass ihr kein Telefon zur Verfügung stand, machte nichts. Es war viel aufregender, Post zu bekommen. Eines Tages schwang sich Mario auf sein Motorrad und fuhr 400 km, um Christa und Doren wieder in seine Arme zu schließen. Die junge Mutter hatte nicht vor, so schnell wieder eine feste Partnerschaft einzugehen, aber Mario gelang es, ihr Herz zu erobern. Schon bald fragte er die Freundin, ob sie sich vorstellen könne, mit ihm eine Familie zu haben. Ihr Herz hüpfte. Sie sagte einfach: „Ja.“ Mario versicherte ihr, dass er sie wirklich liebt und bereit sei, die Verantwortung für die Familie voll und ganz mit zu tragen. Während er sich das Familienleben mit Christa und Kindern konkret vorstellte und wusste, was er anstrebte, folgte die junge Frau einfach ihren Gefühlen. Ihr war wichtig, dass der Partner auch Doren liebevoll annahm. Mario erzählte der Freundin stolz von seinem stabilen Elternhaus. Besonders seiner Mutter hatte es am Herzen gelegen, dass alle vier Kinder die Lernaufgaben ernst nahmen, das Abitur schafften und studierten. Sie selbst hatte wegen der Familiengründung auf das Jurastudium verzichtet. Ihre Kinder sollten die besten Startbedingungen in ein erfolgreiches Leben bekommen und als Familie zusammenhalten. Die Herzlichkeit, mit der Christa und das Töchterchen bei Marios Eltern willkommen waren, berührte sie. Was sie im eigenen Elternhaus sehr vermisst hatte, wurde ihr hier reichlich geschenkt. Bei einem Gespräch mit dem jungen Paar gab Marios Mutter zu bedenken, dass sie sich mehr Zeit lassen und alles reiflich überlegen sollten, bevor sie eine Familie gründeten. „Ist eure Liebe stark genug, um in allem für einander da zu sein? Ihr tragt große Verantwortung für euch und Doren. Überstürzt nichts. So schön, wie das Leben ist, bringt es doch auch große Herausforderungen mit sich. Da muss man sich aufeinander verlassen können.“ Das junge Paar war entschlossen, diese Aufgaben gemeinsam zu meistern. Kurz vor der Hochzeit meldeten sich aber doch in Christa ein paar Zweifel: ‚Mario tritt sehr selbstbewusst auf, führt gerne kluge Reden. Werde ich auch genug zu Wort kommen, wie ich möchte? Bin ich klug genug? Ich habe nicht studiert. Kann ich mit den geistigen Anforderungen in dieser Familie mithalten? Ich bin auch nicht Genossin in der führenden Staatspartei wie alle anderen Familienmitglieder. Sie erscheinen mir alle sehr gefestigt in ihrer Persönlichkeit.‘ Christa entschied sich, diese Herausforderung als Ansporn anzusehen, selbstbewusster zu werden und geistig zu wachsen. Das wollte sie doch immer. Als sie wieder in Marios warmherzige Augen sah und in seinen Armen lag, flogen alle Bedenken davon. Und bald erwarteten sie ein Baby. Mario schloss sein Diplom mit sehr guten Leistungen ab und begann als Jungingenieur zu arbeiten. Der Betrieb verfügte über ein paar Werkswohnungen in älteren Barackengebäuden mit Kachelöfen und Herzhäuschen im Grünen. Ein Bad gab es nicht. Aber als Übergangslösung nahmen sie die Behausung an. Es wurde ihnen in Aussicht gestellt, in etwa drei Jahren in eine Neubauwohnung ziehen zu können. Mit einem fröhlichen Polterabend feierten sie in den Tag der Hochzeit hinein. Die Sonne schien und ein kühler Wind lockerte die frisch frisierten Haare auf. Christas Schwester und ihr Mann nahmen sich liebevoll der erstaunten Doren an. Diese Hochzeit war ein großes Erlebnis für die Kleine. Sie verfolgte das aufregende Treiben mit großem Interesse. „Mama, du siehst schick aus!“ „Dankeschön, liebe Doren. Du siehst mit deiner neuen Bluse aber auch sehr hübsch aus.“ Doren strahlte. „Wo ist denn Mario? Hat der sich auch schick gemacht?“ „Aber ja. Er schaut sich das Brautauto an.“ „Das möchte ich auch sehen!“ Marios Schwager hatte sein Auto mit Freesien und grünen Zweigen geschmückt und war bereit zur Abfahrt. Allmählich setzte sich die Hochzeitsgesellschaft in Bewegung Richtung Rathaus. Obwohl es im Standesamt still war und alle aufmerksam der feierlichen Zeremonie folgten, gelang es Christa nicht, ruhig zu werden, um die Worte der Standesbeamtin bewusst aufnehmen zu können. Ihr Herz klopfte stark. Als sie sich einmal umdrehte und in die andächtigen, ernsten Gesichter sah, durchwühlte sie eine Mischung aus freudigen, aber auch etwas ängstlichen Gefühlen. ‚Ich will niemanden enttäuschen‘, nahm sie sich vor. Seine Eltern hatten sich liebevoll um einen feierlichen Rahmen gekümmert. Es war ihr Geschenk für das Brautpaar. Die Hochzeitsgesellschaft fand Platz an einer langen, mit Blumen und Kerzen dekorierten Tafel in einem Saal des Kulturhauses. Alle Anspannung fiel nun von Christa ab, und sie konnte sich der fröhlichen Feier, die später im Haus von Marios Eltern weiterging, hingeben. Sie war beeindruckt von der großen Anteilnahme und dankbar für die vielen Glückwünsche der Angehörigen und Nachbarn. In ihrem Herzen hing der Himmel voller Geigen. Hoffnungsvoll sah sie ihrem neuen Familienglück entgegen. Nun hieß es Abschied nehmen von den Kollegen und der Stadt Leipzig, mit der Christa viele Eindrücke und kulturelle Erlebnisse verband, wie Konzerte, Operetten- und Opernabende, Theaterbesuche. Das besondere Ambiente der ihr lieb gewordenen Altstadt rund um das schöne Rathaus würde ihr bestimmt fehlen. Die Kollegen wunderten sich sehr über Christas Umzug in eine so einsame Gegend in Mecklenburg-Vorpommern. „Willst du das wirklich?“, fragten sie. „Dort werden abends um sechs die Bürgersteige hochgeklappt.“ „Dafür bin ich in zwanzig Minuten mit dem Fahrrad am Ostseestrand“, konterte sie mit etwas gespielter Heiterkeit. All das Vertraute nun hinter sich zu lassen, erforderte Mut. In eine Gegend zu ziehen, in der sie fremd war, bereitete ihr ein mulmiges Gefühl. Doch es war ja auch ein neuer Anfang und die Liebe zu Mario beflügelte sie. Mit herzlichen Umarmungen und vielen guten Wünschen begab sich Christa nach vierundzwanzig erfahrungsreichen Lebensjahren, die sie in Sachsen gelebt hatte, mutig auf die Reise in ein neues Leben im Norden der Republik. Gleich zu Beginn kam eine harte Probe auf das junge Paar zu. Mario wurde für 18 Monate zum Grundwehrdienst eingezogen und durfte seine Familie nur selten besuchen. So stand Christa alleine da. Zum Glück bekam sie schnell wieder Arbeit als Sekretärin in der Verwaltung der Handelsorganisation (HO). Aber die Mitarbeiter waren in ihrer Art nicht so zugänglich, wie sie es von den Sachsen mit ihrer Offenherzigkeit gewohnt war. Sie waren zwar freundlich zu ihr, doch irgendwie auch reserviert und kühl. ‚Na ja, ich bin ja noch fremd für sie. Das wird sich mit der Zeit bessern, wenn wir einander kennenlernen‘, redete sich Christa aufmunternd ein. Sie freute sich nach der Arbeit auf Doren, ihren Sonnenschein. Die Kleine hatte sich schnell im Kindergarten eingelebt und erzählte von all ihren Erlebnissen wie ein Wasserfall. Von wem sie das wohl hatte? Auch mit den Nachbarskindern der jungen Familien knüpfte das lebhafte Mädchen Kontakte. Hinter den Baracken waren zum Teil Gärten angelegt worden. Eine Heidelandschaft führte hügelaufwärts zu einem Waldstück. In diesem wildwachsenden Gelände fühlten sich die kleinen Weltentdecker und Rollenspieler sehr wohl. Die Eltern konnten sie ganz beruhigt dort toben und auf alte, wilde Obstbäume klettern lassen. Allmählich lernte Christa andere junge Paare kennen, von denen sie eingeladen wurde. Das erleichterte ihr, sich einzuleben. In den Baracken lebte man sehr einfach. Im Winter wurden Kohlenbriketts vor die Kellerfenster geschüttet und in den Keller geschaufelt. Später stapelten sie die Briketts an der Wand auf, damit noch die lange Zinkbadewanne und anderes verstaut werden konnte. In den Keller gelangte man nur, indem man mit Schwung eine schwere Türe mit einem Eisengriff aus dem Küchenfußboden zog. Es war ein Kraftakt, die Wanne heraufzuwuchten. Dann musste das heiße Wasser Topf für Topf vom Herd gehoben und in die Wanne geschüttet werden. Baden war ein schwer erarbeitetes Vergnügen, nur möglich, wenn Mario nach Hause kam. Hinter der Baracke verwilderte eine eingezäunte hügelige Graslandschaft, die sie zu einem Garten umgestalten wollte. Wie man ein Gelände urbar macht und Beete anlegt, hatte sie im Schulgartenunterricht gelernt und im elterlichen Garten praktiziert. Trotz ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft rückte sie dem Boden mit Hacke, Spaten und Forke zu Leibe. Mit allen Sinnen und starkem Körpereinsatz erfreute sie sich an dieser Feierabendbeschäftigung. Unter ihren Händen entstanden Beete für Möhren, Zwiebeln, Radieschen, Schnittlauch, Salat, Kohlrabi, Erdbeeren und Blumen. Auf der anderen Hälfte säte sie Rasensamen aus und sah im Geist die Kinder auf der Wiese spielen und ihre Wäsche dort im Wind wehen. Der Sommer wurde sehr heiß. Christa trank viel und fühlte sich mit ihrem kugelrunden Bauch wie eine Tonne. Der ansteigende Weg mit dem Fahrrad zum Kindergarten und zur Arbeit wurde ihr zunehmend beschwerlicher. Schließlich brachte der Schwangerschaftsurlaub Erleichterung. Kurz vor dem Entbindungstermin bekam Mario Urlaub. Doch das Baby ließ auf sich warten. Da es bereits zwei Wochen über dem Termin war und Christa erlöst sein wollte, bat sie ihren Mann, mit ihr eine Weile mit dem Motorrad über Kopfsteinpflaster zu fahren, natürlich langsam. Das half. Ein paar Stunden später zeigte sich das Bübchen der Welt. Für den Besuch im Krankenhaus zog Mario das Töchterchen hübsch an und bat es, draußen auf ihn zu warten. Denn er wollte auch schmuck für diesen besonderen Anlass sein. Als er aus der Baracke kam, traute er seinen Augen nicht. Doren saß vergnügt mit ihren Sonntagssachen in der Plastikbadewanne, die mit Wasser gefüllt für die Kinder zum Planschen dort stand. Mario wusste nicht, ob er lachen oder schimpfen sollte. ‚Ach ja. Mit zweieinhalb Jahren leben Kinder in einer anderen Welt‘, fiel ihm ein. Sehr liebevoll und zärtlich umarmte Mario seine Christa und nahm dann mit breitem Grinsen und voller Rührung sein Söhnchen in Empfang. Einen Moment lang schien er in einem gedanklichen Zwiegespräch mit diesem wundervollem Menschlein zu sein. Behutsam legte er dann das schlafende Bübchen in die Arme seiner Schwester. „Ist der niedlich“, flüsterte Doren erstaunt. „Er ist ja nicht größer als meine Babypuppe. War ich auch mal so klein?“ „Ja, so klein warst du auch, als du aus meinem Bauch kamst“, erklärte ihr die Mutti. Doren sah nachdenklich auf ihr Brüderchen, als versuche sie, sich zu erinnern. Sachte berührte sie seine Fäustchen und war ganz still. Christa hätte gerne gewusst, was in dem Köpfchen wohl vorging, welcher Film da ablief. Der stolze Papa war überglücklich, seine Familie so zu sehen. Als die stolze Mutti nach einer Woche mit dem kleinen Daniel im Taxi nach Hause kam, setzten die Eltern Doren in den großen Sessel und legten ihr das Baby in den Arm. Der Kleine schlief seelenruhig. Sogar, wenn seine Mama ihn stillte, nickte er immer wieder ein. Die Schwester sah fasziniert zu „Mama, habe ich auch Milch aus deiner Brust getrunken?“ „Natürlich, mein liebes Kind, mit großem Appetit sogar. Nur bist du dabei nicht eingeschlafen.“ Sie lachten. Mario war leider mit seinem Armeedienst noch nicht fertig. Es fiel ihm sehr schwer, seine Familie verlassen zu müssen und Christa nicht helfen zu können. Auch Christa schmerzte es, als er wieder ging. Sie fragte sich, wieso es überhaupt in der Welt Feindschaft, Waffen und militärische Auseinandersetzungen gab ‚Warum können die Menschen der Länder nicht friedlich nebeneinander leben und miteinander teilen, was die Natur ihnen bietet? Meinungsverschiedenheiten lassen sich doch friedlich klären. Wieso muss Frieden mit Waffen erhalten werden? Und wieso gibt es überhaupt so riesige Unterschiede zwischen armen und reichen Ländern auf dieser einen Erde auf der wir alle leben? Ich verstehe das nicht.‘ So rumorten Gedanken und Fragen, auf die keine Antworten kamen, im Kopf der 25-jährigen Mutter. Christa behielt Doren für eine Weile zu Hause. Doch bald vermisste das aufgeweckte Mädchen ihre Spielkameraden. Mit dem Brüderchen konnte sie ja noch nicht spielen. Und auf das, was sie ihm erzählte, antwortete er nicht. Also ging sie wieder in den Kindergarten. Begeistert sprach sie dort mit allen über das Baby. Einmal erzählte die Erzieherin, dass Doren vor dem Mittagessen ihren Pullover auszog, eine Puppe an ihre Kinderbrust hielt und zu allen sagte: „Pst. Seid bitte leise. Ich stille jetzt mein Baby.“ Endlich hatte Mario den Pflichtwehrdienst erfüllt, konnte seine Arbeit wieder aufnehmen und ganz für die Familie da sein. Für Christa wurde jetzt vieles leichter, denn Mario half ihr gerne, wickelte das Baby und spülte die Windeln. Sie freuten sich, als ihnen ein zinsfreier Ehekredit von 5.000 Mark nach der Geburt des ersten Kindes bewilligt wurde. So konnten die jungen Eltern eine Waschmaschine, eine Wäscheschleuder und Kochgeschirr kaufen. Das erleichterte die Hausarbeit beträchtlich. Als Jungingenieur verdiente Mario noch wenig. Und Christa konnte nicht arbeiten, weil kein Krippenplatz frei war. Zwei Jahre blieb sie mit Daniel zu Hause und erfreute sich daran, seine Entwicklung beobachten zu können. Mario bekam das Angebot, ein sechs Jahre altes Auto, Marke „Trabant“, für die Hälfte des Neupreises zu kaufen. Das Geld hatten sie nicht. Christa war gegen diesen Kauf. Aber er wollte diese günstige Gelegenheit auf gar keinen Fall verpassen. Die Wartezeit auf einen neuen „DDR-Volkswagen“ betrug mindestens zwölf Jahre. „Wir können das in Raten abzahlen“, argumentierte er. „Auf den Fahrten zu meinen Eltern und in den Urlaub wird es dann leichter, Christa. Das Rennen auf den Bahnhöfen mit dem Kinderwagen treppauf, treppab hört dann endlich auf! Und wir können mehr Gepäck mitnehmen.“ „Ja. Das ist verlockend. Aber, wir zahlen doch schon den Ehekredit in Raten ab“, gab sie zu bedenken. Die Vergrößerung der Schulden gefiel ihr nicht, aber schnell überwog die Freude über die Erleichterungen im Alltag. Nach einem Jahr war jedoch der Motor am Ende. Für einen neuen und den Einbau mussten sie 900 Mark bezahlen. Neue Reifen folgten. Das Auto kostete zu viel Geld. Die erholsamsten Stunden verbrachte die junge Familie am Ostseestrand und in den Wäldern der Insel Usedom zusammen mit einem befreundeten Ehepaar und deren zwei Kindern. Dieses Paar hatte sich in einem Badeort mit viel Eigenleistung ein Haus gebaut. Christa bewunderte sehr, welche Strapazen die beiden dafür auf sich genommen hatten. Die Beschaffung von Baumaterial und vielen anderen Teilen für den privaten Hausbau war in der DDR eine nervenaufreibende und abenteuerliche Angelegenheit. Endlich, nach fünf Jahren Barackenleben, konnte die Familie in eine helle Zweieinhalbzimmerwohnung im vierten Stock eines Neubaublockes einziehen. Mit 58 Quadratmetern war sie zwar nicht größer als die vorherige, aber es gab ein modernes Bad mit Wasserklosett und Badewanne, einen Balkon und eine Einbauküche mit Elektroherd! Die Schule war nur noch fünf Minuten Fußweg entfernt. Sie schätzten die Verbesserungen sehr und machten sich begeistert ans Tapezieren der Wände. Von Marios Eltern bekamen sie viel Unterstützung. Christa fühlte sich immer sehr wohl bei ihnen. Mit seiner Mutti konnte sie sich gut unterhalten. Sie war dankbar, von den Erfahrungen dieser herzlichen und ausgeglichenen Frau lernen zu können „Ab 50 wird das Leben leichter. Dann hast du reichlich Lebenserfahrung und die Kinder gehen ihre eigenen Wege. Da wirst du gelassener“, gab sie ihr mit auf den Weg. Davon war Christa noch 20 Jahre entfernt. Sie wollte nicht ihr Leben lang als Sekretärin nach der Pfeife ihres Chefs tanzen und war auch geistig unterfordert. Mario empfahl ihr, sich im “Amt für Arbeit“ nach einer Stelle als Sachbearbeiterin zu erkundigen. Christa meldete sich arbeitssuchend und kurz danach wurde ihr sogar in diesem Amt eine Stelle mit abwechslungsreicher, anspruchsvoller Tätigkeit angeboten. Dass sie nun auch im Außendienst unterwegs war, gefiel ihr sehr. Unter anderem gehörte es zu ihren Aufgaben, mit Jugendlichen in allen Betrieben des Kreises zu sprechen, um sie für die Jugendobjekte: „Wohnungsbau Berlin“ und „Bau der Erdgastrasse UdSSR“ zu gewinnen. Nach Auflagen der Staats- und Parteiführung hatten alle Bezirke der Republik eine bestimmte Anzahl von Fach- und Hilfskräften für diese Jugendprojekte zu delegieren. Die Betriebsleiter waren nicht begeistert, wenn ihnen die besten Kräfte wie Schweißer, Kranfahrer, Baufacharbeiter und Baumaschinenführer abgeworben wurden und mindestens zwei Jahre in der Produktion fehlten. Sie mussten wiederum ihren „Fünfjahresplan“ erfüllen. Aber Christa konzentrierte sich nur auf ihre Aufgabe und sprach sehr gerne mit den Jugendlichen. Angestellten der Kreisverwaltung waren Kontakte in den Westen verboten. Aber das kümmerte Christa nicht. Was sollte jemand dagegen haben, wenn sie von den Kindern gemalte Bilder mit einem Gruß versah und ein paar Fotos mitschickte? Ihre Eltern hatten ja den Schwiegersohn Mario und Enkel Daniel gar nicht kennengelernt. Christa wusste, dass ihre Mutter nur ihrem Mann zuliebe mit dorthin gezogen war und unter Heimweh litt, sich nach ihrer Familie sehnte und in dieser Fremde nicht wohlfühlte. Mutter hatte in einem Brief berichtet, dass sie das von Werbung dominierte, laute Leben in der Stadt nicht ertrug. Sie fühlte sich von dem Konsumgüterüberangebot erschlagen und es tat ihr weh, Bettler auf der Straße sitzen zu sehen „Das ist eine verkehrte Welt. Ich bin immer froh, wenn ich die Wohnungstüre hinter mir schließen kann“, war ihr trauriges Fazit nach der Ausreise. Als Doren in die vierte Klasse wechselte, feierte die Familie Daniels Schulanfang. Beide gingen gerne zur Schule und die Eltern freuten sich über ihre guten Ergebnisse. Christa strickte und nähte für die Kinder und für sich Kleidungsstücke, wie einst ihre Mutter. Das bereitete ihr Freude und entlastete die Haushaltskasse. Auch tippte sie Diplomarbeiten für Studenten in die Schreibmaschine und legte das Geld beiseite. Von außen wurden sie bestimmt als eine harmonische Familie angesehen, in der alles seinen geordneten, „sozialistischen“ Gang lief. Doch Christa spürte im Herzen, dass etwas nicht stimmig war, und fühlte sich zunehmend unwohl und allein. Mario zog sich immer mehr zurück und grübelte über etwas nach, worüber er mit ihr nicht reden konnte. Christa empfand es so, als ob sie sich in Zeitlupe voneinander entfernten. In schlaflosen Nächten grübelte sie über Verbesserung nach. Sie wünschte sich wieder mehr geistige und körperliche Nähe und sagte es Mario. Aber für ihn war alles, so, wie es war, scheinbar in Ordnung. Christa vermutete, dass ihr Mann ein schnelleres Wachsen ihres Lebensniveaus vermisste. Er wünschte sich ein neues Auto, ein Haus und ein Boot. Für seine Arbeit wollte er mehr materielle Bestätigung sehen, es schneller zu etwas Vorzeigbarem bringen, was ihr hingegen nicht so wichtig war. Eines Tages wurde Christa vom Direktor des Arbeitsamtes gefragt, ob sie Interesse hätte, ein Fernstudium für Staatswissenschaft auf der Grundlage der Marxistisch-Leninistischen Philosophie aufzunehmen. Das war eine gute Gelegenheit, etwas für ihr geistiges Wachstum zu tun und Antworten auf ihre Fragen zu bekommen, warum diese Welt so gespalten war, ob es immer Feindschaft unter Völkern geben musste, ob diese Philosophen einen Weg zum Weltfrieden aufzeigten und was die Menschen dafür tun konnten. Und noch ein anderes Ziel schwebte ihr vor: Mit dem Studienabschluss konnte sie Personalleiterin werden. Während des Studiums nahm Mario ihr manches im Haushalt ab, half ihr auch bei schriftlichen Hausaufgaben. Wenn sie Ruhe zum Studieren brauchte, fuhr er mit den Kindern zum Angeln, Fußballspielen oder Pilze suchen. Christa bemühte sich, alles perfekt zu schaffen, stieß jedoch zunehmend an ihre Grenzen. Mario wollte ihr zu mehr Lockerheit verhelfen „Es soll doch keine Uhr werden, Schatz!“, sagte er aufmunternd. Er ging viel rationeller vor und war schneller mit allem fertig. Meldeten sich Besucher an, öffnete er Schranktüren und stopfte hinein, was im Raum herumlag, saugte den Fußboden – fertig. Danach war er immer noch fit. Einerseits ärgerte sich Christa über diese Oberflächlichkeit – so sah sie es – und andererseits beneidete sie ihn, weil er ökonomischer mit seinen Kräften umging. Einige Jahre und viele Einsichten später wird sie es genauso machen. Immer öfter sprach Mario von seinem Wunsch, ein Haus bauen zu wollen. Ihre Freunde hatten viele Erfahrungen damit gesammelt und boten ihre Hilfe an. Natürlich wäre es schöner gewesen, wenn die Kinder je ihr eigenes Zimmer und die Eltern ein größeres Schlafzimmer gehabt hätten. Auch über einen Garten hinter dem Haus hätte sich Christa gefreut. In einer naturnahen, ruhigeren Lage zu wohnen, war verlockend. Aber selbst bauen? Diese Plackerei, die Jagd nach Baumaterial und die Schwierigkeiten, die dabei auftreten konnten, von denen sie gehört hatte, nein danke. Das würde sie nicht verkraften. Ihre Ehe stand auf wackeligen Beinen. Ohne ein festes Fundament in der Beziehung erschien ihr das große Projekt zu risikovoll. Oder konnten sie mit einem Hausbau ihre Partnerschaft wieder mit Liebe füllen? Ihr Herz sagte: „Nein.“ Es kam öfter vor, dass Ehepaare sich nach dem Hausbau scheiden ließen. Auch sie hatten sich etwas Besseres erhofft. Durch äußere Veränderungen etwas kitten zu wollen, was in ihrem Inneren kaputt war, funktionierte nicht. Das war jedenfalls Christas Eindruck. Sie sehnte sich viel mehr nach Liebe, nach Wärme, nach mehr Nähe ihrer Herzen. Christa fühlte sich schwanger. Die Gynäkologin bestätigte es. Aber wie konnte das sein, trotz der verhütenden Spirale? Die Familienplanung war abgeschlossen! Mit dem Haushalt, der Vollzeitarbeit und dem Fernstudium war Christa vollkommen ausgelastet. Doch manchmal war im tiefsten Inneren der Wunsch, noch einmal schwanger zu sein, aufgetaucht. Sie war sich nicht sicher, ob sie es wirklich wollte. Bei der nächsten Untersuchung stellte die Ärztin eine Bauchhöhlenschwangerschaft fest und meinte, dass ein Abbruch sofort nötig sei. Es wäre sonst zu gefährlich für Mutter und Kind. Dieser Befund war wie eine Antwort auf Christas Zweifel, ob sie die Kraft für ein weiteres Kind hätte. Eine sehr schwere Entscheidung wurde ihr zwar so abgenommen, dennoch tat es ihr in der Seele weh. In dieser Zeit begannen die ersten Demonstrationen für Meinungs- und Reisefreiheit im Süden der Republik. Zunehmend mehr Menschen gingen auf die Straßen und Plätze und forderten wahre demokratische Verhältnisse. Christas Studiengruppe war im letzten Teil des Philosophiestudiums angelangt. Auch die Studierenden getrauten sich nun, ihre Zweifel an der Staatsführung zu äußern. Wenn Christa in der Parteiversammlung Kritik zu den frisierten Berichten zur Planerfüllung anbrachte, sah sie warnende Blicke auf sich gerichtet. Als Staatsdienerin und Mitglied der SED hatte man sich einzufügen, wenn man weiterkommen wollte. Im Stillen hoffte sie, dass die mutigen Demonstranten erfolgreich die Forderungen nach wahrer Mitbestimmung, Ehrlichkeit der Führungsspitze, straffreier Meinungsäußerung und Reisefreiheit friedlich durchsetzen würden. In dieser unruhigen Zeit schrieb Christa ihre Abschlussarbeit für das Studium. Tagsüber war sie ausgefüllt mit Aktivitäten. Doch nachts kroch die Angst hoch. Sie lag stundenlang wach neben ihrem schnarchenden Mann. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie getraute sich kaum noch zu atmen, so stach es in der Brust. Tiefe Traurigkeit breitete sich in ihr aus, weil sie einander nicht verstanden und körperlich kaum noch berührten. Sie fühlte sich einsam und nicht mehr begehrenswert. Ihre Seele litt an Liebeshunger. Sie wusste nicht, wie sie Mario noch erreichen konnte. Sein ständiges Argumentieren, sodass auch die Freunde kaum noch zu Wort kamen, machte sie müde, kraftlos. Mario war fest überzeugt von sich und seinem Können, mit dem er seine materiellen Ziele für seine Familie erreichen würde, doch weit weg von Christa. Dann kam der 9. November 1989, die plötzliche Grenzöffnung in der Nacht. Als Christa am nächsten Tag im Fernsehen sah, wie die vielen Menschen das außergewöhnliche Ereignis feierten, freute sie sich für alle, die ihre Verwandten, Bekannten und Freunde endlich wiedersehen konnten. Sie weinte jedoch nicht nur Freudentränen. Auch dunkle Ahnungen stiegen in ihr auf. War der sozialistische Weg endgültig gescheitert? Oder würde die Regierung nun die Forderungen des Volkes erfüllen? Was würde sich verändern? Christa traute ihren Augen und Ohren kaum, als sie erlebte, wie die DDR in Windeseile von kapitalistischen Verhältnissen überflutet wurde. Rücksichtslos entließ man hunderte Menschen aus ihren Arbeitsverhältnissen, riss ihnen ihre Existenzgrundlage weg. Im Arbeitsamt wurden die Mitarbeiter vom Ansturm der Menschen überrollt. Die meisten hatten zwanzig, dreißig Jahre in den Betrieben gearbeitet, ein sicheres Einkommen gehabt. Nun standen sie auf der Straße in einer Schlange, um einen Antrag auf Arbeitslosengeld zu stellen. Scham und Angst stand in den Gesichtern. Im Eingangsbereich des engen Hausflures wurden Karteikarten und Bleistifte über die Köpfe hinweg gereicht. So sollten die Frauen und Männer ihre persönlichen Daten aufschreiben, um sich arbeitslos zu melden. Mancher saß mit Tränen an Christas Schreibtisch. Die Kollegen des Amtes wurden von der Bundesanstalt für Arbeit Nürnberg übernommen. So blieb Christa von Arbeitslosigkeit verschont, hatte aber schwer zu kämpfen, mit den chaotischen Verhältnissen zurechtzukommen. In diesem Angestelltenverhältnis musste sie nun große Stärke zeigen, um den Job zu behalten. Sie begegnete den Vorsprechenden immer freundlich und half ihnen beim Ausfüllen der Anträge, was eigentlich unterbleiben sollte, damit die Leute schneller wieder draußen waren. Doren und Daniel wollten auch endlich in den „tollen“ Westen fahren. Die meisten Schüler waren schon dort gewesen und zeigten stolz ihre „Schätze“. Christas Bruder Andreas rief an und berichtete davon, wie die Trabantfahrer mit Lichthupen und Hupkonzerten begrüßt wurden und fragte, worauf Christas Familie noch wartete. Die Mutter wollte doch endlich ihre Enkel, ihren Schwiegersohn und die Tochter begrüßen. Zehn Jahre waren seit ihrer Ausreise vergangen. Erikas Mann war vor einem Jahr gestorben. Das Alleinsein und die Parkinsonkrankheit machten ihr sehr zu schaffen. Erwartungsvoll freute sie sich auf ihre Verwandten. Ende Dezember fuhren die vier nach Westberlin, holten sich das „Begrüßungsgeld“ und besuchten Christas Mutter in Hildesheim. Als sie vor Erikas Wohnung standen, klopfte Christas Herz sehr heftig. ‚Sei ganz ruhig und liebevoll‘, sagte sie sich. Nach dem Klingeln dauerte es eine Weile, bis geöffnet wurde. Eine schmale, völlig ergraute Frau, sehr blass und zitternd, zerbrechlich wirkend, stand in der Tür. Christa gab sich Mühe ihren Schreck zu beherrschen „Guten Tag, Mutti.“ Sie wollte ihre Mutter sachte in die Arme nehmen, wurde aber von ihr abgewehrt „Bitte lass das. Das tut mir weh! Du siehst doch, dass ich krank bin.“ Sie wies in die Wohnung. „Du kannst schon mal Kaffee kochen.“ Wie betäubt ging Christa in die Küche und funktionierte einfach. Nachher beobachtete sie, wie sich Mutter freute, die Enkel und den Schwiegersohn zu sehen und mit ihnen reden zu können. Erikas Gesichtszüge entspannten sich. Sie wurde lockerer und sogar etwas heiter, fand Mario mit seinem forschen Auftreten sympathisch. Erst als Andreas kam und mit „Hallo, da seid ihr ja endlich!“, ins Wohnzimmer wehte, konnte sich auch Christa etwas entspannen „Na, ihr wollt doch bestimmt nachher einkaufen gehen. Ich führe euch gern in meine Passage, die „Andreas-Passage“. Er grinste breit. An Selbstbewusstsein hatte es ihm noch nie gemangelt. Die Kinder jubelten. Erika gab von ihrem Ersparten noch etwas dazu. Die Männer stiefelten mit den Kindern los. Christa wollte nichts. Sie blieb bei ihrer Mutter, spülte das Geschirr und räumte es in den Schrank. Erika erkundigte sich, wie ihre Tochter die viele Arbeit im Amt bewältigte. „Habt ihr überhaupt Computer?“ Christa deutete ein paar Schwierigkeiten an, aber drückte sich optimistisch aus „Noch arbeiten wir mit Karteikarten. Es sollen Einarbeiter aus dem Westen kommen und zusätzliche Sachbearbeiter eingestellt werden. Wir müssen alle umlernen. Und irgendwann werden wir auch Computer bekommen.“ Verlegene Pause. „Ach Christa“, fing Erika freundlich wieder an, „würdest du bitte ein paar Wäschestücke für mich flicken?“ „Gerne. Sage mir nur, wo ich alles finde.“ Erika sah ihrer Tochter zu. „Du hast aufgeweckte Kinder und einen gescheiten Mann. Ich freue mich sehr, dass ihr gekommen seid. Doch jetzt brauche ich ein wenig Ruhe. Das ist alles etwas anstrengend für mich.“ Sie zog sich ins Schlafzimmer zurück. Die Kinder strahlten, als sie ihrer Mutti die neuen Armbanduhren und Turnschuhe zeigten. Mario überraschte seine Frau mit einem Strauß dunkelroter, langstieliger Rosen „Danke schön, Mario. Die sind ja prachtvoll!“, freute sich Christa und umarmte ihn. Mit seinem liebevollen Lächeln und den Rosen berührte er ihr Herz. Das hatte sie schon so lange vermisst. Auch er berichtete stolz von seinem erfolgreichen Einkauf. Die Stereoanlage und der Computer entsprachen ganz seinen Wünschen. Mario war glücklich und Christa freute sich mit ihm. Am nächsten Tag verabschiedete Erika ihre Gäste mit dem Wunsch, sie bald einmal wiederzusehen. Das hohe Arbeitspensum im Amt, die Informationsflut, die vielen Veränderungen, die im Eiltempo stattfanden, erschöpften Christa sehr. Sie verschloss sich zunehmend, konnte nicht mehr alles wahrnehmen, was um sie herum geschah. Was war wichtig, was nicht? Ihr wurde oft schwindlig. Es war ihr zu viel. Wie betäubt ließ sie sich schieben von dem, was kam. An den Wochenenden am Ostseestrand durchzuatmen und in den Wäldern spazieren zu gehen, half ihr für kurze Zeit, Energie zu tanken. Um den Ansturm der vielen Menschen, die nach Arbeit fragten, und die Papierflut zu bewältigen, wurde den Mitarbeitern sehr viel abverlangt. Trotz allem, Christa war dankbar, nicht in dieser Schlange zu stehen, und war mit dem Herzen bei der Arbeit. Dennoch, sie fühlte sich verraten, verkauft, ohnmächtig. Es war zu viel, was Christa mit ihrer sanften, mitfühlenden Seele ertragen musste. ‚Ich bin doch keine Maschine, an der man einfach mal ein paar Teile auswechselt‘, rumorte es in ihr. Alles drehte sich in ihrem Kopf. Bis dahin hatte sie einen, den Geist so sehr irritierenden Zustand nicht kennengelernt. Doch nun war sie wie fremdgesteuert, überhaupt nicht mehr bei sich selbst. Nach dem über vierjährigem Fernstudium, das kurz nach der Wende zu Ende ging, bekam Christa ein gutes Abschlusszeugnis und durfte sich „Staatswissenschaftlerin“ nennen. Doch was für eine Ironie! Im Studium war es zu einem großen Teil um das Wesen des Kapitalismus/Imperialismus, die Monopolherrschaft, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die Profitgier der Mächtigen gegangen. Und nun waren sie Teil davon geworden! ‚Irgendwo reiben sich ein paar ganz Schlaue die Hände‘, dachte Christa, ‚und triumphieren‘: „Hurra, jetzt kriegen wir mehr Käufer und Verbraucher, denen wir nun beibringen, was man wirklich für ein glückliches Leben im Überfluss braucht!“ Christa trauerte einem Leben nach, das für sie überschaubar gewesen war, in dem es für sie keinen Konkurrenz- und Existenzkampf gegeben hatte. Sie versuchte, sich Mario mitzuteilen. Er erlebte die Veränderungen anders. Ihm boten sich neue berufliche Perspektiven mit höherem Gehalt. Er strotzte vor Elan. „Es geht uns doch großartig! Endlich geht es wirklich bergauf! Wir können uns viel mehr leisten als vorher, Schatz. Wir haben beide Arbeit und mehr Geld. Ich liebe dich, Christa. Wirklich.“ In dem Zusammenhang, wie er diese Worte gebrauchte, konnte sie keine Liebe empfinden. Das Herz tat ihr weh. Immer öfter kamen ihr Gedanken an Scheidung. Nächtelang grübelte sie. ‚Wie kann ich es mit beiden Kindern schaffen? Ich bin mit meinen Kräften ziemlich am Ende … Mit uns als Elternpaar geht es den Kindern besser. Sie sollen ihren Papa behalten … Ich will durchhalten, bis die Kinder selbstständig sind … Vielleicht können Mario und ich mit der Zeit einander wieder näherkommen.‘ So versuchte sich Christa neu zu motivieren und verdrängte ihre Ängste. Sie erfreute sich an den Wochenendausflügen mit den Kindern in der herrlichen Natur an der Ostsee und den Begegnungen mit der befreundeten Familie, bei der sie immer herzlich willkommen waren. Auf dem Parkettfußboden des großen Wohnzimmers im Haus der Freunde tanzten sie fröhlich, hatten Spaß mit den Kindern und diskutierten nachts stundenlang bei etlichen Gläsern Wermut über das Für und Wider der politischen Wende. Sie überlegten, wie viele Jahre es dauern würde, bis sich die Menschen in Ost- und Westdeutschland vereint fühlen würden. Es gab zwar nun den „Tag der Einheit“, doch in der Mehrheit der Köpfe würde noch lange eine Mauer stehen. Sie schätzten, dass der Prozess des Zusammenwachsens mindestens 25 Jahre bräuchte. Im Arbeitsamt veränderte sich innerhalb von zwei Jahren sehr viel. Neue Mitarbeiter wurden befristet eingestellt. In die Dienststelle, in der Christa arbeitete, kam eine Fachkraft aus dem Westen, ein freundlicher, ruhiger Beamter, der ihnen half, die Arbeitsabläufe zu optimieren. Auch Christa arbeitete drei Frauen mit ein. Die Papierflut von Anträgen und viele Schulungen strömten auf alle ein und zusätzlich zogen sie in ein größeres Gebäude mit langen Fluren und viel mehr Räumen um. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) liefen an. Bildungsträger kamen ins Land und boten Fortbildungs- und Umschulungsprogramme an. Jeder im Amt arbeitete hart und leistete viele Überstunden, um ja den Arbeitsplatz zu behalten. Manchmal wusste Christa nicht mehr, wie sie ihr Programm, eine gute Mutter, Ehefrau und Sachbearbeiterin zu sein, noch erfüllen sollte. Tagsüber lächelte sie fast ständig, war freundlich, aufmerksam, fürsorglich. Aber wenn sie sich abends neben ihrem Mann alleine fühlte, war die Welle tiefer Traurigkeit wieder da. Trotz der Erschöpfung konnte sie nicht schlafen. Dann störte sie Marios Schnarchen noch mehr und das trieb sie mit ihrem Bettzeug ins Wohnzimmer. Verzweiflung machte sich in ihr breit. Dieser Druck brauchte ein Ventil. Wie Christa darauf gekommen war, eines Nachts im Bad, vor dem Spiegel stehend, aus ihrer Gesichtshaut Talg auszudrücken, als wären da Pickel, konnte sie nicht sagen. So verrückt es erscheinen mochte, es bereitete ihr Befriedigung. Da kam etwas heraus, bei dem, was sie da an sich tat. Mit Phantasiegeschichten und Dialoge spinnend, in denen sie sagte, womit sie nicht einverstanden war, entrückte sie sich dieser Welt. Was sie tagsüber an Ärger und eigenständigem Denken unterdrücken musste, drückte sie nachts am Spiegel bei Selbstgesprächen aus ihrem Gesicht. Anfangs war es selten, doch mit wachsendem Druck verlor Christa die Beherrschung und entwickelte eine Sucht. Ihre makellose, glatte, reine Gesichtshaut litt sehr unter dieser Zerstörung und die dicke Schicht Make-up tat ihr auch nicht gut. Einerseits wünschte sich die Leidende, dass jemand sie von ihrem Schmerz befreite, andererseits sollte niemand wissen, was sie da mit sich machte. Sie schämte sich sehr für ihr unkontrolliertes Verhalten, hielt sich für eine Versagerin. Alle anderen kamen mit ihrem Leben scheinbar besser zurecht. Ihrem Mann fiel alles leicht. Er war überall obenauf, glänzte mit seinem Wissen und war stolz auf sein neues, großes Auto. Eines Tages stand Christa wie zufällig vor der Praxis einer Nervenärztin. ‚Vielleicht kann ich hier Hilfe bekommen‘, kam ihr in den Sinn. Im Warteraum waren alle Stühle besetzt. Die Ärztin verschrieb ihr Tabletten gegen depressive Verstimmungen und empfahl ihr, sich Rat in einer Ehe- und Sexualberatungsstelle zu holen. Christa wollte alles tun, um die Ehe zu erhalten. Also suchte sie so eine Stelle auf und erzählte der Beraterin: „Ich bleibe auf meinem Verlangen nach tiefer Nähe und meiner Sehnsucht nach Liebe sitzen. Mein Mann scheint nicht zu verstehen, wovon ich rede, wenn ich über meine Empfindungen spreche. Uns trennen auch unterschiedliche Lebensansichten. Zumindest empfinde ich es so. Während für ihn materielles Wachstum und fachliches Wissen am wichtigsten für den Erhalt der Familie und sein Vorwärtskommen sind, bedeuten mir Herzensangelegenheiten und Gedankenaustausch mehr. Ich wünsche mir einen Weg, auf dem wir beides miteinander in Liebe vereinen können. Wir fühlten uns doch anfangs mit den Herzen zueinander hingezogen. Das vermisse ich seit Längerem sehr. Ich möchte wissen, wie wir das wieder erreichen können.“ Da die Beraterin auch den Standpunkt des Mannes erfahren wollte, schlug sie vor, ihn zu einem Partnergespräch in ihre Praxis einzuladen. Mario kam mit und sagte, dass er in der Beziehung keine Probleme sieht. Aus seiner Sicht lief alles zu seiner Zufriedenheit. Wenn sich Christa mit Problemen herumquäle, könne es mit ihm nichts zu tun haben. Mit einer starken Familie im Rücken hatte Mario ein stabiles Selbstbewusstsein entwickelt, wusste, was er wollte, hatte konkrete Vorstellungen von der Zukunft seiner Familie und arbeitete zielstrebig. Christa lebte planlos, nahm die Dinge wie sie kamen, und ließ sich überwiegend von ihren Gefühlen leiten. Damit passte sie nicht ins Muster der Leistungsgesellschaft, der es um materielles Wachstum geht. Sie fühlte sich zunehmend fremd. Doch dafür konnte Mario tatsächlich nichts. Ihre Lebensfreude sank rapide. Als die Kopfschmerzen und Konzentrationsschwäche in der Arbeit zunahmen, ging nichts mehr. Die Nervenärztin überwies sie in ein Krankenhaus in psychosomatische Behandlung. Der Arzt bot ihr Beruhigungs- und Schlaftabletten an, mit denen sie zur Ruhe kommen sollte. In ihrer Verzweiflung nahm sie diese ein, trotz des inneren Widerstandes gegen diese chemischen Mittel ‚Wenn ich mal ausführlicher über meine Gefühle und das, was mich beschäftigt, reden könnte, müsste mir der Arzt doch sagen können, was ich falsch mache, und einen Rat geben, was ich verändern kann, damit ich wieder Freude am Leben empfinde‘, hoffte die Ratsuchende. ‚Und ich will unbedingt wissen, wie ich das Gedankenkarussell abschalten kann. Diese endlos kreisenden Gedankenwiederholungen sind die Hölle für mich! Das soll aufhören! Sonst drehe ich durch!‘ Dank der Tabletten konnte die Erschöpfte endlich tief schlafen, wurde ruhiger. Die andauernde Müdigkeit war ihr egal. Christa ging viel spazieren, entspannte sich, bestaunte in einer Gartenanlage die blühende Pflanzenpracht und erblühte in diesen Momenten innerlich mit, lächelnd, freudig berührt. Die Bienen zu beobachten, den Vögeln zuzuhören, das Frühlingserwachen in sich aufzunehmen, tief durchzuatmen, sich gedankenlos einfach mit der Natur verbunden zu fühlen, empfand sie sehr beglückend „Ist das herrlich!!“, rief sie. Ihr war, als ob der Kopf lüftete. Seine Türen und Fenster standen offen. Frische Luft strömte herein und angestaute, düstere Gedankenwolken verzogen sich. Dass sie mit dem Psychotherapeuten über ihre im Alltag erlebten Ängste, Gefühle und sorgenvollen Gedanken dann doch nach und nach reden konnte, wirkte entlastend. „Wissen Sie, Herr Doktor, mein größter Wunsch war es, dauerhaft eine harmonische Familie zu haben, denn ich habe unter den chaotischen Erfahrungen in meinem Elternhaus sehr gelitten. Also wollte ich es besser machen als meine Mutter. Und jetzt sieht es so aus, als ob ich vor der zweiten Scheidung stehe und sich ihr Schicksal in meinem Leben wiederholt. Das macht mich zutiefst traurig. Meine Tochter wird 14 und mein Sohn 11 Jahre alt. Wie sollen die Kinder das verkraften?“ „Ich verstehe Ihren Wunsch nach harmonischer Beziehung. Doch manchmal gehen Ehen auseinander, weil die Partner zu unterschiedliche Ansichten und Vorstellungen vom Leben haben, die nicht zueinander passen. Unter solchen Umständen, selbst leidend, eine Ehe der Kinder wegen aufrechtzuerhalten, ist für keinen der Beteiligten gut. Es ist nicht verwunderlich, dass Sie bei Ihrem krampfhaften Versuch, die Ehe retten zu wollen, ihre Kräfte und Lebensfreude verlieren.“ Der Mann brachte auf den Punkt, was Christa, andauernd grübelnd, nicht wahrhaben wollte und wovor sie sich drückte. Sie kam für sich zu dem Schluss: „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“ ‚Ich kann diese Beziehung, in der ich mich nicht mehr wohlfühle, nicht länger aufrechterhalten.‘ Das gestand sie sich nun ein. ‚Das geht über meine Kräfte. Ich will nicht eines Tages am Boden liegen. Das dient niemandem.‘ Sie überlegte, ob es nicht besser wäre, wenn sie den Sohn beim Vater ließe. Die Verantwortung für beide Kinder zu tragen, dazu fühlte sie sich nicht stark genug. Auch wusste sie, dass Mario im Falle einer Scheidung seinen Sohn behalten wollte. Sie würde den Jungen unendlich vermissen. Beim Gedanken an Trennung stach es in ihrem Herzen. Christa wollte auf keinen Fall, dass sie sich um den Jungen stritten. Sein Vater würde verantwortungsvoll für Daniel sorgen, dessen war sie sich sicher. Beide verbanden auch gemeinsame Hobbys, wie Radfahren, Fußball, Angeln, und sie verstanden sich sehr gut. Bei seinem Vati wäre Daniel bestens aufgehoben und bekäme von ihm starken Rückenhalt, der in ihrem Leben fehlte ‚Ich wäre ja nicht aus der Welt. Wir können weiterhin Kontakt miteinander haben‘, versuchte sich die Mutter zu trösten. Als sie dem Therapeuten in der nächsten Sitzung sagte, wie traurig sie der Gedanke macht, Daniel bei seinem Vater zu lassen und an seiner Entwicklung nicht mehr so teilhaben zu können wie bisher, versicherte er ihr: „All die Liebe, die Sie dem Jungen geschenkt haben, bleibt in ihm und wird ihn auf seinem Weg begleiten.“ Nach drei Wochen verließ Christa die Klinik ausgeruht, gestärkt und mit geistiger Klarheit, die ihr half, die Scheidung zu beantragen. Den Kindern sagte sie schweren Herzens, dass sie sich von Mario trennt, weil sie nicht mehr glücklich mit ihm sein kann und wie leid ihr das tut. Später wusste sie nicht mehr, was sie ihnen genau gesagt hatte, als hätte eine andere aus ihr gesprochen. Es war so schmerzlich, diese beiden unschuldigen Kinder vor sich zu sehen und ihnen dies mitzuteilen. Aber sie konnte nicht anders. Es beschäftigte sie auch, wie Marios Eltern die Trennung aufnehmen würden. Beide achteten Christa. Es war eine herzliche Beziehung. Von seiner Mutter bekam sie Aufmerksamkeit und hilfreiche Hinweise auf eine sie bestärkende Art, wie sie es bei ihrer Mutter nicht erfahren hatte. Und nun würde sie diese lieben Menschen enttäuschen. Damit die Scheidung vom Gericht ausgesprochen werden konnte, musste das Paar ein Trennungsjahr vorweisen. Das war eine für sie nicht realisierbare Forderung. Freie Wohnungen gab es nicht. Als klar war, dass Mario mit Daniel das Wohnrecht zugesprochen wird, weil nur der Ehemann als Mieter im Mietvertrag stand, beantragte Christa bei der Wohnungsgenossenschaft eine Zweiraumwohnung. Sie fühlte sich klein und unterlegen. Ihr Mann zeigte sich als der Stärkere, der Klügere. Er hatte einmal zu ihr gesagt: „Christa, du bist zwar nicht dumm. Aber ich habe die besseren Argumente. Du weißt ja nicht, was du willst.“ Ihr starkes Bedürfnis nach einer gefühlvollen Beziehung in Liebe und nach geistigem Austausch auf Augenhöhe über alles, was beide bewegt, und nach tiefer Vertrautheit, in der sie sich geborgen fühlen konnte, blieb unerfüllt. Das war kein so messbares Ziel wie ein Eigenheim. Aber es rief in ihr nach Erfüllung. Unbewusst hing sie auch noch der Vorstellung an, der Partner könne sie glücklich machen, ihr die Liebe geben, die sie im Elternhaus vermisst hatte. Dass dies eine Illusion ist und sie für die Erfüllung ihrer Bedürfnisse und ihr Glücklich-Sein selbst zuständig ist, wird Christa erst etliche Jahre später durch neue Einsichten erkennen, verstehen und lernen, es umzusetzen. Am Ende ihrer Ehe fragte sich Christa: ‚Ist diese Welt so eingerichtet, dass es immer Stärkere und Schwächere geben muss und sich die sogenannten Schwachen anpassen müssen? Wieso glauben überhaupt manche, immer recht zu haben? Was ist dumm, was klug? Was ist richtig, was falsch?‘ Wenn sie doch mit jemandem über ihre Fragen, Zweifel und Gedanken hätte reden können. ‚Wo sind die Antworten zu finden?‘ Um sie herum hatten die meisten Menschen reichlich mit einschneidenden Veränderungen ihres Lebens zu tun. Sich dem kapitalistischen System anzupassen, für möglichst wenig Geld viele neue Sachen anzuschaffen, billig Urlaub im Ausland zu machen und sich um ihre Zukunft zu sorgen, waren nun ihre Lebensinhalte. Es war wichtig geworden, zu trainieren, wie man sich am besten an Arbeitgeber verkaufte und alles Erdenkliche für seine Qualifizierung und Flexibilität unternahm, um denen hinterherzustreben, die mehr hatten, nachzuholen, was man glaubte versäumt zu haben. Viele kämpften um ihre Existenz. Sie waren dermaßen voller Angst und verunsichert, wie es weitergehen sollte, dass sie sich auf Versprechungen von Versicherungen und unseriösen Firmenvertretern, die diese Lage ausnutzten, einließen. Die Stimmung in der Bevölkerung war angespannt. In dem Trennungsjahr teilte sich Mario mit Daniel das größere und Christa mit Doren das kleinere Zimmer. Irgendwie bekamen sie es hin, diese sehr anstrengende Phase und die Scheidungsverhandlung, in der am Ende vom Gericht die Ehe als gescheitert anerkannt wurde, zu überstehen. Als Christa dann immer noch keine Wohnung zugewiesen bekam, lief sie der zuständigen Sachbearbeiterin in der Wohnungsgenossenschaft die Türe ein, schilderte ihre unerträgliche Situation und bat händeringend um Hilfe. Vier Monate später bekamen Mutter und Tochter eine Zweiraumwohnung mit kleiner Einbauküche und winzigem Bad. Christa und Mario hatten sich im Guten geeinigt. Ihm war das alleinige Sorgerecht für den Sohn vom Gericht zugesprochen worden. Unausgesprochen lebte jedoch in beiden die Hoffnung, dass sie vielleicht nach einer gewissen Zeit der Besinnung und des Abstandes wieder zueinander finden könnten. Auch nach der Scheidung sagte Mario zu Christa, dass er sie liebt. Ihr zuliebe hatte er in diese Scheidung eingewilligt. Er half ihr beim Malern und Tapezieren, Anbringen von Lampen und Aufstellen der Möbel. Die Situation zwischen ihnen entspannte sich. Christa lud Daniel jede zweite Woche zu sich ein. Er meldete sich nie von alleine. In dem zwölfjährigen Jungen war eine Verwandlung vorgegangen. Er begegnete seiner Mutter zwar höflich, freundlich, aber distanziert, obwohl sie vorher ein liebevolles Verhältnis verbunden hatte. Es war schwer für ihn, mit den sehr veränderten Umständen zurechtzukommen. Er vergrub seinen Schmerz in sich und baute Stärke auf, die mit einer Entfremdung von der Mutter einherging. Das war verständlich. Doch im Herzen tat es beiden weh und hinterließ eine Wunde. Im Stillen trug es jeder für sich. Sie konnten nicht darüber reden. Dennoch gelang es ihnen bei ihren Treffen, locker miteinander umzugehen und Freude dabei zu haben. Doren schien mit den geteilten Haushalten gut zurechtzukommen. Nun hatte sie die Mutti und ein Zimmer für sich alleine. Doch beide konnten nicht über ihre Gedanken und Gefühle ihrer schmerzlichen Erfahrungen sprechen, die ihnen innerlich zu schaffen machten. Nach einer Weile zog es Christa wieder zu Mario hin. Er war offen dafür. Sie unternahmen gemeinsam etwas und unterhielten sich an manchen Abenden angeregt bei Musik und Wein. Endlich hörte Mario ihr zu. Und dann kamen sie sich auch körperlich näher. Christa hoffte auf einen Neuanfang und gab sich der Freude hin. Daniel wünschte, dass sie als Familie wieder zusammenkämen. Doren misstraute diesen Versuchen. Sie war froh, dass die Eltern klare Verhältnisse geschaffen hatten. Christas Grübeleien drehten Endlosschleifen, bis etwas in ihr sagte: „Hör auf! Lass es sein! Es ist besser, bei der Ent-Scheidung zu bleiben.“ Christa und Mario trafen sich nicht mehr. Mit ihrer großen Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit trieb es die sich alleine Fühlende nachts an den Spiegel, sich in ihrer Phantasiewelt verlierend. Stundenlang drückte sie auf selbstzerstörerische Weise aus ihrer Gesichtshaut heraus, wofür sie keinen anderen Ausdruck fand. Erst als körperliche Schmerzen zu ihr vordrangen und sie ihr Gesicht im Spiegel wieder wahrnahm, hörte sie auf. Entsetzt, todtraurig und erschöpft legte sie sich mit Kühlakkus auf dem Gesicht schlafen. Nur mit Kaltduschen und einer dicken Schicht Make-up schaffte sie es, über den Tag zu kommen. Nach der Arbeit fiel sie kraftlos ins Bett. Ein neuer Dienststellenleiter nahm die Arbeit auf, ein strebsamer Mann aus dem Westen. Computer wurden installiert, alle Mitarbeiter geschult, um die Geräte mit den Daten tausender Menschen zu füttern. Doch dieser enorme Arbeitsaufwand brachte keine Zeitersparnis, keine Erleichterung, im Gegenteil. Sie hantierten nun mit Eintragungen aus den alten Klappkarten, die in den Computer übertragen werden mussten. Der Arbeitsaufwand verdoppelte sich bei laufendem Betrieb. Die im Flur wartenden Menschen verstanden nicht, warum es so lange dauerte, bis sie endlich drankamen. Christa konnte mit dem geforderten Tempo nicht Schritt halten. Doch ihren Kolleginnen in der Anmeldung gelang es: „Ihre Nummer! Setzen! Was gibt’s?“ … „Können Sie dem Vermittler erzählen.“ … Nächste Nummer aufrufen. Und so landeten Aufgaben bei den Arbeitsvermittlern, die in der Anmeldung erledigt werden sollten. Christa konnte so nicht arbeiten. Vor ihr saßen Menschen, denen es schwerfiel, sich mit der Entlassung und Arbeitskraftvermarktung abzufinden. Viele mussten weit fahren, um ihre „Meldepflicht“ zu erfüllen und an Bildungsmaßnahmen teilnehmen, deren Sinn sie nicht verstanden. Die Krankmeldungen häuften sich. Christa hing wieder im Spagat zwischen Herz und Verstand. Es gelang ihr nicht, so viel zu schaffen wie ihre Kolleginnen. Das konnte der Chef nicht dulden. Sie erhielt vom Direktor der Hauptstelle eine Abmahnung: „… Im Rahmen der Wahrnehmung der Ihnen übertragenen Aufgaben zeigen Sie bei hoher Besucherfrequenz Schwächen in Ihrem Arbeitstempo. Aufgrund der bestehenden Belastungssituation ist der Leistungsabfall seit … auch im Interesse der anderen Mitarbeiter nicht zu akzeptieren. Bemühen Sie sich daher, dass Ihre Arbeitsleistungen künftig keinen Anlass mehr zu Beanstandungen geben. Andernfalls müssen Sie mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen rechnen. Mit freundlichen Grüßen.“ Für Christa, die ihre Arbeit liebte, war das ein harter Schlag. In einem Bereich, in dem es um Hilfe für arbeitssuchende Menschen ging, wurde sie gezwungen, Fließbandarbeit zu leisten, wenn sie diesen Platz behalten wollte. Nun stand sie vor der Wahl den Arbeitsstil ihrer Kolleginnen zu übernehmen oder ihren Platz für eine schnellere Arbeitskraft zu räumen ‚Sollte ich freiwillig in die Arbeitslosigkeit gehen mit einer Beurteilung, in der steht, dass ich den Anforderungen nicht genüge?‘, fragte sich Christa. ‚Um meine 15-jährige Tochter und mich zu versorgen und den Unterhalt für Daniel zahlen zu können, muss ich unter allen Umständen die Stelle behalten!‘, trieb sie sich an. Der Amtsleiter gab ihr im Gespräch unter vier Augen den dringenden Rat: „Frau Heuer, passen Sie sich an!“ Christa kämpfte vergebens gegen ihre empfindsame Natur, um ihren Arbeitsplatz zu erhalten. Auf Dauer war das so nicht durchzuhalten. Ihr Feingefühl gehörte doch zu ihrem Wesen ‚Wieso passe ich mit meiner Natur nicht in dieses Gesellschaftssystem?‘, fragte sie sich zutiefst traurig. Die Nervenärztin verschrieb ihr stimmungsaufhellende Mittel und Schlaftabletten und riet dringend zu einer psychosomatischen Rehabilitationsmaßnahme. Den Antrag bekam Christa gleich mit. Die Aussicht, ein paar Wochen aus dieser Mühle herauszukommen, betreut, versorgt und behandelt zu werden, gab ihr neuen Auftrieb. Sie beeilte sich, den umfangreichen Antrag schnell einzureichen. Einmal Himmel und zurück. Ein Jahr nach der Scheidung sehnte sich Christa sehr nach Zweisamkeit und antwortete auf eine Annonce. An einem Samstagnachmittag, Ende August, klingelte es an ihrer Wohnungstür. Als sie öffnete, sah sie ein großer, schlanker Mann freundlich an. Er stellte sich als Holger Buch vor, entschuldigte sich für sein unangemeldetes Kommen und lud sie zum Kaffeetrinken ein. „Haben Sie jetzt Zeit und Lust?“ Sie fuhren auf die Insel Usedom, saßen gemütlich auf der Terrasse eines Cafés und aßen genüsslich Apfelstrudel mit Vanillesoße, tranken Kaffee und unterhielten sich sehr offen. Holger erzählte von seinen Interessen und dass er geschieden ist. Die Frau konnte seine Gefühle nicht mehr erwidern und fühlte sich zu einem anderen Mann hingezogen. Er hatte danach eine Weile sehr gelitten. Doch nun sei er über die Trennung hinweggekommen und sehnte sich nach vertrauensvollem, herzlichem Miteinander, tiefer, körperlicher Verbundenheit mit einer unternehmungsfreudigen Frau, die sich zu ihm hingezogen fühlt „Für mich ist das Herz entscheidend“, sagte er lächelnd. Während die beiden durch den Wald spazierten und auch Christa von sich und ihren Erfahrungen erzählte, funkte es zwischen ihnen. Hand in Hand zu gehen, Nähe, Herzenswärme zu spüren, fühlte sich für beide so vertraut an, als würden sie sich schon lange kennen. Eine unwiderstehliche, mächtige Energie zog sie so stark zu einander, dass sie ihrem brennenden Verlangen, einander intensiv zu spüren, beglückend nachgaben. Der Verstand war ausgeschaltet. Die Gefühle triumphierten, explodierten. Christa und Holger entflammten für einander und freuten sich immer auf ihre neuen Begegnungen, schöpften aus einem erfrischenden Jungbrunnen. Doren freute sich über das neue Glück ihrer Mutter, die sie lange nicht mehr so strahlend gesehen hatte. Doch sie blieb dem Mann gegenüber auf Distanz. Sie hatte ihren Freundeskreis. Fast jedes Wochenende war Disko angesagt. Christa erlaubte ihr, Freunde mit nach Hause zu bringen. So wusste sie, mit wem die Tochter zusammen war. Holger beschenkte seine Freundin sehr gerne. Als er ihren wenig gefüllten Kleiderschrank sah, lud er sie zum Einkaufen ein und half ihr bei der Auswahl. Christa war es nicht gewohnt, dass ein Mann Kleidung für sie aussuchte. Doch es gefiel ihr sehr „Du bist eine attraktive Frau, hast schöne Beine. Zeig doch deine Weiblichkeit!“, ermutigte er sie. Christa erblühte und trat selbstbewusster auf. In Holgers Augen sah sie sich auf eine wundervolle Weise als eine schöne Frau wahrgenommen und fühlte sich von seinen liebevollen Blicken gestreichelt. Holger sah in ihr einen liebenswerten Menschen und eine begehrenswerte Frau. Christa scheute sich zuerst, seine großzügigen Geschenke anzunehmen, überwand es jedoch schnell, denn es kam von Herzen. „Es macht mir große Freude, dich zu verwöhnen“, sagte er. „Du bist so dankbar.“ Eines Tages überraschte er Christa mit dem Vorschlag, nach Mallorca zu fliegen. „Würde dir das gefallen?“ „Fliegen! Wow! Ich bin noch nie geflogen.“ „Ich auch nicht“, gestand er ihr. „Hurra, wir fliegen!“ Sie freute sich wie ein kleines Kind. „Holger, gibt es da auch Orte, an denen kein Massentourismus herrscht? Ich möchte die Schönheit der Landschaft genießen.“ „Mir geht es genauso. Schau, ich habe eine Landkarte und einen Katalog mitgebracht und auch schon etwas Passendes für uns entdeckt.“ Christa liebte das Abenteuerliche, die Aufregung. ‚Wie wird es sein? Wie werde ich mich fühlen? Was werde ich an Neuem erleben?‘ Sie konnte ihr Glück kaum fassen! ‚Erlebe ich das jetzt wirklich, oder träume ich?‘, fragte sie sich, manchmal ihr Glück kaum fassend. Als sie auf dem Flugplatz Tegel wahrhaftig in den Flieger stiegen, lösten sich alle Zweifel auf. Das Flugzeug rollte immer schneller. Christa war sehr aufgeregt. Beim Aufstieg der Maschine liefen ihr Freudentränen. Ein unbändiges Glücksgefühl durchrieselte ihren Körper. Es war nicht das Flugzeug, das sie durch die Luft trug. Christa selbst schwebte dem Himmel entgegen. Sie saß am Fenster, genoss die Vogelperspektive und berichtete Holger, der sehr schweigsam geworden war, was sie sah „Badeschaum-Wolken! Das musst du sehen, Holger!“ Sie tauschte mit ihm den Platz, damit er die wundervolle Aussicht mit der Kamera einfangen konnte. Es wurden phantastische Aufnahmen, wie sie später sehen konnten. Es wurde ein sehr erholsamer Urlaub mit viel Freude und Berührungen. Während Christa morgens länger schlief – ihr Körper brauchte diese Ruhephasen dringend –, war Holger bereits am Strand, um den Sonnenaufgang zu bewundern und zu filmen. Mit einem Mietauto erkundeten sie die Insel, hielten oft auf Anhöhen, um Olivenbäume zu berühren, die schöne Landschaft zu bestaunen, sich an Felswände zu lehnen, die saubere Luft bewusst zu atmen und ihr Glück miteinander zu teilen. Er wünschte sich, dass sie gemeinsam ein Haus bauten und entwarf schon Pläne. Sie sahen sich Musterhäuser an, schwärmten und träumten. Obwohl sich die Vorstellung, mit ihm ein gemeinsames, neues Zuhause zu bauen, für Christa gut anfühlte, kamen ihr Bedenken. Es ging alles zu schnell. Der Verstand erinnerte sie daran, dass immer, wenn sie in ihrer Vergangenheit mal besonders glücklich war, bald alles wie ein Kartenhaus einstürzte ‚Vielleicht gibt es die dauerhafte Liebe gar nicht‘, zweifelte Christa. ‚Mutter hat mit den Männern immer Enttäuschungen erlebt, nachdem es am Anfang bestimmt auch schön war. Wenn es mir nun genauso geht? Vielleicht ist es mir nicht gegeben, dauerhaft eine Liebesbeziehung haben zu dürfen. Dieses Unternehmen ist mir zu groß und zu unsicher‘, dachte sie ängstlich „Lass dich besser nicht darauf ein!“, mahnte ihr Verstand „Doch, bitte mach’ es!“, bat ihr Herz. „Du wirst Freude dabei haben.“ Nun kamen positive, ermutigende Gedanken angeflogen: ‚Ich habe mich lange nicht so lebendig gefühlt. Ich bin aufgeblüht, fühle mich wieder gesund. Mein Gesicht erholt sich, weil ich es nicht mehr verletze. Ich fühle mich schön, fraulich, bin glücklich. Holger ist wunderbar in seiner ganzen Art und seine Eltern sind es auch. Wir können es gemeinsam schaffen …‘ „Jetzt ist nicht der passende Zeitpunkt für einen Hausbau! Überlege es dir gründlich“, würgte der Verstand die Schwärmerei ab ‚Ja, ich muss Vernunft walten lassen. Es geht hier nicht alleine um mich, sondern auch um Doren‘, besann sich Christa. Mit 16 Jahren hatte die Tochter einiges an Veränderungen in ihrer pubertären Phase zu verkraften. Sie litt unter Gefühlsschwankungen, Unsicherheiten und Ängsten, die sie vor ihrer Mutter verbarg. Ein Hausbau mit Holger bedeutete Umzug in eine andere Stadt. Doren müsste die Schule wechseln, sich von ihrer Clique trennen, und das mitten in der Abiturzeit. Sie würde ihren Vater und den Bruder kaum noch sehen. Das konnte Christa ihr nach der Trennung der Familie nicht zumuten. Sie fürchtete, wenn sie jetzt ihr Glück mit Holger aufbaute, dass Doren darunter leiden würde und sie als Mutter schon wieder versagte. Da es ihr nicht gelungen war, den Kindern die Familie zu erhalten, fühlte sie sich schuldig und kam zu dem Schluss, ihre Liebesbeziehung aufgeben zu müssen: ‚Ich beende sie lieber sofort, bevor das Ganze zu Problemen führt, mit denen ich nicht umgehen kann.‘ Das tat höllisch weh! Sie ertränkte ihre Liebe für Holger und ihre Herzenswünsche in einer Flut heißer Tränen. Danach zwang sie sich zu einer Härte, die sie bisher nur von ihrer Mutter kannte. Nie wollte sie so werden! Aber jetzt erfuhr Christa, wie auch sie in scheinbar ausweglosen Situationen zu extrem lieblosem Verhalten fähig war, wenn ihre Angst vorherrschte, sie nicht weiterwusste, und sie mit ihren starken Gefühlen nicht umgehen konnte. Die Möglichkeit, mit Doren und Holger verständnisvoll über alles zu sprechen, kam ihr gar nicht in den Sinn. Sie hatte nicht gelernt, wie man gemeinsam Schwierigkeiten meistern und Lösungen finden kann, die für alle Beteiligten annehmbar sind. Ihre Mutter hatte immer alles rigoros entschieden, ohne mit den Kindern darüber zu sprechen. Christa wusste sich nicht anders zu helfen, als ihr Herz für diesen wunderbaren Mann mit aller Kraft zu verschließen. Als sie Holger gegenüber ihre Beziehung als beendet erklärte, wurde er kreidebleich und brach in Tränen aus. Während er seinem Schmerz freien Lauf ließ, wandte sie sich ab und unterdrückte ihre wahren Gefühle. Sie musste diese kaum auszuhaltenden, schmerzvollen Empfindungen vereisen. Ihre im Unterbewusstsein sitzende Ansicht, die Christa aufgrund früherer Erfahrungen gebildet hatte, lautete: ‚Wenn ich mich der Liebe hingebe, ist das Leid schon vorprogrammiert. Davor muss ich mich bewahren.‘ Mit dieser starken Überzeugung stand sie ihrem Liebesglück selbst im Weg, da sie es nicht anders kannte. Weil Christa ihre natürlichen Gefühle und Herzenswünsche unterdrückte und mit sich, Doren und Holger in ihrer inneren Bedrängnis nicht liebevoll umgehen konnte, fiel sie wieder in die selbstzerstörerische Handlung zurück. Unbändige Sehnsucht nach Hilfe bohrte in ihr. Wieder auf der Erde. Doren forderte die Aufmerksamkeit ihrer Mutter. Die Auseinandersetzungen in ihrer Abiturklasse nervten sie sehr. Und natürlich waren auch Jungen ein Thema und Dorens berufliche Zukunft. Sie zeigte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Es ärgerte sie unter anderem, wenn Schüler herablassend behandelt wurden, nur weil sie keine Markenklamotten trugen. Sie litt selbst darunter „Mutti, wenn ich diese Billigturnschuhe trage, werde ich ausgelacht!“, hatte Christa von ihr zu hören bekommen und konnte es nicht glauben. „Was? Der Wert eines Menschen wird danach bemessen, was er für Turnschuhe trägt?! Wo sind wir hingeraten?!“ „Ja. Das ist unbegreiflich“, entgegnete Doren. „Läuft aber so. Ich sage ihnen meine Meinung, auch wenn sie mich belächeln.“ Als Klassensprecherin setzte sie sich für die Schüler ein, die von anderen beiseite gedrängt wurden. Am meisten litt Doren jedoch unter den Absagen auf alle Bewerbungen. Einmal beschallte sie das Haus so laut mit ihrer Musik, dass Christa es nicht aushielt. Als ihr Klopfen ungehört blieb, öffnete sie die Tür. „Stell das bitte leiser!“ Doren saß im Schneidersitz auf ihrem Bett und blätterte in einer „Bravo“-Zeitschrift. „Hei, Mutti! Das ist mein Zimmer!“ „Das gibt dir aber nicht das Recht, solchen Krach zu veranstalten. Du wohnst hier nicht alleine. Was ist denn los? Was ärgert dich denn so?“ Doren nuschelte etwas. „Wie bitte? Stell doch bitte den Recorder leiser!“ Der Gesang von Michael Jackson erstarb. Doren überreichte ihrer Mutter einen A4-Umschlag. „Wieder eine Absage?“ „Es ist ja erst die Zwanzigste!“, antwortete Doren verbittert und griff wieder nach ihrer Zeitschrift, um nicht auszurasten. Es war eine zermürbende Situation. In den sechs Jahren seit dem Übergang in das kapitalistische System war es für die Jugendlichen in den „neuen Bundesländern“ viel schwieriger geworden, Studienplätze oder Ausbildungsstellen zu bekommen. In Mecklenburg-Vorpommern war es fast aussichtslos. Sie mussten sich bundesweit bewerben. Christa hatte Doren beim Schreiben der Bewerbungen geholfen, sie getröstet, wenn Absagen kamen und ermutigt, nicht an sich zu zweifeln und weiterzusuchen. Wie konnte sie ihr noch helfen? Dorens Schluchzen riss sie aus ihren Gedanken. Dicke Tränen knallten auf die Zeitschrift. Christa setzte sich neben Doren und legte ihr den Arm um die Schulter. „Ich verstehe dich. Das kann einen entmutigen.“ „Nichts verstehst du!“, presste Doren weinend hervor, entzog sich der Umarmung, holte ein Taschentuch und schnäuzte kräftig. „Doren, ich möchte dir doch helfen.“ „Mir ist nicht zu helfen. Ich bin eben zu blöd.“ „Das ist nicht wahr!“ „Ich lerne wie eine Bekloppte. Ich schlafe kaum noch. Wofür quäle ich mich so? Wozu muss ich dieses Scheiß-Abitur überhaupt machen?“ „Du musst gar nicht, Doren. Du wolltest studieren.“ Doren knebelte das Taschentuch und sah ihre Mutter herausfordernd an. „Wer hat mir denn zugeredet: Mit Abitur hast du größere Chancen auf dem Arbeitsmarkt! Jetzt siehst du, dass es nicht stimmt. Ich erfahre nicht mal den Grund der Ablehnung. Das ist missachtend und unfair. Wonach wählen die überhaupt aus?“ Christa empfahl ihr, dennoch wieder bei der Berufsberatung im Arbeitsamt vorzusprechen. „Mutti! Du willst mich wohl nicht verstehen? Ich habe diesen Stress satt! Was soll diese ganze Scheiße? Ich will auf eigenen Füßen stehen und Geld ver…“ Das Telefon klingelte. Doren rannte ins Wohnzimmer „Hei, Stefan! Prima, dass du anrufst!“, hörte Christa ihre Tochter fast fröhlich sagen … „Na ja, nicht so gut. Erzähl, was gibt es Neues?“ … „Moment. Ich frag mal meine Mutter.“ Sie legte den Hörer beiseite „Mutti, bei Alex ist heute Geburtstagsparty. Meine Freunde gehen alle hin. Darf ich auch?“ Ihre Augen leuchteten erwartungsvoll „Wenn’s nicht so spät wird“, antwortete Christa. Doren nahm den Hörer wieder auf. „Okay, Stefan. Wann geht’s los?“ … „Bis dann. Ich dich auch“, hauchte sie in den Hörer und strahlte. „Danke, Mutti. O Gott, was ziehe ich bloß an?“ Christa lag es fern, Doren zu drängen, das Abitur abzulegen. Sie liebte ihre Tochter, traute ihr zu, dass sie ihr Leben meistern würde, und sagte es ihr auch. Doch sie hatte ihr auch zu bedenken gegeben, dass nun mal in dieser Gesellschaft der Hochschulreife eine große Bedeutung zugemessen wird, um auf eine besser bezahlte Stelle zu kommen. Aber Doren hatte auch noch keine Vorstellung davon, welchen Beruf sie ergreifen wollte. Was sie mit Sicherheit nicht wollte, hatte sie deutlich verkündet: „Ich gehe in keine Verwaltung. Ich will nicht wie du zwischen Akten versauern!“ Das Harmoniebedürfnis ihrer Mutter wirkte auf Doren wie ein rotes Tuch. Sie musste immer mal dagegen anstürmen. Das belebte ihre Beziehung und forderte Christa heraus. Die wollte einfach nur, dass Doren ihre Jugend freudvoll erleben und sich so frei wie möglich entwickeln konnte. Das hatte sie selbst leider nur sehr eingeschränkt erfahren dürfen. Christa wollte ihre Tochter nicht bevormunden. Doch diese vermisste gewisse Grenzen „Ich will dich nicht als Freundin. Ich will dich als Mutter!“, forderte sie einmal. Wie Christa mit ihren Erfahrungen aus dem Leben mit ihrer Mutter nun ihrer 17-jährigen Tochter die Mutter sein konnte, die Doren brauchte, wusste Christa nicht. Sie machte es so gut, wie es ihr möglich war. In der Arbeit wehte ein rauer Wind. Jeder schien jeden zu beobachten. Man musste stur und flott Dienst nach Anweisung tun. Nach mehreren Unterredungen, zu denen der Chef die Kollegen einzeln hatte rufen lassen, entstand der Eindruck, dass er Misstrauen unter den Mitarbeitern aussäte, um die Konkurrenz untereinander anzustacheln. So wuchs ein Klima der Angst. Nach ihrer Abmahnung hatte sich Christa so bewährt, dass ihr Chef nun mit ihr zufrieden war. Um genauso schnell zu sein, wie ihre Kolleginnen, ließen sich Fehler nicht vermeiden. Aber darauf kam es ja nicht an. Nur Schnelligkeit und die Statistik zählten. Als der Chef sie fragte, wie ihre Kolleginnen arbeiteten, sagte sie ehrlich, wie es zuging. Eines Tages drehte sich der Wind. Der Chef hielt sich öfters in den verschiedenen Büros auf, um sich selbst einen Eindruck zu verschaffen. Es kam vor, dass er Christas Umgang mit den Besuchern lobte. Auf einmal führte er Schulungen durch, wie die Mitarbeiter mit den Arbeitssuchenden umgehen sollten. Er bot Christa ein anspruchsvolleres Aufgabengebiet an. Nach einer gewissen Einarbeitung würde er jedoch Höchstleistungen von ihr erwarten. Sollte sie diese nicht erbringen, müsste sie auf ihren alten Posten zurück. Der Dienststellenleiter nahm sie mit in Betriebe, in denen sie künftig prüfen sollte, wie die festgelegten Rahmenbedingungen für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) eingehalten wurden. Christa freute sich, nun wieder im Außendienst unterwegs zu sein, und fühlte sich selbstständiger. Ehrgeizig kniete sie sich in die neuen Aufgaben, studierte Verordnungen und lernte, ABM-Anträge auf Genauigkeit im Einsatz finanzieller Mittel zu prüfen. Am liebsten war sie jedoch bei den Menschen in den Betrieben, um sich ein Bild von der Praxis zu machen und mit den zuständigen Leitern zu sprechen. Mit dem Prüfen der vielen Antragsformulare und Durchrechnen der beantragten Mittel geriet sie jedoch zunehmend unter Zeitdruck. Das war nicht ihr Ding. Ihre Stärke lag im Umgang mit Menschen. Sie musste etliche Überstunden leisten, um einigermaßen die geforderten Termine einzuhalten. Die umfangreiche Aufgabe wuchs ihr über den Kopf. Bauchschmerzen und Schwindelgefühle folgten aus ihrer Überanstrengung. Doch sie zwang sich zum Durchhalten und kämpfte. Auf keinen Fall wollte sie sich die Blöße geben zu versagen. Doren kam freudestrahlend nach Hause und verkündete stolz: „Mutti, ich habe alle Abitur-Prüfungen bestanden! Ich hab’s geschafft! Juchhu!“ Dabei sprang die Glückliche fast an die Decke und umarmte ihre Mutter überschwänglich. Als ihr Freund kam, stießen sie mit Sekt an. Auch er hatte das Abitur geschafft. Ein paar Tage später erhielt Doren die Zusage für einen Ausbildungsplatz. Ihr Glück war nun perfekt. Die Aussicht, nach Bayern zu ziehen, gefiel ihr sehr, denn auch ihr Freund würde dort studieren ‚Dann liegen 900 km zwischen uns!‘, dachte Christa erschrocken. Diese Entfernung zeigte eine sehr deutliche Trennung an. Nun würde sie ihre Tochter in den nächsten Jahren kaum sehen. Diese Vorstellung schmerzte. Mit den Vorbereitungen des Umzugs beschäftigt, ließ Christa von Tag zu Tag die Tochter mehr los. Doch es kam für die Mutter noch härter. Als sie eines Abends mit dem Sohn nach einem Kinobesuch nach Hause ging, begann Daniel zögerlich: „Mutti, ich muss dir etwas sagen.“ Es fiel ihm nicht leicht, ihr die traurige Nachricht zu überbringen. „Worum geht es denn? Du kannst mir alles sagen.“ „Es hängt mit Vatis Arbeit zusammen. Er wechselt den Arbeitsort. Wir ziehen um.“ Er ließ eine Pause entstehen. „Wohin denn und wann?“ „Nach Stuttgart. Vater hat dort mit seiner Freundin ein Haus gemietet. In vier Monaten wollen wir dort einziehen.“ Den übrigen Weg gingen sie schweigend. Vor Christas Wohnung umarmte Daniel seine Mutti. Sie sah in dem 15-jährigen Sohn einen gefühlvollen, jungen Mann, der Halt bei seinem Vater gefunden hatte. Nun musste sie auch ihn loslassen ‚Schon so früh‘, dachte sie, traurig im Bett liegend. ‚Der Sinn meines Lebens, die Familie, löst sich auf. Ab Dezember bin ich ganz alleine. Was soll ich denn dann mit mir anfangen? Nur noch arbeiten gehen, um irgendwie weiterzuleben? Wofür?‘ Ein Tränenfluss tränkte ihr Kissen. Sie versank in Schuldgefühlen, Selbstanklagen, Selbstmitleid. Wie ein kleines hilfloses Kind presste Christa ihren Teddy an sich, den ihr die Kinder geschenkt hatten. Mit weinerlicher Stimme bat sie: „Lieber Gott, wenn es dich gibt, dann hole mich in dein Reich. Hier braucht mich niemand mehr. Niemand liebt mich. Bitte lass’ mich ein Engel sein, der für die Menschen Gutes tut.“ Es war Christas erstes Gebet. Als sie am Morgen erwachte, war sie enttäuscht. Gott hatte ihre Bitte nicht erfüllt. ‚Gibt es denn einen Gott? Wenn ja, was hat es mit ihm auf sich?‘, wollte sie wissen. Eines Tages fiel Christas Blick im Buchladen auf das Taschenbuch: „Die Liebe – Psychologie eines Phänomens“ von Peter Lauster. Sie las, dass es dem Autor darum geht, beim Leser einen Erkenntnisprozess anzuregen, tiefer in diese Thematik einzusteigen, um Liebesfähigkeit neu entdecken und entfalten zu können. Über zwanzig Jahre hatte er sich intensiv mit Fragen zu diesem, die Menschheit bewegenden Thema beschäftigt und beobachtet, dass viele Menschen diesbezüglich gehemmt und verunsichert sind und nicht wissen, was mit Liebe vom Ursprung her gemeint ist ‚Ich bin also nicht die Einzige, die mit diesem Thema im Nebel steht‘, stellte Christa erleichtert fest und vertiefte sich in das Werk, um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Doch so manche Erklärung wird sich ihr erst über längere Zeiträume mit weiteren Erfahrungen und neuen Einsichten und Erkenntnissen schrittweise erschließen. An einem heißen Sommertag verabschiedete sich Doren mit einer herzlichen Umarmung von ihrer Mutter. Die Abenteuerlust auf ein neues, eigenes Leben strahlte aus den Augen des hübschen, jungen Mädchens. Mit vollen Segeln steuerte sie jetzt auf das Meer des Lebens hinaus. Christa kämpfte gegen ihre Tränen, versuchte zu lächeln „Alles Gute, liebe Doren.“ Mehr brachte sie nicht heraus „Ich rufe dich an, wenn wir angekommen sind, Mutti.“ Dann stieg sie in das Auto, in dem ihr Freund wartete. Seine Eltern brachten die beiden nach München. Zurück in der Wohnung, die sie nun für sich alleine hatte, kämpfte Christa gegen ihre Traurigkeit. ‚Jetzt bloß nicht schwach werden!‘, ermahnte sie sich und stellte das Radio an, lauter als sonst, räumte auf, spülte Geschirr „Und was jetzt? Raus hier!“ Sie packte ihre Badesachen, radelte zum Ostseestrand, stürzte sich in die Wellen und schwamm mit kräftigen Bewegungen hinaus, bis ihre Kräfte nachließen. Da kamen ihr verlockende Gedanken: ‚Wenn ich so lange schwimme, bis ich nicht mehr kann, mich dann einfach fallen lasse … Das wäre doch bestimmt erlösend. Würde es ganz schnell gehen? Bestimmt verliere ich die Besinnung und bekomme nichts mehr mit.‘ „Kehre um!“, vernahm sie eine Stimme in sich. Auf einmal spürte sie eine Kraft, die sie dazu brachte, auf der Stelle umzudrehen. Ihre Stimmung wechselte. Sie sog die salzige Luft tief ein, hörte das Kreischen der Möwen und schwamm der roten Abendsonne entgegen zurück ans Ufer. Danach ging sie ins Kino, ließ sich völlig von der Handlung des Filmes mitreißen, um ihren Gedanken zu entfliehen. Zu Hause hörte sie auf dem Anrufbeantworter Dorens Mitteilung. „Ich hab dich lieb, Mutti. Wir sind gut angekommen. Gute Nacht.“ Christa lächelte froh und konnte glücklicherweise sofort einschlafen. Der Tag des Abschieds war überstanden! Das Aufstehen am Sonntag fiel ihr schwer, die Stille war unerträglich. Da kam ihr plötzlich eine motivierende Idee. Doren musste ihr Jugendzimmer, das ihr Mutter gleich nach dem Einzug in diese Wohnung geschenkt hatte, zurücklassen. Jetzt verteilte Christa die Möbel anders im Raum. Sie hatte über drei Jahre im Wohnzimmer geschlafen. Jetzt diesen Raum für sich umzugestalten, machte ihr Freude. Sie würde sich noch Hängeregale für Bücher und Pflanzen und eine Lampe über dem Bett anbringen, um abends lesen zu können. Eben noch sehr zufrieden mit ihrem Werk, stieg plötzlich große Traurigkeit in ihr auf „Das alles nur für mich allein? Wie soll ich das aushalten? Was soll nun mein Lebensinhalt sein?“, fragte sie weinerlich. Ihr war, als ob sie an einem Abgrund steht. So hoffnungslos wie in diesem Moment hatte sie sich noch nie gefühlt, obwohl es schon viele traurige Augenblicke in ihren 40 Lebensjahren gegeben hatte. Je mehr sich Christa quälte, den Anforderungen in der Arbeit gerecht zu werden, umso schwächer wurde sie. Die Texte im Computer verschwammen ihr vor den Augen. Der Magen schmerzte. Die Konzentration ließ nach. Angst, wieder eine Abmahnung zu bekommen, und Angst vor der Zukunft nagten in ihr. Bei einer Magenspiegelung wurde eine chronisch aktive Gastritis festgestellt. Mit den Medikamenten, die helfen sollten, stellte sich auch noch Müdigkeit ein. Das Arbeiten wurde unmöglich. Christa blieb zu Hause, schlief viel, aß wenig, ließ sich vom Fernsehen berieseln und nahm rapide ab. Sie klammerte sich an die Hoffnung auf die bevorstehende Kur. Der Bescheid musste nach drei Monaten doch endlich eintreffen! In ihr stauten sich wieder ungute Gefühle der Enge, Schwere und Ohnmacht
An einem grauen, vernieselten Tag, als Christa schon am Morgen nichts mit sich anzufangen wusste, saß sie, an einem Brötchen kauend, auf dem Sofa. Im Fernseher lief ein Melodram. Die traurige Geschichte eines elfjährigen Mädchens, um das sich die getrennten Eltern stritten, ging Christa unter die Haut, riss in ihr eine Wunde auf, die nicht verheilt war. Damit ihr Sohn Daniel so etwas nicht erleben sollte, hatte sie ihn mit der Scheidung bei seinem Vater gelassen. Da war er auch elf Jahre alt gewesen. Es tat ihr damals im Herzen höllisch weh. Die für sie kaum auszuhaltenden Gefühle hatte sie mit Tabletten betäubt und sich immer wieder eingeredet, dass Daniel bei seinem Vater und dessen Familie im Rücken besser aufgehoben war. Als sie jetzt das leidende Mädchen in der Geschichte sah, wurde sie von einer gewaltigen Welle des Schmerzes, voll mit Schuld- und Trauergefühlen überwältigt. Tränenüberströmt, mit bebendem Körper trommelte sie mit den Fäusten auf das Sitzpolster wie in einem Alptraum gefangen, aus dem es kein Entrinnen gab „Ich kann nicht mehr! Ich will nicht mehr! Alles, was ich nicht wollte, ist eingetroffen. Ich bringe Menschen kein Glück. Das muss aufhören!“, jammerte sie. „Am besten, ich nehme jetzt alle gesammelten Schlaftabletten auf einmal. Aber wenn sie nicht reichen? … Ich brauche Hilfe!“ Weinend rief sie bei der Hausärztin an „Frau Doktor, bitte helfen Sie mir! Ich kann nicht mehr! Ich will. nicht mehr!“ Die Ärztin fragte mit ruhiger Stimme: „Frau Heuer, haben Sie Angst, sich etwas anzutun?“ „Ja.“ „Möchten Sie, dass ich Sie in eine Klinik einweise?“ „Ja.“ „Dann kommen in wenigen Minuten zwei Männer und bringen Sie in die Klinik. Dort wird ihnen geholfen.“ Wie ferngesteuert ging Christa ins Schlafzimmer, nahm einen kleinen Koffer aus dem Schrank, legte Wäschestücke, Waschzeug und ein Buch hinein. Die Körperpflege ignorierend, zog sie die Sachen vom Vortag an. Ohne dicke Schicht Make-up im Gesicht ging sie sonst nie aus dem Haus. Jetzt war ihr das rotfleckige Gesicht völlig egal. Es klingelte. Zwei Männer in weißen Kitteln standen vor der Türe. Einer fragte, ob sie Frau Heuer sei. Dann verließen sie wortlos mit ihr das Haus. Während der stummen Fahrt stierte sie teilnahmslos in die nasse, graue Welt. Tränen rollten über ihr Gesicht. Der Krankenwagen hielt vor einem alten Backsteingebäude zwischen hohen Fichten. Ausgetretene Stufen führten zur bemoosten Eingangstür. Trotz ihrer Benommenheit fiel ihr das auf, als ob sie sich einen Film ansah. Als hinter ihr die Tür ins Schloss knallte, schreckte sie herum. An der Tür fehlte die Klinke! Der schmale Gang war düster und von Lärm erfüllt. Ein Pfleger führte sie in einen türlosen Raum mit hohen, vergitterten Fenstern. Christa setzte sich auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch ‚Wo bin ich hier? Was wird hier gespielt? Das ist ja unheimlich!‘ Ihr kam es so vor, als wäre sie in die Handlung eines Edgar-Wallace-Filmes geraten. Hinter einer Glaswand lag jemand angeschnallt auf einem Tisch. Sie bekam Angst, stand auf, um den Raum zu verlassen. In dem Moment kam eine Schwester, setzte sich an den Schreibtisch und füllte gemäß Christas Angaben einen Fragebogen aus. Während des Frage-Antwort-Dialoges überlegte Christa, ob es sich hier um ein Irrenhaus handelte. Gab es denn so etwas noch? „Was ist das hier für eine Station?“, fragte sie die Schwester. „Die geschlossene Abteilung. Wieso wissen Sie das nicht, Frau Heuer? Sie haben sich doch selbst einweisen lassen.“ Die Frau sah Christa zweifelnd an und schob ihr den Anmeldebogen über den Tisch. „Unterschreiben Sie hier unten.“ Plötzlich, hell wach, läuteten in Christa Alarmglocken! ‚Ich bin am verkehrten Ort gelandet. Hier bekomme ich nicht die Hilfe, die ich brauche. Ich werde diesen Ort heute noch verlassen!‘, flogen ihr die Gedanken zu. Entschlossen schob sie das Formular zurück „Warum unterschreiben Sie nicht?“, fragte die Schwester erbost. „Bevor ich nicht mit einem leitenden Arzt darüber gesprochen habe, unterschreibe ich nichts.“ Die grauhaarige Frau erhob sich energisch. „Kommen Sie mit!“ Sie gingen zu einem Raum mit höchstens zwölf Quadratmetern, in den man vier Betten gestopft hatte. Christa erhielt das Bett in der rechten Ecke am Fenster und die Anweisung, auf die Stationsärztin zu warten und ihre Sachen in einen Spind zu packen. Einen Moment ließ sich Christa etwas erschöpft auf das Bett fallen und sah zu dem vergitterten, grifflosen Fenster ‚Jetzt muss ich mir dringend etwas einfallen lassen, wie ich schnellstens hier rauskomme‘, spornte sie ihren Verstand an. Eine Frau, die in dem Gehspalt zwischen den Betten auf und ab trippelte, redete plötzlich auf sie ein. „Sie glauben ja nicht, was hier los ist! Hier kommen Sie nicht zur Ruhe! Und die vielen Pillen! …“ Ihre Worte wurden jäh von einer anderen Frau unterbrochen „Ich will meine Mutter wiederhaben! Ich will meine Mutter wiederhaben!“ Dabei warf sie sich auf eine im Bett liegende ältere Frau, die Christa noch nicht bemerkt hatte. Die Oma stöhnte: „Bin ich froh, dass mich noch jemand kennt.“ Das war zu viel! Christa nahm ihr Gepäck, ging in den Flur, setzte sich auf einen Stuhl nahe der Eingangstür, nahm das Buch aus dem Koffer und staunte. Unbewusst hatte sie „Sorge dich nicht, lebe!“ von Dale Carnegie eingepackt. Eine Woche zuvor hatte sie diesen Buchtipp von ihrer Friseuse erhalten und schon einige Seiten gelesen. Der Autor berichtete davon wie Menschen, die in schwierigen Situationen steckten, zu einer neuen, lebensbejahenden Sichtweise gelangten und ihr Leben positiv veränderten. Das hatte in Christa neue Hoffnung geweckt. Dennoch fühlte sie sich zu schwach, alleine aus dem finsteren Loch zu klettern, in dem sie sich sah. Scheinbar in das Buch vertieft, wurde Christa in Ruhe gelassen und konnte ihre Gedanken ordnen. ‚Einen Selbstmordversuch habe ich nicht unternommen. Also gibt es keinen Grund, mich hier festzuhalten. Ich bin jetzt überzeugt, dass ich leben will. Ja, ich will leben!‘, bäumte sich eine Kraft in ihr auf ‚An diesem Ort des Grauens bin ich dem Tod näher als dem Leben. Es gibt doch wohl menschenwürdigere Lösungen, die mir helfen können, wieder in meine Lebensfreude zurückzufinden. Es wird mir gelingen!‘ Bereits in dem Moment, als Christa diese machtvolle Entscheidung traf, spürte sie neue, starke Energie und Zuversicht in sich. Nach drei Stunden wurde sie endlich in das Sprechzimmer der Oberärztin gerufen. Die sichtlich abgespannte Frau kam sofort zur Sache: „Frau Heuer, wir wollen Ihnen helfen. Doch wie ich hörte, wollen Sie das nicht in Anspruch nehmen. War Ihr Hilferuf nicht ernst gemeint?“ Christa atmete tief durch, um sich innerlich zu stärken „Frau Doktor, heute früh fühlte ich mich tatsächlich so verzweifelt, dass ich am liebsten nicht mehr leben wollte. Und mein Anruf war ernst gemeint. Ich hatte jedoch nicht die geringste Ahnung, was mich erwartet. Mein Eindruck von dem, was ich hier sehe und höre, ist dermaßen schockierend, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie mir ein Aufenthalt an diesem Ort zu neuem Lebenswillen verhelfen soll. Hier halte ich es keine Nacht aus. Jedoch hat genau diese Schockerfahrung in mir eine sehr starke Wende bewirkt. Mir wurde bewusst, wie gut es mir draußen geht, dass ich dort die Freiheit habe, mir neue Lebensinhalte zu schaffen. Bitte, Frau Doktor, lassen Sie mich gehen!“ „Frau Heuer, wie lange leiden Sie schon unter starken depressiven Verstimmungen?“ „Mit Unterbrechungen seit etwa zwei Jahren.“ „Ich nehme an, dass sich in bestimmten, schwierigen Situationen Ihre Abstürze wiederholen. Wenn Sie da herauskommen wollen, ist eine längere therapeutische Behandlung notwendig. Ich kann Sie auf eine andere Station überweisen und in eine Gruppentherapie aufnehmen …“ „Und mich mit Tabletten vollstopfen!“, fiel Christa der Ärztin ins Wort. Sie hatte kein Vertrauen in diese Klinik, obwohl es die Ärztin gut mit ihr meinte. Das spürte sie „Frau Heuer, wie wollen Sie mit dem nächsten Depressionsschub fertig werden ohne psychotherapeutische Hilfe?“, hakte diese nach. „Ich lasse die Vergangenheit ab sofort ruhen. Die kann ich nicht ändern. Das muss ich nun mal akzeptieren. Und ich höre auf, mich um meine Zukunft zu sorgen, von der ich jetzt nicht wissen kann, was sie bringt. Ich will mich nur noch auf den aktuellen Tag konzentrieren, auf die Gegenwart. Dann gerate ich doch bestimmt nicht mehr in so einen tiefen Sumpf von Schuld- und Angstgedanken und schwermütigen Gefühlen.“ Sie zeigte der Ärztin das Buch. „Hiermit habe ich einen Leitfaden. Ich fühle mich jetzt stark und motiviert genug, an mir zu arbeiten. Wenn ich nur noch in Tageseinheiten lebe, dann brauche ich keinen Berg mehr zu bewältigen. Außerdem habe ich vor einigen Wochen eine Rehabilitationskur beantragt. Ich hoffe sehr, dass ich in Kürze positiven Bescheid bekomme.“ „Bis dahin können noch etliche Wochen vergehen. In der Gesprächstherapie sind Sie erst einmal aufgefangen.“ „Die kann ich doch bestimmt auch außerhalb dieser Klinik aufnehmen. Ich gehe gleich morgen zu meiner Nervenärztin und bitte sie um eine Überweisung für so eine Therapie. Dieses Erlebnis heute hat mich wachgerüttelt. Ich spüre auf einmal einen starken Lebenswillen! Ich beginne einen neuen Weg!“ Die Ärztin sah Christa forschend an, als könne sie in deren Seele schauen, die ihr sagte, ob diese Frau es schaffen kann, wieder fest mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen und in ihre Balance zu kommen, wieder Freude an ihrem Leben zu entwickeln. Nach einer Weile sagte sie freundlich: „Frau Heuer, ich glaube Ihnen, dass Sie Ihr Leben selbstständig neu ausrichten wollen. Doch auf professionelle Hilfe sollten Sie keinesfalls verzichten, um wieder Stabilität in Ihre Lebensführung zu bringen. Ich kann Sie nicht gegen Ihren Willen festhalten. Aber ich lege Ihnen meinen Rat ans Herz, dringend mit einer Gesprächstherapie zu beginnen, damit Sie nicht auf dem, was Sie innerlich quält, sitzen bleiben.“ Die Ärztin gab ihr eine Empfehlung für eine Praxis, in der sie sofort mit einer Gruppentherapie beginnen konnte. Dann stand sie auf, reichte Christa die Hand. „Ich wünsche Ihnen auf Ihrem neuen Weg alles Gute.“ Mit Tränen der Freude fiel eine schwere Last von ihr. Sie bedankte sich sehr, ließ ein Taxi rufen und trat aufatmend ins Freie. Jetzt schien doch tatsächlich die Sonne an klarem, blauem Himmel! Ihr war, als ob sie an diesem Tag ein neues Leben geschenkt bekommen hatte. ‚War das wirklich alles an einem Tag geschehen?‘ Es kam ihr viel länger vor. Zwei Tage später forderte ihr Chef, sie solle sofort ihren Schreibtisch räumen und an den vorherigen Platz zurückkehren. Christa ließ seine Ausführungen über sich ergehen, war sogar froh und dankbar, entlastet zu werden. Die Kollegen würden zwar tuscheln; na und. Mit einem stimmungsaufhellenden Medikament, Schlaftabletten nach Bedarf und der Hoffnung auf die Kur, um psychische Stabilität zu erreichen, kam sie über die Runden. Einmal wöchentlich ging sie zur Gruppentherapie. Manche Teilnehmer berichteten über ihre Süchte, über Hilflosigkeit und Ängste in der Familie und in der Arbeit und meinten, dass andere daran Schuld hätten, dass es ihnen so schlecht ging. Etwas wirklich Aufbauendes, was ihr hätte helfen können, ihr Leben neu zu ordnen, begegnete ihr dort nicht. Eine Weile gelang es ihr, nicht mehr alles so schwer zu nehmen, bis Daniel kam, um sich zu verabschieden ‚Immer wieder Abschiede in meinem Leben‘, dachte Christa traurig. Schweren Herzens musste sie es ertragen. Daniel wirkte verändert. Er schien beinahe über Nacht erwachsen geworden zu sein, da er mit den vielen Veränderungen zurechtkommen musste ‚Wie gut, dass er einen Vater im Rücken hat, der ihn stärkt‘, ging es ihr wie ein Trost durch den Kopf. Sie umarmte den Sohn. „Es tut mir leid, wie alles so gekommen ist.“ Sie schluckte ihre Tränen hinunter. „Ich habe dich immer lieb, Daniel.“ „Ich dich auch, Mutti. Ich werde dir schreiben.“ Als der Junge gegangen war, stand Christa noch eine Weile mit Erinnerungen am Fenster. Marios Satz, kurz vor der Scheidung, fiel ihr ein. „Jetzt, wo wir beide richtig gut verdienen, willst du gehen.“ ‚Ich wäre viel lieber geblieben!‘, dachte sie jetzt. ‚Dann müssten wir nicht diesen Abschied erleben. Doch was nützt mir materieller Wohlstand, wenn ich in der Beziehung Liebe vermisse und mich unglücklich fühle?‘ Christa hatte keine Ahnung, wie es jetzt für sie weitergehen sollte. Tagelang lief sie wie betäubt herum. Plötzlich völlig alleine zu sein, ohne die ihr liebsten Menschen, durch die sie sich als existent, gebraucht, nützlich gefühlt hatte, das ließ sie ins Bodenlose sinken. Der Körper reagierte wieder mit Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Magenschmerzen, Durchfall, Schwindelgefühl, Rückenverspannungen und Druck in der Herzgegend. Sie quälte sich durch die Arbeit und fiel danach erschöpft ins Bett. Seit ihrem Antrag auf eine Rehabilitationsmaßnahme war bereits ein halbes Jahr vergangen, als endlich der erlösende Bescheid eintraf! Christa legte dem Chef die Bescheinigung zusammen mit einer Erklärung der Nervenärztin vor, woraus hervorging, dass diese stationäre Behandlung medizinisch dringend erforderlich ist. „Nun, Frau Heuer, ich unterstütze diese Maßnahme“, sagte er. „Es ist gut, dass Sie Hilfe in Anspruch nehmen, um wieder Ihre volle Arbeitsfähigkeit zu erreichen. Aber ich erwarte dann auch – und das ist Ihren Kollegen nur fair gegenüber, die kaum mal einen Tag fehlen –, dass Sie danach hier vollkommen fit auf der Matte stehen und keinen Tag mehr wegen Krankheit ausfallen. Ich zögere nicht mit einer zweiten Abmahnung, falls Sie sich nicht daran halten. Ich bin auch der Meinung, dass Sie schon in vier Wochen wieder zurück sein können.“ Obwohl sich Christa wirklich Heilung von dieser Behandlung erhoffte, machten ihr diese Worte Angst. Doch sie musste Stärke zeigen „Ich werde mein Bestes tun“, versprach sie. Der Chef stand auf, reichte ihr die Hand, als ob sie einen Vertrag schlossen. „Ich wünsche Ihnen eine sehr erfolgreiche Kur, Frau Heuer.“ Später verspürte Christa große Erleichterung. Nun würde sie Weihnachten, und auch an ihrem 40. Geburtstag und Silvester, nicht alleine sein. Sie hätte nicht gewusst, wie sie das überleben sollte. Voller Hoffnung auf hilfreiche Heilung fuhr sie in die Klinik. Christas entwickelte Ansichten aus Teil 1
Auswirkungen in Christas Erwachsenenleben
Teil 2 – Einsichten. Eine Kur soll helfen. Nach der stationären Aufnahme wartete Christa auf die Gruppe. Ein Mann begrüßte sie freundlich und reichte ihr die Hand. „Ich heiße Thomas. Wir duzen hier einander. So begegnen wir uns auf Augenhöhe.“ „Ich heiße Christa.“ „Sei willkommen. Damit du dich in dem Gebäude zurechtfindest, zeige ich dir alles.“ Ihr Rundgang endete im Speisesaal. Drei lange Menschenschlangen standen an ‚So viele Menschen sind wegen psychischer Probleme hier?! Das habe ich nicht erwartet, daher die lange Wartezeit.‘ In dieser großen Gemeinschaft zu essen, gefiel ihr viel besser, als zu Hause alleine vor sich hinzukauen. Sie hatte sich zum Essen gezwungen. Umso dankbarer war sie nun für die großzügige Beköstigung mit Vorspeise, Hauptgerichten zur Auswahl und Dessert. Am Nachmittag fand sich die Gruppe im Aufenthaltsraum der Station ein. Elf Augenpaare sah Christa auf sich gerichtet „Warum bist du denn ausgerechnet zu Weihnachten in die Klinik gegangen?“, fragte Martina. „Als ich im Mai die Kur beantragte, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass das mein Weihnachtsgeschenk wird. Ich bin sehr froh, jetzt hier zu sein. So muss ich die Feiertage nicht alleine aushalten. Das wäre die Hölle für mich.“ „Hast du denn keine Familie?“, wunderte sich Martina. Christa sagte nur kurz, dass sie geschieden ist, der 15-jährige Sohn beim Vater lebt und die 18-jährige Tochter in Bayern einen Beruf erlernt, also weit weg von ihr wohnen „Und warum bist du hier?“, fragte Petra. Gleich so ausgehorcht zu werden, behagte Christa nicht. „Bitte nehmt es mir nicht übel, dass ich nicht sofort über mich Auskunft geben möchte. Ich will erst einmal hier ankommen. Das ist alles so fremd und viel für mich. Und so genau kann ich es noch gar nicht sagen. Ich hoffe nur, dass man mir hier möglichst schnell helfen kann. Wie lange seid ihr denn schon hier?“ Manche waren über zehn Wochen in der Klinik, um Heilung zu finden. Ein paar Frauen sagten, es gehe ihnen jetzt noch schlechter als vor der Kur. Das durfte Christa nicht passieren. Sie nahm sich fest vor, in sechs Wochen gesund nach Hause zu fahren. Der Therapeut, Herr Weißig, empfing Christa mit freundlichem Lächeln und fragte, was ihr derzeit die größten Probleme bereite „Ich empfinde keine Lebensfreude mehr, wie ich sie früher hatte. Alles, wovon ich glaubte, dass es mein Leben ausfüllt, für immer glücklich in einer Familie zu leben, ist vorbei. Ich habe meine ganze Kraft und Liebe dafür gegeben. Und trotzdem bin ich zweimal geschieden und jetzt allein. Die Kinder leben weit weg von mir.“ Sie unterdrückte die heraufkommenden Tränen „In der Arbeit stehe ich enorm unter großem Druck. Ich bin im Arbeitsamt bei der hohen Besucherzahl nicht so belastbar, wie der Arbeitgeber es von mir fordert. Der Chef sagt: „Der Gang muss geputzt werden, halten Sie sich ran.“ Ich kann mit den Menschen nicht umgehen, als wären sie Nummern. Meine Art, allen Menschen freundlich zu begegnen, ist jedoch nicht erwünscht. Wenn ich noch einen Tag wegen Arbeitsunfähigkeit fehle, droht mir die zweite Abmahnung. Ich fühle mich mit meinen Kräften am Ende. Nur noch arbeiten, essen, in die Röhre schauen und schlafen, das ist nicht der Sinn meines Lebens. Aber ich sehe noch keinen neuen. Ich bin fleißig, gebe alles, passe mich an, zwinge mich dazu, so zu funktionieren, wie es die Kolleginnen und der Chef von mir erwarten, und dennoch erlebe ich Mobbing und Ausgrenzung. Mir fehlt die Kraft und Stärke, mich zu wehren. Deshalb weiche ich Konflikten aus oder versuche, sie von vornherein zu vermeiden. Wissen Sie, bis zu meinem neunzehnten Lebensjahr durfte ich zu Hause nie meine eigene Meinung äußern. Ich musste gehorchen. Ich bin es nicht gewohnt, meinen Standpunkt zu vertreten und mich auch durchsetzen zu können. Ich habe es nicht gelernt. Dem, was in diesem Konkurrenzunternehmen des Kapitalismus von mir verlangt wird, bin ich nicht gewachsen. Ich fühle mich zunehmend als Verliererin. Das macht mich sehr traurig. Ich habe das Gefühl, zu verkümmern, weil ich nicht sein darf, wie ich von meinem Wesen her bin. Ich leide darunter. Irgendetwas scheine ich falsch zu machen. Ich weiß nur noch nicht, was. Das möchte ich hier herausfinden.“ „Frau Heuer, es ist gut, dass Sie gleich so offen über Ihre Schwierigkeiten reden. Das wird unsere Arbeit erleichtern. Wir können jedoch nicht sofort beginnen. An den Feiertagen habe ich Urlaub. Gönnen Sie sich erst einmal Entspannung. Das Schwimmbad und die Sauna sind geöffnet und machen Sie sich mit ihren Mitpatienten bekannt. Gestalten Sie sich diese Tage so angenehm wie möglich. Füllen Sie bitte auch diese Bögen zu Fragen Ihrer Vorgeschichte aus.“ Er reichte Christa die Hand und wünschte ihr „Frohe Weihnachten“. Sie sah ihn fragend an. „Ist noch etwas unklar, Frau Heuer?“ „Ich wüsste gerne, wann wir mit der Therapie beginnen.“ „Ich bin am 27. Dezember wieder hier.“ In ihrem Zimmer lief Christa hin und her. ‚Meine Güte, dann muss ich es ja in fünf Wochen schaffen!‘, dachte sie zunächst beunruhigt. ‚Doch wenn der Arzt meint, dass das ausreicht und alles viel einfacher zu lösen ist, als ich jetzt annehme, dann wird es wohl gutgehen.‘ Sie erinnerte sich, wie sie selbst die Weihnachtszeit als Kind geliebt hatte und wie viel Freude sie dann später als Mutter daran hatte, mit ihrer Familie diese Lichter-Tage zu gestalten mit Basteln, Backen, Singen, Geschichten vorlesen und Märchenfilmen ansehen in liebevollem Beieinandersein. Doch jetzt, da die Familie nicht mehr beieinander war, tat es nur weh, daran zu denken. Sie ermahnte sich, nicht in wehmütige Stimmung zu verfallen. „Ich erkunde jetzt die Gegend!“, rief sie, schnappte ihren Mantel und ging nach draußen. In der Nacht, in ihren 40. Geburtstag hineinschlafend, hatte es geschneit. Christa öffnete das Fenster weit und erfreute sich an der weißen, von der Sonne vergoldeten, glitzernden Pracht. „Wow!“ Die klare Winterluft einatmend, spürte sie tiefen Frieden und fühlte sich reich beschenkt. Etwas Liebevolles rührte sich in ihrem Herzen. Der Frühstückstisch war schon gedeckt. Ein Blumenstrauß stand an Christas Platz und eine Kerze leuchtete. Die Gratulanten kamen, umarmten und beglückwünschten sie herzlich. Sie konnte eine Weile nichts sagen. Tränen standen in ihren Augen. Ihr Blick fiel auf eine schöne Geburtstagskarte, und da lag ja auch ein Päckchen. „Das ist alles für mich?“ „Hat heute noch jemand Geburtstag?“, fragte Thomas in die Runde. Alle schauten auf Christa und stimmten an: „Zum Geburtstag viel Glück …“. Ihr war, als ob sie auf einer riesigen Welle in den Himmel gehoben wurde „Ich danke euch, ihr Lieben. Ihr macht mir eine größere Freude, als ihr euch vorstellen könnt. Ich bin so froh und dankbar, dass ich jetzt hier sein darf. Zu Hause wäre ich heute alleine gewesen. Ich sollte also jetzt hier sein.“ Sie gab sich der Freude dieses wunderschönen Augenblickes hin. Bisher hatte sie ein fast ablehnendes Verhältnis zu ihrem Geburtstag. Wehmut und Sehnsucht unerfüllter Wünsche tauchten auf, die sie mit Aktivitäten überspielte und von sich ablenkte. Sie konnte es sich nicht erklären, doch ihr war dann nicht nach feiern. Aber an diesem Tag war es völlig anders, beglückend, festlich, wie der Beginn von etwas Neuem, dem sie sich öffnen konnte. Der See vor der Klinik war zugefroren. Schlittschuhläufer tummelten sich darauf. Am Nachmittag spazierte Christa mit zwei Frauen und einem Mann am See entlang. Thomas gab spannende Episoden seines Lebens zum Besten. Er war sehr belesen, liebte klassische Musik und erzählte Witze, über die sie herzlich lachten. Wer sie so fröhlich sah, hätte nie vermutet, dass sie wegen Depressionen in Behandlung waren. Christa genoss dieses heitere, lockere Beisammensein mit anderen. Es entsprach ihrer wahren lebensfrohen Natur. An diesem Tag war die Lebensfreude wieder in ihr erwacht. ‚Meine Güte, erst vor ein paar Tagen habe ich Herrn Weißig gesagt, dass sie mir abhandengekommen sei.‘ Die Gruppengespräche waren anstrengend. Oft beklagte man sich, wer einem Schlimmes angetan hatte, wie man sich ungerecht behandelt und ohnmächtig fühlte. Das sah Christa nicht als hilfreich an. Jedoch wies das, was sie da hörte, deutlich darauf hin, dass auch in anderen Familien schmerzvolle Verletzungen in den Menschen schmoren. Man hofft, diese zu vergessen, verbannt sie in einem inneren Keller im Glauben, für immer Ruhe davor zu haben. Ein unsichtbares Schild hängt dran: „Anrühren verboten! Geheime Verschlusssache!“ Und irgendwann heilt ja die Zeit alle Wunden – sagt man. Dass diese Taktik in eine Sackgasse führt, wurde Christa nun bewusst. Während andere weiter über ihr Leben lamentierten, schaltete sie ab und versank in eigenen Überlegungen ‚Wenn eine Wunde nicht gereinigt wird, ist sie doch ein Herd für wiederkehrende Entzündungen. Indem ich meine Schmerzen, Gedanken, Gefühle unterdrücke, unter denen ich leide, und mich zwinge, meine einfühlsame Natur zu verweigern, mache ich mich kaputt. Das ist ja die Ursache für meine seelische Erkrankung. Ich kann meinen Kummer nicht mehr verbergen, sonst ersticke ich. Ich will nicht darauf warten, dass die Zeit meine Wunden heilt. Wie soll denn die Zeit das machen? Ich suche nach einem Weg, auf dem ich wirklich und dauerhaft wieder heil werde. Dass in dieser großen Klinik so viele Patienten geheilt werden wollen und ich sieben Monate auf einen Therapieplatz warten musste, zeigt mir, dass es in vielen »Kellern dieser Gesellschaft« im Mauerwerk schimmelt, wo sich ungute Gefühle, die man nicht haben will, ansammeln. Im Außen wird fleißig geputzt, damit die Fassade glänzt. Und mit dem Zauberwort »Wirtschaftswachstum« geht es ja immer irgendwie weiter, schneller, höher, ums Mehr – um jeden Preis. Sinn des Lebens scheint für die meisten Menschen im Haben-Wollen, in privatem Besitz zu bestehen, den sie hinter hohen Hecken und Sicherheitsschlössern anhäufen und hoch versichern. Sind die Menschen damit glücklich? Ist ihnen egal, woher alles kommt und wie es entstanden ist, womit die Supermärkte vollgestopft sind, und was mit den zu viel produzierten Waren und den weggeworfenen Sachen geschieht? Ich frage mich, wohin wir mit diesem Raubbau an der Natur und an uns selbst kommen. Mich beunruhigt es. Mit dem radikalen Ausplündern und Zubetonieren der Erde, ihrer Zerstörung, sägen wir uns den Ast ab, auf dem wir sitzen, ohne Rücksicht auf unsere Nachkommen. Will das die Mehrheit wirklich? Das sollte uns doch alle angehen, da wir alle von Mutter Erde leben. Sehe ich das falsch?‘ Christa spürte, dass ihr die Last ihrer eigenen Schwierigkeiten summiert mit den Sorgen um den Erhalt der Erde zu schwer wurde. Sie fühlte sich verantwortlich für ihre aktive Heilung und das Wohl des Planeten, von dem sie alle lebten. Was konnte sie tun? Wenn sie auch noch keine Lösungen sah, intuitiv wurde ihr bewusst: ‚Ich muss erst einmal selbst gesund werden, Frieden und Gleichgewicht in mir herstellen, damit ich mich wieder wohl in meiner Haut fühle und mein Leben ordnen und neu ausrichten kann. Und damit fange ich gerade an.‘ Der Therapeut sprach mit ihr fast ausschließlich über das Thema Kommunikation, wie Menschen Informationen aussenden und empfangen und dass es darauf ankommt, wie jeder damit umgeht. Das war Christa zu theoretisch. Es gab keine praktischen Übungen dazu, anhand derer sie hätte erkennen können, welche Botschaften sie aussendete und was ihr dementsprechend gespiegelt wurde. Während der Therapiegespräche schien ihr Kopf mit Watte ausgestopft zu sein. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Wo wollte der Mann überhaupt mit ihr hin? Da hatte sie nun seitenlang Fragen zu ihrer Lebensgeschichte beantwortet über Mutter, Vater, Geschwister, Krankheiten, Beruf, Beziehungen, Vorbehandlungen und der Arzt ging überhaupt nicht darauf ein. Christa nutzte die Angebote Wassergymnastik, Tanz-, Musik- und Gestaltungstherapie, tauschte sich mit Gleichgesinnten aus und staunte, wie gut es ihr tat. Allmählich lösten sich die Rückenverspannungen und Kopfschmerzen auf und ein Wohlgefühl stellte sich ein, wie sie es schon lange nicht mehr hatte. Ein paar Tage vor ihrer Entlassung kam jedoch Unruhe in ihr auf. Das Leben in der Klinik stand in krassem Gegensatz zur Arbeitswelt, in der sie funktionieren und vorgegebene Forderungen erfüllen musste. Christa überlegte, welche Anregungen sie mitnehmen konnte, um sich ihr Leben zu erleichtern. Ihr war aufgefallen, dass es ihr besser ging, wenn sie nicht so viel und angestrengt grübelte und etwas tat, woran sie Freude empfand. Trotz guter Vorsätze und der körperlichen Besserung stieg mit der Vorstellung, wieder alleine zu sein und in die anstrengende Arbeitswelt zurückkehren zu müssen, Angst in ihr auf. Doch sie ermahnte sich, positiv zu denken und nicht mehr alles so nah an sich herankommen zu lassen. Sehnsucht nach Erleichterung. Eine Weile konnte Christa von ihrer frischen Energie zehren und mit dem Arbeitstempo schritthalten. Sie spürte, dass sie unter besonderer Beobachtung stand. Es zu ignorieren, sich davon nicht verunsichern zu lassen, gelang ihr leider nicht. Im Gegenteil, innerer Druck baute sich auf. Auch andere Kollegen fühlten sich besonders vom Chef mit seiner Absicht, Mitarbeiter aus dem Amt zu drängen, die seinen Anforderungen und Vorstellungen nicht entsprachen, in die Enge getrieben. Christa hörte einmal, wie ein Kollege sagte: „Wenn der mich ruft, muss ich mir die Hose zubinden.“ In Christa kochte Wut, einerseits auf den Chef, andererseits auf sich selbst und auf die Kollegen, weil sie sich das alle gefallen ließen. Die Emotionen stauten sich in ihr. Sie arbeitete in einem wachsenden Energiefeld der Angst in diesem Amt. Mit ihrem sensiblen Wesen fühlte sie sich dem schutzlos ausgeliefert, wollte sich jedoch nicht unterkriegen lassen und versuchte, in ihrer Freizeit für Ausgleich und Freude zu sorgen. Auf der Rückseite einer Zeitschrift fiel ihr die Werbung für Fernkurse auf. „Wir suchen Leserinnen und Leser, die gerne schreiben!“ Sie meldete sich für den Schreibkurs im Fach „Belletristik“ an. Christa strahlte, als die ersten Studienhefte eintrafen, deren Aufbau ihr sehr gefiel. Ihren Gedanken und Gefühlen einen gesunden Ausdruck geben zu können und ihrer Phantasie beim Schreiben freien Lauf zu lassen, verschaffte ihr Befriedigung. Ihre feinsinnige Beobachtungsgabe konnte sie anschaulich und berührend in ihren Texten umsetzen. Ihr Lektor lobte sie und gab aufbauende Hinweise. Die Verschlechterung ihrer Gesundheit kam schleichend. Immer öfter ermüdete Christa sehr schnell. Kämpfte sie dagegen an, mit dem Vorsatz: „Ich darf nicht mehr krank werden!“, wurde es schlimmer. Es half nichts, sie brauchte wieder ärztliche Hilfe. Anhand eines Blutbildes wurde die Autoimmunkrankheit „Lupus erythematodes“ diagnostiziert. Die Blutwerte waren so schlecht, dass die Ärztin Christa sofort in die Hautklinik Eppendorf überwies. Die Untersuchungen bestätigten die Diagnose. Christa musste zu den Mahlzeiten geweckt werden, weil sie fortwährend schlief. Erst nach zweiwöchiger Behandlung mit starken Medikamenten ging es ihr etwas besser. Verschiedene Tests ließen die Ärzte annehmen, dass eine Überempfindlichkeit auf Alphastrahlen des Sonnenlichtes die Ursache der Erkrankung sei. Dabei war Christa selten in der Sonne. Als sie endlich spazieren gehen durfte, gab ihr der Arzt den dringenden Hinweis, sich künftig immer im Schatten aufzuhalten. Zum Glück war der Juni 1996 sehr kühl und verregnet. Nach drei Wochen wurde sie entlassen, war aber nicht arbeitsfähig. Christa erlitt einen Rückfall und unterlag ihrer Müdigkeit. Sie schlief selbst am Tag so fest, dass sie von den Geräuschen der Handwerker, die den Wohnblock sanierten, nichts mitbekam. In den wenigen wachen Momenten reifte in ihr der Entschluss, dem Personalrat ganz offen ihre Lage zu schildern. Wenn ihr der Arbeitgeber aus gesundheitlichen Gründen kündigte, konnte sie es nicht ändern. Sie fühlte sich elend und wusste nicht weiter. Als Christa der Vertreterin des Personalrates vollkommen ehrlich von ihrem geschwächten Zustand und den Ursachen dafür berichtete, veranlasste die Frau sofort ein Gespräch mit dem Personalleiter. Auch er zeigte sich verständnisvoll „Womit wäre Ihnen denn am meisten geholfen, Frau Heuer?“, fragte er. „Mit einem Wechsel der Dienststelle und verkürzter Arbeitszeit“, brach es aus ihr heraus. „Wobei ich Ihnen heute nicht sagen kann, wann ich wirklich wieder arbeitsfähig bin.“ „Werden Sie erst mal gesund. Ich prüfe die Möglichkeiten für Ihre Umsetzung.“ Christa standen Tränen in den Augen „Danke, dass Sie mich angehört haben und mir helfen wollen“, sagte sie aus tiefstem Herzen. Bald danach wurde Christa ein Platz in einer anderen Dienststelle mit halber Arbeitszeit angeboten. Trotz des großen Einschnittes in ihr Einkommen und des längeren Weges zur Arbeit nahm sie das Angebot dankbar an. Angesichts dieser erlösenden Aussicht gelang es ihr sogar, die Bemerkung des Chefs bei ihrem Abschied gelassen hinzunehmen. „Frau Heuer, glauben Sie ja nicht, dass Sie dort bei Null anfangen.“ Christa atmete auf, als sie von ihrer neuen Chefin und dem Team freundlich aufgenommen wurde. Sie war jedoch sehr zurückhaltend, wollte nicht auffallen und einfach nur gut erledigen, was man ihr auftrug. Doch vom ersten Moment an spürte sie eine offene, ehrliche, heitere Grundstimmung. Es gab nicht weniger zu tun als in der vorherigen Dienststelle, aber es fand abgestimmtes, gemeinschaftliches Arbeiten statt. Hier gab es eine Leitung, die davon ausging, dass die Mitarbeiter ihr Bestes gaben. Es wurde gelobt und motiviert. Christa fühlte sich wohl. Man nahm sogar Rücksicht und fragte sie, ob es auch nicht zu viel wird. Es war ein Unterschied von Tag und Nacht. Mal als Telefonistin, mal als Sachbearbeiterin tätig, wurde sie vertrauensvoll in alles einbezogen. In der gemeinsamen Frühstücksrunde vor Arbeitsbeginn, in der auch so oft wie möglich der Abteilungsleiter saß, sprachen sie über Dienstliches und Privates in lockerer Atmosphäre. Es wurde viel gelacht. Danach ging man umso motivierter an die Arbeit. Nur die zunehmenden Gesetzesänderungen und ständigen neuen Auflagen der übergeordneten Verwaltung waren eine Plage, sowohl für die Angestellten, für die es Mehraufwand bedeutete, als auch für die vorsprechenden Bürger, die sich nicht mehr zurechtfanden. Seit Christa allein lebte und in Teilzeit arbeitete, beobachtete sie das Leben um sich herum aufmerksam und fragte nach dem Sinn des Geschehens. Was sie im Philosophiestudium über das Wesen des Kapitalismus theoretisch erfahren hatte, bestätigte sich in der Praxis. Sie erkannte in dem riesigen Verwaltungsapparat und in dieser mit Werbung überfluteten Konsumwelt der Verschwendung ein künstliches System – ein beabsichtigtes Ablenkungsmanöver. Die Mehrheit der Menschen sollte nicht hinter die Kulissen schauen können, welche Ziele eine kleine macht- und profitgierige Minderheit verfolgt. Ihr wurde bewusst, wie mit ausgeklügelten Methoden geistiger Manipulation Menschen in Abhängigkeit von Beschäftigung und Behörden gebracht werden, um sie unter Kontrolle zu halten und so müde zu machen, dass sie nicht zur Besinnung kommen und für die gewinnbringenden Zwecke der Herrschenden gefügig sind. Sie erkannte, wie schon die Kinder zu Konsumenten erzogen werden, die man leicht mit künstlichen, bunten, glitzernden Dingen zum Kaufen verleiten kann, und wie den Menschen suggeriert wird, was sie angeblich alles für ein erfüllendes Leben brauchen, und dass ihnen die Wahrheit über politische, militärische Ziele und Forschungsprogramme an Menschen und Tieren verschwiegen wird, um sie für ihre Zwecke zu nutzen. Für Menschen, die aufgrund des zunehmend anstrengenden Lebens krank werden, stellt die Pharmaindustrie ja reichlich Pillen zur Verfügung, damit man beruhigt schlafen kann und den Untergang der „Titanic“ nicht mitbekommt ‚Lernen die Menschen aus ihren erlebten Geschichten nichts?‘, fragte sich Christa und kam zu dem Schluss: ‚Wenn wir Menschen uns für eine gesunde, natürliche Lebensweise entschieden und die Schätze dieser Erde ehrlich und maßvoll miteinander teilten, zum Wohle aller, gäbe es keine Armut und keine hungernden Menschen, Tiere und Pflanzen würden geschützt. Davon bin ich überzeugt. Wirtschaftswachstum um jeden Preis – ohne Rücksicht auf Zerstörung von Leben –, ist es das wirklich, was die Menschheit will? Wenn ich doch mit jemandem über das, was mich im Geist so sehr beschäftigt, reden könnte.‘ Ihre Kollegen waren aufgeschlossen und freundlich und mit ihrem Familienleben ausgefüllt. Da wollte sie sich niemandem aufdrängen. So stauten sich Gedanken und Gefühle und unerfüllte Sehnsucht nach einem harmonischen, mit Liebe erfüllten Leben in Christa an. Sie wollte verstehen, warum diese Welt hier so anders war, als in ihrer Vorstellung von sozialem Miteinander, ob das alles so sein musste und warum sie sich darin so fremd und allein fühlte und was sie an sich ändern müsste, um glücklich sein zu können. Mit dieser kreisenden Gedankensuche nach Antworten stand sie wieder stundenlang nachts am Spiegel im Bad bis ihr alles wehtat und sie bitterlich über sich weinte ‚Was ist mit mir nicht in Ordnung, dass diese Verstimmungen immer wieder auftreten?‘, fragte sie sich todtraurig. Im Wartezimmer der Nervenärztin hörte sie, wie eine Patientin sehr positiv von ihrer Psychotherapeutin erzählte. Christa getraute sich, sich in das Gespräch einzuklinken. Noch am selben Tag rief sie bei der Diplom-Psychologin an und wurde gebeten, sich zu gedulden, da der Bedarf an Gesprächstherapie sehr hoch war. Nach vier Wochen durfte sie zum ersten Gespräch kommen und war sehr froh und dankbar dafür. Eine zierliche Frau lud Christa mit freundlicher Geste in das Gesprächszimmer ihres schönen Holzhauses ein. „Ich bin gleich bei Ihnen“, sagte sie und verließ kurz den Raum. Christa bewunderte die Holzdecke aus massiven Balken. Obwohl keine Lampe leuchtete, war der Raum mit weichem Licht gefüllt, strahlte Wärme und Ruhe aus. Im anschließenden Gespräch verspürte sie die gleiche Ausstrahlung bei der Frau, die ihr versicherte: „Mir ist nichts fremd. Was in diesem Raum gesprochen wird, bleibt hier. Was führt Sie denn zu mir, Frau Heuer?“ „Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Meine Lebensgeschichte ist so überladen mit Erfahrungen, die mich belasten, dass mir alles zu viel wird. Ich stehe überwiegend unter Spannung und fühle mich unsicher in Beziehungen. Am liebsten möchte ich mich verkriechen. Das steht jedoch im Widerspruch zu meinem eigentlich offenen, lebensfrohen Wesen. Ich fühle mich fremd, irgendwie nicht hierher gehörend, seit meine Familie weg ist. Ich bin froh über jeden Tag, den ich irgendwie bewältigt bekomme.“ „Arbeiten Sie, Frau Heuer?“ „Ja. Ich war etliche Jahre in Vollzeit im Arbeitsamt tätig, hatte da nach der Wende viel Stress. Wegen längerer Arbeitsunfähigkeit hätte ich fast den Job verloren. Inzwischen arbeite ich halbtags in einer anderen Dienststelle, wodurch ich mich erleichtert fühle. Sonst hätte ich nicht mehr weitergewusst. Ich hoffte, mit dieser Entlastung wären alle meine Probleme gelöst. Ich verstehe nicht, wieso es mit mir schon wieder bergab geht. Ich habe alles gegeben. Und nun ist die Luft raus.“ Mit angewinkelten Armen, die Handflächen nach oben geöffnet, drückte sie ihre Ratlosigkeit aus. „Ich habe kein Ziel mehr“, sagte Christa mit weinerlicher Stimme. Frau Blume ließ ihr etwas Zeit und fragte dann: „Was meinten Sie damit, dass Ihre Familie weg ist?“ Christa berichtete in Kurzform, wie es dazu gekommen war, dass sie jetzt alleine lebte. „Ist es das Alleinsein, was Sie so traurig macht, Frau Heuer?“ „Traurig macht mich ganz viel. Aber das Alleinsein halte ich am wenigsten aus. Das ist wie eine Strafe für mich.“ „Wenn Sie möchten, sehen wir uns in nächster Zeit mal an, wie Sie das ändern können. Möchten Sie wiederkommen?“ „Ja. Auf jeden Fall. Ich will herausfinden, was ich tun kann, damit es mir wieder besser geht.“ Beim Verabschieden schenkte ihr Frau Blume ein aufmunterndes Lächeln. In der nächsten Sitzung sprachen sie darüber, wie Christa ihre freie Zeit freudig verbringen könnte. Die Frage nach Freunden verneinte sie. „Ich bin seit meinem Umzug aus Leipzig hier nicht heimisch geworden. Und die Kollegen haben alle mit ihren Familien zu tun.“ „Und was machen Sie jetzt in Ihrer Freizeit?“ „Ich absolviere einen Fernschreibkurs. Schreiben hilft mir, meine Seele zu erleichtern und Gedanken zu verarbeiten. Ich stricke und nähe gerne oder lese. An den Wochenenden fahre ich mit dem Auto an die Ostsee und spaziere stundenlang in der schönen Küstenlandschaft.“ „Wie wäre es, wenn Sie sich einer Radwandergruppe anschließen? Dann sind Sie auch in der Natur und lernen Menschen kennen, haben Gesprächspartner“, schlug Frau Blume vor. Christa wies das zurück. „Die Mitglieder von Gruppen und Vereinen kennen sich schon viele Jahre lang, sprechen über ihre privaten Dinge, sind miteinander vertraut. Ich käme mir wie ein Eindringling vor.“ „Die Volkshochschule bietet viele Kurse an. Haben Sie da mal nachgeschaut?“ „Ach ja. Das ist ein guter Tipp. Daran habe ich noch nicht gedacht. Das sehe ich mir an.“ Am nächsten Tag besorgte sich Christa ein Programm der Volkshochschule, meldete sich für den Yoga-Kurs an und ging gerne hin. Endlich kam etwas Ruhe in ihr Leben. Andreas, Christas Bruder, rief aus Braunschweig an und teilte ihr mit, dass Mutter im Sterben liegt. „Bitte, komm schnell! Sie wartet auf dich“, bat er eindringlich. Christa war froh, dass ihre Mutter weit weg in einem Pflegeheim betreut wurde. Denn das Verhältnis zwischen ihnen empfand sie als sehr belastend. Sie brauchte diesen Abstand dringend. Mit Mutters einstiger Behauptung: „Du wirst es im Leben zu nichts bringen“ und deren ständigen Sorgen, ob die Tochter mit dem schweren Leben zurechtkommt, lag ein scheinbar unüberwindbarer Brocken auf Christas Weg, der sie daran hinderte, ein starkes Selbstvertrauen zu entwickeln. Fortwährend strebte sie danach, Mutter zu beweisen, dass sie es doch zu etwas bringt, um endlich mal Anerkennung und Lob von ihr zu bekommen. Vergebens. Es stand sehr viel Unausgesprochenes zwischen ihnen. Christa hatte ihre Mutter nie etwas Persönliches fragen dürfen. Würde sie an deren Sterbebett das Wunder erleben, mal ein liebes Wort von ihr zu hören? Sie hatte bei ihren wenigen Besuchen Mutters verbittertes Gesicht gesehen, das ihr jetzt die Hoffnung nahm ‚Nein. Ich kann nicht. Das mute ich mir nicht zu. Das geht über meine Kräfte. Tut mir leid, Mutti, aber ich habe zu viel Angst vor noch mehr Verletzung‘, dachte Christa. ‚Ich muss mich schützen!‘ Ein paar Tage später traf eine Beileidskarte von Andreas ein. In Christa breitete sich finstere Leere aus. Nur beim Yoga spürte sie ihren Körper. Dabei gelang es ihr, den Verstand auszuschalten, sich fühlend, angenehm wahrzunehmen. Sie schämte sich mit ihrem verwundeten Gesicht in der Öffentlichkeit, ging nur noch nachts im Wohnviertel spazieren und sah sehnsuchtsvoll in den Sternenhimmel ‚Ist mein bisheriges Lebensziel mit meiner Mutter gestorben?‘, fragte sie sich. ‚Wofür lebe ich noch?‘ Am nächsten Morgen erinnerte sie sich, wie sich ihr Befinden mit dem Laufen an der Ostsee immer verbesserte, das Atmen leichter und freier und der Kopf klarer wurde. Auf der Steilküste an der Ostsee auf einem Baumstamm sitzend, ihrem Lieblingsplatz, über sich ein Dach aus bunten, raschelnden Blättern, unter sich den menschenleeren Strand, in die Weite des Himmels und auf das silbern glitzernde Meer schauend, stellte sich wohltuender Frieden in ihr ein „Ist das schön!“ In diesem zeitlosen Moment nahm sie sich wie ein Teil in einem mehrdimensionalen Bild wahr. Ein erhabenes Gefühl von unendlicher Weite und Freiheit strömte in ihr. In dieser beglückenden Stille tauchten plötzlich Worte in ihr auf: „Erinnere dich, wessen Geistes-Kind du bist, an dein wahres, göttliches, geistiges Wesen des Lichtes und der Liebe! Dein Leben hat einen bestimmten Sinn, suche bewusst danach.“ Die Stimme verhallte. Christa wunderte sich ‚Ich habe zwar eine blühende Phantasie, aber das waren nicht meine Gedanken. Mich erinnern, wer und was ich wirklich bin und welchen Sinn mein Leben hat? Das will ich ja gerne. Aber, wie geht das? Und was ist damit gemeint? Und was hat es mit Licht und Liebe auf sich? Wenn mir diese Stimme, die ich eben in mir vernommen habe, auch noch Antworten geben würde, das wäre toll. Es scheint sich im Leben alles um Liebe zu drehen, nach der sich alle Menschen sehnen. Bücher, Lieder, Filme, Gedichte, Bilder, Skulpturen, alle künstlerischen Ausdrucksformen beinhalten die Themen Liebe und Angst, Licht und Schatten, Gut und Böse. Aber was ist denn Liebe überhaupt?‘, fragte sich Christa. ‚Ist sie ein tiefes Glücksgefühl, so wie ich es jetzt empfinde? Ist sie eine momentane, tiefe Empfindung, die einfach kommt, wenn ich in Harmonie bin? Während ich jetzt über das glitzernde Wasser schaue, Meeres- und Waldluft atme, fühle ich mich an diesem natürlichen Ort absolut wohl und geborgen. Am liebsten möchte ich hierbleiben, ein Vogel sein, der über alle Grenzen hinweg fliegen und sich das beste Plätzchen aussuchen kann.‘ Christa träumte mit offenen Augen und führte flüsternd ein Selbstgespräch: „In der Natur funktioniert alles einfach. Eins lebt mit und von dem anderen. Die Buche fängt mit der Eiche keinen Streit an: ‚He, hier war ich zuerst. Mach dich dünne. Wie siehst du überhaupt aus? Du hast ja komische Früchte. Meine sind viel schöner.‘ Bäume verbiegen sich nicht, damit andere sie mögen. Sie wachsen dem Licht der Sonne entgegen, graben ihre Wurzeln in die Erde, sind so versorgt und nutzen Tieren und Menschen. Ich glaube, dass auch das Leben als Mensch viel leichter sein kann, wenn er sich auf seine Natur besinnt. Ich habe mich lange nicht mehr so wohlgefühlt wie jetzt in dieser friedlichen Landschaft. Ich bin jetzt glücklich und brauche nichts dafür zu tun. Meine Hände sind leer. In mir fließt Freude. Ich fühle mich frei. Wenn das doch immer so sein könnte!!“ Versonnen gab sie sich ihren Glücksgefühlen hin und beobachtete, wie zwei Schwäne ins Bild geschwommen kamen und sich von den Wellen schaukeln ließen. Als sie auseinandertrieben, paddelten sie wieder aufeinander zu, um sich zart zu berühren. „Ein tierischer Kuss!“ Christa freute sich über das Herz, das vor ihren Augen erschien, und empfand große Sehnsucht nach harmonischer Zweisamkeit. Es verlangte die Sehnsuchtsvolle nach dauerhafter Liebe in einer Partnerbeziehung, in der ein harmonisches Miteinander-Wachsen möglich ist, doch konnte sie noch nicht glauben, dass es auch in ihrem Leben zu verwirklichen geht. Aufgrund der traurigen Kindheitserfahrungen in ihrem Elternhaus waren ihre Ansichten und Vorstellungen von Beziehung verworren. Die Gespräche mit der Psychotherapeutin halfen Christa, sich kurzzeitig besser zu fühlen und den Alltag zu bewältigen, doch der seelische Leidensdruck kam mit starken Stimmungsschwankungen und Schlaflosigkeit zurück. Es war sonderbar. Eine Zeit lang gelang ihr klares, bewusstes Denken, doch plötzlich verschwand alles wieder im Nebel, als hätte sie Watte im Kopf. In ihr schien ein Knäuel aus wild verschlungenen Gedankenfäden und Gefühlsregungen zu sein. Eben noch begeistert und aktiv, schlug plötzlich die Stimmung gewaltig um: „Himmelhoch jauchzend zu Tode betrübt.“ Christa fragte die Nervenärztin, welche Rettung es gibt, aus diesem qualvollen Zustand herauszukommen. „In der Tiefe fühle ich mich sehr verletzt und irgendwie verloren. Ich empfinde eine fast unerträgliche, mich herunterziehende Traurigkeit. Ich will wirklich gesund werden, neue Orientierung für mich finden, weiß aber nicht, wie.“ Sie erhielt eine Überweisung in eine Klinik für psychosomatische Krankheiten. Bei ihrer Ankunft in der Klinik war es, als ob ihr jemand kurz vorm Ertrinken einen Rettungsring zuwarf, sie an Land brachte und in eine Decke hüllte. In der Parkanlage an eine alte Eiche gelehnt, liefen ihr Tränen großer Dankbarkeit und Hoffnung. Schlaflos im Bett liegend, dachte Christa an das letzte Gespräch mit der Psychologin vor ihrer Abreise. Frau Blume hatte ihr zu Bedenken gegeben, einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu stellen. „So wie ich das sehe, Frau Heuer, brauchen sie mindestens zehn Jahre, um psychisch gesund und voll arbeitsfähig zu werden. Dann sind Sie so alt, dass man Sie in der Arbeitswelt nicht mehr haben will.“ „Frührente? Ich?! Ich will arbeiten, ein vollwertiges, leistungsfähiges Mitglied der Gesellschaft sein. Ich bin doch erst 45 Jahre!“ „Aber für diese Arbeitswelt nicht so belastbar, wie es gefordert wird. So oft wie Sie ausfallen, ist nicht sicher, wie lange Sie Ihren Arbeitsplatz noch behalten können, Frau Heuer. Überlegen Sie sich das mit dem Antrag. Ob man Ihnen die Rente genehmigt, wird sich ja dann zeigen.“ Trotz widerstrebender Gedanken war da auch etwas in Christa, das sie dazu brachte, den Rat der Frau anzunehmen. Auch in diese Klinik fühlte sie sich geführt. Sie folgte intuitiv einer inneren, geistigen Kraft, die es gut mit ihr meinte. Beim Aufnahmegespräch wurde Christa von dem Therapeuten und dem Stationsarzt, Herrn Munter, gefragt: „Frau Heuer, was möchten Sie hier für sich erreichen?“ „Ich möchte herausfinden, warum ich nicht so selbstbewusst und leistungsstark bin wie die meisten anderen, obwohl ich fleißig bin und mich sehr bemühe. Ich stehe fast ständig unter großem inneren Druck, nicht erfüllen zu können, was von mir in dieser Gesellschaft verlangt wird. Ich will Selbstbewusstsein und Stärke in mir aufbauen, um wieder fest im Leben zu stehen, neuen Sinn und Lebensantrieb finden. Seit einiger Zeit fühle ich mich verloren. Sie errötete. ‚Sage ich es ihm jetzt schon?‘, fragte sie sich im Stillen. ‚Ja, Karten auf den Tisch, dann habe ich’s hinter mir.‘ „Und weil ich das nicht aushalte, drücke ich nachts stundenlang am Spiegel stehend in meinem Gesicht, als hätte ich überall Pickel. Das mache ich schon zehn Jahre lang. Damit aufzuhören, ist auch ein Therapieziel.“ Christa verspürte Scham, aber auch Erleichterung, das Schlimmste ausgesprochen zu haben. „Ich suche nach einem Weg, wie ich ein freudvolles, ausgeglichenes, glückliches Leben führen kann, ohne Leidensdruck und ohne die sich wiederholenden Kämpfe ums Überleben.“ „Haben Sie Vermutungen, worin die Ursachen für Ihre Schwierigkeiten bestehen?“ „Ich zergrüble mir immer wieder den Kopf darüber, doch außer Kopfschmerzen und Angst, den Verstand zu verlieren, kommt nichts Erleuchtendes dabei heraus. Ich drehe mich gedanklich mit mich belastenden Erinnerungen an meine Kindheit im Kreis. Von Anfang an ziehen sich schmerzhafte Ereignisse wie ein roter Faden durch mein Leben. Das fing schon damit an, dass mein Vater mich nicht haben wollte, mich nicht annahm und meine Mutter wegen dieser Schwangerschaft abwies …“ „Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Hat Ihnen das Ihre Mutter erzählt?“ „Nein, jedenfalls nicht zu ihren Lebzeiten. Als meine Mutter vor drei Jahren starb, sie litt an Brustkrebs und Parkinson, hinterließ sie stenografische Aufzeichnungen, die ich gelesen habe.“ „Was war denn an Ihrer Kindheit so schmerzhaft?“ „Ich fühlte mich von Mutter nicht geliebt und oft ungerecht behandelt. Obwohl ich lieb, fleißig, ordentlich, eigentlich ein pflegeleichtes Kind war, musste ich ständig Kritik, Ermahnungen und Bestrafungen über mich ergehen lassen, die mir wehtaten. Doch meine Gefühle durfte ich nicht zeigen. Nach Mutters Meinung schien ich nie etwas richtig zu machen. Ich bekam keine Anerkennung, kein Lob. Ihr rutschte auch oft die Hand aus. Sie brüllte, rastete aus, wenn sie unzufrieden war. Ich habe sie oft sehr herrisch und verletzend erlebt. Sie erzog meine drei Jahre ältere Schwester und mich zu strengem Gehorsam und duldete keine Widerrede. Bis zum neunzehnten Lebensjahr durfte ich ihr gegenüber keine eigene Meinung äußern. Dann wurde ich verheiratet und bekam mit 21 Jahren mein erstes Kind.“ Herr Munter beendete das Gespräch. „Kommen Sie erst einmal hier an. Erfahrungsgemäß kann das zwei Wochen dauern. Der Psychotherapeut wird Wochen später im Abschlussbericht als Ursache des Leidens anführen: „… eine Patientin, deren innere Welt davon geprägt ist, dass ihre Sehnsüchte nach einer liebevollen, zärtlichen und versorgenden Beziehung im Elternhaus nie erfüllt wurden. Ihre Bemühungen darum erlebte sie stets als erfolglos …“ In den ersten Tagen erkundigte sich der Therapeut umfassender nach Christas Lebens- und Krankengeschichte. Als er sie nach ihren Kindern fragte, fiel es ihr besonders schwer, zu antworten. Es schmerzte sie sehr, aus ihrer Sicht, als Mutter versagt zu haben, weil sie den Kindern nicht die harmonische Familie hatte erhalten können, wie es ihr größter Wunsch gewesen war. Sie weinte. Die Stimme versagte ihr. Herr Munter sagte freundlich: „Lassen Sie Ihre Gefühle ruhig heraus. Das ist völlig in Ordnung.“ Auf Christas Therapieplan standen vorerst Gymnastik, Töpfern, Entspannung und Rhythmik für einen sanften Einstieg. Die tägliche Morgenrunde, vom Pflegeteam geleitet, diente dem Informationsaustausch der Patienten über ihr Zusammenleben und die Ordnung im Haus. Es fanden regelmäßig Einzel-, Klein- und Großgruppengespräche und Visiten statt. Christa teilte sich das Zimmer mit einer Frau, die schon länger da war, einen sehr selbstbewussten Eindruck machte und ihr nützliche Hinweise gab. Die Klinik erstreckte sich mit alten Fachwerkhäusern und neu errichteten Gebäuden über ein weitläufiges Parkgelände, durch das sich ein Bach schlängelte. Christa lehnte sich gerne an die kräftigen, alten Bäume und atmete ganz ruhig. Beim weiten Blick über die Wiesen und Felder empfand sie tiefen Frieden. In diesen Momenten innerer Ruhe fühlte sie sich beglückt und gesund. In allen Gruppentherapien sah und hörte sie, wie überfordert, herabgesetzt, nicht angenommen, unglücklich, hilflos und ausgeliefert sich die Versammelten fühlten. Sie hatten sich für die Eltern, den Partner, die Kinder, die Arbeit aufgeopfert, ihre Gesundheit dabei eingebüßt und fühlten sich am Ende ihrer Kräfte. Alle steckten in Abhängigkeiten vom Wohlwollen anderer, erfuhren teilweise Liebesentzug von den Menschen, die ihnen am nächsten standen, und litten darunter. Die meisten Patienten, auch Christa, erhofften sich von den Therapeuten ein Rezept, eine Lösung, wie sie sich aus ihrer misslichen Lage befreien könnten, und wurden enttäuscht. Das sollten die Suchenden auf dem Weg der Besinnung auf sich selbst und im geistigen Austausch für sich herausfinden. Ihnen wurden hier verschiedene Möglichkeiten zur Selbsterkennung angeboten ‚Wir Betroffenen sehen wahrscheinlich den Wald vor lauter Bäumen nicht, weil wir zu sehr in unseren Problemen verstrickt sind‘, überlegte Christa. ‚Aber die studierten Fachleute erkennen, was wir falsch machen. Sie könnten uns doch die Lösungen für unsere Probleme verraten. So würden wir uns eine Menge Zeit, Geld und Nervenanspannung ersparen. Doch es muss einen Sinn haben, dass wir selbst die Lösungen finden sollen. Die Heilung der Psyche scheint ein etwas längerer Prozess zu sein. Das wird mir immer bewusster. Da zunehmend mehr Menschen in der Gesellschaft unter psychischen Erkrankungen leiden und nach Hilfe suchen, hat man in den letzten Jahren endlich erkannt, dass man sich diesen Erkrankungen mit neuer Sichtweise und einfühlsameren Behandlungen zuwenden muss. Da ist auch etwas in mir, das mir sagt: »Es ist gut, dass du jetzt hier bist, vertraue. Es wird dir helfen«.‘ Mit allem versorgt, betreut, mit Körperbehandlungen verwöhnt zu werden, war Balsam für Körper, Geist und Seele. Zu erfahren, dass es ihr besser gehen durfte und dadurch die innere Anspannung nachließ, empfand Christa dankbar als große Geschenke „Hier bin ich Mensch. Hier darf ichs sein“, sagte sie an eine Linde gelehnt. Bedingungslose Liebesenergie, aus Mutter Erde durch den Baum an sie weitergegeben, strömte in ihr. Nur war ihr nicht bewusst, dass es Liebe ist. Denn sie dachte ja noch, dass Liebe etwas ist, das man nur von anderen Menschen bekommen könne. Eine neue Erfahrung machte Christa, als sie zum ersten Mal feuchten Ton in ihren Händen hielt. Erst mochte sie diese glitschige Masse nicht anfassen. Doch beim Anschauen der Figuren und Gegenstände, die andere kunstvoll daraus geformt hatten, bekam sie Lust, es auszuprobieren. Beim Kneten der Tonmasse verspürte sie sogar wohltuende Wärme in den Händen und probierte mit Freude verschiedene Formen aus, bis eine Ente zum Vorschein kam. Christa lächelte zufrieden. Die Ergotherapeutin lobte sie, dass sie sich etwas zugetraut hatte, wogegen sie anfangs Abneigung zeigte. Die gebrannte grüne Ente landete auf dem Fensterbrett. In der Rhythmik-Gruppe durften sich die Patienten aus einem großen Schrank ein Musikinstrument aussuchen. Die kleinen, handlicheren waren schnell vergriffen. Christa nahm die übrig gebliebenen, schweren Beckenschüsseln. Damit hatte sie das größte Instrument von allen. Sie sollten eine Weile nach Lust und Laune spielen. Es klang wie das Einstimmen in einem Orchestergraben. Christa rieb die Scheiben aneinander und erzeugte so nur leise metallische Klänge. Sie wollte die anderen nicht übertönen, sah ihnen zu und stellte fest, dass sie keine Rücksicht walten ließen. ‚Ob ich auch mal lauter werde?‘, überlegte sie und schlug die Schüsseln stärker aneinander, aber immer noch zaghaft. Danach sollte jeder sein Instrument einzeln vorspielen. Es ging dabei nicht um Melodien, sondern einfach ums Spielen, Geräusche machen. Anschließend schilderte jeder Spieler und dann die Gruppe, wie sie sich dabei gefühlt und was sie wahrgenommen hatten. Als Christa dran war, ihr Instrument erklingen zu lassen, machte sie es kurz. „War das alles?“, fragte die Therapeutin. „Wollen Sie nicht mehr aus dem Instrument herausholen? Versuchen Sie es doch mal!“ Christa breitete die Arme aus, um die großen Scheiben stärker zusammenzuknallen. Die Betreuerin nickte anspornend. Also steigerte Christa die Stärke und das Tempo und empfand auf einmal Spaß dabei. Danach meinte die Therapeutin: „Jetzt halten wir uns alle mal die Ohren zu und Sie, Frau Heuer, hauen richtig rein. Geben sie alles!“ Da riss Christa die Arme so weit sie konnte auseinander, wuchtete die Becken aufeinander, sodass ihr kühle Luft beim Aufprall entgegenströmte. Sie schlug begeistert zu, bis ihre Arme erlahmten. „Na also. Sie können es doch! Wie haben Sie sich dabei gefühlt? Und wie geht es Ihnen jetzt?“ Christa sprudelte stolz heraus: „Jetzt fühle ich mich großartig. Ich hielt es nicht für möglich, dass ich so laut sein darf und kann. Ich wollte die Becken erst nicht nehmen. Die schienen mir zu gewaltig und schwer. Aber sie zogen mich auch an. ‚Hau doch mal richtig zu! Lass mal Druck raus!‘, schienen sie zu rufen. Das war prima, irgendwie … befreiend! Danke, dass ich so viel Krach machen durfte.“ „Und Sie haben uns gezeigt, wie viel Kraft in Ihnen steckt“, ergänzte die Leiterin. Christa zog sich freudig erregt und nachdenklich in den Park zurück. Ihre Gedanken flogen in ihre Kindheit ‚Die von mir am meisten gestellte Frage fing damals immer mit »Darf ich …?«, an. Und oft habe ich mich aus Angst vor Ablehnung nicht getraut, zu fragen. Heute erwarte ich immer noch die Erlaubnis anderer, ob ich etwas so machen darf, wie ich es möchte. He, ich bin jetzt 45 Jahre alt! Es ist höchste Zeit, meine Bedürfnisse ernst zu nehmen, mir selbst zu erlauben mein Leben entsprechend meiner Begabungen frei zu gestalten! Wie ist das möglich?‘ Zur Therapie gehörte auch die Muskelentspannung nach Jacobson. Das fiel ihr schwer. Wollte sie in die Ruhe kommen, geschah das Gegenteil. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie fürchtete, andere könnten es hören „Lassen Sie Gedanken wie Wolken davonziehen“, sagte der Therapeut. Die dachten aber überhaupt nicht daran, sich zu verziehen. Christa versuchte, sich nur darauf zu konzentrieren, die entsprechende Muskelpartie anzuspannen und wieder lockerzulassen. Doch das strengte an. Es erschien ihr unerklärlich, dass andere sich dabei wohlfühlten. Das musste ihr doch auch gelingen. Sie fragte den Ergotherapeuten, wieso diese Methode bei ihr nicht entspannend funktioniert „Sie können nichts erzwingen, Frau Heuer. Es geht bei den Entspannungsübungen nicht darum, sich auf schnellstem Weg etwas zu erarbeiten, sondern in einen wohltuenden Rhythmus allmählich hineinzufinden. Sich selbst in den genüsslichen Wechsel von An- und Entspannung passend mit dem Ein- und Ausatmen zu bringen, ist ein schrittweiser Weg von Übung und Geduld. Es ist ja noch neu für Sie. Sie können es hier erlernen, um es hilfreich in Ihr Leben zu integrieren, um nicht fortwährend angespannt zu sein. Es ist eine Möglichkeit, sich selbst im oft unruhigen Alltag ins Gleichgewicht zu bringen und auf gesunde Weise seine Kräfte einzuteilen. Versuchen Sie es weiter. Erlauben Sie sich, schrittweise dahin zu kommen, und gehen Sie dabei sanft mit sich um“, sagte er lächelnd. Mit Tränen und einem dicken Kloß im Hals blieb das „Danke“, das sie sagen wollte, stecken. Der Mann hatte in ihr etwas berührt „Gehen Sie sanft mit sich um“, klang es in Christa nach. ‚Was meint er damit?‘ In ihrem bisherigen Leben war ihr vermittelt worden, hart gegen sich sein zu müssen, um zu bestehen. Ihre ehemalige Sensibilität, ihre Art, Mitgefühl zu zeigen, für ihre Schwester, die Mutter, die Oma und andere, war ihr von der Mutter gründlich ausgetrieben worden, und erst recht, sanft mit sich selbst umzugehen. ‚Was ist denn nun richtig?‘ In den folgenden Wochen gelang es Christa, in der wohltuenden Umgebung etwas lockerer zu werden und die schönen Momente zu genießen. Die Verkrampfungen im Bauch und Rücken und auch die Kopfschmerzen ließen nach. Der Masseur, ein blinder Mann, brauchte nicht mehr so derb ihren Rücken zu kneten wie am Anfang. Sie hatte ihm angedeutet, wie schwer und hart ihr das Leben bisher erschienen war. Auch er erzählte ein wenig von seinen früheren Schwierigkeiten, mit denen er gekämpft hatte, um seinen Weg zu finden. Erst seit er für sich herausgefunden hatte, dass Masseur der passende Beruf für ihn ist und er damit Menschen zu körperlichem Wohlbefinden verhelfen konnte, spürte er große Lebensfreude und beglückende Erfüllung. Das war deutlich zu spüren. Dieser einfühlsame Mann strahlte Zufriedenheit aus und mit seinem Gespür dafür, wonach der Körper unter seinen Händen verlangte, tat er Christa sehr gut. Die mitgebrachten Verhärtungen wurden erweicht. Ihr Vertrauen, sich dieser Behandlung hinzugeben, wurde nicht enttäuscht. Sie fühlte sich beschenkt und verstanden und dankte dem Mann herzlich. Auch wenn Christa sich wiederholte, indem sie wieder von ihrem belasteten Verhältnis zu ihrer Mutter im Gespräch mit dem Psychotherapeuten berichtete, es drängte sie danach, sich auszuschütten „Ich habe mit meinem Artig-Sein um ihre Liebe gebettelt, weil sie so hartherzig war. Später wollte ich ihr beweisen, dass ich mit meiner Liebe eine harmonische Familie gründe, wie ich sie mir immer gewünscht hatte. Mutter äußerte immer nur ihre Sorge, ob ich das alles schaffe. Ich entwickelte extremen Ehrgeiz, alles perfekt machen zu wollen, bis ich nicht mehr konnte, in einer Sackgasse landete. Die Familie ist kaputt. Ich bin kaputt. Mir ist so, als würde sich meine Traurigkeit von früher mit meiner jetzigen summieren.“ „Das sieht man Ihnen nicht an, Frau Heuer. Sie lächeln fast ständig.“ „Aha, das ist mir nicht bewusst. Ich will zu allen freundlich sein, niemanden verletzen, nicht anecken.“ „Frau Heuer, wo steht, dass sie das nicht dürfen? Sie legen es doch nicht darauf an und können nicht wissen, ob Ihr Gegenüber verletzt sein wird. Vielleicht ja, vielleicht nein. Das ist nicht Ihre Sache. Sie brauchen sich nicht bei allen beliebt zu machen. Damit schränken Sie sich selbst in Ihren Ausdrucksmöglichkeiten ein, die ihren wahren Gefühlen entsprechen. Gehen Sie mehr aus sich heraus! Probieren Sie sich aus! Zeigen Sie, wie Ihnen zumute ist! Wir geben Ihnen in den Gesprächsgruppen und Ergotherapien reichlich Gelegenheiten dafür.“ Er reichte ihr aufmunternd die Hand. Christa staunte über die häufig geäußerte Wut anderer. Wut? Nein. Sie war nicht wütend. Sie hatte immer viel Verständnis. Doch als sie in einem Gruppengespräch davon erzählte, wie sie im Elternhaus auf ihren Wünschen und verletzten Gefühlen sitzen geblieben war, stieg auch in ihr Wut auf. Sofort wurde diese von einem Gedanken gebremst: ‚Auf die Eltern darf man doch nicht wütend sein! Die haben nur ihr Bestes getan und meinten es gut mit mir.‘ Christa verstummte, schluckte ihre Wut hinunter. Ihre Zimmermitbewohnerin Ute platzte heraus: „Ich muss dir mal sagen, wie wütend du mich machst, wenn du nicht rauslässt, was du wirklich über deine Eltern denkst. Du setzt eine mitleiderregende Miene auf und willst, dass dich alle lieb haben. Pack doch mal die Wahrheit ganz auf den Tisch! Wie lange willst du denn noch darauf sitzen bleiben? Und lass den Weichspüler weg!!“ ‚Na toll, nun habe ich mich mal getraut, etwas von mir preiszugeben‘, dachte Christa, ‚und ernte so ein Echo. Ute mag mich nicht. Ich nerve sie. So was Blödes. Die hat gut reden. Die strotzt vor Selbstbewusstsein.‘ So ließ sie ihrem Gekränkt-Sein wieder nur innerlich freien Lauf, bis in ihr die Frage auftauchte: ‚Bist du neidisch, Christa, weil die Frau bekommt, was sie will?‘ Sie gestand sich ein, dass es so war, und sah es auf einmal als Anreiz: ‚Vielleicht kann ich ja von Ute lernen, etwas an mir zu erkennen, was ich bisher nicht sehen wollte.‘ Je mehr sich Christa in den folgenden Gesprächsrunden öffnete, desto mehr Emotionen stiegen in ihr auf. Das war zeitweise schwer auszuhalten. Sie sah sich nur noch als eine Versagerin ‚Was habe ich bisher falsch gemacht? Was muss ich ändern? Wo soll ich anfangen? Wie komme ich denn bitteschön zu mehr Selbstbewusstsein?‘, fragte es gereizt in ihr ‚Kann ich es denn mit fünfundvierzig Jahren noch lernen? Wieso denn nicht? Worauf will ich warten? Hier habe ich in geschütztem Rahmen die Chance, damit zu beginnen.‘ In dem Moment rührte sich etwas in Christa und ließ sie wissen, dass sie sich einen großen Dienst damit erweist, genau hinzuschauen, womit sie sich selbst im Weg steht, um das Ziel zu erreichen, ein freudvolles Leben zu führen, das ihrem wahren Wesen und ihren Wünschen entspricht. Mit der intensiven Betrachtung ihrer erlebten Geschichte kam in Christa viel in Bewegung. Eines Nachts brach ein Vulkan in ihr aus, massive Ekelgefühle zwangen sie auf die Toilette. Sie geriet in Panik und fiel in Ohnmacht. Die Nachtschwester führte sie zum Bett, brachte ihr Tee und sprach beruhigend auf sie ein. Zwei Tage konnte sie nicht aufstehen, so schwindelig war ihr. Ute kümmerte sich fürsorglich um sie. „Danke, Ute, dass du mir wieder auf die Beine hilfst.“ „Mache ich doch gerne. Aber sag mal, wen oder was hast du denn da ausgekotzt? Am Essen lag es ja nicht. Das ist dir doch klar, oder?“ „Ja. Das habe ich mich auch gefragt und bin darauf gekommen, dass ich mich vor mir selbst geekelt habe, weil ich, mich selbst entwürdigend, um Liebe gebuhlt habe. Noch kurz bevor ich in die Klinik kam, bin ich einem Mann auf den Schoß gekrochen wie ein Hund, mit der Absicht: ‚Bitte streichle mich. Ich will auch alles tun, damit es dir gut geht und du mich lieb hast.‘ „Du meinst, wie ein Kind, das um Liebe bettelt und trotz aller Bemühungen nicht bekommt, was es haben will?“ „Ja. Das Blöde ist, ich fühle mich diesem Verlangen ohnmächtig ausgeliefert, unfähig, es aufzugeben. Da ist eine dermaßen unbändige Sehnsucht nach geliebt zu werden in mir und ich kann damit nicht umgehen.“ „Das tut mir leid für dich. Ich habe das nicht so erlebt.“ Ein paar Tage fühlte sich Christa erleichtert, bis wieder starke Zweifel und finstere Gedanken auftauchten: ‚Ich bin zweimal geschieden. Doren ist vor mir geflohen. Daniel will gar nichts mehr von mir wissen. Ich habe keine Freunde. Und im Job muss ich durchhalten. Eigentlich will ich gar nicht mehr leben. Die Vergangenheit kann ich nicht ändern. Obwohl ich alles mit vollem Einsatz getan habe, so gut wie ich es konnte, stehe ich jetzt mit leeren Händen da. Wofür???‘ Sie stand auf der Autobahnbrücke nahe der Klinik mit dem Drang, alles aufzugeben, sich von der Brücke fallen zu lassen. Doch eine starke innere Kraft hielt sie davor zurück. Sie war so ehrlich, dem Therapeuten von ihrer Todessehnsucht zu erzählen, und musste ihm versprechen, rechtzeitig Bescheid zu geben, wenn sie es nicht mehr aushalten könne. Dann käme sie vorübergehend in eine geschlossene Einrichtung ‚Geschlossene! Nein danke!‘ Das Erlebnis vor ein paar Jahren, als sie nur einen Tag lang so eine Station von innen gesehen hatte, war abschreckend genug. Ihr fiel ein, wie sie um ihre Freiheit gerungen und sich fest vorgenommen hatte, ihr Leben neu einzurichten, und mit dieser Absicht der Sonne entgegengefahren war. Dank dieser starken Erinnerung fasste Christa wieder neuen Lebensmut. Auf einmal verlangte es sie danach, sich ihrer Schwester mitzuteilen. In einem langen Brief schilderte sie ihr, wie sie unter der Strenge der Eltern gelitten und Gisela vermisst hatte. Wenige Tage später bekam Christa Besuch. Die Schwestern brauchten nicht viele Worte. In der herzlichen Umarmung bei der Begrüßung und in ihren Augen kam alles zum Ausdruck ‚Jetzt kann ich dich besser verstehen. Wir hatten es beide nicht leicht‘, konnten sie darin lesen. Sie freuten sich, einander wiederzusehen. Christa dankte Gisela sehr für ihr Kommen. Durch gegenseitiges Mitgefühl und Verständnis füreinander löste sich ein Teil der Traurigkeit in Christa auf. Von da an gelang es ihnen, schrittweise ein vertrauendes, verständnisvolles Verhältnis aufzubauen. Im Verlauf der Therapie wurde Christa mutiger, konnte angstfreier mit anderen umgehen, Gefühle zulassen, die sie bisher unterdrückt hatte. Hier musste sie ihre Worte nicht erst wohlüberlegt abwägen. Niemand wurde ausgelacht, verurteilt oder gar niedergemacht. In diesem sich zunehmend Frei-Fühlen wurde Christa bewusst, wie viel Energie es gekostet hatte, sich ständig unter Kontrolle zu halten, um nicht anzuecken und die Erwartungen anderer zu erfüllen, wie ermüdend das war! Der offene und ehrliche Austausch mit anderen Patienten, das Reden, Zuhören, Mitfühlen, Verständnis-für-einander-haben, festzustellen, dass auch alle anderen ihre Last trugen und nach Erleichterung suchten, war tröstend und verbindend. An den Wochenenden hörten sie sich in kleiner Gruppe die Kassetten des Hörspiels „Herr der Ringe“ an, in Decken eingekuschelt und ihre selbst zubereitete Pizza essend. Christas Therapie näherte sich dem Ende. So viel Aufmerksamkeit, Zuwendung, Denkanstöße, Ermutigung sich mehr zuzutrauen und Neues zu wagen, waren ihr zuteilgeworden, dass sie neue Lebensfreude und Zuversicht empfand. Mit dem abnehmenden inneren Druck war es ihr auch gelungen, seltener, und zum Schluss sogar nicht mehr, in ihrem Gesicht zu drücken. Auch ihre Konzentration verbesserte sich deutlich. Mit dem Frühling blühte auch Christa auf. Sie hüpfte strahlend durch den Park. Als sie sich in der Großgruppenrunde bei allen Therapeuten, Leitern, Betreuern und Patienten bedankte, sagte sie: „Die ehrliche Aufmerksamkeit, das mir entgegengebrachte Verständnis und Neues ausprobieren zu dürfen, die gesamte fürsorgliche Unterstützung habe ich sehr wohltuend empfunden. Es regt mich dazu an, draußen darauf zu achten, wie ich nun auch selbst liebevoll mit mir umgehen kann. Und es hat mir gutgetan, mit euch zusammen zu sein. Mir ist hier erst deutlich geworden, wie vereinsamt ich war. Ich danke euch allen. Hier habe ich viel Herzenswärme erleben dürfen. Wir haben Freude und Leid miteinander geteilt. Ich wünsche euch alles Gute.“ Ihr kamen Tränen. Die Zuhörer klatschten. Mit den besten Vorsätzen, auf sich selbst, ihre Bedürfnisse und Gefühle zu achten, ehrlich ihre Meinung, Wünsche und Empfindungen zu äußern, verließ Christa optimistisch die Klinik. Doch der Schwung ihres neuen Anfangs wurde jäh gebremst. Aus einer Welt der Entspannung in eine Welt der Anspannung im Arbeitsprozess zu wechseln, wirkte auf Christa wie ein Schlag auf den Kopf. Inzwischen hatten sich schon wieder Gesetze und Verfahrensweisen geändert. Die Mitarbeiter wurden andauernd in Richtung eines neuen Systems – „Arbeitsamt 2000“ – geschult. All diese Maßnahmen führten nicht dazu, mehr Menschen in Arbeit zu vermitteln, sondern die Statistik zu beschönigen. Mit zu erleben, wie Menschen durch Bewerbungstraining sich für den Markt profilieren mussten und dann doch immer wieder abgelehnt wurden, tat Christa in der Seele weh. Ihr fehlte es an Gelassenheit, hinzunehmen, was sie nicht ändern konnte. Bald fühlte sie sich durch die vielen betrieblichen Anforderungen und Begegnungen mit Menschen, die immer öfter ihren Frust an den Mitarbeitern ausließen, wieder zunehmend unter Druck. Etwas aushalten zu müssen, das nicht ihrer Natur entsprach, belastete sie. Der Körper reagierte mit Magen- und Darmbeschwerden, Erschöpfung und Müdigkeit. Ihre Arbeitsleistung ließ nach. Ohne den Vorzug langjähriger Amtszugehörigkeit und ihres Alters unkündbar zu sein, wäre auch sie arbeitslos und schwer vermittelbar geworden. Am liebsten hätte sie gekündigt. Doch damit brächte sie sich ins Aus. Kein Arbeitgeber würde sie mit ihrer Krankenakte nehmen. Sie gab so viel sie konnte, um durchzuhalten. Christa hätte gerne soziale Kontakte geknüpft. Aber mit wem? Die Kollegen und auch die Teilnehmer der Yoga-Gruppe waren alle in ihre Familien eingebunden, immer ausgelastet. So wuchs in ihr wieder der Wunsch nach einer Beziehung mit einem verständnisvollen, einfühlsamen, lebensfrohen Partner, der sie so annahm, wie sie war, mit dem sie alles teilen konnte. Eine neue Partnerschaft. Über das Radio verfolgte Christa mehrmals eine Sendung, in der Menschen nach einem Partner suchten, und nutzte nun auch selbst diese Gelegenheit. Vor ihrem Anruf beim Sender schrieb sie sich Stichworte auf, was sie über sich sagen wollte und was für einen Mann sie sich wünschte. Von den vielen Anrufern war keiner dabei, der ihr Herz berührte und Interesse in ihr weckte. Ihre Hoffnung sank. Da klingelte es wieder und eine fröhliche, angenehme, warmherzig klingende Männerstimme meldete sich: „Hallo. Hier ist Michael. Ich hoffe, ich bin nicht zu spät dran. Es war so schwierig, zu Ihnen durchzukommen. Überhaupt war alles seltsam vorhin … Entschuldigung, dass ich einfach so aufgeregt losrede. Ich bin auf der Autobahn unterwegs. Darf ich Sie in etwa einer halben Stunde noch mal anrufen, oder sind Sie schon müde?“ „Sie haben mich jetzt wieder aufgemuntert mit Ihrer frischen Art. Ja, gerne. Sie machen mich neugierig.“ „Prima, bis nachher.“ Telefon. „Hier ist wieder Michael. Endlich bin ich zu Hause nach 600 Kilometern Fahrt. Stellen Sie sich vor, während ich eine Musikkassette zu laufen hatte, klemmte diese plötzlich, und so konnte ich Ihre schöne Stimme hören: ‚Hallo. Hier ist Christa.‘ Da hüpfte mein Herz. Ich bin sicher, das war kein Zufall. Ich möchte Sie gerne kennenlernen. Haben Sie vielleicht Interesse, einem ziemlich verrückten Kerl zu begegnen?“ Pause. „Hallo?“, rief Michael. ‚Es wird sie doch nicht umgehauen haben?‘, dachte er „Ich musste erst einmal durchatmen“, meldete sich Christa. „Lassen Sie uns morgen früh miteinander reden. Ich bin jetzt doch sehr müde. Träumen Sie schön heute Nacht.“ Müde? Nein. Jetzt war Christa hell wach und innerlich etwas aufgewühlt. ‚Ein herzlicher, mich anregender Mann mit angenehmer Stimme. Das fühlt sich aufregend an.‘ Sie schenkte sich Rotwein ein und synchron goss Michael Bier in sein Glas. Nur, dass es keiner vom anderen wusste. Chris de Burghs Lieder passten jetzt gut in Christas Stimmung. Sie strickte im Rhythmus der Musik an einem Pullover. Nach einer Stunde fiel sie lächelnd in den Schlaf. Am Morgen begrüßten sich beide heiter plaudernd, als ob sie sich schon länger kennen würden, tauschten Episoden aus ihrem Leben aus. Aufgrund der 600 km Entfernung zwischen ihren Wohnorten verschoben sie ihr erstes Treffen auf drei Wochen später, telefonierten häufig und schickten Briefe mit Fotos. Einmal sagte Michael: „Christa, es ist mir gar nicht so wichtig, wie du aussiehst, du berührst mein Herz. Mir ist, als ob wir uns finden sollten.“ Sie waren sich in ihrem offenen, einfühlsamen Wesen schon sehr nahegekommen und konnten ihr Treffen kaum noch erwarten. Michael nutzte ein verlängertes Wochenende und fuhr zu der Frau, die er schon in sein Herz geschlossen hatte. Als er aus dem Auto stieg, kam ihm Christa entgegen. Einen Moment lang schien die Zeit stillzustehen, als sie sich sahen und umarmten, ein Küsschen gaben und dann etwas verlegen lächelten. Michael wünschte sich, erst ein Stück spazieren zu gehen. Und so liefen beide Hand in Hand in einen Park. Am ersten Tag redeten sie wenig. Das Verlangen nach Berührung, die beide so sehr vermissten, war zu groß. Am Abend fragte Christa, ob er gerne baden möchte. „Du kannst wohl meine Gedanken lesen?“, antwortete Michael erfreut. „Am schönsten wäre es jedoch mit dir zusammen.“ In romantischer Stimmung bei Kerzenschein und Rotwein ließen sie sich treiben. Er lehnte seinen Kopf an den Wannenrand und schloss die Augen, überließ sich Christas sanften Händen, die sich an seinem entspannten Lächeln erfreute „Woher weißt du in jedem Moment, an welcher Stelle ich gestreichelt werden möchte?“, fragte Michael erstaunt. „Ich spüre es einfach.“ Im Bett gelang es ihr zunächst nicht, Michaels Geschenke anzunehmen, weil ihr Verstand die Kontrolle behalten wollte. Doch plötzlich erschütterte beide eine Explosion, sodass sie wie eine Rakete ins All schossen, die Erde umkreisten und schließlich freudig ermattet und befreit weich landeten und selig einschliefen. Am nächsten Tag erzählte Michael von seiner Leseleidenschaft, von seinem Interesse für Menschen, die abenteuerliche Weltreisen unternommen hatten und über ihre außergewöhnlichen Begegnungen und Entdeckungen berichteten. Besonders beeindruckte ihn der Naturforscher, Wissenschaftler und Abenteurer Thor Heyerdahl mit seinen mutigen, ehrgeizigen Pazifik-Expeditionen, um die Herkunft der Urvölker zu erforschen und sich für die Zusammenarbeit und Verständigung der Völker der Welt einzusetzen. Auch faszinierten ihn die Entdeckungen, die Erich von Däniken über viele Jahre gemacht hatte, die aus seiner Sicht darauf schließen ließen, dass außerirdische Wesen die Erde besucht hatten „Weißt du“, erklärte Michael, „ich bewundere Menschen, die nicht nur der allgemeinen Schulweisheit folgen, sondern sich selbst auf den Weg machen, die sich unvoreingenommen die Welt erschließen. Ich interessiere mich auch sehr für Übersinnliches, wie zum Beispiel für Kornkreise mit ihren Symbolen, durch die uns Botschaften aus einer Welt höheren Bewusstseins vermittelt werden. Ich habe darüber einen sehr schönen Bildband. Es gibt viel mehr im Universum, als wir uns bisher vorstellen können. Das begeistert mich.“ Christa sah es ihm an und etwas in ihr weckte auch Neugierde, mehr darüber zu erfahren. Ihr war, als ob in ihrem Inneren ein Licht anging und eine fast erloschene Flamme aufflackerte. Michael legte eine CD auf und gerührt hörten sie sich das Lied der Gruppe Karat an: „Wenn ein Schwan stirbt.“ Beide hatten 35 Jahre in der DDR voneinander getrennt gelebt. Nun, in diesem Zusammensein, fühlten sie sich tief verbunden. Nach Michaels Abreise war Christa aufgedreht und müde zugleich. Ihr war, als hätte jemand den Stecker zu ihrer Energiezufuhr herausgezogen. Sie war prall gefüllt mit heftigen Gefühlen und gleichzeitig fühlte sie sich verlassen und konnte es jetzt mit sich alleine kaum aushalten. Fluchtartig rannte sie aus der Wohnung und ging ziellos an diesem späten Sonntagnachmittag durch die fast menschenleeren Straßen. In ihr liefen alle Szenen dieser bewegenden Tage wie ein Film ab. Sie hörte noch mal, was Michael und sie einander erzählt hatten. Als säße ein Papagei in ihrem Kopf, der alles nachplapperte. Leider gelang es Christa nicht, die schöne Stimmung einfach freudig und ruhig ausklingen zu lassen. Zu Hause zwang sie sich zur Besonnenheit, räumte die Wohnung auf und spülte das Geschirr. Ihr großes Verlangen, sich jetzt jemandem mitteilen zu können, blieb unerfüllt. Sie fühlte sich wie ein verlassenes Kind. Je mehr sie gegen ihre traurigen Gefühle ankämpfte, umso stärker wurden sie. Der Spiegel-Ruf erklang: „Hallo! Quäle dich nicht. Du weißt doch, dass du bei mir Druck loswirst.“ Zwei Stunden später weinte sie bitterlich, weil sie mit ihren Gefühlen nicht gesund umgehen konnte. Im Unterbewussten lebte in ihr – wie einprogrammiert – der Glaubenssatz: „Wenn ich mich einem Mann in Liebe hingebe, vertraue, werde ich womöglich verlassen.“ Und da war auch noch die Angst, keine dauerhaft glückliche Beziehung haben zu können ******(Solange gedankliche Überzeugungen für wahr gehalten werden, wiederholen sich entsprechende Erfahrungen. Noch war Christa nicht so weit auf ihrer Erfahrungsreise zu sich selbst, um das erkennen und ihre irrige Annahme korrigieren zu können.) ****** Anmerkung der Autorin. In den folgenden Wochen fiel Christa ihr Leben leichter. Die Freude über den Austausch mit Michael gab ihr Aufschwung. Am liebsten hätte sie alles hinter sich gelassen und wäre mit wehenden Fahnen zu ihm gezogen. Doch ihr Verstand mahnte, gründlich zu überlegen, welche Risiken sie damit einginge. Aber diese Überlegungen widerstrebten ihrem Herzen, das sagte: „Ja, ich möchte mit Michael zusammen sein! Ich fühle mich zu ihm hingezogen.“ Es war in Christa wie in Stein gemeißelt: ‚Schalte zuerst deinen Verstand ein! Denke bis zu Ende, ehe du folgenschwere Entscheidungen triffst!‘ Das versuchte sie, aber letztendlich waren das alles spekulative Überlegungen: ‚Was wäre, wenn …?‘ Wie ihnen ein erfüllendes Zusammenleben gelingen würde, war völlig ungewiss und hing von ihrem täglichen Umgang miteinander ab … Klingeln unterbrach ihre Gedanken. Michael. „Hei Mädel, im Deutschlandfunk läuft ein Gottesdienst über Liebe. Wir reden danach.“ Beim Zuhören war ihr, als führte sie etwas in die Tiefe ihres Inneren, an einen friedlichen Ort wie ein inneres Zuhause. „Ist das ein göttlicher Ort?“, flüsterte sie. Die Annahme, ein Gottes-Kind der Liebe zu sein, wie der Pastor in seiner Rede sagte, löste in ihr ein warmes, wohliges Gefühl von Geborgenheit aus. Als sie Michael von ihrer Wahrnehmung erzählte, sagte er: „Du hast treffend ausgedrückt, was auch ich gefühlt habe. Mir liefen Tränen, einfach so.“ Dass sie sich so austauschen konnten, empfand Christa als großes Geschenk. Zwei Wochen später fuhr sie mit ihrem geliebten Peugeot von Stralsund in Richtung Teutoburger Wald. Der Juni 2000 war sehr heiß. Am Tage zeigte das Thermometer 34 Grad Celsius an. Als sie nach der stundenlangen Fahrt auf dem verabredeten Rastplatz ankam, fiel sie völlig erschöpft in Michaels Arme. Er öffnete die Heckklappe seines Autos und zeigte auf ein Tablett. „Darf ich dich zu Pflaumenmus-Brötchen einladen?“ „Wow, du bist ein Schatz!“ Mit diesen Worten umarmte sie ihn gleich noch mal, setzte sich in den Wagen und verzehrte genüsslich das mit Liebe Zubereitete. In diesen Tagen fand die Weltausstellung „Expo 2000“ in Hannover statt. Unter anderem besuchten die beiden ein Rockkonzert der Inga-Rumpf-Gruppe im Christus-Pavillon. Ein unbeschreiblich liebevolles und gleichzeitig kraftvolles Energiefeld schwebte in diesem Raum. Christa fühlte sich von der friedlichen, heiteren Atmosphäre umarmt und ließ sich von der Musik berühren. Wenn die Zuhörer mitsangen, rieselte Gänsehaut über ihren Körper. Sie fühlte sich mit allen verschmolzen in dieser herzlichen, freudvoll schwingenden Gemeinschaft. Von Michael im Arm gehalten, trieben sie auf einer Welle des Glücks. ‚Ach, wenn doch alle Menschen dieser Erde so in Liebe miteinander verbunden wären!‘, drang es aus ihrem Herzen. Beim anschließenden Spaziergang über das belebte, bunt leuchtende Gelände fühlte sich Christa wie ein Kind in einer Märchenwelt. Alles jubelte in ihr „Schatz, kannst du dir vorstellen, mit mir zusammenzuleben?“, fragte Michael liebevoll am nächsten Abend bei Kerzenschein. „Ja. Auch wenn ich jetzt noch nicht weiß, wie das praktisch funktionieren kann.“ „Ach, weißt du, ich glaube, die Liebe weist uns den Weg. Gott ist mit uns.“ „So ein tiefes Urvertrauen möchte ich auch haben“, äußerte Christa sehnsüchtig und schwieg dann eine Weile. „Na, was rattert durch deinen Kopf?“ „Ich weiß nicht, ob ich psychisch schon stabil genug bin, wieder eine feste Beziehung eingehen zu können, ob ich mich mit allem Drum und Dran ganz darauf einlassen kann. Große Veränderungen kämen auf mich zu. Ich bin mir nicht sicher, ob ich stark genug dafür bin. Ich habe in mir noch keinen festen Halt.“ „Wieso zweifelst du so an dir, Christa? Ich erlebe dich als eine starke, selbstbewusste, kluge Frau. Ich traue dir einen Neuanfang zu. Wenn ich bedenke, was du im Leben schon alles gemeistert hast, trotz der erschwerten Startbedingungen, kann ich nur den Hut ziehen. Und ich werde mit meiner Liebe und Stärke ja an deiner Seite sein. Ich finde, dass wir uns prima ergänzen. Dich beschäftigt bestimmt auch deine Arbeitsstelle.“ Christa nickte. „Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam zum Personalchef des Arbeitsamtes gehen und fragen, wie die Aussichten für dich hier stehen, übernommen zu werden?“ „Gute Idee.“ Nachdem Christa dem Leiter der Personalabteilung von ihrem Arbeitsleben und ihrem laufenden Rentenantrag berichtete, äußerte er großes Verständnis und sagte ganz offen, dass sich auch in diesem Amt Kollegen gegeneinander ausspielen. Mit der Entscheidung für eine Arbeitsaufnahme müsste sie eine sechsmonatige Probezeit, möglichst ohne Arbeitsausfall, bestehen. Wann eine Stelle frei würde und ob sie diese bekäme, sei fraglich. Und bei Nichtbestehen der Probezeit müsste sie in das vorherige Amt zurückkehren „Überlegen Sie sich reiflich, ob Sie sich diese harte Tour wirklich zumuten wollen. Die psychischen Belastungen in der Arbeitswelt wachsen, das nehme ich deutlich wahr“, gab ihr der Mann zu bedenken. Christa bedankte sich für seine Ehrlichkeit. Wieder bei sich in der Wohnung, geriet Christa mit sich in zwiespältige Gedanken und Gefühle. Das Herz-Gefühl sagte „JA“ aus der Freude heraus, mit Michael eine erfüllende Liebesbeziehung zu erleben, die ihr neue Anregungen für einen weiteren Blick über ihre bisherige Welt hinaus anbot und sie dazu einlud, sich selbst neu zu entdecken. Ein paar Tage hielt dieses freudige Gefühl an, bis ihr Verstand mit zweifelnden Gedanken die Stimmung trübte ‚Du mutest dir zu viele Veränderungen auf einmal zu, wenn du zu Michael ziehst … Du bist zu instabil … Was machst du, wenn es mit der Arbeit oder mit der Bewilligung der Rente nicht klappt? …‘ Ratter, ratter, ratter. Ihre Versuche, die sich auftürmenden, negativen Gedanken durch positive zu ersetzen, misslangen. Angst, womöglich nicht die richtige Entscheidung zu treffen und ihre relativ sicheren Verhältnisse aufzugeben, legte sich wie ein schwerer Stein auf den Magen. In ihr baute sich wieder starker Druck auf und das viele Grübeln über das Für und Wider fühlte sich bedrohlich an, als hätte sie einen Metallreifen am Kopf mit einer Schraubzwinge, an der jemand dreht ‚In der letzten Therapie hatte ich es doch überwunden. Ich war so optimistisch, mein Leben in den Griff zu bekommen. Wo kommen diese Zweifel her, die mich in die Dunkelheit ziehen? Ich bin doch bewusst dabei, psychische Stabilität, innere Stärke und Selbstbewusstsein zu entwickeln. Wieso rutsche ich nun wieder ab? Was ist mit mir los? Wieso ist so eine große Angst in mir, an diesem Leben zu scheitern und womöglich keine dauerhaft haltende Beziehung haben zu können, nach der ich mich sehne?‘ „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Wie ein Lichtstrahl kamen Christa an einem Sonntag diese berührenden, ermutigenden Worte von Dietrich Bonhoeffer in den Sinn, die sie auf einem Plakat gelesen hatte, das in Michaels Wohnzimmer hing und die schöne Erde im Kosmos schwebend zeigte. Nach dieser Geborgenheit und dem Gottvertrauen ins Leben sehnte sie sich zutiefst. ‚Doch wie komme ich dahin?‘ Die Lösung dieses Geheimnisses schien ihr so fern zu sein wie die Sterne im Universum. Bereitschaft für Veränderung. Christa sprach mit Michael über ihre Verstimmungen und die sich aufdrängenden Zweifel „Ich habe so viele schmerzhafte Trennungen hinter mir und traurige Erfahrungen gemacht, dass ich Angst vor weiterer Enttäuschung habe. Spekulative Gedanken türmen sich wie eine Wand auf und nehmen mir den Mut, weiterzugehen, obwohl ich es wirklich gerne möchte. Ich sehne mich nach Zweisamkeit und Stabilität, nach Vertrauen ins Leben, das mir Stärke gibt. Doch jedes Mal, wenn ich mich beherzt auf Veränderungen in meinem Leben einließ, dauerte es nicht lange und das Erbaute stürzte ein. Ich habe Angst, immer wieder im Leben zu scheitern und die dauerhafte Liebe nicht finden zu können, durch die mir die Freude am Leben erhalten bleibt.“ „Aber Christa, das liegt doch an uns beiden, wie wir uns das Leben einrichten. Du kannst dir zehn und mehr Varianten für die Zukunft ausdenken. Damit weißt du doch nicht, wie es wirklich kommt. Mit deinen spekulativen Gedanken stehst du dir nur selbst im Weg. Es können wundervolle Wendungen eintreffen, die dir noch nicht in den Sinn gekommen sind. Du bist nicht allein. Egal was kommt, ich bin für dich da. Lass mich dein Fels in der Brandung sein.“ „Also höre ich mit diesen Gedankenspekulationen sofort auf und freue mich einfach auf unser Zusammensein.“ „Sehr gute Entscheidung, Christa. Dann hast du bestimmt auch weniger Kopfschmerzen und machst dir nicht selbst das Leben schwer. Lass uns gemeinsam in ein neues Abenteuer starten.“ Michael besuchte mit Christa seine Adoptivmutti, die ihm von klein an ein liebevolles Zuhause schenkte. Auch Christa fühlte sich bei der herzensguten, lebensfrohen, verständnisvollen, tatkräftigen Hobbygärtnerin wohl. Die Frauen hatten sofort einen guten Draht miteinander. Am Abend erlebten sie ein Feuerwerk am Himmel und danach im Bett. Es passte genau in Christas festliche Stimmung. Sie fühlte sich hoffnungsvoll und bereit für Neues ‚Selbst wenn unsere Beziehung nicht für immer halten sollte‘, dachte sie vor dem Einschlafen, ‚würde ich mich am Teutoburger Wald, wo Michael wohnt, wohlfühlen. Das habe ich bei meinen Besuchen deutlich gespürt. Wie uns ein beglückendes Zusammenleben gelingt, erfahren wir nur, wenn wir es probieren. Ich will darauf vertrauen, dass es möglich ist. Wir lieben uns und werden im Zusammenleben miteinander wachsen.‘ Als sie Michael am Morgen voller Freude ihre Entscheidung mitteilte, strahlte er und rief: „Mädel, das ist ja großartig! Endlich machst du Nägel mit Köpfen!“ Und dann verschmolzen sie küssend miteinander. Die nächste wundervolle Überraschung erlebte Christa, als sie ihre Post öffnete. Sie konnte es kaum fassen. Ihr wurde eine befristete Rente wegen Erwerbsminderung bewilligt. Eine schwere Last fiel von ihr ab. Befreit streckte sie ihre Arme in die Höhe und rief mit Tränen in den Augen: „Danke! Danke! Danke!“ In den folgenden Wochen hieß es Abschied nehmen von ihrer geliebten Ostsee-Landschaft, die sie auf unabsehbare Zeit nicht mehr sehen würde, und von ihren Kollegen, die ihr alles Gute wünschten. Dem jungen Paar, das nun in die Wohnung einzog, überließ Christa preisgünstig die meisten Möbel, die erst ein halbes Jahr alt waren, und den Hausrat, den sie gebrauchen konnten. So zog die Mutige mit Handgepäck in das Einzimmerappartement mit Terrasse bei Michael ein. Das Wohnzimmer war geräumig und gemütlich eingerichtet. Eine Fensterfront über die ganze Breite bot einen freien Blick ins Grüne und in den Himmel. Es gab ein Bad mit Wanne und Dusche und eine komplett eingerichtete Küche. Christa gefiel dieses freundliche Zuhause und während Michael arbeitete, erkundete sie mit ihrem Fahrrad die Umgebung. Beide verbrachten viele entspannte Stunden miteinander. Er war für sie ein Ruhepol. Sie versuchte, sich ein Beispiel an seiner Gelassenheit zu nehmen. Je mehr es ihr gelang, ihre Gedanken-Autobahnen über Vergangenheit und Zukunft zu verlassen und ganz in der Gegenwart zu sein, umso besser ging es ihr. Drifteten ihre Gedanken doch ins spekulative Grübeln ab, klatschte sie laut in die Hände, sprang hoch und sagte: „Stopp! Das ist überflüssig. Es dient mir nicht.“ Und dann beschäftigte sie sich sofort. Sie entwickelte für sich einen Bewusstseins-Sport, trainierte aufmerksam, sinnlose und negative Gedanken zu bemerken, diese sofort fallen zu lassen, um sich nicht darin zu verlieren und den Kopf zu lüften. Die erste größere Herausforderung kam, als Michael entlassen wurde. Er wollte nicht darüber sprechen „Das nützt ja nichts. Kommt Zeit, kommt Rat“, sagte er nur. Dass er sich nun im Arbeitsamt melden sollte, machte ihm jedoch zu schaffen. Da Christa etliche Jahre dort gearbeitet hatte, konnte sie ihm eine positive Herangehensweise vermitteln. Durch das Amt vorübergehend sozialversichert zu sein, Geld zu bekommen und sich bei einer Neuorientierung helfen zu lassen, wenn man dafür seine Bereitschaft zeigte, ließ einen nicht ins Bodenlose fallen. „Ich habe nicht die geringsten Zweifel, lieber Michael, dass du wieder Arbeit bekommst. Wir halten unsere Augen und Ohren offen für Angebote. Es wird sich etwas ergeben.“ Tatsächlich, Michael erfuhr, dass der „Bertelsmann Verlag“ um Handelsvertreter warb, die auf selbstständiger Basis arbeiteten. Das sprach ihn an. Da war er für die finanzielle Unterstützung durch das Arbeitsamt sehr dankbar. Nach einem Vorbereitungskurs legte er optimistisch los. Ein paar Monate machte es ihm Freude, mit Menschen ins Gespräch zu kommen und ihnen das „Bertelsmann Lexikodisc-System“ anzubieten. Einige Leute fanden es großartig. Aber so viel Geld konnten oder wollten sie dafür nicht ausgeben. Sein Elan ließ nach und er begann, an sich zu zweifeln, weil andere Vertreter erfolgreicher waren. Eine Weile konnte Christa ihn noch stärken, dann gab er auf. Nun waren beide den ganzen Tag auf engem Raum zusammen. Michael tauchte ab. Zigarillos rauchend und Bier trinkend in seine Bücher vertieft, saß er meistens auf der Terrasse. Nun konnte Christa das Rotieren in ihrem Kopf nicht mehr aufhalten. Sie redete sich ein, ihm nicht die Stütze zu sein, die er brauchte, und ihm womöglich zur Last zu fallen. Diese Gedanken entsprachen nicht der Wahrheit. Doch leider neigte Christa dazu, sich für Dinge schuldig und verantwortlich zu fühlen, die nicht ihre waren. Sie vertraute Michael an, wie ihr zumute war. Er wunderte sich über ihre seltsamen Gedanken „Es liegt doch nicht an dir, dass ich derzeit ohne Arbeit bin. Ich komme da schon wieder heraus. Das ist eine vorübergehende Situation, aber kein Grund an dir zu zweifeln.“ Er nahm sie in seine Arme. „Ich bewundere dich für das, was du alles schon geschafft hast. Ich sehe eine starke, mutige, ehrliche, lebensfrohe, liebenswerte Frau in dir und fühle mich sehr wohl in deiner Nähe.“ In diesem Moment fühlte sich Christa geliebt. Doch als er sich wieder ganz in sich zurückzog, sie nicht an seiner Welt teilhaben ließ, fühlte sie sich alleine und Gedanken des Selbstzweifels tauchten wieder auf. ‚Kann ich Michaels Wahrnehmung trauen? Oder sagt er das nur, damit ich bei ihm bleibe? Wieso kann ich mich nicht selbst so wertschätzend anerkennen? Ich möchte ja gerne, wenn ich nur wüsste, was mich daran hindert.‘ Christas Art, sich infrage zu stellen, saß immer noch tief. Und das Gedankenkarussell ließ sich nicht anhalten. Viele Male war in ihr der Wunsch aufgetaucht, mit einem starken Ruck die Ketten zweifelnder Gedanken, in denen sie sich gefangen fühlte, zu sprengen, um sich frei zu fühlen und sich und dem Leben vertrauen zu können. Plötzlich kam ihr eine Idee, wie sie sich aus diesem Hamsterrad befreien könnte. Sie stellte sich vor, dass sich mit einem Tandem-Fallschirmsprung der Ring im Kopf öffnen ließe. Ein Ventil würde aufspringen und alles, was sich schwer und einengend anfühlte, würde ausströmen. Ihr Leben würde dann leichter sein. Durch den freien Fall würde die quicklebendige Christa wieder zum Vorschein kommen, die sie als Kind mit ihrem Urvertrauen war. Aller Ballast würde von ihr abfallen und ihr Leben würde so viel leichter. Tatsächlich ergab sich kurz darauf diese Gelegenheit. An einem strahlenden Julitag stieg sie, verbunden mit einer Meisterin im Tandemspringen, in den Himmel auf. Die große Freude, das zu erleben, ließ in ihr gar nicht erst Angst aufkommen. Sie genoss jeden Moment. Es gab tatsächlich einen heftigen Ruck mit einem kurzen Schreck, als der Fallschirm aufging. Doch dann schwebte sie mit einem beglückenden Hochgefühl sanft dem Erdboden entgegen und streckte nach der Landung triumphierend und wie befreit ihre Arme in die Höhe. In der Zeit nach dem Sprung stellte Christa jedoch ernüchtert fest, ihre inneren, blockierenden Gedanken- und Gefühls-Energien hatten sich mit einem „Trick“ von außen nicht auflösen lassen. Sie ließen sich nicht dazu überlisten, durch den derben Ruck, der den Körper beim Aufspringen des Schirmes erschüttert hatte, einfach in Luft aufzulösen. Der Versuch war es trotzdem wert gewesen. So wurde ihr bewusst, dass sie die Lösungen ihrer Probleme stufenweise in sich selbst finden und ihre Lebens-Hausaufgaben selbst erfüllen sollte. Es gab also keine Abkürzung, nur kleinere oder größere Atempausen. Sie ging alleine im Wald spazieren. Das besondere Licht, die kleinen Blümchen, die vielen zarten Gräser und die hohen Bäume schenkten ihr Energie der Freude. Christa lehnte sich an eine alte Eiche, schloss die Augen, atmete die duftende Waldluft. Es wurde still in ihr. Auf einmal kamen ihr Worte in den Sinn: „Sieh dir an, was sich in deinem Leben wiederholt, an welchen Punkten du nicht weiterkommst und womit du dich selbst von der Lebensfreude abschneidest. So wirst du deine Hindernisse erkennen, durchschauen, überwinden und den Weg der Heilung finden.“ Diese klare Stimme hoher Weisheit in sich wahrzunehmen, empfand Christa nicht befremdlich, sogar irgendwie vertraut, wahrhaftig, hilfreich, wegweisend. Noch fehlte ihr eine Orientierung, wie sie ihre Hindernisse deutlich erkennen kann. In ihrem Kopf war eine Nebelwand, die ihr eine klare Sicht auf die entscheidenden Punkte versperrte. Doch ihre große Sehnsucht nach Wahrheit, Weisheit und Liebe trieb sie dazu, immer wieder an sich zu arbeiten. Um sich beruflich neu zu orientieren, nahmen beide an einem mehrwöchigen Bildungsseminar teil und schlossen sich einer Gruppe an, in der sie über praktische Schritte sprachen, wie sie ihr Leben neu ausrichten konnten. Obwohl sie sich im dritten Jahr ihres Zusammenseins eine gemeinsame Zukunft ausmalten, kam plötzlich ein Tag der Trennung. Michael war zu dem Schluss gekommen, dass es besser sei, wenn sie nun getrennte Wege gingen. An seinen Überlegungen, die ihn dazu geführt hatten, die Beziehung zu beenden, hatte er Christa nicht teilhaben lassen. Sie war völlig vor den Kopf gestoßen. Er half ihr beim Umzug. Danach war Funkstille. Christa fiel in ein tiefes, dunkles Loch und verkroch sich tagelang im Bett. Einmal ging sie dann doch zu einer Neurologin und ließ sich stimmungsaufhellende Tabletten verschreiben, obwohl ihr Medikamente zuwider waren. Das Sich-unglücklich-Fühlen war nun gedämpfter, dennoch erschien ihr das Leben jetzt wieder trostlos, ohne Sinn. Es ergab sich, dass sie von einer jungen Psychotherapeutin erfuhr, sogar bald einen Termin erhielt und sehr dankbar eine Gesprächstherapie begann. Wieder schickte ihr das Leben Hilfe „Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Licht daher“, fiel ihr ein. Christa fühlte sich von Anfang an gut aufgehoben bei der jungen Psychotherapeutin und spürte deutlich, dass diese ihren Beruf sehr gerne ausübte. In den Gesprächen führte sie Christa dahin, verständnisvoller mit ihrer momentan schwierigen Situation umzugehen, ihre Selbstzweifel abzubauen und sich auf ihre Stärken zu konzentrieren. „Lassen Sie sich Zeit, ihr Leben neu zu ordnen und neue Wirkungsmöglichkeiten für sich herauszufinden. Gehen Sie es schrittweise an, ohne sich unter Druck zu setzen“, legte sie ihr ans Herz. „Schauen Sie sich nach Möglichkeiten in dieser Stadt um.“ Um eine Aufgabe zu haben, nicht ständig über sich und Michael nachzudenken, nicht alleine zu sein und etwas Geld zur Rente dazuzuverdienen, arbeitete Christa eine Zeit lang in einem Callcenter für Weinvertrieb, um Termine für Weinproben zu vereinbaren. Mit ihrer angenehmen Stimme und freundlichen Art kamen auch viele Termine zustande. Doch dem Arbeitgeber war die Gewinnquote, die dabei herauskam, zu niedrig. Er kündigte ihr recht bald. Das war zwar ungerecht, da Christa nicht selbst den Wein bei den Interessenten anbot, aber das zählte ja nicht. Wieder mal enttäuscht und traurig, sehnte sich Christa nach Seelenfrieden und Vertrauen ins Leben. ‚Wo und wie finde ich das? Und was ist denn der Sinn meines Lebens überhaupt? Wofür bin ich hier? Anderen Gewinnquoten zu verschaffen? Das kann es doch nicht sein!‘ Christa kam die Idee, sich ein paar Tage in ein Kloster zurückzuziehen, um diese befremdliche Welt hinter sich zu lassen und Klarheit für sich selbst zu finden. In einem Benediktinerinnen-Kloster wurde sie herzlich aufgenommen. Obwohl sie in dem einfachen Zimmer von Stille umgeben war, fühlte sie sich nicht alleine. Es war ein ganz anderes, sehr wohliges Gefühl in ihr, mit Worten nicht zu beschreiben. Täglich wurde für sie ein Frühstückstisch gedeckt. Mittags und abends aß sie in Gemeinschaft der Schwestern und lauschte dabei einer Vorleserin. Danach half sie in der Küche und unterhielt sich mit einer Schwester über deren Beweggründe, im Kloster zu leben. Diese Frau erzählte ihr von Gott, von einem inneren Ruf, dem sie folgte, als sie nicht mehr weiterwusste und beinahe am Leben verzweifelt wäre. „Auch ich gerate immer wieder in Zweifel und mich beschäftigt die Frage, worum es im Leben überhaupt geht“, entgegnete Christa. „Ich bin ständig auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, wobei ich bisher immer wieder abgestürzt bin und mich verirrt habe.“ „Seit ich hier Stille in mir fand und mein Herz für Gott ganz geöffnet habe“, erklärte die Schwester, „kommen mir hilfreiche Einsichten über das Leben. Und so wie ich es inzwischen für mich erkenne, soll unser Leben ein Weg geistiger Erweckung sein, um wieder in die göttliche Liebe zurückzufinden, ein Verständnis für Gottes wahre Absichten mit uns zu entwickeln. Hier habe ich Zeit und Ruhe, zu mir zu kommen. Draußen in der Konsumwelt fühlte ich mich von Anweisungen anderer getrieben, wurde mir fremd und fühlte mich zuletzt verloren. Gottes Erde wurde von den Menschen zu einem Kaufhaus gemacht. Jesus sagte: „Schafft das hier weg, macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle!“ (Joh 2,16). Und er sagte auch: „Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch nützt nichts.“ (Joh 6,63) Das hat mich sehr nachdenklich gemacht. Meine starke Sehnsucht nach Wahrheit, um den Weg der Liebe, den Jesus uns gezeigt hat, zu verstehen, führte mich hierher. Gott sei Dank habe ich mich für diesen Weg entschieden, auf dem es keinen Leistungsdruck gibt und es nicht um materielles Wachstum und Konkurrenz geht. Hier kann ich mich auf mein wahres Wesen besinnen, einfach so sein, wie ich bin. Das ist ein sehr angenehmes Lebensgefühl für mich.“ Die Frau lächelte versonnen, als käme sie eben aus einer anderen Welt auf die Erde zurück. „Das war jetzt die Kurzform meines Weges hierhin. Dem gingen einige schmerzliche Erfahrungen und Enttäuschungen voraus. Wichtig ist für mich, was ich daraus lernen darf, was gut für mein Wohl und mein weiteres Leben in Liebe ist.“ Mit der Hand auf ihrem Herzen fügte sie noch hinzu: „Ich empfange göttliche Liebe, in der ich mich geborgen fühle. Es ist friedlich in mir geworden. Ich merke, wie allmählich etwas heilt, was kaputtgegangen war. Mit Worten ist dieses Glück nicht zu beschreiben.“ „Doch Sie strahlen es aus“, bemerkte Christa. „Das möchte ich auch finden. Ich glaube, ich bin auf einen Weg geführt, Heilung zu erfahren. Doch ich bin noch am Anfang. Es geht schrittweise. Mal komme ich ein Stück voran und dann falle ich eine Stufe zurück in ein altes Muster. Ich darf lernen, geduldiger mit mir zu sein. Das fällt mir nicht immer leicht da draußen.“ Die Schwester lächelte. „Mit beharrlicher Ausdauer und liebevollem In-sich-Gehen können Sie nach und nach Ihren eigenen Weg mit Gott finden und das Glück, nach dem Sie sich sehnen, in sich selbst finden. Das wünsche ich Ihnen.“ Christa bedankte sich für diesen Einblick und bewahrte das Gehörte wie einen Schatz in ihrem Gedächtnis. Während der Messen hüllte sie der Gesang der Schwestern in einen unsichtbaren, weichen Mantel und innerlich fühlte sie sich von einer warmen, sanften Lichtwelle gestreichelt und zu Tränen gerührt ‚Ist das wahre Liebe, was mir hier geschieht?‘, fragte sie sich bei einem Spaziergang im Klostergarten. ‚Hier ist mir, als könne mir nichts und niemand etwas anhaben. Endlich mal keine Angst, keine Sorgen, kein Druck. Ist Nonne zu werden. vielleicht meine Bestimmung? Ist das die Lösung für mich? Würde ich an so einem Ort frei von allen Zwängen und Lasten sein, hätte ich Frieden ein Leben lang – hinter Klostermauern? Mir ist, als wäre mir alles, was ich in der Welt da draußen als belastend empfand, an der Eingangstür abgenommen worden. Was für ein herrliches Gefühl!‘ In der Klosterbibliothek las Christa in einem Buch von einem Geistlichen, der sich für das Klosterleben entschlossen hatte. Darin berichtete er auch über depressive Phasen, die er durchlebte, und über Gott immer wieder in Zweifel geriet ‚Ach du lieber Gott! Also bin ich auch im Kloster vor Depression nicht sicher‘, schlussfolgerte Christa. ‚Dann überlege ich mir das noch. Ich brauche mich ja nicht sofort für ein Leben im Kloster zu entscheiden.‘ Am letzten Tag in der Messe fühlte sie sich so berührt, als ob die Schwestern nur für sie sangen und beteten. Beim Abschied sicherten sie ihr zu, Christa auch weiterhin in ihre Gebete einbeziehen. Sollte sie je das Bedürfnis verspüren, sich taufen lassen zu wollen, sei sie herzlich eingeladen. Mit großer Dankbarkeit verabschiedete sich Christa, ohne zu ahnen, dass dieser Besuch und die Gebete der Schwestern für sie Jahre später Früchte der Liebe hervorbringen werden. Denn in ihr war Gottessamen auf fruchtbaren Boden gefallen. Ein paar Tage hielt das Gefühl von Geborgenheit und Hoffnung, ihr Leben neu gestalten zu können, an. Doch plötzlich machte sich in ihr eine sie beängstigende Leere breit. „Ich weiß nicht, wo ich hingehöre. Ich sehe kein Lebensziel mehr für mich. Wer braucht mich schon? Ich bin doch überflüssig“, brach es weinend aus ihr heraus „Nein! Du irrst dich!“, rief eine freundliche Stimme in ihr. Auf eine unerklärliche Weise spürte Christa eine starke Energie, die sie liebevoll dazu bewegte, nicht aufzugeben, die sie aus einer Wolke finsterer Gedanken herauslockte. Auch meldete sich der starke Wille zurück, wieder völlig gesund zu werden, der Welt etwas von sich zu geben und glücklich zu werden. Warum sollte ihr das nicht möglich sein? Sie ahnte, dass es einen Weg gibt, auf dem sie einen neuen Sinn für ihr weiteres Leben finden würde „Aber wie komme ich da hin? Wo ist der Weg?“, rief sie in die Luft, als könnten von da Antworten kommen ‚Wo sind meine eigenen Ideen, Lebensträume und meine Lebendigkeit geblieben? Sie wurden mir so intensiv ausgeredet, dass ich sie begraben, vergessen habe. Mein starkes Bedürfnis, mich mitzuteilen, meine Wünsche und Gedanken zu äußern, auf einer Bühne zu stehen, wurde mir im Elternhaus ausgetrieben. Ich finde mich in mir nicht zurecht. Mein Leben ist so voller Widersprüche. Wonach kann ich mich vertrauensvoll orientieren? Holger und Michael haben mich als starke, selbstbewusste Frau gesehen. An ihrer Seite fühlte ich mich sehr wohl, aber ohne die Bestätigung und Anerkennung eines Mannes fehlt es mir an Selbstvertrauen und Motivation, mehr und Neues mit meinem Leben anzufangen. Wo ist die selbstbewusst erscheinende Frau jetzt? Das geht nicht so weiter! Ich will die lebensfrohe, gefühlvolle, mitteilsame, optimistische, ideenreiche Christa wiederbeleben, die ich wirklich bin. Aus Angst, mit meinem Wesen nicht angenommen zu werden, habe ich meine wahre Identität verleugnet, mich und meine Ideen infrage gestellt und mich auf diese Weise verloren, weil ich andere Vorstellungen von einem erfüllenden Leben habe als die Mehrheit. Mich anpassen zu müssen, widerstrebt meinem Herzen und bringt meine Seele und meinen Körper aus dem natürlichen Gleichgewicht. Zu viel von dem, was ich äußern wollte, ist mir im Hals steckengeblieben.‘ Christa machten zunehmend Schluckbeschwerden zu schaffen. Der Hals schien ihr verengt. Eine Untersuchung zeigte, ihre Schilddrüse war doppelt so groß wie natürlicherweise. Nun sollte sie ein Schilddrüsenpräparat einnehmen wie sehr viele Menschen auch *******(Wie viele Menschen in der Welt getrauen sich nicht, sich so zu zeigen, wie sie wirklich sind, ihrem Leben den Ausdruck zu geben, der ihrer Natur und ihren Herzenswünschen entspricht, die nicht mehr in sich gefangen und eingeschränkt sein wollen? ******* Anmerkung der Autorin. All diese unterdrückten Emotionen und Wünsche bewirken im Inneren der Menschen verschiedene Krankheitssymptome und Unfrieden. Das nehme ich an mir und in meinem Umfeld wahr. Nicht so sein zu dürfen, wie es der eigenen Natur entspricht, aus Angst, abgelehnt zu werden, erkenne ich als Ursache für aggressives, zerstörerisches Verhalten jeglicher Art, also auch für Süchte. Ich bin der Überzeugung, dass wir alle mit liebevoller Hinwendung zu uns selbst, mit neuem verständnisvollem Denken und Handeln miteinander, füreinander uns heilen und Frieden finden können. Das ist der Ruf in dieser Zeit des Wandels, in dem wir uns alle befinden, um durch inneren Frieden äußeren Frieden zu schaffen.) Die vorübergehende, innere Beruhigung, die Christa eine Weile gelang, schlug eines Tages plötzlich mit einer Heftigkeit in Wut um, dass Christa Angst bekam, die Beherrschung zu verlieren. Das war es doch, was sie so erschreckend mit ihrer Mutter erlebt hatte, die ihre Wut immer unkontrolliert herausgeschleudert hatte, mit Brüllen, Schlägen, Türenknallen. Sie war überhaupt extrem in ihren Gefühlsausbrüchen gewesen, erinnerte sich Christa, sodass sie sich für ihr Leben fest vorgenommen hatte, niemals so zu werden „Ich wäre damals am liebsten weggelaufen! Es war für mich nicht auszuhalten. Aber wohin hätte ich denn gehen können? Wo sollte ich die wachsende Hilflosigkeit und Traurigkeit damals lassen?“, brach es unter Tränen aus ihr heraus. Tag und Nacht machten ihr bedrückende Gefühle und Zukunftsangst schwer zu schaffen. Es war wie ein innerer Aufschrei der von ihr in die innere Verbannung verdrängten Gefühle und Worte: „Lass uns heraus! Heile uns! Erlöse uns!“ An einem Tränenstrom fast erstickend, schrie sie: „Wie? Wie denn?!“ Der Druck war unerträglich. Ihre Sucht der Selbstzerstörung wurde zur Hölle. Sie geriet in Panik, brauchte dringend Hilfe. Selbstannahme und Begegnung mit Gott. In der psychosomatischen Klinik ließ sich Christa sehr dankbar auf alle Hilfestellungen ein. Nach und nach ausführlich über ihre depressiven Zustände reden zu dürfen, war sehr entlastend. Ihr wurde mit Zuwendung und Verständnis begegnet auf eine Weise, von der sie nicht dachte, dass sie es verdient, weil sie sich für eine Versagerin hielt, eine Zumutung für andere, die alles im Griff hatten. Herr Gärtner, der Gesprächstherapeut, versicherte ihr, dass sie in Ordnung sei, klar an Verstand und Bewusstheit und nicht an sich zu zweifeln brauchte. Auch die Betreuer des Pflegeteams legten ihr immer wieder ans Herz, selbst verständnisvoll mit sich umzugehen, ihr Leben nicht als Niederlage anzusehen, sich nicht als eine Schuldige zu verurteilen und zu bestrafen. Dank der intensiven Gespräche wurde Christa deutlicher bewusst als bisher, dass sie es selbst war, die hart mit sich ins Gericht und lieblos mit sich umging, sich wegen der Scheidungen selbst verurteilte, unter denen die Kinder zu leiden hatten. Ihren größten Wunsch, selbst eine heile Familie auf Dauer zu haben, hatte sie sich nicht erfüllen können. Der Schmerz darüber und die Selbstzweifel saßen tief. Während der Gestaltungstherapie erhielt Christa die Aufgabe, künstlerisch ihren momentanen Gefühlszustand zum Ausdruck zu bringen. Es standen viele Möglichkeiten zur Verfügung. Doch nichts fühlte sich passend an. Und der künstlich beleuchtete Kellerraum drückte ihre niedergeschlagene Stimmung noch zusätzlich. Die Ergotherapeutin fragte: „Was möchten Sie denn jetzt am liebsten machen?“ „Ich möchte eigentlich lieber im Park sein und spazieren gehen.“ „Wenn es Ihnen damit besser geht, ist das in Ordnung. Sie können zwanzig Minuten draußen bleiben. Bringen Sie ein paar Teile mit, aus denen Sie nachher etwas gestalten können, was Ihrer Vorstellung entspricht.“ Im Freien atmete Christa erleichtert auf. Sanfter Nieselregen streichelte ihr Gesicht. An einen kräftigen Kastanienbaum gelehnt, der prachtvoll blühte, mit den Händen die Rinde fühlend, die Augen geschlossen, tief atmend lauschte sie den Vögeln. Harmonie – Frieden – Sanftheit – Tränen. Nichts tun zu müssen! Nichts erfüllen zu müssen! Flüsternd kam über ihre Lippen: „Es ist jetzt so, wie ich es im Kloster und an der Ostsee empfunden habe. Ich bin im Zustand der Liebe. Lieber, wunderschöner Baum, weißt du, wie gut du es hast? Du brauchst deinen Wert nicht zu beweisen, bist niemandem rechenschaftspflichtig, lebst deinen von der Natur gegebenen Rhythmus der Jahreszeiten. Du bist einfach nur du, ohne Schminke, ohne Worte, mit denen du dich hervortust, und ohne Zweifel an dir. Du zeigst dein Wesen ganz offen, unverstellt. Jeder kann es sehen. Du nutzt optimal die natürlichen Gegebenheiten für deine Entfaltung und leistest auf deine Weise gute Dienste für Tiere, Menschen und die Luft. Ich bin traurig, dass wir Menschen uns von unserer Natürlichkeit entfernt haben. Statt die Natur, die uns nährt, zu würdigen, zu pflegen und zu bewahren, zerstören, plündern und vergiften wir sie und damit uns selbst. Wir haben die Erde verwüstet, betonieren sie zu, machen sie zu einer Müllhalde, richten ein gefährliches Chaos an und ignorieren die Folgen, die zum Untergang führen können, wenn wir uns nicht besinnen. Aus den Naturkatastrophen, die von uns mit verursacht werden, lernen wir nicht. Wie lange wird es noch blühende Bäume mit Früchten geben?“ Schweigend betrachtete Christa die Blütenpracht über sich und lauschte dem Summen der Bienen. Dann flüsterte sie dem Baum zu: „Es ist schön und beruhigend, mich bei dir anlehnen zu dürfen. Ich danke dir.“ Mit Gänseblümchen, Grashalmen, Baumrinde und losen Zweigen, die sie im Gelände fand, kehrte Christa in den Gestaltungsraum zurück und fügte die Teile mit Draht und Fäden zu einem kleinen Wandbild zusammen. Der Gruppe erzählte sie von ihrer besonderen Erfahrung im Freien und dass sie anfangs Angst hatte, sich zu blamieren, weil sie nicht gut malen könne. „Wenn ich male, gleicht es einer Kinderzeichnung.“ „Na und. Ich male auch kindlich“, warf eine Frau mittleren Alters ein. „Und weißt du was? Mir ist es egal, was andere darüber denken. Es tut mir gut und drückt genau meine Gefühle aus!“ Diese selbstbewusste Art beeindruckte Christa. Beim Mittagessen setzte sie sich zu dieser Frau und fragte: „Hast du heute Nachmittag etwas Zeit? Ich würde mich gerne mit dir unterhalten.“ „O, das wird knapp. Ich habe noch Termine und reise morgen ab. Aber heute Abend, acht Uhr, könnte es klappen. Ich bin dann zwar am Packen, aber wenn dich das nicht stört.“ „Nina, es interessiert mich, wie du zu der Einstellung gekommen bist, die du mir heute Morgen mitgeteilt hast“, leitete Christa am Abend das Gespräch ein. „Ich vermute, das war nicht immer so.“ „Stimmt. Es gab Zeiten, da bin ich fast durchgedreht mit meiner dauernden Grübelei, wie ich am besten etwas so mache, dass andere mich loben. Ich wollte es allen recht und perfekt machen. Ich war darauf fixiert, dass sie mich alle mögen und bewundern sollten, und habe mich dafür verbogen und kaputt gemacht. Wurde ich gelobt, konnte ich dem nicht trauen. Es war verrückt. Egal, wie sehr ich mich anstrengte, es genügte mir nicht. Ich war schon ganz verdreht, maßlos enttäuscht und stieß Menschen vor den Kopf. Mehrmals zog ich mich von allen zurück, weil ich dachte, die mögen mich ja doch nicht.“ Nina hielt kurz inne. „Was ist dann passiert? Wie kamst du da raus?“ „Ich habe jemanden so verletzt, dass es uns beiden mörderisch wehtat. Da bin ich aufgewacht. Ich zeigte mir selbst die ‚Rote Karte‘. Es war aber auch, als hätte mich jemand wachgerüttelt. Mir wurde bewusst, dass ich mir einredete, andere würden schlecht über mich denken und dass ich mir mit meinen negativen Gedankenkonstruktionen selbst schadete. Ich erinnerte mich daran, dass ich mich von Menschen zurückgezogen habe, die mich wirklich mochten, von denen ich mich aber wegen einer Bemerkung gekränkt gefühlt hatte, ohne zu fragen, wie sie das meinten. Ich bauschte in mir eine Riesengeschichte auf, redete mir ein, dass man mich für blöd hielt. Monate später stellte sich heraus, wie es diese Leute wirklich gemeint hatten und gar nicht auf die Idee gekommen waren, dass ich mich verletzt fühlen könnte. Deshalb konnten sie auch nicht verstehen, dass ich nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollte. Ich hatte mich selbst ins Abseits gebracht, fühlte mich allein und so elend, dass ich nicht mehr leben wollte. Eines Tages, im Zug, auf dem Weg zur Arbeit, hörte ich, wie sich zwei Frauen über ihre Behandlung in dieser Klinik unterhielten. Die waren froh, dort über ihre Probleme offen reden zu können. Du, die freuten sich darüber, dass sie Fehler an sich erkannt hatten und wie sie es besser machen können. Jedenfalls nahmen sie sich das vor. Ich ließ mir von ihnen den Namen der Klinik sagen. Na ja, beim ersten Aufenthalt war ich noch sehr dicht und skeptisch. Vertrauen ist ein heikles Thema in meinem Leben. Aber, ich bin wiedergekommen, wie du siehst. Und ich bin sehr froh, dass ich’s getan habe.“ Nina hatte ihren Koffer fertig gepackt und setzte sich zu Christa. Die hakte nach. „Ich bin auch nicht zum ersten Mal in einer Klinik. Aber ich habe es noch nicht geschafft, gelassen darin zu sein, was andere von mir denken, und nicht mehr an mir zu zweifeln. Wie hast du es geschafft?“ „Als mir klar wurde, dass ich gar nicht wissen kann, was andere wirklich über mich denken, habe ich mir angewöhnt, sie zu fragen. Wenn ich den Eindruck habe, jemand versteht mich nicht, wie ich es wirklich meine, oder ich könnte jemanden missverstanden haben, dann frage ich nach, bis ich Klarheit habe. Ich hatte hier tolle Möglichkeiten, das zu üben. Ich lasse raus, was mich beschäftigt, wie es mir wirklich geht, ohne Angst, anzuecken. An meiner Art muss ich hier und da vielleicht ein wenig feilen. Manchmal bin ich etwas grob, brause zu schnell auf. Aber es ist eindeutig der richtige Weg für mich. Meine Migräne ist weg! Und auch andere körperliche Beschwerden sind wie weggeblasen. Ich fühle mich sehr befreit, wie neu geboren. Nutze deine Chance, es hier zu lernen, den direkten Weg zu gehen, wie es dir entspricht, deine Zweifel abzulegen, an dich zu glauben. Das ist sehr befreiend und stärkend, sage ich dir. Einige mögen mich, andere nicht. Ist in Ordnung. Noch Fragen?“ Ninas forsche Art wirkte sehr erfrischend und absolut überzeugend auf Christa. Sie stand auf und reichte Nina die Hand. „Ich gratuliere dir zu diesem großen Erfolg und wünsche dir auch weiterhin alles Gute, vor allem, dass du es draußen beibehalten kannst. Du hast mir sehr geholfen. Ich lerne gerne von den Erfahrungen anderer. Danke, dass du mir von deinen erzählt hast.“ „Na dann, auch dir viel Glück. Mach das Beste aus diesem Aufenthalt für dich“, empfahl ihr Nina aufmunternd lächelnd. Christa las einen Aushang, mit dem ein Pastor zur Andacht einlud. ‚Was ist denn eine Andacht?‘ Unter „Gott“ konnte sie sich beim besten Willen nichts vorstellen. Zwar hatte sie ein paar Mal außergewöhnliche Momente besonderer, tiefer Geborgenheit gespürt und eine Stimme in sich wahrgenommen, die nicht aus ihrem Denken kam, aber … ‚Kam es von Gott?‘ Die Schwester im Kloster war dem Ruf Gottes gefolgt, erinnerte sich Christa. ‚Was verbirgt sich dahinter? Ich möchte gerne wissen, was es mit Gott auf sich hat.‘ Da kam Renate mit einem dreijährigen Mädchen auf sie zu und fragte: „Hallo, Christa, kommst du mit zur Andacht?“ „Ich weiß nicht. Ich kann doch gar nicht beten“, entfuhr es ihr. Renate lächelte heiter. „Ach, das macht gar nichts. Der Pastor betet für uns.“ Christa schaute zu dem Mädchen und dachte: ‚Wenn die Kleine dabei ist, kann ich das auch.‘ Den Raum betretend, sah sie einen Mann mit Gitarre in einem Stuhlkreis sitzend. Zwei Frauen waren in einen Liedtext vertieft. Mittig auf dem Boden stand eine dicke, brennende Kerze auf einem bunten Tuch. Der Pastor sah die Eintretende freundlich an „Ach, wie schön, dass Sie zu uns gefunden haben. Sie sind herzlich eingeladen Frau …“ „Heuer“, ergänzte Christa. Es kamen noch einige Patienten dazu „Wer hat denn einen Liedwunsch?“, fragte er in die Runde. Christa kannte kein einziges Lied, sang jedoch einfach mit. „Haben Sie auch einen Liedwunsch?“, fragte sie Pfarrer Freimut. „Alles muss klein beginnen.“ Refrain: Alles muss klein beginnen, lass etwas Zeit verrinnen. Es muss nur Kraft gewinnen und endlich ist es groß. 1. Schau nur dieses Körnchen, ach, man sieht es kaum, gleicht bald einem Grashalm. Später wird’s ein Baum. Und nach vielen Jahren, wenn ich Rentner bin, spendet er mir Schatten, singt die Amsel drin: Alles … 2. Schau die kleine Quelle zwischen Moos und Stein, sammelt sich im Tale, um ein Bach zu sein. Wird zum Fluss anschwellen, fließt zur Ostsee hin, braust dort ganz gewaltig, singt das Fischlein drin: Alles … 3. Schau die leichte Flocke, wie sie tanzt und fliegt. bis zu einem Ästchen, das unterm Schnee sich biegt. Landet da die Flocke und durch ihr Gewicht. bricht der Ast herunter, und der Rabe spricht: Alles … 4. Manchmal denk ich traurig: „Ich bin viel zu klein! Kann ja doch nichts machen.“ Und dann fällt mir ein: Erst einmal beginnen. Hab ich das geschafft, nur nicht mutlos werden, dann wächst auch die Kraft. Und dann seh ich staunend: Ich bin nicht allein. Viele Kleine, Schwache stimmen mit mir ein: Alles … Gerhard Schöne. Der Liedtext wurde zu einem Schatz, den Christa später zur Hand nahm, wenn sie ungeduldig wurde. Der Pfarrer las seine Andacht vor, in der es um Bindungen ging: lose, feste, zu feste, menschliche, göttliche. Am Ende bat Herr Freimut alle, aufzustehen, die rechte Hand auf die Schulter des Nachbarn zu legen und die linke Hand wie eine Schale in die Kreismitte zu halten. Zum ersten Mal empfing Christa einen Segensspruch: „Der Herr segne und behüte dich …“ Im selben Augenblick, als diese Worte fielen, durchfuhr Christa eine kraftvolle, warme, rote Welle vom Kopf bis zu den Füßen. Es war wie ein Vollbad von Innen. ‚Herrlich! Aber was war das?‘ Sie sprach mit niemandem darüber. Es war ein kostbares Geschenk, nur für sie. Mit einer Umarmung dankte sie Renate und ging nun öfter zur Andacht. Dieses besondere Erlebnis beschäftigte Christa sehr: ‚Hat sich mir Gott auf diese Weise spürbar zu erkennen gegeben? War dies eine Antwort auf meine Frage, ob es Gott gibt? Also ist Gott in mir? Vielleicht sollte es mir die innere Verbindung mit Gott verdeutlichen. Aber wer und was ist Gott? Eine Energie?‘ Ein paar Tage später stieg in Christa wieder tiefe Traurigkeit auf. Um nicht darin zu versinken, gesellte sie sich in der Teeküche zu anderen Patienten und beteiligte sich an den Gesprächen. Dass diese Menschen ebenfalls schmerzvolle Erfahrungen machten und auch nicht weiterwussten, obwohl sie so viel von sich gegeben hatten, verband sie miteinander. Als der Therapeut, Herr Gärtner, im Einzelgespräch Christa nach ihrem Befinden fragte, sagte sie, dass sie sich niedergeschlagen fühlte und enttäuscht von sich sei. „Ich wünschte, ich hätte in meinen Partnerschaften nicht so versagt. Vielleicht bin ich nicht beziehungsfähig. Auch beruflich sehe ich keine Perspektive für mich. Ich habe ja doch keine Chance in dieser Konkurrenzgesellschaft“, klagte sie „Meine Mutter hatte wohl recht mit ihrer Vermutung, dass ich es im Leben zu nichts bringen werde. Dabei habe ich mir so viel Mühe gegeben, ihr das Gegenteil zu beweisen. Mit diesen immer wieder auftauchenden Gedanken, die ich gar nicht haben will, geht in mir ein Gefühlschaos einher. Ich fühle mich dem ausgeliefert.“ Auch wenn sie sich dieses Thema betreffend wiederholte. Sie war damit nicht fertig geworden. „Frau Heuer, Ihren Angaben entnehme ich, dass Sie zwei Kindern das Leben geschenkt haben. Sie haben auch für deren Wohlergehen und Entwicklung gesorgt, zwei Berufsausbildungen erfolgreich abgeschlossen, neben Familie und voller Berufstätigkeit über vier Jahre ein Philosophiestudium absolviert und viele Jahre gearbeitet. All das sehen Sie als Nichts an?“ „Na ja. Ich habe schon einiges geschafft“, spielte sie ihre Leistungen herunter. „Aber mit dem Studium der Marxistisch-Leninistischen Philosophie kann ich doch in diesem System nichts anfangen. Diese Mühe war vergebens. Wir wurden doch in Ostdeutschland vom Kapitalismus überrollt und mein Ziel, Personalleiterin zu werden, zerplatzte wie eine Seifenblase. Egal, es war einmal. Es nützt mir ja nichts, dem nachzutrauern. Ich will mir etwas Neues aufbauen. Aber alleine, ohne Partner, ohne Familie? Wofür? Nur für mich?“ Tränen stiegen in ihr auf. „Warum verläuft mein Leben, als wäre ich auf einer Achterbahn? Alles ist so anstrengend und unverständlich für mich. Wieso fühle ich mich haltlos und ungeliebt?“ „Aus Ihren Aufzeichnungen und Schilderungen erkenne ich, dass Sie in der Kindheit viel Ablehnung der Eltern erfahren haben. Ihr Vater wollte nichts von Ihnen wissen. Ein Vater im Rücken, hätte Sie stärken können. Ihre Mutter konnte Ihnen nicht die Liebe geben und Ihnen kein Vertrauen in sich selbst und ins Leben vermitteln. Ihnen fehlte es an Zuwendung, Nähe, Anerkennung und Wertschätzung und an einem Fundament des Vertrauens ins Leben. Sie fühlen sich im Inneren sehr verletzt und sehnen sich danach, das Versäumte noch zu bekommen …“ Die weiteren Worte zogen an ihr vorbei. Ihre Wunde war aufgebrochen. Es tat im Herzen weh. Das sagte sie der Gruppe in der Bewegungstherapie, die mit dem „Blitzlicht“ begann. Jeder beschrieb kurz, wie es ihm ging, was ihn beschäftigte und ob er sich ruhigere oder schnellere Bewegungen wünschte. Danach bot die Ergotherapeutin passende Übungen und Musik an, sodass möglichst für jeden etwas dabei war. Sich tanzend durch den Raum zu bewegen, brachte Christa allmählich in angenehmere Stimmung. Als ihr Körper zunehmend in Schwingung kam, kreiselte sie Raum einnehmend zwischen den anderen hindurch, manchmal die Arme ausbreitend, als wollte sie fliegen. Erleichterung stellte sich ein. Danach kam ein ruhiger Teil. Sie bildeten Paare. Einer legte sich auf den Boden und der andere rollte einen handgroßen Ball gefühlvoll am Körper des Liegenden entlang, begleitet von sanfter Musik. Es wurde nicht gesprochen. Jeder war dazu angehalten, Zeichen zu geben, wenn er etwas nicht wollte, sich weniger oder mehr Berührungen wünschte. Während Christa anfangs noch schaute, wie es bei anderen ablief, konnte sie sich allmählich fallen lassen, die Augen schließen und genießen, so berührt zu werden. Sie fühlte sich gestreichelt. Tränen rollten. ‚Frieden, da ist er wieder. Danke.‘ Als die Paare wechselten, bereitete es ihr auch Freude, zu erspüren, wie sie ihrer Partnerin Gutes tun konnte. Am Ende teilten sie einander mit, wie es ihnen jetzt ging. Christa staunte über ihr Gefühl der Leichtigkeit. Die Bewegungstherapeutin lud noch ein: „Wer Lust und Zeit hat, kann donnerstags zur Rhythmik-Gruppe kommen. Da können Sie so viel tanzen, wie Sie möchten.“ Christa fühlte sich angesprochen. Sie tanzte liebend gerne. Aber es kam in ihrem Leben draußen gar nicht mehr vor. Sie nutzte dieses Angebot und rockte von da an regelmäßig ab. Sich ihren Gefühlen entsprechend frei zu bewegen, ihre Hemmungen dabei schrittweise zu überwinden, lockerte ihre Verspannungen. Mit fünf verschiedenen Ergotherapien, Einzel- und Gruppengesprächen kam sehr viel in ihr in Bewegung. Manchmal, wenn abends alles ruhig war und sie nicht schlafen konnte, weil schmerzliche Erinnerungen in ihr aufstiegen, machten ihr die damit verbundenen Gefühle sehr zu schaffen. „Ich will schlafen! Ich will jetzt Ruhe haben!“, rief sie. Es kam aber kein erlösender Schlaf. Den Spiegel im Bad hatte sie mit Papier zugeklebt, mit dem festen Vorsatz, nicht mehr in ihrem Gesicht zu drücken. Die ihr zugeteilte Betreuerin hatte ihr ans Herz gelegt, zur Nachtwache zu gehen, wenn der Druck zu groß wird. „Scheuen Sie sich nicht, sich mitzuteilen! Bleiben Sie nicht auf ihrem Druck sitzen! Wir sind für Sie da.“ ‚Ich muss es doch auch aus eigener Kraft schaffen, dieser Gefühlsaufwallungen Herr zu werden! Zu Hause kann ich nachts auch niemanden ansprechen‘, ging ihr durch den Kopf. Es half nichts. Sie überwand ihren Widerstand und ging zu dem Mann, der im Stationsraum saß und schrieb „Guten Abend. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich störe, aber in mir ist augenblicklich so viel Druck. Ich befürchte, am Spiegel zu landen“, sprudelte sie heraus. „Guten Abend. Sie stören nicht. Ich bin Herr Körner und wie heißen Sie?“ „Ich bin Frau Heuer, Christa.“ „Nehmen Sie doch bitte Platz, Frau Heuer. Möchten Sie mir erzählen, was Sie bedrückt?“ „Es ist so viel in mir los. Ich weiß gar nicht, wie ich damit umgehen soll. Heute in der Gestaltung passierte etwas Seltsames. Ich malte auf einmal Köpfe von verstorbenen Menschen meiner Familie, von denen ich nie Abschied genommen habe. Seit ich hier bin, gehen mir die Abschiede von Patienten so nahe, dass ich die Gefühlswallungen in mir kaum aushalte. Ich verstehe nicht, was da in mir passiert. Es ist doch alles lange her. Wieso kommen jetzt so heftig Erinnerungen und Traurigkeit in mir hoch, die mir wehtun? Als mein großer Halbbruder mit 19 Jahren tödlich verunglückte, sagte mir Mutter mit versteinerter Miene, dass wir nicht zur Beerdigung gehen. Ich glaube, sie war sehr verzweifelt und konnte es nicht. Ihr Schmerz war zu groß. Ich war damals zwölf Jahre. Ich bin zwar nicht mit ihm zusammen aufgewachsen, aber er war oft zu Besuch. Wir hatten uns lieb. Ich malte auch den runden Kopf meines Vaters. Obwohl er nie etwas von mir wissen wollte. Er war doch mein Vater. Erst Jahre nach seinem Tod erfuhr ich, dass er gestorben war. Ich sah meine Mutter, die an Parkinson und Brustkrebs verstorben ist. Sie hat ihren Körper der Uniklinik zu Forschungszwecken überlassen. Auch von ihr habe ich nicht Abschied genommen. Doch als sie starb, war mir, als sei der Sinn meines Lebens verloren. Ich wollte ihr immer beweisen, dass ich ein wertvoller Mensch bin und es im Leben zu etwas bringe, um endlich einmal Anerkennung von ihr zu bekommen. Mein Stiefvater …“ Ein Tränenschwall schnürte ihr den Hals zu. Herr Körner reichte ihr Papiertaschentücher. „Es ist gut, dass Sie jetzt ihren Kummer herauslassen. Es sind Tränen, die Sie sich damals versagt haben. Weinen Sie ruhig.“ Christa schluckte. „Ich schäme mich so. Ich dachte, ich hätte meine Mutter immer nur geliebt. Aber neuerdings kommt da Wut auf sie in mir hoch, dass sie mich nicht so angenommen hat, wie ich war, so übertrieben hart mit mir umging und mir nichts zugetraut hat. Bis zu ihrem Tod hoffte ich vergebens auf die Bestätigung ihrer Liebe für mich. Mein Leben ist eine einzige Jagd nach Liebe. Weil ich sie von meinen Eltern nicht so bekommen konnte, wie ich sie brauchte, habe ich sie später von Männern erwartet. Ich war seelisch am Verhungern. Diese Erinnerungen stürmen hier alle auf mich ein. Es ist, als ob die alten Geschichten mich auffordern, sie zu einem friedlichen Abschluss zu bringen. Sonst kann ich nichts Neues beginnen. Aber es ist zu viel!“ Christa atmete tief aus „Manchmal holen uns unsere erlebten Geschichten ein“, sagte Herr Körner. „Verdrängte Gefühle lassen sich nicht für immer unterdrücken. Während Sie diese sonst mit Ihrem Aktionismus im Alltag zudecken, sich von ihnen ablenken, bekommen sie hier den Raum, beachtet zu werden. Und den nutzen sie und zeigen sich auf eine Art, die Sie nicht übersehen können. Das mag merkwürdig für Sie klingen. Doch diese Gefühle und Erinnerungen sind lebendige Teile in Ihnen. Es ist gut, Frau Heuer, dass Sie sich Ihren verletzten Gefühlen zuwenden, um damit ihren Frieden zu schließen. Das haben Sie richtig erkannt. Abschiede gehören zum Leben und die damit verbundenen Gefühle wollen angenommen werden. Lassen Sie sie zu! Haben Sie es mal mit Schreiben versucht? Sich den Kummer von der Seele zu schreiben, kann Ihnen Erleichterung verschaffen.“ „Ja, zum Teil. Ich schreibe schon seit ein paar Jahren Tagebuch. Aber ich brauche es auch, darüber sprechen zu können, was mich quält. Ich merke jetzt auch, dass es mir schon besser geht. Danke, dass Sie mir zugehört haben. Jetzt bin ich sehr müde.“ „Na dann schlafen Sie gut, Frau Heuer. Vielleicht denken Sie in nächster Zeit mal darüber nach, warum Sie Ihrer Mutter immer noch so viel Macht in Ihrem Leben geben.“ Zu müde, den Inhalt des letzten Satzes zu verstehen, fiel Christa erschöpft ins Bett. Doch die Frage blieb in ihrem Gedächtnis hängen, um später von ihr bedacht und verstanden zu werden. Dank der hilfreich geführten Therapieinhalte gelang es Christa in Ansätzen, Verständnis für sich und die an ihrer Geschichte Beteiligten zu entwickeln. Ihr ging auf, dass alle diese Menschen ihre eigenen Erfahrungen hatten, nach denen sie alles so gut gemacht hatten, wie sie konnten und es für richtig hielten. Auch ihre Eltern hatten so gehandelt, wie es ihnen möglich war. Deren Lebenserfahrungen, zu denen auch Kriegserlebnisse gehört hatten, hatten sie geprägt. Etwas veränderte sich langsam in Christas Sichtweise auf ihre Lebensgeschichte. Sie begann auch auf das zu schauen, was sie an Zuwendung bekommen hatte und was ihr selbst im Leben gelungen war, und fing sachte an, es ein wenig wertzuschätzen. Ihre Betreuerin half ihr dabei: „Mit dem, was Sie schon alles fertiggebracht haben in ihrem erstaunlichen Leben, Frau Heuer, haben Sie große Stärke gezeigt. Mich beeindruckt, was Sie alles schon geschafft und gestaltet haben. Sie sind stärker, als Sie von sich glauben. Ich traue Ihnen einen Neuanfang auf jeden Fall zu. Doch entscheidend ist, dass Sie sich selbst zutrauen, Ihr Leben beherzt in die eigenen Hände zu nehmen und mit neuem Inhalt zu füllen, sich neu zu entdecken. Wer weiß, was noch in Ihnen steckt und von Ihnen erkannt werden möchte.“ Christa freute sich darüber, wie diese Frau sie sah und ermutigte, weiterzugehen. Ihre Stimmung besserte sich. Doch ihr ganzes Lebenswerk zu würdigen, sich selbst auf die Schulter zu klopfen …, nein, ganz so weit war sie noch nicht. In der Bewegungstherapie saßen sie paarweise auf dem Fußboden. Einer ballte seine Hand zur Faust mit so viel Druck, wie er sich fühlte, und schloss die Augen. Der Partner würde versuchen, die Faust zu öffnen. Jeder sollte auf seine Befindlichkeit achten, wie weit er sich wortlos auf dieses Spiel einlassen konnte. Thomas hielt Christas Faust in seiner Hand. Behutsam formte er ein Nest, als wäre ihre Faust ein Küken. Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg, ein aufregend schönes Gefühl. Achtsam lockerte er mit seinem kleinen Finger den ihren und hielt inne. Dann streichelte und klopfte er sanft die noch geschlossene Hand. Es war wie ein Anklopfen. Geduldig und sachte konnte Thomas die Handmuschel öffnen. Zuletzt legte er ihre Hand zwischen seine Hände, beschützend, wärmend, friedlich. Ohne Christas Bereitschaft, zu vertrauen und das Geschenk anzunehmen, wäre dieses Öffnen nicht möglich gewesen. Wortlos wechselten sie die Rollen. Obwohl auch Christa sich behutsam Thomas’ Faust näherte, prallte sie an einer Festung ab. Auch sein hörbares Atmen signalisierte starke Abwehr. Sie bedrängte ihn nicht, ließ seine Faust nur in ihrer Hand ruhen. ‚Schade, dass Thomas niemanden an sich heranlassen kann‘, dachte sie. Auf ihrem anschließenden Spaziergang durch den Wald ging Christa der Frage nach, warum es ihr noch nicht überzeugend gelang, liebevoll und anerkennend mit sich selbst umzugehen ‚Leider bin ich mit mir überkritisch, verurteile mich für Geschehnisse, die ich für persönliche Niederlagen halte. Ich denke und glaube, ich sei im Leben gescheitert und hätte so viel falsch gemacht. Das sind meine Gedanken, ist mein eigenes Urteil über mich. Ich habe wohl unbewusst das zu kritische Denken und Urteilen über mich von Mutter übernommen. Weil sie meine Leistungen nie anerkannt hat, halte ich mich selbst für nicht würdig. Ist Mutter denn die Einzige auf der Welt, die weiß, was richtig für mich ist?‘ Ihr Spazierweg führte zu einem Steilhang, der einen phantastischen Blick in die Weite und in die Tiefe vor sich auf einen Canyon bot. In dem ausgebaggerten Graben leuchtete klares, türkisfarbenes Wasser. Diese schöne Aussicht erschien wie eine Belohnung nach einem langen, beschwerlichen Aufstieg. Während ihr Blick auf dem Wasser in der Tiefe weilte, stieg die Frage in ihr auf: „Warum geben Sie ihrer Mutter immer noch so viel Macht in Ihrem Leben?“ ‚Weil sie eine beherrschende Rolle in meinem Leben gespielt hat und so viel zwischen uns unausgesprochen geblieben ist. Ich bin darauf sitzen geblieben, dass ich ihr nie meine Meinung sagen durfte und sie mir meine berechtigten Emotionen verboten hat.‘ Unangenehme Gefühle stiegen in ihr auf. „Ich muss die Tonne meiner angesammelten Wut dringend leeren!“ Christa stieg auf eine Bank, stellte sich vor, ihre Mutter könne sie hören, holte tief Luft, und dann brach es aus ihr heraus. Lauthals schleuderte sie ihren angestauten Ärger über die Rechthaberei, Herrschsucht, Gefühlskälte, den hochnäsigen Stolz, die übertriebenen Erziehungsmaßnahmen der Mutter himmelwärts – alles, worunter sie gelitten hatte – bis die Luft raus war. „Das tat gut!! Endlich konnte ich dir mal meine Meinung sagen, Mutter. Zu deinen Lebzeiten hast du es mir verboten. Jetzt fühle ich mich besser. Bitte verstehe mich nicht falsch. Ich verurteile dich nicht. Du hattest für alles deine Gründe. Und schließlich war ich es, die dich zum Maß aller Dinge gemacht und auf einen Sockel gestellt hat. Aber das alles musste mal raus aus mir. Ich wollte nicht länger auf dem Druck sitzen bleiben, der in mir brodelte.“ Ein paar Tage später fühlte sich Christa damit unbehaglich, ihrer Mutter nur hingeworfen zu haben, was sie als Unterdrückung, Einengung und kränkend empfunden hatte, aber kein Wort des Dankes über ihre Lippen gekommen war. Doch irgendwie kam sie noch nicht an die Dankbarkeit heran. Der Verstand meinte: „Du hast deiner Mutter fleißig gedient und bist auf allen vieren gekrochen, um die Liebe deiner Mutter zu bekommen. Sie hat dir nie Lob und Anerkennung geschenkt. Dieser Ausbruch war absolut berechtigt.“ Die Stimme aus dem Herzen erwiderte: „Ohne die Liebe deiner Mutter gäbe es dich nicht, liebe Christa. Sie hat dich unter schwierigen Umständen neun Monate in ihrem Bauch getragen und unter Schmerzen zur Welt gebracht. Sie hat sich auf und über dich gefreut und wollte dich in deiner Entwicklung stärken und voranbringen.“ Es entspann sich ein Gedanken- und Gefühlsgewirr, das Christa mit dem Befehl: „Stopp!“ energisch anhielt. Etwas später bat sie Pastor Freimut um ein Gespräch. Sie erzählte ihm von ihrer Situation und meinte: „So möchte ich das nicht stehen lassen, sondern mit meiner Mutter in Frieden kommen. Ich habe sie wirklich geliebt. Und ich glaube, Mutter hat mich auf ihre Weise auch geliebt. Sie konnte es mir nur nicht so zeigen, wie ich es mir wünschte.“ Herr Freimut, ein Mann der Tat, fragte: „Frau Heuer, was halten Sie davon, wenn Sie jetzt ein paar Stellen aus Ihrem Leben aufspüren, wo Sie die Liebe Ihrer Mutter erkennen können, und es in Briefform aufschreiben? Wir setzen uns an den Computer und Sie diktieren mir den Brief.“ „Das ist eine schöne Idee.“ Als Herr Freimut das Datum 27. 07. 2004 eingab, rief Christa erstaunt: „O, mein Gott! Lebte Mutter noch, hätte sie heute ihren 77. Geburtstag! Dass sie mich gerade heute so beschäftigt!!“ Der Pastor lächelte. „Na dann, legen Sie los, Frau Heuer.“ „Liebe Mutti, nachdem ich dir meinen Ärger über dich mitgeteilt habe, was mich sehr erleichtert hat, möchte ich dir jetzt auch meinen Dank senden. Du hast es mir nicht leicht gemacht, deine Liebe für mich zu erkennen, weil du überwiegend sehr streng und beherrschend warst. Ich versuche jetzt, mich an Zeichen deiner Liebe für mich zu erinnern. In einem alten Fotoalbum gibt es ein Bild, das mich als fünfjähriges Mädchen zeigt. Darunter steht: »Meine Süße« Deinen stenografischen Aufzeichnungen, die ich nach deinem Tod zu lesen bekam, entnahm ich, wie du um mein Leben gebangt hast, als ich als Kleinkind mit schwerer Lungenentzündung im Krankenhaus lag. Mit Geschick und Freude hast du mir schöne Sachen genäht. In dem Kleid für die Tanzstunden habe ich mich wie eine Dame gefühlt. Bestimmt war viel mehr Liebe zwischen uns, als mir jetzt einfällt. Heute denke ich, dass es immer deine Absicht war, das aus deiner Sicht Beste für mich zu tun. Vermutlich habe ich manches, was du mir vermitteln wolltest, nicht so verstanden, wie du es meintest. Du wolltest, dass ich Stärke in mir aufbaue, damit ich selbstbewusst die Herausforderungen des Lebens bestehe und mit kritischem Hinsehen lerne, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, dass ich mit offenen Augen und wachem Verstand mein Leben führe, um mich vor Schaden zu bewahren. Vor allem danke ich dir, dass du mich trotz der schwierigen Umstände zur Welt gebracht, immer für mich gesorgt und meinen Geist gefördert hast. Auch für dein Singen, Lachen, Malen, Backen mit uns danke ich dir. Auf unseren vielen Spaziergängen hast du mir die Liebe zur Natur vermittelt. Da fühlte ich mich dir im Herzen nahe. Wo immer du jetzt bist, möge es dir wohlergehen. Viele liebe Grüße sendet dir. deine Tochter Christa“ – „Das ist ein schönes Geschenk für meine Mutti“, sagte Christa strahlend. „Ich glaube, dass sie diese Herzensbotschaft auch dort empfangen kann, wo sie jetzt auf andere Weise weiterlebt. Ich fühle mich jetzt auch beschenkt. Danke schön, Herr Freimut. Das hat mir sehr gutgetan. Darf ich Sie umarmen?“ „Gerne.“ In einem Buchladen zog ein handliches Büchlein Christas Aufmerksamkeit auf sich: „Heile deinen Körper – Seelisch geistige Gründe für körperliche Krankheit“ von Louise L. Hay. Dank vieler Erfahrungen, Beobachtungen – auch durch ihre eigene Heilung vom Krebs – und eigene Forschungen hatte die Autorin erkannt, wie sich die gedankliche Einstellung zu sich selbst und zum Leben auf die Gesundheit des Körpers auswirkt, wie machtvoll sich Gedanken und Gefühle körperlich manifestieren. Und sie bietet neue, aufbauende, harmonisierende Gedanken-Nahrung an, die bei regelmäßiger, bewusster, geistiger Aufnahme und positiver Einstellung die Heilung einleiten, unterstützen und in inneren Frieden führen kann. Wenn man sein Herz dafür öffnet, und sich zweifelsfrei für die Erneuerung des alten Gedankenmusters entscheidet, weckt es in einem die Fähigkeit, selbst zur eigenen Heilung beizutragen. Als Christa ihre Leiden, Krankheiten und Beschwerden, die sie je hatte, nachschlug und die mentalen Ursachen las, stimmte alles mit ihren Erfahrungen überein. Zum Beispiel hatte sie nach der Wende und nach der Scheidung sehr häufig Magenprobleme, Kopfschmerzen, Schwindel und andere Beschwerden, da sie unbewusst vermehrt angstvolle Gedanken und schlimme Befürchtungen vor Neuem, vor einer unsicheren Zukunft entwickelt hatte, die ihr schwer, unverdaulich im Magen lagen und auch an anderen Stellen Verkrampfungen und Verengungen bewirkt hatten ‚Also habe ich unbewusst mit meinen dem Leben und mir nicht vertrauenden Gedanken und dem Unterdrücken meiner tiefsten Gefühle mit zum Entstehen meiner Krankheitssymptome beigetragen!‘ Christa schluckte heftig und brauchte eine Weile, um darüber nachzudenken, ob das wahr sein kann, und hielt es dann für möglich. ‚Meine gefühlten, körperlichen Leiden enthalten also Botschaften, die von mir erkannt werden wollen. Es ist also meine Aufgabe, diese Erscheinungen bewusst als meine eigenen geistigen Schöpfungen verständnisvoll anzuerkennen und sie mit neuen, liebevollen, heilenden, meiner Gesundheit dienlichen Gedanken zu ersetzen. Wunderbar! Das ist meine Chance, selbst zu meiner Heilung beitragen zu können.‘ Dank dieser Erleuchtung achtete Christa nun bewusster darauf, selbst anerkennende, liebevolle Gedanken für sich zu entwickeln. Das erforderte wachsame Aufmerksamkeit und Arbeit an sich. Sie trainierte es, auf ihre Gedanken zu achten, selbst abwertendes Denken wahrzunehmen und in wertschätzendes zu verwandeln. Es wurde zum täglichen Denksport im jahrelangen Prozess ihrer schrittweisen Heilung, die viel Geduld und Ausdauer forderte, bis sich neues Wohlbefinden einstellte. Denn die vielen inneren Verletzungen saßen tief und konnten nicht ruckartig beseitigt werden. Dieses Handbüchlein diente ihr von da an fortwährend als sehr hilfreiches Werkzeug dabei eigenverantwortlich, sich selbst einschränkendes und mit Angst beladenes Denken in neues positives, aufbauendes zu wandeln. Während ihrer Klinikzeit bekam Christa viele ehrliche, hilfreiche Rückmeldungen. Ihr wurde dafür gedankt, dass sie offen über ihre Erfahrungen und neuen Gedanken sprach, anderen aufmerksam zuhörte und sie ermutigte weiterzugehen. Sich in diesem geschützten Rahmen so mitteilen zu dürfen, ohne gefallen zu müssen, einfach angenommen zu sein, nichts gegen ihre Natur tun zu müssen, trugen sehr zu neuem Wohlbefinden bei. Der Therapeut empfahl Christa, sich mit ihren Schattenseiten zu akzeptieren, sich ihrer nicht zu schämen, sich nicht zu verurteilen und vor allem auch ihre Stärken zu würdigen. Ihr prägten sich die Sätze ein: „Nehmen Sie sich mit Ihren Stärken und Schwächen an. Sie sind in Ordnung. Sie sind wichtig, wie jeder andere auch.“ ‚Ich darf Fehler machen. Ich brauche nicht zu gefallen. Ich darf anecken. Ich darf anderer Meinung sein. Und es ist viel besser für mich, meine eigene Sichtweise zum Ausdruck zu bringen, wenn es mir wichtig erscheint, statt sie zu verleugnen‘, stellte Christa als Fazit für sich sehr erleichtert fest. ‚Und ich will mit mir geduldiger sein auf meinem schrittweisen Heilungsweg, meiner Gesundheit, mir selbst zuliebe.‘ Es war am Ende anders als bei den vorherigen Therapien, nach denen sie sich mit wehenden Fahnen, himmelhoch jauchzend, zu viel vorgenommen hatte. Aus diesem Höhenflug war sie mehrmals wieder an sich zweifelnd abgestürzt und hatte ihre guten Ansätze nicht durchhalten können, weil es ihr noch an bewusstem, einfühlsamem Verständnis für sich selbst fehlte. Im Abschlussgespräch sagte sie ihrem Therapeuten: „Dieses Mal verlasse ich die Klinik nicht euphorisch.“ „Dafür haben wir gemeinsam gesorgt“, entgegnete er mit verschmitztem Lächeln. „Ich wünsche Ihnen, dass Sie sowohl mit der erwachsenen Frau Heuer als auch mit Ihrem inneren verletzten Kind verständnisvoll und liebevoll umgehen und neue soziale Kontakte aufbauen können.“ „Sie haben mir sehr geholfen, Herr Gärtner, mich selbst ein Stück weit neu zu erkennen und mich verständnisvoller anzunehmen. Ich danke Ihnen sehr. Darf ich Sie umarmen?“ Viele Umarmungen folgten beim Abschied von der Gruppe, von ihrer sie sehr motivierenden Betreuerin und dem Pastor, der sie zum Handeln anregte. „Sie können mich anrufen oder mailen, wenn Sie möchten, und gerne zur Gesprächsrunde kommen. Vielleicht suchen Sie sich eine Gemeinde. Ich glaube, Gemeinschaft tut Ihnen gut“, gab er ihr mit auf den Weg. Als Christa ihre Sachen packte, klopfte es. Beate kam herein. „Christa, ich freue mich, dich hier kennengelernt zu haben. Die Gespräche mit dir haben mir viel gegeben. Hier ist ein Geschenk für dich, eine besondere CD. „Der träumende Delphin“ von Sergio Bambaren hat mich sehr ermutigt mit seiner Botschaft: „Es kommt eine Zeit im Leben, da bleibt einem nichts anderes übrig, als seinen eigenen Weg zu gehen.“ Christa war gerührt, konnte nur „Danke“ sagen. Kurz danach kam Renate. Die beiden Frauen hatten sich angefreundet, waren häufig zusammen spazieren gegangen und konnten sehr offen über ihre Gefühle, Enttäuschungen, Zweifel und Fragen, auf die sie noch keine Antwort gefunden hatten, sprechen. Renate gab der Freundin ein gelbes Büchlein mit einer Sonnenblume darauf: „Ich wünsche Dir Kraft für Deinen Weg“, Thomas Romanus. Christa hatte nun einen Koffer voller Herzens-Geschenke und Erkenntnisse, wovon sie über Jahre hinweg regen Gebrauch machen wird. Ihr war vieles klar geworden, was sie verbessern und erneuern konnte. Die Herausforderung bestand darin, es im Alltag zu tun. Sie kaufte eine Gitarre und besuchte einen Kurs in der Volkshochschule. Eine passende Gemeinde zu finden, gestaltete sich etwas schwierig. In ihrer Umgebung schien es nur katholische Kirchen zu geben, die Unbehagen in ihr auslösten. Es war eine Ahnung, dort klein und für sündig gehalten zu werden. Sie war dabei, sich von geistiger Enge zu befreien, ihr Bewusstsein zu erweitern ‚Gott sei Dank darf ich mich frei entscheiden. Ich finde noch das Passende für mich.‘ Einer Eingebung folgend, ließ Christa ihren Unterleib untersuchen. Die Gynäkologin fand eine auffällige Stelle am Muttermund. Operativ wurde eine Probe entnommen. Eine Woche später folgte eine größere Operation. Danach erfuhr sie, dass ein Karzinom und ihre Gebärmutter entfernt wurden. Aus einem Tropf rann eine Flüssigkeit in ihren Arm. Völlig geschwächt, ließ Christa alles über sich ergehen. Als ihre Tochter davon erfuhr, setzte sie sich sofort in den Zug und besuchte ihre Mutter. Christa nahm Dorens Mitgefühl und Hilfe, ihre liebevollen Worte, dass sie auf jeden Fall wieder gesund wird, und ihre zärtliche Umarmung dankbar lächelnd an. „Ich soll dich auch herzlich von Daniel grüßen. Er wünscht dir gute Besserung.“ „Von Daniel?“, fragte Christa erstaunt und voller Freude. „Ja, Mutti, ich habe es ihm gesagt. Du bist ihm nicht gleichgültig.“ Am nächsten Tag gab es noch eine Überraschung mit großer Freude, als ihre Schwester und ihr Schwager kamen. Wieder zu Hause, rief auch ihr Bruder an und wünschte ihr alles Gute. All die liebevollen Zeichen ihrer Familie rührten sie sehr und wirkten heilend. Von Daniel bekam sie eine Zeit lang freundliche E-Mails. Christas Einsichten aus dem Sich-Selbst-Bewusst-Werden
Teil 3 – Aussichten. Wer und wie ist Gott? Eines Tages stand Christa vor einem Regal mit Bibeln. „O, bin ich jetzt so weit, mit beinahe 50 Jahren?“, flüsterte sie und griff ein Exemplar heraus, auf dem „Einheitsbibel“ stand ‚Ich habe die Schriften von Marx, Engels und Lenin gelesen und jetzt lese ich die Bibel. Das hätte ich damals nicht für möglich gehalten‘, staunte Christa. ‚Mein Leben ist sehr abwechslungsreich. Ich scheine nicht nur auf der Suche nach Liebe, sondern auch nach göttlicher Wahrheit und Weisheit zu sein. Finde ich das alles in dieser Schrift? Können uns denn so alte Aufzeichnungen, die aus einer völlig anderen Sprache mehrfach von verschiedenen Menschen übersetzt und überarbeitet wurden, helfen, unser heutiges Leben zu verstehen und zu meistern? Ich bin gespannt.‘ Je weiter sie mit dem Lesen kam, umso mehr gruselte sie sich. Gott wurde in diesem Text als fordernder, strafender, eifersüchtiger, zorniger, sogar rachsüchtiger und blutrünstiger Gott dargestellt, der Opfer verlangte ‚So ein Gott ist unser Schöpfer? Wieso beten so viele Menschen in der ganzen Welt zu einem Gott, der einen laut Bibel in Angst und Schrecken versetzt und angeblich die bestraft, die ihm nicht gehorchen?‘ Etwas wehrte sich heftig in Christa. ‚Haben sich das nicht Menschen ausgedacht, die Gott vorschoben für ihr habgieriges, kriegerisches Machtstreben? Warum sollte Gott, Schöpfer, Quelle des Lebens, seine Menschengeschöpfe zum gegenseitigen Töten auffordern? Das ist absurd!‘ Drei Monate nach der letzten Psychotherapie hatte Christa noch einmal ein Gespräch mit ihrem behandelnden Therapeuten, Herrn Gärtner. Sie berichtete ihm, wie es ihr gelang, das Gelernte im Alltag umzusetzen und dass sie eine Glaubensgemeinde sucht. Er erzählte ihr von einer Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde, der er schon viele Jahre angehörte und deren Glaubensinhalt vom Vorbild Jesus geprägt ist. Er sprach auch von den kulturell vielseitigen Angeboten und hob die Freiwilligkeit in allem hervor. Am nächsten Sonntag ging Christa mit stark klopfendem Herzen zum ersten Mal in einen Gottesdienst. Am Eingang des Hauses wurde sie herzlich begrüßt. Die meisten Plätze waren besetzt. Sie entdeckte Herrn Gärtner. Er zeigte auf den freien Stuhl neben sich „Heute ist Familien-Gottesdienst. Da gestalten die Kinder das Eingangsprogramm“, begrüßte er sie. Alle sangen und bewegten sich nach den Vorgaben der Kinder. Christa machte mit und fühlte sich dabei selbst wie ein glückliches Kind. So locker hatte sie sich einen Gottesdienst nie vorgestellt. Obwohl sie von der Predigt des freundlichen Pastors noch nicht allzu viel verstand, gefiel ihr seine anschauliche Art, mit der er Bibelaussagen als Anleitung für persönliches Handeln im Alltag übertrug ‚Aha, aktueller Bezug ist also möglich‘, registrierte Christa. Am Ende des Gottesdienstes bot ihr Herr Gärtner an, sie Pastor Friedrich vorzustellen, der am Ausgang des Saales jedem die Hand gab. Der freute sich sehr über Christas Besuch. „Sie sind jederzeit herzlich willkommen.“ Herr Gärtner zeigte Christa stolz das Gemeindehaus mit Räumen für Kinder, Jugendliche, für Eltern mit Kleinkindern und Treffen der Erwachsenen und eine große Küche „Bei besonderen Anlässen wird hier für die ganze Gemeinde gekocht, und zwar vorzüglich. Kommen Sie, ich zeige Ihnen auch unser Café.“ Er erzählte ihr, dass sie am Anfang der Gemeindegründung ein wesentlich kleineres, baufälliges Gebäude zur Verfügung hatten, das die Geschwister mit großem Fleiß und Einsatz um- und ausgebaut hatten, als immer mehr Christen zu ihnen kamen. „Es ist sehr schön geworden mit viel Raum für alle“, würdigte Christa diese Arbeit. „Ich komme nun bestimmt öfter.“ Pastor Friedrich bot Christa ein Gespräch an, um einander kennenzulernen. „Wir können uns hier im Gemeindehaus unterhalten, aber ich komme auch zu Ihnen. Wie Sie möchten.“ Gemütlich in ihrem Wohnzimmer bei Tee und Keksen sitzend, erkundigte er sich, wie Christa zu ihnen gefunden hatte und ob sie bei der Gemeinde bleiben wolle „Ja, das möchte ich. Ich fühle mich wohl in dieser Gemeinschaft. Es ist zwar alles noch sehr neu für mich, aber mir wurde schon mehrfach Unterstützung angeboten, wenn ich Fragen habe oder mich einfach unterhalten möchte. Zum Glück habe ich keine Berührungsängste und bin offen für Neues. Nur …“ Sie suchte etwas verlegen nach Worten. „Mit der Bibel, da habe ich meine Schwierigkeiten. Als ich mit dem Lesen anfing, bekam ich einen großen Schreck. Da geht es ja dauernd um Mord und Totschlag.“ Herr Friedrich holte aus seiner Tasche ein farbiges Taschenbuch und legte es vor Christa hin. „Hier ist das »Neue Testament«. Ich empfehle Ihnen, damit zu beginnen. Darin finden Sie die »Frohe Botschaft«, die der Welt durch Jesus Christus, dem Sohn Gottes, überbracht wurde, und wie durch ihn das Licht in die Welt kam. Und wenn Sie möchten, kommen Sie doch zu den Bibelstunden. Wir treffen uns jeden Mittwochabend. Derzeit beschäftigen wir uns mit dem Matthäus-Evangelium. Lassen Sie sich nur Zeit, um nach und nach mit den Texten vertraut zu werden. Das ist ein Prozess von Jahren und endet nie“, sagte er lächelnd. Als der Pastor nach ihrer beruflichen Tätigkeit fragte, erzählte sie ihm ganz offen von ihrer jahrelangen psychischen Behandlung und wie dankbar sie ist, eine Rente zu erhalten. „Wissen Sie, nach meinen Klinikaufenthalten geht es mir immer eine Weile besser und dann arbeite ich auch ein paar Stunden. Doch wenn ich dann alleine bin, rutsche ich wieder in depressive Verstimmungen ab. Deshalb ist es sehr gut, wenn ich jetzt Kontakte in der Gemeinde knüpfen kann.“ „Wir freuen uns, wenn Sie sich bei uns wohlfühlen. Ich biete Ihnen auch gerne meine seelsorgerische Hilfe an. Scheuen Sie sich nicht, mich anzurufen. Manchmal kann es schon helfen, wenn Sie sich etwas von der Seele reden.“ Pastor Friedrich betete noch mit berührenden Worten für Christa. Anschließend ging sie in der Wintersonne spazieren, lehnte sich an eine alte Eiche und dankte für alle Hilfe, die sie schon empfangen hatte, mit Worten, die sie in den Himmel sandte. Gott direkt anzusprechen, das bekam sie noch nicht hin. Da war noch ein diffuses Gefühl in ihr. ‚Wie kann ich zu Gott sprechen, wenn ich ihn doch gar nicht kenne? Aber das wird sich nun ändern. Muss ich denn erst die ganze Bibel gelesen und verstanden haben, bis ich weiß, wer Gott und dieser Jesus Christus sind? Und wie bete ich richtig, wann zu Gott, wann zu Jesus? Worum bitte ich sie? Wenn alle Welt Gott und Jesus mit Gebeten um Hilfe bittet, haben sie ja massig zu tun. Da sollte ich nicht mit jeder Kleinigkeit ankommen‘, sagte sich Christa. „Ach, lieber Gott, du wirst es mich schon wissen lassen. O, jetzt habe ich dich ja doch einfach angesprochen.“ Dezember war bisher für Christa immer eine kritische Zeit. Weihnachten, ihren Geburtstag und den Jahreswechsel alleine zu verbringen, war bedrückend. In diesem Jahr erlebte sie dank der Gemeinde eine viel schönere Zeit. Eine Schwester der Gemeinde lud sie zusammen mit zwei anderen alleinstehenden Frauen zu sich ein. Jeder brachte etwas zum Essen mit und sie erzählten einander, wie sie in diese Gemeinde gekommen waren. Christa hatte zu ihrem Geburtstag Doren eingeladen. Da sie über 700 Kilometer voneinander entfernt wohnten und beide kein Auto hatten, sahen sie sich nur zweimal im Jahr durch gegenseitige Besuche. Dabei kam es mitunter vor, dass sie sich während ihrer Gespräche in der alten Familiengeschichte verstrickten. Doren hatte leider extreme Hoch- und Tiefzeiten ihrer Mutter miterlebt und sich oft um sie gesorgt. Sie konnten zwar in den letzten Jahren ab und zu über ihre seelischen Verletzungen aus der Vergangenheit sprechen, aber manche Wunden ließen sie lieber noch unberührt, um einander nicht wehzutun. Sie wollten behutsam miteinander umgehen, erst recht zu Weihnachten. Jeder brauchte auch noch Zeit, mit sich selbst ins Reine zu kommen. An Christas Geburtstag gingen sie ins Kino. Richard Gere forderte zum Tanz auf „Darf ich bitten?“ Der Film ging den beiden Frauen ans Herz. Als sie danach in einer netten Kneipe beim „Radler“ saßen, sagte Doren: „Ich hätte am liebsten den ganzen Film lang geheult. Ich sehne mich sehr nach so einem Mann.“ Doren fühlte sich unglücklich in ihrer Ehe und wusste nicht weiter. Einerseits sehnte sie sich sehr nach Liebe, hatte aber gleichzeitig Angst vor ihr, wie ihre Mutter. Christa konnte ihr leider nicht helfen, obwohl sie 21 Jahre älter war. Das machte sie traurig. Es war ihr vor Doren unangenehm. Diese wechselte einfach das Thema. „Sag mal Mutti, was hältst du davon, wenn wir dein Bad etwas verschönern? Ich habe da ein paar Ideen.“ „Dazu habe ich auch Lust. Dann können wir wieder etwas zusammen basteln.“ Das war eine Beschäftigung, die ihren Talenten entsprach. Dabei brachten die beiden mit ihrem handwerklichen Geschick immer etwas Besonderes zustande. Schon das Bummeln durch den Baumarkt machte Freude und war erfolgreich. Danach ließen beide ihrer Phantasie beim Verschönern des Bades freien Lauf. „Fertig!“ Christa staunte über ihr neues Bad mit gemütlicher Atmosphäre. Beim Anstoßen mit Prosecco würdigten sie ihr Werk und verbrachten einen freudigen, lockeren Abschiedsabend. Im Café der Gemeinde las die Autorin Margarete Dennenmoser, bekannt unter ihrem Künstlernamen Ursula Marc, aus ihrer Bücherreihe „Nicht wie bei Räubers“. Im Mittelpunkt steht der kleine Tom, der unter Räubern aufwächst und eines Tages liebevolle Aufnahme bei einem König und dessen Sohn findet. Die Geschichte schildert, wie schwer es Tom fällt, sein Misstrauen gegenüber so viel Freundlichkeit, dem Beschenkt-Werden zu überwinden, um allmählich der Liebe, die ihm zuteilwird, vertrauen zu können ‚Das scheint auch mein Weg zu sein‘, dachte Christa. ‚Ich fange langsam an, Gott kennenzulernen. Er will mich mit wahrer Liebe beschenken und legt mir ans Herz, ihm zu vertrauen.‘ Nach einer Pause las die Autorin aus ihrem Buch „Katrin“ – Aspekte des Frauseins. Katrin unterhält sich darin mit Gott über die Rolle der Frau in seinem Reich. Gott geht einfühlsam auf ihre Klagen ein, dass „… die Männer so überlegen tun, Gott für sich gepachtet haben, alleine bestimmen wollen, … uns Frauen gar nicht verstehen wollen …“ Und Gott stellt klar, dass er Mann und Frau nach seinem Ebenbild erschaffen hat, mit ausgeglichenen männlichen und weiblichen Anteilen. Das beruhigte Christa sehr. Frau Dennenmoser schrieb ihr als Widmung in das Buch: „Für Christa, lass Dich lieben und beschenken! Er findet Dich wunderbar!“ Sie fühlte sich unbeschreiblich zärtlich berührt. In ihr floss eine streichelnde Sanftheit, die nicht von dieser Welt war. Von da an entwickelte sich sachte, in vielen Teilschritten auf ihrem weiteren Weg eine Vater-Tochter-Beziehung, die sie ganz individuell geistreich, kreativ gestaltete. Sie betete ganz einfach so, wie ihr zumute war und von ihrem Herzen in ihren Mund gelangte. Christa nutzte so oft wie möglich die verschiedenen Veranstaltungen, um die Gemeindemitglieder besser kennenzulernen und für sich herauszufinden, an welchen Aktivitäten sie sich beteiligen konnte. Sie hoffte, Antworten auf ihre Fragen zu finden: Wieso sehen diese Menschen in Jesus ihren Retter und den Retter der Welt? Wie kann einem dieser Glaube angesichts der Kriege, des Hungers, der Katastrophen und krassen Standesunterschiede in dieser Welt helfen? Und wieso lässt Gott all das Leid in der Welt zu? Die Jugendlichen hatten zu ihrem Teenie-Treff „auf-n.com“ ausdrücklich auch die Älteren eingeladen, um über Nächstenliebe zu sprechen. Der Gemeindesaal war mit roten Herzen geschmückt. Zwei Mädchen eröffneten die Veranstaltung, stellten die Jugendband vor und stimmten eine Liederfolge an. Die Texte waren auf einer Leinwand für alle gut lesbar, überwiegend englisch, aber leicht zu verstehen. Gott und Jesus wurden gefeiert mit fröhlichen Melodien und Lobesworten auf sanfte und flotte Art im Wechsel. Christa sang freudig mit. Dann war ein Kurzfilm zu sehen, in dem die Jugendlichen zeigten, was Nächstenliebe nicht ist. Auf heitere Weise näherten sie sich so diesem Thema. Workshops wurden angeboten, in denen man sich auf verschiedene künstlerische, einfache Art mit dem Thema intensiver beschäftigen konnte. In Kleingruppen tauschten sie sich über Situationen aus, in denen sie Nächstenliebe erlebt und wo sie diese vermisst hatten. Christa fühlte sich wie in einer Großfamilie. Zum Abschluss bekam jeder ein kleines gebasteltes Heft geschenkt mit anregenden Gedanken über die Nächstenliebe. Dank der Kontakte mit den Geschwistern in der Gemeinde und mit Freunden, die sie während der Klinikaufenthalte kennengelernt hatte, war Christa nun mit Menschen verbunden, mit denen sie sich austauschen konnte, und sie pflegte diese Verbindungen auch. In ihrer freien Zeit studierte sie die Bibel. Sie brauchte ein paar Monate, sich in dem vielteiligen Werk zurechtzufinden. Am liebsten las sie im Neuen Testament von Jesus’ Taten, durch die er seinen absoluten Glauben an die Geisteskraft Gottes demonstrierte. Dass er immer wieder hautnah bei den Armen, Kranken, Hungernden, Ausgestoßenen war, Mitgefühl für seine Brüder und Schwestern hatte, wie er sie nannte, berührte Christa im Herzen. Jesus hatte ein souveränes Auftreten, aber stellte sich nicht über die Menschen, erkannte sie. Er war bei ihnen, mitten unter ihnen, nahm ihre Nöte und Ängste wahr, sagte ihnen offen und ehrlich, auf welchem Weg sie mit Gott Frieden in sich und miteinander finden konnten, und lebte es ihnen vor. Beim Lesen über Jesus’ Auftritte war Christa, als liefe sie an seiner Seite, wollte möglichst alles verstehen. Wenn sie sich als die Schwache, Zweifelnde, Ratsuchende in den Texten wiederfand und sich von Jesus liebevoll angesehen, getröstet, ermutigt, geliebt fühlte, liefen ihr Tränen und ein Kribbeln durchströmte ihren Körper. Im Gemeindehaus hing Jesus nicht am Kreuz und es gab auch keine entsprechenden Bilder. Jesus war auferstanden. Er hatte den Menschen gezeigt, dass er von dieser Erde gehen und wiederkommen kann, und so demonstriert, dass es den sogenannten Tod, mit dem alles endete, wie die Menschen irrtümlich meinen, nicht gibt ‚Wollte er der Menschheit damit beweisen, dass es ein Weiterleben gibt, nach dem wir diese Erde verlassen und alle Menschen irgendwann wieder inkarnieren können?‘, fragte sich Christa. ‚Warum sollte das denn auch nur Jesus möglich sein? Wir sind doch alle Gottes Kinder. Obwohl Jesus hier nicht sichtbar für mich ist, fühle ich mich mit seinem Geist der Liebe innerlich verbunden. Ich werde mich taufen lassen.‘ Sie meldete sich zum Taufunterricht an. In der Gemeinde traf man sich zum Osterfrühstück. Christa half bei den Vorbereitungen. Als sie dann beim Frühstück saß, ging es ihr gut, doch unterschwellig stieg Traurigkeit in ihr auf. Von Familien mit Kindern umgeben, fühlte sie sich auf einmal einsam ‚So gerne hätte ich einen Partner an meiner Seite, mit dem ich dieses schöne Erlebnis teilen könnte … Stopp! Ja, das wäre schön. Doch ich bin ja nicht allein‘, rief sie einen neuen positiven Gedanken herbei. ‚Ich bin in fröhlicher Gemeinschaft hier.‘ Sie stand auf und fasste zu, wo es etwas zu tun gab. Es kam das Jahr, in dem ihr Sohn sein 25. und Christa ihr 50. Lebensjahr vollendete. Sie wünschte sich sehr, Daniel endlich einmal wiederzusehen. Acht Jahre war ihre letzte Begegnung her. Ihre Versuche, den Kontakt mit ihm zu erhalten, scheiterten an seinem Schweigen. ‚Soll das nun für immer so weitergehen? Nein. Ich werde mir etwas einfallen lassen, wie wir einander wieder näherkommen können.‘ Ihr kam die Idee, Daniel und Doren für ein Wochenende einzuladen und sich gemeinsam das Musical „HAIR“ auf der Tecklenburger Waldbühne anzusehen. Um nicht erst alle möglichen Bedenken in sich aufkommen zu lassen, rief Christa mit stark klopfendem Herzen Daniel an. Die Begrüßung war so freundlich, als wäre der Kontakt nie abgebrochen gewesen. Ihr Sohn freute sich über die Einladung und sagte sein Kommen zu. Nach dem kurzen Telefonat brach Christa in Freudentränen aus. „Das ist ja wunderbar!“ Auch Doren freute sich auf dieses Wiedersehen. Ein paar Tage vor diesem Treffen kamen Christa auf einmal Bedenken, wie Daniel ihr wohl begegnen würde, nachdem er so lange nichts von ihr wissen wollte. Sie wünschte sich einfach nur ein harmonisches Zusammensein mit ihren Kindern. Doch Gedanken des Zweifels nahmen zu, ob das nach den vergangenen, unglücklichen Erlebnissen und mit dem, was bisher alles unausgesprochen zwischen ihnen stand, in Erfüllung gehen kann, da sie ihm nicht die Mutter hatte sein können, wie er es sich gewünscht hatte ‚Verflixt! Jetzt mache ich mir wieder mal mit Zweifeln an mir das Leben schwer. Doch ich weiß in dieser Situation nicht, wie ich davon frei werde. Ich lasse mir am besten von Pastor Friedrich helfen, damit ich mich nicht in negativen, spekulativen Gedanken verliere. Er hat mir ja angeboten, ihn anzurufen, wenn ich seelsorgerische Hilfe brauche.‘ Der Pastor reagierte fast fröhlich auf Christas Bedenken: „O ja. Das ist ja eine aufregende Geschichte! Dass du deinen Sohn nun wiedersehen kannst, ist doch wunderbar! Du brauchst dir gar keine Sorgen zu machen, wie es abläuft. Das kannst du jetzt sowieso nicht wissen. Lass kommen, wie es kommen mag. Freue dich einfach nur auf diesen Besuch!“ Es war für Christa tatsächlich beruhigend, wie einfach der Mann das sah. ‚Pastor Friedrich hat selbst Kinder und kann sich gut einfühlen, wie es ihm in so einer Situation ginge‘, dachte sie. Ihr wurde leichter ums Herz. Dem Gebet, das der Pastor sehr liebevoll für sie sprach, fügte sie hinzu: „Danke, lieber Gott, dass du mir immer wieder so wunderbare Helfer zur Seite stellst. Ich wünsche dir Freude beim Zusehen, wenn mein Sohn und ich uns in die Arme nehmen. Amen.“ Am Abend rief Doren an und sagte unter anderem: „Du, Mutti, Daniel ist auch aufgeregt und er freut sich auf dich.“ „Danke. Ich freue mich auf euch.“ Als es am Freitagnachmittag an Christas Türe klingelte, schlug ihr Herz bis zum Hals. Doren kam als Erste herein. „Hallo, Mutti! Da sind wir“, sagte sie fröhlich. Sie umarmten sich Küsschen gebend. Und dann nahm Daniel seine Mutti sehr liebevoll in die Arme. „Hallo, Mutti.“ Er hielt sie einen schönen Moment lang. Alle Sorgen waren überflüssig gewesen. Sie konnten locker miteinander umgehen. Beim Spazieren tauschten die Geschwister Kindheitserinnerungen aus. „Weißt du noch? …“ Alle drei hatten Spaß. Nach dem Abendessen tranken sie „Rotkäppchen“-Sekt, landeten wieder bei Erinnerungen an ihre frühere DDR-Zeit und sprachen über die großen Veränderungen seit der „Wende“ Am nächsten Morgen flüsterte Doren ihrer Mutti zu: „Du schaust verliebt aus.“ „Ich bin so glücklich, euch jetzt bei mir zu haben.“ Sie bummelten durch die idyllischen Gassen Tecklenburgs und bewunderten die schön erhaltenen Fachwerkhäuser, bevor sie die Waldbühne erreichten. Die Zuschauerreihen waren dicht besetzt. Christa fühlte sich zwischen Doren und Daniel wunderbar geborgen. Sie erlebten eine farbenfrohe, beeindruckende Inszenierung des Musicals „Hair“ Danach fragte Daniel: „Na, Mutti, möchtest du uns mit meinem neuen Mazda zurückfahren?“ Er hielt ihr den Autoschlüssel hin. „Gerne. Danke für dein Vertrauen.“ Am nächsten Tag erzählte Daniel von seinen Zukunftsplänen, zu denen auch eine Weltreise gehörte und Doren sprach aufgeregt von einem neuen Freund, den sie nach ihrer Scheidung nun kennenlernte. Dann hieß es schon wieder Abschied nehmen. Liebevoll umarmten sie einander. Daniel gab seinem „Pferd“ die Sporen und brauste mit Doren davon. „Meine Kinder sind großartig, ein Segen! Danke, lieber Gott, für diese große Freude des Wiedersehens und dass es uns so gut geht. Ich bin glücklich! Bitte bring beide wohlbehalten an ihre Ziele. Danke.“ Um die Taufe zu empfangen, legten die Täuflinge vor der versammelten Gemeinde ihr Zeugnis ab, wie ihr Leben vor dem Kennenlernen von Jesus war und wie es sich für sie veränderte, seit sie sich Jesus zuwandten, und aus welchen Gründen sie sich die Taufe wünschten. Das war eine Herausforderung für Christa. Wie sollte sie ihr ziemlich bewegtes Leben und ihren Glaubensweg in eine Kurzform bringen? Als sie merkte, dass sie wieder einmal dabei war, sich zu viele Gedanken zu machen, rief sie: „Stopp!“ und brachte sofort zu Papier, was aus ihrem Herzen floss. Auf der Bühne vor der Gemeinde stehend, verlas Christa aufgeregt ihr Zeugnis. Als sie bei den letzten Sätzen ankam, war sie vollkommen ruhig: „Ich bin für Gott offen und es bewegt mich sehr, wie Jesus Christus uns den Weg des Mitgefühls und der Liebe zeigt. Ich stehe am Anfang des Weges, ihm schrittweise zu folgen. In meinem 50. Lebensjahr, das ich in Kürze vollende, fühle ich mich außergewöhnlich reich beschenkt. Danke!“ Seit ihrem ersten Besuch in der Gemeinde war erst ein Jahr vergangen, doch kam es Christa viel länger vor, mit all den Veränderungen und dem intensiven Erleben von Neuem. Wenn sie etwas begeisterte, ging sie stets ganz darin auf. Sie wollte von Jesus lernen wie Maria, die zu seinen Füßen gesessen hatte. Von Geschwistern mit vielen guten Wünschen begleitet, sah sie ihrer Taufe freudvoll entgegen. Ende November, drei Tage vor der Taufe, schneite es heftig und am Samstag türmte starker Wind den Schnee zu Wehen auf. Christa wohnte im ländlichen Randgebiet der Stadt. Die Straßen waren stellenweise vereist. Sie sorgte sich, wie sie am Sonntag zur Gemeinde kommen sollte, und rief den Pastor an. „Horst, hier ist kaum Winterdienst im Einsatz. Ich traue es mir nicht zu, bei der Glätte morgen mit meinem Auto zu fahren. Der Bus fährt auch nicht. Kann ich Hilfe bekommen?“ Ein Bruder, der in ihrer Nähe wohnte, holte sie am nächsten Morgen ab. Und so konnte das Ereignis pünktlich für die drei weiblichen Täuflinge, die weißgekleidet in der ersten Reihe saßen, beginnen. Geschwister der Gemeinde musizierten. Es breitete sich feierliche Stimmung aus. Vor der Taufe gaben die Frauen ihr Gelübde ab, mit dem sie ihren Glauben bekundeten. Als Christa dann in das Wasser des tiefer gelegenen Taufbeckens schritt, hatte sich ihre Aufregung völlig gelegt. Eine ihrer Taufbegleiterinnen verlas den Taufspruch, der für sie ausgesucht worden war: „Wer zu Christus gehört, ist ein neuer Mensch geworden. Was früher war, ist vorbei, etwas ganz Neues hat begonnen.“ (2. Korinther 5,17) Dann hielt der Pastor seine rechte Hand über ihr Haupt und sprach: „Ich taufe dich auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Christa ließ sich nach hinten ins Wasser fallen. Pastor Friedrich half ihr wieder in die Höhe und dieser heilige Akt war vollbracht. Die Familie einer ebenfalls frisch getauften Frau afrikanischer Herkunft sorgte mit Liedern ihrer Heimat für einen schönen Abschluss der Feier. Und dann wurden die neuen Gemeindemitglieder herzlich von ihren Geschwistern beglückwünscht. Christa fühlte sich wie in den Himmel gehoben. Nur einen kurzen Moment bedauerte sie, dass ihre Familie nicht bei ihr war. Obwohl Christa ihre Zeit mit Bibelstudium, Gemeindeleben, Singen in einem Gospelchor und Gitarre üben füllte, fühlte sie sich nach ein paar Monaten zunehmend unwohl und rutschte wieder in starke depressive Phasen. Es war, als ob sie in einen finsteren Wald geriet. „Muss es denn in meinem Leben immer wieder so sein, dass auf ein Hoch ein Tief folgt?“ Sie zog sich zurück, ließ für sich beten, weil es ihr selbst nicht gelang, und ging wieder zu der Einzelgesprächstherapeutin, die sie seit Jahren kannte. Von ihr erhielt sie immer aufbauende, hilfreiche Gedankenimpulse und praktische Tipps. Auch jetzt lenkte sie Christas Aufmerksamkeit sofort auf das Positive: „Frau Heuer, dass Sie nun schon anderthalb Jahre keine tiefen depressiven Phasen mehr hatten und so viele neue Schritte gegangen sind, ist doch wunderbar, eine Bestätigung dafür, dass es Ihnen gut gehen darf und kann“, hob sie hervor. Sie sprachen darüber, was Christa in nächster Zeit tun konnte, damit es ihr wieder besser ging. Dennoch traten starke Stimmungsschwankungen auf. Eben noch voller Schaffensdrang beschäftigt, stürzte sie im nächsten Moment ohne ersichtlichen Grund in schwermütiges Denken und Fühlen ab ‚Wenn ich nur wüsste, was das bedeutet und was ich tun kann, damit das aufhört! Ich sehne mich nach psychischer Stabilität! Was hat Louise L. Hay als wahrscheinlichen Grund für Depression herausgefunden?‘ „Wut, die zu spüren, du kein Recht zu haben glaubst. Hoffnungslosigkeit.“ ‚Welche Wut denn?‘ Mit einem Mal tauchten Erinnerungen, Bilder, unangenehme Gefühle in Verbindung mit dem Missbrauch aus ihrer Kindheit auf. „Meine Güte, das ist 39 Jahre her!“, stöhnte Christa. „Warum taucht das jetzt auf? Was soll das bedeuten? Geht es dabei vielleicht um Sünde, die noch nicht vergeben ist?“ Sie war mit diesen sehr unangenehmen Gefühlen, die sie sehr schwächten, überfordert, fühlte sich von Gott verlassen und flüchtete wieder in ihr druckablassendes Muster. Sie schämte sich und wollte mit niemandem über diese alte Geschichte sprechen. Es war ihr sehr peinlich. Doch diese Erinnerung wirkte so quälend, dass sie den Pastor um Hilfe bat. In dem Gespräch erfuhr Christa, dass ihr mit der Taufe und durch den Tod von Jesus Christus alle Sünden vergeben sind und wenn sie sich derzeit von Gott abgeschnitten fühle, sei das nur ein vorübergehendes Gefühl, nicht die Wahrheit. Denn seiner Verheißung: „Ich bin bei euch alle Tage“, könne sie absolut vertrauen. Während der Pastor ein langes Gebet für Christa sprach, weinte und schnupfte sie, bekam nur wenig mit, fühlte sich jedoch danach erleichtert. Die Verbesserung hielt ein paar Tage an, dann wurde es wieder trübe in ihr und für sie unerträglich, mit sich alleine zu sein. Beim Gespräch mit einem Neurologen wurde ihr empfohlen, die Dosis der Antidepressiva zu erhöhen. Damit gingen Müdigkeit, Schwindelgefühle, Appetitlosigkeit, Herzdruck und Verstopfung einher. „Ich muss das aushalten“, ermahnte sich Christa. „Es wird ja nicht so bleiben. Mein Körper wird sich noch darauf einstellen. Ich will den Frühling genießen. Alles blüht, die Vögel singen und ich wandle wie im Nebel. Also, raus in die Natur und Kopf lüften!“ Heilung einer tiefen Wunde. Es wurde Zeit, dass Christa in die Klinik kam, denn die Abstürze in depressive Phasen nahmen zu. Nach vier Monaten Wartezeit konnte sie in stationäre Psychotherapie aufgenommen werden, in der es auch geistliche Begleitung gab. Froh und dankbar, in behüteter, umsorgter Umgebung zu sein, jederzeit einen Ansprechpartner zu haben und unter Suchenden zu sein, wie sie eine war, ließ der größte Druck etwas nach. Im Fragebogen zu ihrer Vorgeschichte begründete Christa ihren Wunsch nach psychischer Behandlung so: „Ich leide seit fünf Monaten zunehmend an innerlichem Unbehagen und Druck, bin antriebslos und habe keine Freude am Leben. Alte, sehr unangenehme Gefühle von Scham und Schuld, verbunden mit Bildern aus der Zeit eines Missbrauchs in der Kindheit, belasten mich sehr und ziehen mich in eine dunkle Tiefe. Ich möchte davon frei werden, Frieden darüber finden und mich wieder wohlfühlen in meiner Haut. Dafür brauche ich Hilfe.“ Obwohl es Christa peinlich war, legte sie sofort beim ersten Treffen mit dem Therapeuten alles offen dar. „Wissen Sie, Herr Sanft, seit der letzten Therapie kam ich gut zurecht. Ich war ausgefüllt mit Aktivitäten, besonders in der Gemeinde. Doch plötzlich, seltsamerweise nach meiner Taufe, verfiel ich zunehmend in Trübsal. Mich bedrängen Bilder aus einer Zeit, als ich zwölf Jahre alt war und mein Stiefvater von mir sexuell befriedigt werden wollte. Ekel, Scham- und Schuldgefühle quälen mich. Als ich es damals nicht mehr ertrug, sagte ich es meiner Mutter. Sie nannte mich eine Lügnerin. Kaum auszuhaltende Erinnerungen, verbunden mit sehr unangenehmen Gefühlen, machen mir Druck, den ich durch Drücken im Gesicht entlade, als müsse ich etwas wegmachen, weil ich mich schmutzig fühle und weil ich auch nicht weiß, wie ich mit diesen Gefühlswallungen umgehen soll. Eine Weile schaffte ich es, dagegen anzukämpfen. Aber jetzt ist es massiv zurückgekehrt. Stundenlang stehe ich am Spiegel, kann mich kaum beherrschen, damit aufzuhören. Ich fühle mich kaputt und entkräftet und schäme mich sehr. Was ich da mache, erscheint mir so abartig. Das ist verrückt! Ich will das nicht mehr tun! Doch je mehr ich mich dagegen wehre, umso größer wird der Druck. Das ist unerträglich! Ein Teufelskreis!“ Tränen erstickten ihre Stimme. Der Therapeut ließ ihr Zeit. „Ich habe Angst davor, mir die Missbrauchsgeschichte anzusehen, als müsste ich in einen Abgrund stürzen. Doch spüre ich auch deutlich die Not-Wendigkeit, mich dem Erlebten zu stellen, um einen Weg der Versöhnung und inneren Frieden damit zu finden.“ Tief berührt fragte Herr Sanft: „Frau Heuer, sind Sie in der Lage, sich sofort auf so einen Tiefgang einzulassen?“ „Worauf soll ich warten? Jetzt kommt das alles hoch! Es will gesehen und gelöst werden! Bitte helfen Sie mir! Deshalb bin ich ja hergekommen, weil ich alleine damit nicht fertig werde. Der Kampf gegen das, was ich nicht haben will, kostet mich zu viel Kraft. Mir scheint es so, als werde ich Schicht um Schicht, immer tiefer, zu allen meinen alten Verletzungen geführt, damit Reinigung, Klärung und Heilung für immer geschehen kann. Ich bin bereit dafür.“ Am nächsten Tag fand im Kirchensaal ein Gospel-Konzert statt. Die Gruppe „8feet“ sang einfühlsame Lieder von Wegen mit Gott, über die Unsicherheiten und die Verletzungen der Menschen. Sie forderten zum Aufstehen und Loslaufen im Vertrauen auf Gottes Liebe und Führung auf. Christa weichte es innerlich auf. Als ob Gott seine Botschaft der Liebe für sie durch diese Lieder direkt in ihr Herz singend fließen ließ. Eine kraftvolle Welle innerlicher Wärme und sanften Trostes erschütterte ihre hohe Mauer, die sie unbewusst um ihr Herz aufgetürmt hatte. Ein inneres Erdbeben brachte diese zum Einsturz. Im Bett, ihrem Tränenstrom freien Lauf lassend, fiel sie bald in tiefen, langen Schlaf. Am Morgen empfing sie in ihrem Geist: „Du bist zur passenden Zeit am richtigen Ort. Wir geben dir Geleit, liebe Christa.“ Sie lächelte hoffnungsvoll. „Das ist ja schön. Ich bekomme Hilfe von Engeln. Danke, ihr Lieben!“ Im Einzelgespräch schlug ihr der Therapeut eine sanfte Posttraumatische Therapie vor, um sich ihren Gefühlen zu nähern. Und sie wollten eine Strategie zur Krisenbewältigung mit ihr erarbeiten, damit Christa die starken Gefühle nicht mehr auf ihre zerstörerische Art wegdrückte. „Ihre Betreuerin, Frau Sonett, wird mit Ihnen einen Therapieplan aufstellen und Sie begleiten.“ Christa staunte: ‚Wie sanft mit mir umgegangen wird. Ich habe mich so davor gefürchtet, mein liebloses, zerstörerisches Verhalten zu offenbaren. Und jetzt kommen mir diese Menschen so liebevoll entgegen!‘ Im Vorzimmer des Therapeuten fiel ihr eine kleine Holzskulptur auf. Diese zeigte Jonas im Bauch eines Wales sitzend, den Gott ihm geschickt hatte, als er sich ins Meer werfen ließ, wie die Bibel berichtet. Als Christa die Holzfigur in die Hände nahm, konnte sie Jonas herausnehmen. „Das ist ja toll!“ Sofort entstand in ihr das Bild einer eigenen Skulptur: ‚Ich hocke als Embryo im Mutterleib. Mein kleines Wesen ist für mich herausnehmbar. So kann ich es streicheln, mit ihm reden, die Angst vor dem Leben nehmen. Ich fertige mir meine eigene Holzskulptur an‘, nahm sie sich vor. An manchen Abenden wurde vor dem Haus nach griechischer oder israelischer Musik im Kreis getanzt. Eine Patientin brachte ihnen Schrittfolgen bei. Sie waren miteinander verbunden wie in einer Großfamilie, teilten Leid und Freud. Emma und Charlotte kochten ab und zu in der Stationsküche für alle. Diese herzlichen Frauen bereiteten auch für ihren Abschied leckere Pastagerichte zu. Christa organisierte die Ausgestaltung des Gruppenraumes, an der viele Helfer mitwirkten. Sie saßen an liebevoll gedeckten Tischen. Anne hatte ihre Gitarre dabei. Sie sangen Lieder zur Ehre des Herrn und fühlten sich wohl miteinander. Als sich die Runde auflöste, kroch Traurigkeit in Christa hoch. Eigentlich war sie müde, denn am Nachmittag hatte sie auch schon am Tischtennisturnier teilgenommen, aber gleichzeitig war sie überdreht. Die Ereignisse des Tages rotierten gedankenreich mit aufwühlenden Gefühlen in ihr, brachten sie um den ersehnten Schlaf. Sie ging zur Nachtschwester, um sich eine Schlaftablette zu holen. Dort wurde ihr bewusst, dass sie befürchtete, am Spiegel zu landen, weil sie die traurigen Gefühle des Abschieds kaum ertragen konnte. Die Schwester fragte, warum sie sich nach diesem schönen Abend nicht freuen könne. „Ich fühle mich wie ein kleines Mädchen, das von lieben Menschen verlassen wird. Ich verstehe das nicht. Ich bin doch nicht alleine. Und ich bin jetzt kein kleines Mädchen.“ „Ja. Sie sind jetzt eine erwachsene Frau. Doch die kleine Christa, die sich in der Kindheit verlassen gefühlt hat, ist nicht gestorben. Sie lebt in Ihnen und bittet Sie jetzt um liebevolle Zuwendung. Schließen Sie bitte Ihre Augen und stellen sich das ängstliche Mädchen vor.“ Als Christa die Augen geschlossen hielt, konnte sie das Kind zwar nicht sehen, aber deutlich spüren, und intuitiv breitete sie ihre Arme aus und sagte im Geist: „Komm meine Kleine. Setze dich auf meinen Schoß, damit ich dich streicheln kann.“ Die Süße ließ sich hochheben und kuschelte sich an. Mit einem liebevollen Lächeln hellte sich Christas Gesicht auf. Die Schwester sah ihr freudig zu. „War das schön! Die Kleine ist in meinen Armen eingeschlafen.“ „Dann können Sie jetzt bestimmt auch schlafen. Gute Nacht.“ In der Gruppentherapie erzählte ein Mann, welche beängstigenden Gefühle er als Vierjähriger ertragen musste, als sich seine Eltern oft sehr laut und heftig gestritten hatten und sein Vater die Mutter geschlagen hatte. Ihm war diese schmerzhafte Erinnerung auch erst hier hochgekommen. Er fühlte sich schuldig, seiner Mutter nicht geholfen zu haben, und war wütend auf den Vater. Die Luft im Raum wurde zum Schneiden dicht, während er von diesem Geschehen erzählte. Zwei Patienten verließen den Raum. Die Psychologin erklärte, dass es wichtig ist, die Verantwortung für solche Geschehnisse dorthin zurückzugeben, wo sie hingehört, also zu den Eltern. Sie sagte: „Als Kind glaubten Sie, am Streit der Eltern schuld zu sein, und fühlten sich schuldig, Ihre Mutter nicht beschützt zu haben. Diese starken Schuldgefühle und der Gedanke ‚Ich habe versagt‘ haben sich in Ihnen festgesetzt. Sie redeten sich ein, schuldig zu sein und versagt zu haben, und hielten das für die Wahrheit. Für den Streit und die Probleme Ihrer Eltern tragen Sie keine Verantwortung! Als Kind konnten Sie Ihren Irrtum nicht erkennen. Doch heute, als Erwachsener, können Sie sich das klarmachen und sich von ihrer gedanklich auferlegten Schuld lossagen und die Verantwortung an ihre Eltern wahrhaftig zurückgeben. Ob Sie das persönlich oder gedanklich tun, spielt dabei keine Rolle. Falls Sie Hilfe dafür brauchen, können Sie sich gerne an mich oder Ihren Therapeuten wenden.“ Das klang sehr einleuchtend. Doch bei allen hatte die Geschichte schmerzhafte Erinnerungen an Kindheitserlebnisse ausgelöst. Die Luft im Raum war zum Schneiden dicht. Am Ende flüchteten alle ins Freie. Christa atmete an der frischen Luft kräftig aus und ein, verließ das Klinikgelände und spazierte durch den hügeligen Wald „Lieber Gott, was hat das alles zu bedeuten?“, fragte sie laut. Für Christa war Gott inzwischen ein unsichtbarer Geist-Freund, mit dem sie reden konnte. Ihr kam im Geist: „Wir schauen uns deine erlebte Geschichte schrittweise gemeinsam an, damit du die Botschaften deiner hochkommenden Emotionen verstehst und ihren Sinn durchschaust, um damit Frieden zu schließen. Wenn du vor ihnen wegläufst, sie unterdrückst, kämpferischen Widerstand gegen ihr Erscheinen leistest, werden sie dir weiterhin zu schaffen machen. So verlängerst du dein Leiden unnötig. Ich helfe dir auf deinem Weg der Klärung und Heilung.“ „Also bist du es, der mir immer wieder Gelegenheiten verschafft, die Wahrheit zu erkennen, durch die ich zu innerem Frieden gelangen kann. Ich habe zwar noch nicht verstanden, wie es geht, dass ich auch wirklich von den mich belastenden Teilen für immer frei werde, aber ich will darauf vertrauen, dass du es mir zeigst.“ Oft sah Christa, wie Menschen einander umarmten, trösteten, sich Mut und Hoffnung zusprachen. Zu ihrer großen Freude gelang es ihnen auch, mal ausgelassen zu feiern, zu singen, zu tanzen und Lustiges zum Besten zu geben. So kamen erstaunliche, vielfältige Begabungen ans Licht, die mit viel Beifall von der Gruppe gewürdigt wurden. Christa erlebte in diesem Zusammensein trotz der Individualität und Verschiedenheit aller eine wunderbar lebendige, vereinende Kraft. Es verband sie alle der Wunsch, miteinander in Liebe und Frieden zu leben auf ihre natürliche Weise. Und jeder trug einen Teil dazu bei. So würde sie am liebsten immer leben. Im „Kompetenztraining“ spielten sie Szenen aus dem Alltag, wie sie sich in schwierigen Situationen mit anderen auseinandersetzen und für sich eintreten konnten. Freiwillig konnte man sich dabei filmen lassen, um nachher von der Gruppe Rückmeldungen zu bekommen und sich auch selbst einschätzen zu können. Christa machte regen Gebrauch davon und staunte, was alles in ihr steckte, was sie sich „draußen“ noch nicht zugetraut hatte. Sie übte überzeugend, „Nein!“ zu sagen und ihre Gefühle so zu äußern und zu zeigen, wie sie echt da waren, ohne Angst, abgelehnt oder ausgelacht zu werden. Dabei fühlte sie sich ernst genommen, gestärkt und freute sich, ihr wahres Wesen und von ihr noch unentdecktes Potenzial zu entdecken. Das baute sie auf. Jemand hatte mal gesagt: „In Ihnen steckt viel mehr, als Sie von sich annehmen.“ Jetzt fing sie an, das zu erkennen und zu glauben. Allen wurden während der Therapie vielfältige Gelegenheiten angeboten, ihre Ansichten, mit denen sie sich selbst beschränkten, zu erkennen und ihrer eigenen Wahrheit entsprechend zu korrigieren, Verständnis und Mitgefühl für sich zu entwickeln. Es war ein Rahmen vorhanden, in dem jeder ehrlich sagen durfte, wie er andere wahrnahm, was nicht immer nur harmonisch ablief. Alles war erlaubt innerhalb einer Hausordnung, mit der sich jeder zu Beginn der Behandlung einverstanden erklärt hatte. So waren optimale Bedingungen zum Gelingen der Therapie geschaffen. Wer sich nicht an diese Ordnung hielt, musste auch die Konsequenzen tragen. Christa fühlte sich an diesem Ort geborgen, in Sicherheit. Die Gruppe malte Bilder zum Thema „Wie sorge ich für mich?“ Christa malte einen freundlich gestalteten Sitzplatz auf einer Terrasse mit Blumen. Sie selbst stand wie eine Dienerin mit einer Tasse am gedeckten Tisch. Doch ihre rosa gemalte Kontur war von fern nur zu erahnen. „Tolles Drumherum, aber du bist kaum zu sehen“, meinte die Gruppe ‚Das ist ja sonderbar‘, wunderte sich Christa. ‚Ich werde doch von anderen wahrgenommen. Wie nehme ich meinen Körper denn selbst wahr? Ich halte ihn sauber, gebe ihm Nahrung, bewege ihn, fühle mich aber nicht deutlich spürbar mit ihm verbunden.‘ Nach der nächsten Körpertherapie ging Christa zur Ergotherapeutin, Frau Heidrich, und erzählte ihr, dass mit ihrer Körperwahrnehmung etwas nicht zu stimmen scheint. „Ich nehme meinen Körper zurzeit kaum wahr. Es ist, als ob Kopf und Körper voneinander getrennt wären, als wäre ich nicht ganz.“ „Welche schönen Erfahrungen mit Ihrer Körperwahrnehmung haben Sie früher mal gehabt?“, fragte Frau Heidrich. Christa dachte nach. „Als Geräteturnerin und Schwimmerin habe ich mich im Ganzen toll gefühlt. Auch während meiner Schwangerschaften nahm ich meinen Körper sehr intensiv wahr. Ich konnte sehen, wie er sich ausdehnt und das neue Leben in mir fühlen. Meine Schwangerschaften waren die erstaunlichsten Körpererfahrungen meines Lebens.“ „Schön. Also ist mit Ihnen alles in Ordnung. Es geht um Ihre jetzige, scheinbar fehlende Wahrnehmung Ihres Körpers. Und die können Sie wiederbeleben, auch ohne eine Schwangerschaft“, sagte sie lächelnd. „Können Sie mir dabei helfen, Frau Heidrich?“ „Ich lasse mir etwas einfallen, Frau Heuer.“ In der nächsten Körpertherapiestunde sollten alle barfuß über verschiedene Böden gehen: Parkett, Wiese, Kieselsteinweg, Sand, Asphalt, Erde, über alles, was sich auf dem Gelände befand. Es ging um bewusstes Wahrnehmen, wie es sich anfühlt. Auf dem Fußboden vor ihnen lagen paarweise weiße Blätter und Buntstifte. „Malen Sie bitte jetzt schweigend auf das eine Blatt, wie sich ihre Füße vor der Übung anfühlen und wenn Sie in 15 Minuten zurückkommen auf das andere die veränderte Wahrnehmung, wenn es eine gibt. Wir sprechen nachher darüber.“ Christa umfuhr ihre Füße nur leicht mit einem rosafarbenen Stift. Die Fußsohle blieb weiß. Nach dem Laufen zeigte ihr zweites Blatt vergrößerte Fußabdrücke, rot ausgemalt. Alle staunten, wie intensiv sie den verschiedenen Untergrund gespürt hatten, und gaben zu, bisher beim Gehen kaum so bewusst auf ihre Gefühle in den Füßen und im gesamten Körper geachtet zu haben. Wo kann man denn sonst auch noch barfuß gehen? Im anschließenden Gespräch mit Frau Heidrich erzählte Christa freudig, dass sie ihren Körper vom Scheitel bis zu den Fußsohlen durchgängig gefühlt hatte „Was vermuten Sie, wie Sie zu Ihrer scheinbaren Trennung von Geist und Körper gekommen sind, Frau Heuer?“ Christa horchte eine Weile in sich hinein. „Ich vermute, dass es mit der Erinnerung an den Missbrauch durch meinen Stiefvater zu tun hat. In den Wochen vor meiner Therapie tauchten in mir mich quälende Bilder, Scham- und Schuldgefühle auf. Das war unerträglich für mich. Um nicht mehr die bedrückenden Gefühle meines Körpers aushalten zu müssen, habe ich wohl unbewusst eine Mauer zwischen Kopf und Körper gestellt.“ „Fällt Ihnen auf, Frau Heuer, dass Sie selbst diese imaginäre Mauer errichtet haben?“ Christa brauchte einen Moment. „Jetzt, ja.“ „Sie können bewusst, willentlich steuern, nicht in Ihren Gefühlen zu versinken. Sie sind Ihren Gefühlen nicht willenlos ausgeliefert. Sie können einen Weg finden, mit ihnen verständnisvoll umzugehen. Wie geht es Ihnen jetzt, wenn Sie an den Stiefvater denken?“ „Einem Teil in mir tut der alte Mann leid. Er hat sich um uns gekümmert, für die Familie gesorgt, war immer freundlich. Er ist wohl davon ausgegangen, dass er uns beiden etwas Gutes tut, und ahnte nicht, was er in mir anrichtet. Doch ich bin auch wütend auf ihn. Spätestens als ich mich wehrte und ihm deutlich sagte, dass ich das nicht will, hätte er damit aufhören müssen. Und er hat mich zum Lügen angestiftet: ‚Wehe, du sagst es Mutti!‘ Sie schluckte schwer. Plötzlich brach es aus ihr heraus. „Wieso nehme ich diesen Mann überhaupt in Schutz?“ Sie brauchte eine Pause, um die Antwort kommen zu lassen. „Weil ich mitgemacht habe, weil ich mich selbst schuldig fühle. Das macht mich traurig und wütend zugleich!“ Frau Heidrich hielt Christa eine Kiste mit Sandsäckchen verschiedener Größe hin. „Frau Heuer, bedienen Sie sich!“ Sie fing zunächst etwas zaghaft an, griff aber dann beherzt zu den größeren Teilen und knallte sie an die Wand, bis die Kiste leer war. Dabei ihre Wut auch lauthals mit Worten herauszuschleudern, gelang ihr noch nicht. Während der nächsten Gestaltungstherapie skizzierte Christa ihre Mutter als hochschwangere Frau auf einem großen Gymnastikball sitzend im Profil. Das Embryo lag in ihrem Unterleib. Mit Kohlepapier auf eine Holzscheibe kopiert, ließen sich die Figuren heraussägen. In diese Handlung vertieft, fühlte sich Christa mal in ihre Mutter, mal in das wachsende Menschlein hinein. Sie wollte mit diesem Schöpfungsakt nachträglich der damals teilweise traurig ablaufenden Geschichte einen liebevollen Verlauf geben. Eine Weile gelang ihr das, bis sie plötzlich bitterlich weinte. Die Ergotherapeutin bot ihr ein Gespräch im Nebenraum an. Frau Höfer fragte, warum Christa so traurig sei „Meine Mutter hat damals sehr gelitten, als ihr Mann sie wegen der Schwangerschaft mit mir im Stich gelassen hat. Sie tut mir so leid und auch das Embryo, das diese traurigen, beängstigenden Schwingungen empfangen hat. Ich glaube, sowohl meine Mutti als auch ich haben den damals empfundenen seelischen Schmerz mit großer Anstrengung verdrängt. Jetzt spüre ich ihn.“ Frau Höfer sah Christa freundlich an. „Es ist das kleine, verletzte Wesen von damals, das sich jetzt meldet. Wenn Sie es möchten, Frau Heuer, können Sie es nachträglich trösten, der kleinen Seele Verständnis und Liebe geben, um diese Wunde in sich zu heilen. Gott wird ihnen dabei helfen, wenn Sie ihn darum bitten.“ Sie ließen dem Tränenstrom seinen Lauf bis er versiegte „Frau Heuer, Sie haben auch nicht die geringste Schuld daran, dass Ihre Mutter damals gelitten hat. Für den Seelenfrieden Ihrer Mutter sind Sie in keiner Weise verantwortlich, nie gewesen! Es wird viel leichter für Sie, wenn Sie sich das ganz bewusst machen. Sie brauchen die Last der Mutter nicht zu tragen!“, betonte Frau Höfer „Bleiben Sie bei sich. Gehen Sie behutsam und verständnisvoll mit sich um. Für sich können Sie viel Heilsames tun, indem Sie sich selbst in Liebe annehmen und Gott und Ihrer Mutter für Ihr Leben danken und das Beste daraus machen. Glauben Sie an sich, an Ihre Begabungen und Fähigkeiten, die Sie reichlich haben, was auch an Ihrer Skulptur zu sehen ist. So können Sie Ihr eigenes Leben nach Ihren Vorstellungen kreieren.“ Vor dem Einschlafen nahm Christa die neuen Gedanken in sich auf: „Ich brauche die Last und Verantwortung meiner Mutter nicht zu tragen. Ich lasse sie los.“ Bei offenem Fenster atmete sie mehrmals intensiv ein und aus, empfand dabei Erleichterung und tiefe Dankbarkeit, die sie aussprach. „Ich fühle mich in meinem Heilungs- und Erkenntnisprozess auf besondere Weise geführt, erfahre Entlastung und gelange zu hilfreichen Einsichten. Mir erscheint es so, dass du, lieber Gott, mich mit den Menschen zusammenführst, die mir dabei helfen, meine gedanklichen Irrtümer zu erkennen und zu korrigieren. Das empfinde ich als sehr befreiend! So sehr liebst du mich?“ „Ja. So sehr liebe ich dich! Immer!“ „Das fühlt sich unbeschreiblich schön in mir an. Du streichelst mich von innen. Ich genieße es und empfange sogar Worte von dir.“ „Wieso nicht, liebe Christa. Du sprichst doch direkt zu mir, nimmst mich in dir wahr, frei von den begrenzenden Vorstellungen anderer. Das ist schön. Du kannst immer so frei mit mir sprechen, wie dir zumute ist, und mich alles fragen. Jeder kann das. Manchmal erhältst du meine Antwort nicht sofort. Doch in einem bestimmten Moment kannst du sie erkennen, in einem Lied, in einem Bild, in einem Film, in einem Text, in einer Begegnung, in einem besonders intensiven Gefühl, einer neuen Erfahrung. Sie kommt auf verschiedene Weise zu dir. Wenn dein Herz offen für mich ist und du aufmerksam bist, wird sie dich besonders berühren.“ Christa schossen Freudentränen in die Augen. Liebevolle Empfindungen, ausgefüllt mit Wärme, Licht und Weite, durchströmten ihren Körper. Sie empfing spürbar göttliche Liebe. „Das wünsche ich jedem“, kam flüsternd über ihre Lippen im Dahindämmern. Zwei Wochen vor ihrer Entlassung fand ein Therapeutenwechsel statt, ohne Begründung. Frau Krause war jetzt zuständig für Christa und teilte ihr mit, dass sie ihr eine Möglichkeit vermitteln will, mit deren Hilfe sie in Krisensituationen nicht in Selbstzerstörung verfällt „Die Trauma-Therapie wird abgesetzt? Sind wir fertig damit?“, fragte Christa verwundert. „Mehr Zeit steht uns dafür nicht zur Verfügung.“ Christa schrieb sich ihren Frust von der Seele. Danach gelang es ihr, diesen Sachverhalt zu akzeptieren. ‚Vielleicht soll es so sein.‘ Ihr Blick fiel auf das Bild an der Wand mit dem Spruch: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ ‚Den Therapeutenwechsel kann ich nicht ändern. Ich akzeptiere jetzt einfach, wie es ist. Ich will unbedingt lernen, was ich Entlastendes tun kann, wenn ich merke, dass ich Druck in mir aufbaue.‘ Am Nachmittag machte sie es sich in einem Liegestuhl im Wintergarten einer alten Villa bequem „Mal nicht denken, nichts analysieren, nur entspannen!“ Tut das guuut!“ Christa fühlte sich wie auf einer Insel der Glückseligkeit. Atmen, Riechen, Fühlen, Stille genießen – nichts weiter. Ein junger Mann trat ein. „Hallo“, begrüßte er Christa. „Haben Sie es gut hier. Genießen Sie es ausgiebig.“ „Ich bin dabei. Ich lasse gerade meiner Phantasie freien Lauf und stelle mir vor, da draußen wäre ein See, in dem ich jetzt schwimmen könnte.“ „Und ein paar Enten um Sie herum. Wie wäre das?“ „Das gefiele mir. Es könnten auch Schwäne sein. Vielleicht können Sie das Projekt mal anregen.“ „Auf den Wunsch einer Träumerin? Schön, dass Sie so eine blühende Phantasie haben. Ich bin jedoch kein Landschaftsgestalter. Ich finde, so, wie es jetzt ist, ist es passend.“ „Na gut. Dann lassen wir es eben so“, ließ Christa ihren Traum fallen. „Hören Sie aber nie auf zu träumen“, empfahl ihr der Mann. „Es ist der Anfang von allem, bevor es überhaupt entstehen kann.“ „Das haben Sie schön gesagt. Sind Sie Philosoph?“ Sie lachten. Eine kleine, freudvolle Begegnung. Christa stellte sich vor, wie schön es wäre, wenn viel mehr Menschen lächelnd aufeinander zugingen. Man könnte ja einfach mal fragen: „Woran haben Sie Freude? Wofür sind Sie dankbar? Ist Ihr Leben so, wie Sie es sich erträumt haben, wie es Ihnen gefällt?“ Christa interessierte, was ihre Mitmenschen über das Leben dachten, wofür sie lebten, wie sie die Welt um sich herum wahrnehmen, was sie gerne verändern würden, und driftete nun doch wieder in ihre philosophischen Überlegungen ab. In dem Büchlein „Weisheiten aus Afrika“ – sie hatte es im Buchladen auf dem Klinikgelände gekauft – stand: „Viele kleine Leute, die in vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun, können das Gesicht der Welt verändern.“ ‚Das tun wir ja, stellte Christa fest. Viele gute und schöne Dinge werden von Menschen getan, aber leider auch viel Zerstörerisches zugelassen, wodurch der Organismus Erde, unser aller Lebensraum, sehr empfindlich aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Wir haben das Gesicht der einst heilen Welt total entstellt. Leider büßt es durch unverantwortliches Handeln zunehmend an Schönheit ein. Doch die Mehrheit lehnt die Verantwortung für die Auswirkungen ab, die auf der ganzen Erde zu sehen und zu spüren sind, schiebt sie den Politikern oder Gott zu.‘ „Wieso lässt Gott das zu?“, fragt so mancher ‚Wer rodet denn die Urwälder und Wälder, betoniert die Erde zu, dass sie kaum noch atmen kann, verursacht durch Überproduktion Müllberge, verunreinigt ungeachtet der Pflanzen und Tiere die Gewässer und die Luft, zerstört skrupellos die Natur, die Basis unser aller Leben, die uns Gott in reicher Fülle einst zur Verfügung gestellt hat, damit wir sie schützen und pflegen und alles miteinander teilen? Statt vereint, gemeinsam für das Wohl allen Lebens auf dieser Erde zu sorgen, die uns nährt, hat der Mensch trennende Besitz- und Wirtschaftsverhältnisse geschaffen, die er mit Bergen an Gesetzen mit unendlich vielen Paragrafen und Versicherungen sichern will. Er verursacht mit seinem egoistischen Verhalten zunehmend extreme Witterungsverhältnisse, Überschwemmungen und Schäden aller Art, sägt sich den Ast ab, auf dem er sitzt. Die Auswirkungen bekommen wir alle in unseren Körpern zu spüren, auch der, der gründlich in seiner Behausung und im Garten für Ordnung sorgt. Wenn wir vor unserem Scherbenhaufen stehen, brauchen wir nicht zu fragen: »Wie kann Gott das Leid auf der Welt zulassen?« Es ist unser aller Verantwortung und Aufgabe, unser bisheriges Denken und Verhalten zu prüfen und einsichtig zu korrigieren. Wenn wir das zum Wohle allen Lebens auf Mutter Erde tun und Gott um Hilfe und Unterstützung bitten, bekommen wir sie auch.‘ In der Gestaltungstherapie, kurz vor ihrer Entlassung, wurde Christa mit ihrer Mutter-Kind-Skulptur fertig. Mit dem feinsten Schleifpapier glättete sie alle Flächen und Kanten des Holzes. Der Embryo ließ sich mit sanftem Druck aus dem Mutterleib herausnehmen. „Na, Frau Heuer, wie gefällt Ihnen Ihr Werk?“, fragte Frau Höfer. „Sehr gut. Ich nehme es gerne in meine Hände und streichle es mit liebevollen Gedanken dabei.“ „Das freut mich für Sie. Folgen Sie einfach Ihrem Herzen! Dann sind Sie in Ihrer Echtheit. Sie sehen ja, so gelingt Ihnen auf liebevolle, eigene Weise, was Sie sich vornehmen.“ Sichtlich bewegt, bedankte sich Christa. „Danke, Frau Höfer. Ich gehe reich beschenkt nach Hause. Sie haben großen Anteil daran.“ „Danke. Frau Heuer, ich wünsche Ihnen, dass Sie sich immer wieder an diese Schätze erinnern und davon zehren können.“ Mit einem weinenden und einem lachenden Auge nahm Christa von all den wunderbaren Menschen, die sie kennengelernt hatte, Abschied. Zwischen ihnen waren viele „Ich-sehe-Dich-Funken“ hin und her geflogen, die ihr Herz berührten. Als Christa ein letztes Mal auf dem Ringwall des Berges nahe der Klinik stand, rief sie Gott ihren Dank zu. Dann legte sie sich auf eine Bank und sah in die hohen Baumwipfel, die im Wind schaukelten und fühlte sich wie gewiegt, in tiefem Frieden. Dass es diesen inneren Frieden wirklich gibt, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte, schenkte ihr Glücksgefühle. Mit vielen Eindrücken, Erkenntnissen und Plänen angefüllt, fuhr Christa zurück an ihren Wohnort. Die Geschwister der Gemeinde freuten sich, als Christa wiederkam. Sie stimmte voller Hoffnung in das gesungene Gebet ein: „… Gib mir den Mut, voller Liebe, Herr, heute die Wahrheit zu leben … Gib mir den Mut, voll Hoffnung, Herr, heute von vorn zu beginnen … Lass mich in deinem Namen, Herr, die nötigen Schritte tun!“ Christa übte wieder Gitarre zu spielen, beteiligte sich rege am Gemeindeleben, sang im Chor, tauschte sich mit Geschwistern und Freunden aus, bewunderte die Vielfalt und Schönheit der Natur und studierte die Bibel. Monatelang hatte sie Freude am Leben und glaubte, nun auf festem Boden zu stehen und keine Abstürze mehr zu erleben. Daher konnte sie es nicht fassen, dass plötzlich in ihrer eben noch friedlichen Welt wieder Unruhe aufkam. Eine starke Druckwelle aus ihrem Inneren, gefüllt mit verletzten, sehr unangenehmen Gefühlen durchbrach einen Deich. Christa hatte gelernt, ihren Erste-Hilfe-Koffer einzusetzen, wenn ihre Stimmung sank: Kakao zu trinken, passende Musik zu hören, sich gedanklich am Meer zu fühlen, zu beten und für sich beten zu lassen und zu ihren freundlichen Nachbarn zu gehen, um sich nicht alleine zu fühlen. Das tat sie auch. Es half für ein paar Stunden. Doch es konnte das Abrutschen in die bedrückende depressive Verstimmung nicht verhindern. Der unerträgliche Druck, der mit Bildern und sehr unangenehmen Gefühlen aus ihrer Missbrauchsgeschichte wieder auftauchte, summiert mit einer Ohnmacht, war nicht aufzuhalten. Sie landete wieder am Spiegel und verkroch sich tagelang in der Wohnung. Am liebsten wollte sie nicht mehr da sein. Sich in ihrem Gefühls- und Gedankenstrudel verlierend, gelang ihr auch kein Zugang zu Gott. „Es muss doch einen Weg aus diesem tiefen, dunklen Loch geben!“, rief sie verzweifelt. „Wieso gerate ich immer wieder in eine derart niedergeschlagene seelische Verfassung, in der ich mich hilflos fühle. Ich will gesund sein und meinen Frieden haben! Wie erreiche ich das endlich für immer?“ Der Nervenarzt sah ihre Not, aber auch ihren starken Lebenswillen und ihre ehrliche Absicht, herauszufinden, wie sie ihr Seelenheil auf Dauer herstellen kann, und überwies sie erneut in stationäre Behandlung ‚Es ist seltsam, dass ich noch einmal diese Hilfe brauche‘, dachte Christa traurig bei der Ankunft in der Klinik. ‚Ich hatte so gehofft, es nun alleine zu schaffen, mit meinem Leben klarzukommen. Es lief doch alles in letzter Zeit so gut. Doch vielleicht ist in mir so viel kaputt, dass es nur in unterstützten Teilschritten zur Heilung gebracht werden kann. Ich kann nicht anders, als dem Ruf meiner inneren Stimme nach Heilung zu folgen. Es soll wohl so sein.‘ Dem Therapeuten, Herrn Gärtner, dessen Hilfe sie früher schon einmal erfahren durfte, berichtete sie von der Behandlung in der anderen Klinik und dass sie mit dem Missbrauch noch nicht in Frieden gekommen sei, die unangenehmen, aggressiven Gefühle und quälenden Gedanken nicht beherrschen kann. Er vermittelte ihr eine sachliche Sichtweise auf das damalige Geschehen und ihre aktuellen Schwierigkeiten, damit sie sich nicht weiter in ihren Gefühlen verlor. Er erklärte ihr, dass alle Menschen Bedürfnisse nach Liebe, Geborgenheit, Wertschätzung, Zuwendung, Nähe und nach Sex haben, die auf gesunde Weise befriedigt werden möchten. Niemand müsse sich dafür schämen oder gar verurteilen. Wichtig sei es jedoch, achtsam, verständnisvoll und einfühlsam damit umzugehen und die Erfüllung dieser natürlichen Bedürfnisse nicht zum eigenen und nicht zum Schaden anderer zu erzwingen. Wenn Menschen über geraume Zeit unliebsamen Handlungen ausgesetzt werden, kommt es in der Folge zu krankhaften Erscheinungen an Geist, Körper und Seele. So klar hatte ihr das noch nie jemand gesagt, nicht die Eltern, nicht die Lehrer, niemand, obwohl es für den gesunden Verlauf des Lebens aller so wichtig ist. Im Verlauf mehrerer Gespräche beleuchteten sie die Ursachen für die erneute depressive Phase. So wurde deutlich, dass Christa zu jener Zeit des Missbrauchs als Kind unbewusst die Gefühle des Entsetzens, der Angst vor Bestrafung, der Scham und der Hilflosigkeit mit enormem Druck in sich versenkt hatte, um nicht daran zu zerbrechen. Und um sich vor weiteren Verletzungen zu schützen, hatte sie unbewusst in sich einen Schutzwall, eine imaginäre Mauer um ihr Herz errichtet, mit der sie sich an einer vertrauensvollen, tiefen Liebesbeziehung nach der sie sich sehnte, selbst hinderte. Christa kam zu Bewusstsein, dass die von ihr so heftig unterdrückten Emotionen über viele Jahre in der Tiefe eine gewaltige Energie entwickelt hatten. In den vergangenen Wochen hatte sich diese gewaltige Kraft wie ein Vulkan einen Weg an die Oberfläche gebahnt. Die kleine, kindliche, zutiefst verletzte Christa hatte nachdrücklich nach liebevoller Heilung und vollkommener Befreiung aus ihrer „Gefangenschaft“ verlangt. Dank der kompetenten und verständnisvollen Betreuung und einfühlsamen Begleitung der Menschen in der Klinik wurde Christa aufgefangen und in die Lage gebracht, sich auf die Therapiearbeit einzulassen, um aktiv zu ihrer Heilung beizutragen. Herr Gärtner hielt es für wahrscheinlich, dass die kindliche Christa damals glaubte, sie müsse dem Mann geben, was er haben wollte, weil er sie sonst nicht mehr lieb haben würde. Das bestätigte sie und erkannte, dass sie mit dieser alten Überzeugung im Laufe ihres Lebens Unsicherheit in sexueller Beziehung mit Männern entwickelt hatte. Sie glaubte, ihnen etwas erfüllen zu müssen, um als Frau anerkannt und geliebt zu werden. In einem weiteren Gespräch wies der Therapeut Christa darauf hin, dass die Verantwortung und Schuld für dieses sie damals sehr verstörende Geschehen allein bei ihrem Stiefvater und ihrer Mutter lagen. Die Mutter hatte sich nicht schützend vor sie gestellt „Sie, Frau Heuer, haben die Schuldgefühle, welche die Erwachsenen haben sollten, opferbereit übernommen, was zur Störung ihres Selbstwertgefühls und zu ihrer Selbstverurteilung und Ihren krankhaften Symptomen geführt hat. Und aus Angst vor Ablehnung und Bestrafung durch Ihre Eltern haben Sie sich deren Wünschen angepasst. So sind ihre verwirrenden Gefühle und Unsicherheiten in Ihnen entstanden.“ Weinend brach aus der erwachsenen Christa heraus: „Jetzt bin ich wohl freigesprochen?“ „Ich bin kein Richter, Frau Heuer. Die Richterin sind Sie selbst. Sie haben sich schuldig gesprochen. Sie können sich auch aus Ihrer Selbstanklage und Opferhaltung entlassen und sich Ihren Irrtum, den Sie so lange mit sich herumgeschleppt haben, selbst vergeben, wenn Sie es wollen.“ Bewusst die Zusammenhänge des früheren Geschehens in der Kindheit mit ihren Schwierigkeiten im Erwachsenenleben klar und sachlich zu sehen, die Ursachen und Wirkungen zu verstehen, führten sie sehr erhellend in die Wahrheit. Davon angeregt, wurde ihr auch bewusst, dass ihre Eltern mit dem Thema Sexualität große Schwierigkeiten gehabt hatten, und deren Eltern ebenfalls. Diese Erscheinung gab es nicht nur in ihrer Familie, wie sie in den Unterhaltungen mit anderen Patienten erfuhr ‚Es ist dringend notwendig, dass es zu wahrheitsgemäßen Aufklärungen zum Thema gesunde Sexualität für die Menschheit kommt‘, schlussfolgerte sie daraus. Obwohl Christa inzwischen vieles klarer sah und manche Last loslassen konnte, Traurigkeit und Schuldgefühle, keine Familie mehr zu haben, wie sie es sich so sehr gewünscht hatte, saßen noch bedrückend in ihr. Darüber sprach sie mit ihrer Betreuerin. „Wie schaffe ich es, Frau Herz, mich nicht mehr als Versagerin zu sehen und in Frieden mit meiner Familiengeschichte zu kommen? Ich bin zweimal geschieden. Wir haben alle darunter gelitten. Es hat verletzende und verunsichernde Auswirkungen im Leben meiner Kinder hinterlassen, was ich doch gar nicht wollte. Ich wollte es doch besser machen als meine Mutter. Es tut mir so leid, dass ich es nicht besser hinbekommen habe.“ Frau Herz hatte für sie beide Tee gekocht. Als Christa traurig vor ihr saß, sagte sie: „Trinken Sie erst einmal von dem Tee und nehmen sich einen Keks.“ Christa nahm die heiße Tasse in ihre Hände, trank langsam und spürte angenehm, wie sich die Wärme in ihr ausbreitete. In das freundliche, mütterliche, weiche Gesicht von Frau Herz zu sehen und ihr zuzuhören, beruhigte sie. „Frau Heuer, so wie ich es aus Ihren Schilderungen entnehme, ist Ihnen unter schwierigen Bedingungen viel Gutes und Schönes gelungen. Ich glaube, dass Sie ihre Familie lieben und mit allem, was Ihnen zur Verfügung stand, die Beziehungen so gestalteten, wie Sie konnten. Was hätten Sie denn sonst noch tun können?“ Christa zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“ „Sehen Sie. Wir stoßen immer mal wieder an unsere menschlichen Grenzen. Dass manches nicht so funktioniert, wie wir es gerne hätten, bedeutet doch nicht, dass wir Versager sind. Ich kenne keinen Menschen, der fehlerfrei ist. Kennen Sie einen?“ Christa lachte „Na also. Wenn es Ihnen gelingt, nicht so streng mit sich zu sein, und aufhören, sich zu verurteilen, für das, was Ihnen früher nicht anders möglich war, wird es Ihnen deutlich besser gehen. Sie brauchen es sich doch nicht unnötig schwer zu machen. Niemand verlangt von Ihnen, mit sich ins Gericht zu gehen. Damit ziehen Sie sich selber runter und sehen sich als Opfer. Das hat keinen Sinn. Sie können Ihr Leben doch auch aus einer anderen Perspektive betrachten. Ich zum Beispiel schaue bewundernd auf Ihren Lebenslauf. Ich finde es sehr beachtlich, wie Sie mit all den schwierigen Situationen umgegangen sind. Sie meistern die Herausforderungen Ihres Lebens mit enormer Stärke und Beharrlichkeit und Mut! Das ist Ihnen nur noch nicht bewusst geworden. Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen gelingt Ihr Lebenswerk und auch mal sich selbst bewundernd betrachten und würdigen zu können.“ Christa sah Frau Herz mit großen Augen erstaunt an, schluckte und ließ die Worte schweigend in ihr Herz rieseln. „Wie fühlen Sie sich jetzt, Frau Heuer?“ „Ein warmes, sanftes Gefühl durchströmt meinen Körper. Es bewegt sich etwas Wohltuendes in mir. Es fühlt sich richtig gut an. Die Botschaft ist sanft angekommen. Als mich Herr Gärtner vor einiger Zeit auch auf diese Spur hingewiesen hat, ist es bei mir nicht so gelandet. Da war ich wohl noch nicht bereit, es als wahr annehmen zu können. Da war mein Kopf noch im Weg. Doch jetzt hat es mich im Herzen berührt.“ „Sie können selbst liebevoll mit sich sein und sich streicheln. Ich mache das öfter.“ Frau Herz strich sich mit den Händen über ihre Oberarme. „Ich lächle mein Spiegelbild an und freue mich an mir.“ Christa lächelte. „Das gefällt mir.“ „Ja, Ihre Gesichtszüge sind jetzt weicher. Mögen Sie sich gleich noch eine sanfte Aromabehandlung von mir gefallen lassen?“ „O ja! Frau Herz, Sie sind ein Engel! Danke schön.“ „Es freut mich, wenn ich helfen kann. Kommen Sie!“ In dem freundlich gestalteten Ruheraum durfte sich Christa Musik und ein Duftöl aussuchen. Auf dem Massagetisch liegend, die warmen, weichen über sie streichenden Hände spürend, rollten Tränen ihrer Erleichterung auf das Handtuch. „Was für ein Segen, hier sein zu dürfen“, flüsterte sie. Am nächsten Tag kam Nicole auf Christa zu und fragte, ob sie mit ihr im Musikraum ein Lied einüben würde. „Ich möchte meine Scheu überwinden, um später vor Publikum aufzutreten. Herr Gärtner meinte, dass du auch mit deiner Gitarre übst. Hast du Lust?“ Christa lächelte. „Eine gute Idee von Herrn Gärtner, uns zusammenzubringen. Er weiß, dass wir uns mehr zutrauen wollen, uns jedoch mit zu hohen Erwartungen im Wege stehen und mit unseren Talenten nicht hinausgetrauen. Na dann, lass es uns ausprobieren! Ich bin neugierig, wie wir das hinbekommen.“ Sie hatten viel Spaß beim Üben. Es wurde eine beflügelnde Erfahrung für beide. Ein paar Tage später, während der Bewegungstherapie, spürte Christa eine aufsteigende Welle angestauter Wut auf ihren Stiefvater in sich. Die Ergotherapeutin bot ihr einen Plastikdegen an. „Bitte, Frau Heuer. Die Wand steht Ihnen zur Verfügung.“ Heftig zuschlagend, schleuderte sie ihren so lange unterdrückten, angestauten Ärger aus sich heraus. „Du Mistkerl hast meine kindliche Naivität für deine Zwecke benutzt! Du hast meine Sehnsucht nach Liebe schamlos ausgenutzt! Du hast mich missbraucht und zum Lügen gebracht! Du hast mich angeekelt und meinen Widerwillen missachtet! … Christa ließ alles heraus, was sie so viele Jahre nicht zulassen konnte – alles, bis ihre Kräfte nachließen. Beifall ertönte hinter ihr. Als sie sich der Gruppe zuwandte, riss sie die Arme hoch: „Ein Befreiungsschlag! Jetzt geht es mir viel besser!“ „War das toll!!!“, schrieb Christa am Abend in ihr Tagebuch. „Ich fühle mich kolossal befreit und auch gewachsen! Dabei war es vergleichsweise ein harmloser Gefühlsausbruch. Manche Menschen töten aus Wut. Dass ich über meine mich quälenden Gedanken und Empfindungen mit Menschen reden darf, die mich nicht verurteilen, sondern Verständnis für mich aufbringen, entlastet mich sehr. Doch dass ich heute auf diese einfache Art, meinen lange unterdrückten Ärger herauslassen konnte, hat mir auch enorm geholfen, die angestauten Emotionen loszuwerden. Und ich habe niemandem damit geschadet.“ Dieses Erlebnis regte in ihr intensive Überlegungen an, denen sie beim Schreiben ins Tagebuch freien Lauf ließ: ‚15 Jahre lang habe ich zunehmend aggressiv, süchtig in meinem Gesicht gedrückt, eine zerstörerische Handlung gegen mich selbst gerichtet, weil ich mich schmutzig fühlte und keinen gesunden Umgang mit meinen unangenehmen Gefühlen fand. Ich erinnere mich, dass ich in meiner Kindheit und Jugend enorm viel Frust, Enttäuschung, tiefe Traurigkeit heruntergeschluckt habe. Mutter hatte mir unter Androhung von Schlägen das Weinen und Traurig-Sein und meine Meinung zu äußern verboten »Wehe du heulst! Sei nicht so zimperlich! Ich dulde keinen Widerspruch! Zieh nicht so ein jammervolles Gesicht! Die Strafe hast du dir selbst zuzuschreiben!« Doch ich hatte reichlich Gründe für meine starken Emotionen, die so schmerzhaft für mich waren, dass ich sie kaum aushalten konnte. Hätte ich diese zeigen und herauslassen dürfen, wie ich sie in den Momenten meines Kummers und Ärgers empfand, und ihnen einen mich entlastenden Ausdruck geben dürfen, wäre in mir nicht eine wachsende Deponie unterdrückter Kummer-Energie und Ängste entstanden. Aus dem mühsamen Unterdrücken dieser starken Gefühle wuchs in mir auch eine Angst vor Konflikten und Auseinandersetzungen im Erwachsenenleben. Ich wollte die unangenehmen Emotionen, die daraus entstehen können, vermeiden, damit der Kummer-Berg nicht noch größer wird. Aber auch diese Vermeidungsstrategie hatte herausfordernde Folgen. So manchen nervte es, und dann wurde ich erst recht provoziert, um mich aus meiner Deckung zu locken, damit ich mich zeige, wie mir wirklich zumute ist. An meiner erlebten Geschichte erkenne ich, wie wichtig es für das gesunde Aufwachsen der Kinder ist, von Anfang an ihre wahren Emotionen wie Kummer, Ärger, Neid, Angst und Liebe herauslassen und darüber reden zu dürfen. Dass wir Erwachsenen den Kindern zuhören und sie ernst nehmen, ihre Fragen ehrlich beantworten, mit ihnen lachen und weinen und ihnen helfen, mit ihren natürlichen Emotionen umzugehen, damit sie Vertrauen in sich und ins Leben entwickeln können. Wir sollten ihnen mit ganzem Herzen beistehen und Vertrauen schenken. Es macht mich betroffen, dass ich im Laufe der letzten Jahre immer mehr junge Leute in der Klinik antreffe, die sich »draußen« von niemandem verstanden und angenommen fühlen, ihre wahren Gefühle und insbesondere ihre Ängste unterdrücken, um Ärger mit den Eltern, Lehrern, der Gesellschaft zu vermeiden. Sie befürchten, die vielen Anforderungen der Erwachsenen nicht in dem geforderten Maß erfüllen zu können und in der Konkurrenz mit den Gleichaltrigen unterzugehen. Sie fühlen sich isoliert, nicht geliebt, nicht in ihrem wahren Wesen erkannt und protestieren auf ihre Art. Und je mehr sich nicht gelebte Energien in ihnen anstauen, umso mehr wächst das Potenzial zu aggressivem Verhalten auf verschiedenste Weise, wie Selbstverletzung, Verletzung anderer und Zerstörung im Umfeld. Wenn ihnen zu wenig verständnisvolle Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, sie sich nicht getrauen, über ihre wahren Gedanken und Gefühle, ihre eigenen Vorstellungen und Ideen zu sprechen, nutzen sie andere Ventile, um auf sich aufmerksam zu machen, ihren Hilferuf zu zeigen: Bulimie, Magersucht, Alkohol, Drogen, verschiedenste Süchte –, auffälliges Verhalten in vielen Varianten oder sich völlig zurückziehend. Ein gemeinschaftliches Leben, das auf Wertschätzung für sich selbst und alle anderen, auf Akzeptanz, Toleranz, Liebe, Ehrlichkeit, Gemeinschaftsbewusstsein und Verantwortungsgefühl basiert und freie Entfaltung aller Begabungen ermöglicht, ist meine Vision von einer friedlichen Welt. Ich sehne mich nach so einer neuen menschlichen Kultur! Es ist mein größter Traum. Und ich möchte mit dazu beitragen, dass er Wirklichkeit wird. Indem ich durch entsprechende Heilungsschritte für Frieden in mir sorge und es mir zunehmend gelingt, psychische Stabilität zu erreichen, werde ich eines Tages auch mit meinen Erfahrungen und Fähigkeiten anderen Menschen helfen können, zu ihrem inneren Frieden zu finden. Ich arbeite daran.‘ Christa klappte das Tagebuch zu und öffnete das Fenster. Beim Blick in den Sternenhimmel sagte sie zuversichtlich: „Lieber Gott, ich habe eine Ahnung in mir, dass das der Inhalt meines weiteren Lebens sein wird. Du sorgst dafür, dass ich erst einmal nach und nach in mir alles zur Heilung bringe, was verletzt und unterdrückt ist und mich um Liebe, Verständnis und Vergebung bittet, damit ich mich unbelastet Neuem zuwenden kann. Und du lenkst meine Aufmerksamkeit auf meine Ansichten und Irrtümer, mit denen ich mich selbst am Weiterkommen hindere. Das geschieht sehr gründlich, um das Alte, Vergangene als Erfahrungswerte wirklich loszulassen, neue Erkenntnisse daraus zu gewinnen und den Weg in ein neues Leben in Freiheit und Frieden für uns alle vorzubereiten. Vergebung und Selbstbewusstsein. In einer schlaflosen Nacht dachte Christa an ihre Eltern. Sie machte sich bewusst, was sie alles von ihnen empfangen hatte: ‚Vor allem mein Leben! Mutter hat mir 19 Jahre lang ein geordnetes Zuhause gegeben, mich mit allem versorgt und mir vermittelt, wie wichtig Ehrlichkeit, Lernen, Körperpflege, Kultur, Humor und Ordnung im Leben sind, und vieles andere mehr. Sie, und später auch der Stiefvater, haben meine geistige Entwicklung gefördert und mich dazu bewegt, Abläufe des Lebens kritisch zu hinterfragen. Und ich habe mit ihnen auch viele schöne Momente erlebt. Ich habe das Bedürfnis, euch jetzt ein paar meiner Gedanken ins Universum zu senden. Die göttlichen Schall- und Lichtwellen bringen sie zu euch „Liebe Eltern, ich danke euch für euer Mühen um mich. Ihr habt mir aus guter Absicht gegeben, was eurer Ansicht nach das Beste für mich sein sollte. Ich konnte viel daraus für mich lernen. Aber, was den Missbrauch betraf, habt ihr mir sehr wehgetan. Doch ich verurteile euch nicht. Das kann ich nicht. Da ich inzwischen allmähliche Heilung erfahre, indem ich meine über viele Jahre unterdrückten, angestauten Gefühle der Angst vor euch und Wut über euch und meiner Scham erkenne, meinen Frieden damit schließe und sie loslasse, verspüre ich Mitgefühl für euch. Vielleicht fehlte euch der Mut, miteinander über eure unerfüllten Sehnsüchte und eure Schwächen zu sprechen und euch so zu lieben, wie ihr euch das wünschtet. Und ihr habt es versäumt, euch für euer unaufrichtiges Verhalten bei mir zu entschuldigen. Das ist traurig. Die Ursachen dafür liegen in euch, in eurer Verantwortung. Bestimmt habt ihr damals in dieser Situation gelitten. In dir, Mutter, musste wieder mal eine Welt eingestürzt sein. Wiederholt hatte sich für dich bestätigt, dass der Mann, dem du vertrautest, dich schwer enttäuschte. Das ist deine Geschichte, in die ich mich leider verstrickt und in der ich mich opferbereit verhalten hatte. Dank therapeutischer Hilfe ist mir das bewusst geworden. Ich löse mich jetzt aus diesen Verstrickungen mit euch heraus und gebe euch zurück, was eure Verantwortung ist, um endlich unbelastet meinen eigenen Weg mit Gott zu gehen, der mich in die Liebe führt.“ In diesem Moment spürte Christa liebevoll, was Gott mit Barmherzigkeit, Güte und Sanftheit meint, die sie an ihre verstorbenen Eltern weitergab. „Mögen auch eure Seelen Frieden finden, wo immer ihr seid. Ich vergebe euch von ganzem Herzen.“ Ihr fiel der Hinweis von Herrn Gärtner ein, auch sich selbst zu vergeben. „Jetzt kann ich verstehen, welches Leid ich mir unbewusst damit angetan habe, mich für das Geschehene zu verurteilen, mich mit Scham und Schuld zu belasten, die nicht zu mir gehörten. Was für eine Selbstbestrafung habe ich mir angetan! Das ist jetzt vorbei. Ich vergebe mir verständnisvoll meinen schweren Irrtum. Lieber Gott, wir waren alle mit der Situation überfordert, nicht in der Lage, damit offen, vertrauensvoll in Liebe umgehen zu können. Bitte vergib auch du uns!“ Eine Welle der Freude breitete sich in Christa aus. Ihr war, als ob sich ihr Herz in dem Moment ausdehnte. In diesem Akt der Gnade fühlte sie sich unbeschreiblich glücklich und zu Tränen gerührt. „Danke, lieber Gott“, flüsterte sie und schlief friedlich ein. Zwei Tage später stand Christa auf „ihrem“ geliebten Berg, und fragte in sich hinein: „Bin ich jetzt erst einmal fertig mit dieser Aufarbeitung? Ich habe doch einige neue Schritte geschafft und will mir weitere zutrauen.“ Sie horchte in sich hinein. Da kam ihr: „Du wirst es im Leben zu nichts bringen.“ Das waren Worte aus Mutters früheren Standpauken, mit denen sie ihre Zweifel an Christas Zukunft zum Ausdruck gebracht hatte „Aha, eine Gedankenblockade!, die ich noch zu lösen habe, um weitergehen zu können. Ich habe doch inzwischen erkannt, dass ich es in diesem Leben zu vielem gebracht habe. Der Satz entspricht also nicht der Wahrheit. Aber, dass er sich jetzt hier zu Wort meldet, da ich mich einem neuen Weg zuwenden will, ist kein Zufall. Christa setzte sich auf eine Bank und erinnerte sich ‚Wenn mir als Kind eine Forderung der Eltern zu schwer, unverständlich und für mich nicht lösbar vorkam, habe ich oft gesagt: „Das kann ich nicht.“ Mutter hat mir dann energisch entgegnet: „Du kannst das n o c h nicht! Gib dir mehr Mühe, sonst wirst du es im Leben zu nichts bringen!“ ‚Wie kann man etwas zu nichts bringen? Unsinn. Doch welche Überzeugung habe ich in mir aus ihrer Aussage gebildet?‘ … „Ich muss mich sehr mühen, damit ich es im Leben zu etwas bringe.“ Christa spürte bei diesem Gedanken körperliche Anspannung und musste kräftig ausatmen ‚Also damit habe ich mir immer wieder das Leben schwer gemacht, mich unter Druck gesetzt und angestrengt, bis ich flachlag. Ich wollte ständig beweisen, vor allem meiner Mutter, dass ich mich bemühe, alles im Leben zu schaffen, was von mir verlangt wird. Damit habe ich mich übernommen und verausgabt. Kein Wunder, dass es mir zunehmend schwindlig wurde und meine Kräfte abnahmen. In diesem Moment fielen ihr Jesus’ Worte aus der Bergpredigt ein: „Seht euch die Vögel des Himmels an. Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie?“ Mt 6,27. Es wirkte wie ein Lichtstrahl, der ihren Geist erhellte. ‚Aha. Ich verstehe das jetzt so, Gott sieht mich als würdig und wertvoll an und sorgt natürlich auch für mich. Ich muss mich gar nicht so kräftezehrend abmühen, um zu beweisen, dass ich ein wertvoller Mensch bin.‘ Christa ließ diese Erkenntnis in sich ankommen und lächelte dabei. Trotz dieses Lichtblickes folgte eine schlaflose Nacht. Gedanken an die Mutter geisterten im Kopf herum. Bei der Nachtschwester sprach Christa über ihre Mutter-Tochter-Beziehung. „Ich war so fest der Meinung, wenn ich keine Anerkennung von ihr bekomme, ist alles, was ich tue, nichts wert. Ich ließ nichts anderes gelten. Sie steht wie ein machtdemonstrierendes Denkmal in meinem Geist, weil sie so beherrschend in meinem Leben war. Ich will dieses Bild löschen, weiß aber nicht, wie. Wie kann ich mich davon befreien?“ „Wie wäre es, wenn Sie die Mutter einfach unter das Volk mischten, als einen Menschen mit Stärken und Schwächen, wie wir sie alle haben? Sie könnten sie von ihrem hohen Sockel herunterholen. Im Laufe Ihres Lebens haben Sie sich doch Ihre eigene Größe erworben und können so auf Augenhöhe mit ihr sein. Und Sie können sich auch ganz von ihr zu lösen, um Ihren eigenen Weg zu gehen, wie es Ihren Erfahrungen und Erkenntnissen entspricht ohne es irgendjemandem recht machen zu müssen. Es ist Ihr Leben, über das Sie selbst bestimmen.“ „Ja, das klingt gut. Na ja, dass ich groß bin und wirklich frei über mein Leben bestimmen darf und kann, ist noch so neu für mich. Ich kann es noch nicht ganz glauben. Mein Leben war so verwirrend mit all den Vorschriften ‚Das darfst du nicht‘ und zu viel ‚Das musst du so machen.‘ So verlor ich immer mehr mich selbst und fand keine klare Orientierung. Es kommt mir so vor, als ob ich ständig dabei bin, aus einer Menge Puzzleteile ein mir entsprechendes Lebensbild zusammenzufügen. Manches Teil hatte ich schon mehrmals in der Hand, fand aber die Stelle noch nicht, wo es hingehört. Oder wenn ich ein passendes Teil nicht finden konnte, geriet ich in Zweifel, ob es das überhaupt gibt und ob es sich lohnt, weiterzusuchen.“ „Ich kenne das auch, Frau Heuer. Daher kann ich nachvollziehen, wie es Ihnen geht. Ich weiß, wie es ist, festzustecken in einem Knäuel verwirrender alter Gedanken und Gefühle, die sich mit aktuellen vermischen und mir chaotisch erscheinen. Ich habe auch eine Weile gebraucht, das Durcheinander zu sichten, zu ordnen und die Teile auszusortieren, die nicht zu mir gehören, um mich selbst zu finden, mein eigenes Ding zu machen. Ich war auch eine Weile auf der Suche nach meiner zu mir passenden beruflichen Tätigkeit. Für mich ist das Leben wie eine Gartengestaltung. Ich probiere einfach aus, welche Pflanzen auf meinem Boden am besten gedeihen und was sie dafür brauchen, welche Früchte ich ernten möchte und welche Pflanzen ein farbiges Bild ergeben, an dem ich meine Freude habe. Da vertrocknet oder erfriert auch mal etwas oder wird von gewissen Tierchen angeknabbert. Die Natur regelt das. Und ich pflanze mit Begeisterung Neues.“ Das Telefon klingelte. Christa bedankte sich und verließ winkend den Raum. Müde im Bett liegend, streifte ein sanfter, kühler Lufthauch ihre rechte Gesichtshälfte. Das hatte sie in letzter Zeit schon öfter vor dem Einschlafen als ein sehr zärtliches Liebkosen wahrgenommen. ‚Vielleicht streichelt mich ja ein Engel.‘ Mit diesem freundlichen Gedanken schlief sie glücklich ein. Am Morgen erwachte Christa mit einer Idee. ‚Ich habe doch die Holzskulptur meiner Mutter. Wie wäre es, wenn ich symbolisch die Beerdigung, den Abschied von meiner Mutter auf dem Klinikfriedhof nachhole? Das ist ein passendes Ritual, durch das ich endlich meine Mutter vollkommen loslasse. Damit drücke ich aus, dass ich nichts mehr von ihr erwarte, sie endlich in Ruhe lasse und die Verantwortung für mein Leben vollständig übernehme. Diese Vorstellung gefällt mir. Ich frage mal den Pastor.‘ Herr Freimut freute sich über Christas Besuch. „Sie wirken so unternehmungsfreudig“, begrüßte er sie. „Gibt es etwas Neues zu berichten?“ „Ja. Mir ist eine wunderbare Idee gekommen.“ „Schießen Sie los, Frau Heuer.“ „Jetzt ist für mich der Zeitpunkt gekommen, meine Mutter auf besonders würdevolle Weise loszulassen mit einer kleinen Beerdigungszeremonie auf dem alten Friedhof hinter der Klinik.“ „Das klingt interessant. Wie stellen Sie sich das praktisch vor?“ „Ich lege in einen Schuhkarton die Holzskulptur meiner Mutter.“ Herr Freimut unterbrach sie. „Was für eine Holzskulptur?“ „Ach ja, das wissen Sie ja noch nicht.“ Christa erzählte ihm, wie diese zustande gekommen war. „Was Sie alles können“, staunte er anerkennend. Sie freute sich und breitete ihre Vorstellung von der Abschiedszeremonie weiter aus. „Den Karton vergraben wir in der Erde. Würden Sie diese kleine Feier gemeinsam mit mir gestalten?“ „Die Idee ist großartig. Das machen wir. Wenn Sie einen Text für die Andacht dazu schreiben, Frau Heuer, können wir in der kleinen Kapelle am Friedhof feiern. Ich bringe meine Gitarre und einen Spaten mit.“ Christa erzählte dem Therapeuten im Einzelgespräch, auf welche Weise sie nun von ihrer Mutter endgültig Abschied nehmen will. „Das freut mich für Sie“, entgegnete Herr Gärtner. „Ist Ihnen nun klar, was Sie mit der endgültigen Ablösung von Ihrer Mutter an irrtümlichen Gedanken mit beerdigen wollen?“ „Ja, den Irrtum, dass es der Sinn meines Lebens sei, nach ihrer Anerkennung zu streben, und dass sie Macht über mich hat. Ich lerne daraus, auf meine innere Stimme und meine Gefühle zu hören, meiner Intuition zu vertrauen und zu folgen, auch wenn es sich von Meinungen anderer wesentlich unterscheidet. Das mutig umzusetzen, erscheint mir als eine Lebenskunst.“ Christa lächelte. „Ach ja, das Philosophieren steckt mir im Blut. Auch wenn es für mich nicht leicht war mit ihrer strengen Art, ich möchte sie für ihre verantwortungsvolle Fürsorge würdigen. Und, sie hat mich dazu herausgefordert, das Leben auf meine Art zu erforschen und zu meistern. Das kann ich nun positiv für mich nutzen.“ „Wir haben alle unsere starken und schwachen Seiten. Doch wir müssen nicht jedes Verhalten anderer gutheißen, auch nicht, wenn wir mit ihnen verwandt sind“, bemerkte Herr Gärtner mit einem vielsagenden Lächeln. „Wir tun gut daran, darauf zu achten, was dem eigenen Wohl und dem Wohl der Allgemeinheit dient und was nicht, sich Irrtümer einzugestehen und sie zu korrigieren.“ „Da hat jeder Einzelne und unsere Gesellschaft als Ganzes noch viel zu tun, sich ehrlich zu den Irrtümern zu bekennen und Veränderungen vorzunehmen, die dem Wohl des Ganzen dienen“, sagte Christa „Gott sei Dank gibt mir – uns allen – das Leben immer wieder neue Chancen, Dinge zu verändern, die nicht unseren Vorstellungen von einem friedlichen, harmonischen, freien Leben in Gemeinschaft entsprechen. Wir können schrittweise herauszufinden, was zum Wohle des Einzelnen und des Ganzen funktioniert und womit wir uns keinen guten Dienst erweisen. Mir ist dank der vielen, intensiven Gespräche, die ich haben darf, bewusst geworden, dass ich durch alle meine Lebenserfahrungen Fähigkeiten und Wissen erwerbe, um auswählen zu können, was passend für mich ist. Es liegt an mir, was ich damit gestalte, wofür ich mich entscheide, an keinem anderen!“ „Das ist ein sehr wichtiger Gedanke, Frau Heuer. Ich höre hier öfter, dass Menschen ihre Verantwortung auf andere abwälzen, andere über sich entscheiden lassen und sich beschweren, dass ihr Leben nicht so funktioniert, wie sie es eigentlich haben wollten. Auch ich habe schmerzliche Erfahrungen gemacht. Aber genau aus diesen konnte ich das meiste lernen. Sonst säße ich heute nicht hier.“ „Sie helfen mir sehr, mir meiner gedanklichen Irrtümer bewusst zu werden und zu lernen, mich mit meinen Licht- und Schattenseiten, meinen Stärken und Schwächen anzunehmen und meine Opferrolle aufzugeben. Ich will künftig meine guten Eigenschaften fördern, wie ein Gärtner seine Pflanzen veredelt, und die Teile aussortieren, mit denen ich mich am Wachsen und Reifen hindere. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Anregungen, Herr Gärtner.“ Christa wählte für ihre kleine Predigt den Psalm 126, Verse 5-6: „Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten. Sie gehen hin unter Tränen und tragen den Samen zur Aussaat. Sie kommen wieder mit Jubel und bringen ihre Garben ein.“ Die einstigen Tränen über die schmerzlichen Seiten ihrer Beziehung zur Mutter waren getrocknet. Sie hatte viel Trost bekommen und sich und ihrer Mutter die Verletzungen vergeben. Auf würdigende Weise brachte Christa ihre Gefühle für ihre Mutti und ihren Dank in der Kapelle bei Kerzenlicht zum Ausdruck. Mit Pfarrer Freimut sang sie: „Geh unter der Gnade. Geh mit Gottes Segen. Geh in seinem Frieden, was auch immer du tust … Bleib in seiner Nähe, ob du wachst oder ruhst.“ (nach Manfred Siebald) Christa versenkte den Karton, in den sie die Holzskulptur ihrer Mutter eingebettet hatte, in die Erde, steckte ein Holzkreuz aus Ästen in den kleinen Hügel und sagte liebevoll von einer unbeschreiblichen Glückswelle durchströmt: „Friede sei mit dir.“ „Lieber Gott, ich danke dir sehr, dass du mich auf diesen Weg geführt hast, das einst belastete Verhältnis zu meiner Mutter für mich zu klären und mit ihr in Frieden zu kommen.“ Dankbar für alles, was ihr zuteilgeworden war, feierte Christa am Abend mit der Gruppe ihren Abschied. Sie hatte sich von irrigen Ansichten entlastet, viel vergeben und neue, fruchtbare Gedanken für sich entwickelt. Jetzt war sie von Liebe erfüllt, nach der sie sich immer gesehnt hatte. „Was denkst du?“, fragte Silke. „Du lächelst so schön.“ „Ich fühle mich sehr erleichtert, befreit und reich beschenkt. Ich spüre Frieden in mir, den ich lange sehr vermisst habe.“ „Christa, du machst mir Hoffnung. Also gibt es den inneren Frieden wirklich. Dann werde ich ihn auch in mir finden.“ „Ja, liebe Silke. Ich wünsche dir vor allem liebevollen Umgang mit dir. Wir neigen dazu, oft zu streng mit uns zu sein, statt uns auf unserem Entwicklungsweg in Liebe anzunehmen und Verständnis für uns und andere zu haben. Und ich wünsche für uns beide, dass wir die nötige Geduld, Ausdauer und den Mut aufbringen, den eigenen Weg weiter zu erkunden, zu erkennen und zu gehen, nach dem wir uns in einem Irrgarten verlaufen haben.“ Zurück in der Glaubensgemeinde, wieder herzlich willkommen, bedankte sich Christa für die Gebete, die für sie gesprochen worden waren, und beteiligte sich freudig am vielfältigen Gemeindeleben, sang im Chor, schloss sich einem Gesprächskreis an, half bei notwendigen Arbeiten und ging zur Bibelstunde. Pastor Friedrich wechselte nach zwölf Jahren in eine andere Gemeinde und wurde feierlich verabschiedet. Dieser Abschied fiel manchem sehr schwer. Christa hatte den Pastor als herzlichen, verständnisvollen, einfühlsamen, Hoffnung gebenden, um Versöhnung bemühten, vertrauensvollen Diener Gottes erlebt. Sie sah seinen Ernst, der sich mit erfrischender Heiterkeit abwechselte. Und sie spürte deutlich, wie es ihm am Herzen lag, die ihm anvertrauten Gotteskinder zu gegenseitigem Verständnis, Akzeptanz, Toleranz und würdevollem Umgang miteinander zu führen. Über seinen Abschied war auch sie ein wenig traurig. Doch ihre tiefe Dankbarkeit für seine geistigen Anregungen, die Seelsorge und warme Herzlichkeit, die sie durch ihn empfangen hatte, überwog deutlich. Nach seinen Gebeten für sie, hatte sie sich immer gestärkt und erleichtert gefühlt. ‚Die Liebe, die mir durch ihn zuteilwurde bleibt ja in meinem Herzen.‘ Als ein anderer Pastor seinen Dienst aufnahm, kam es zu Auseinandersetzungen unter den Geschwistern. Es fehlte bei einigen an der Bereitschaft, auch andere Ansichten, die dieser Mann bei der Deutung der Bibel vertrat, in Betracht zu ziehen. Christa fühlte sich sehr unwohl zwischen den Fronten. Einige Geschwister baten darum, in Liebe miteinander umzugehen, die unterschiedlichen Meinungen zu akzeptieren und zu versuchen, sich einander anzunähern, andere beharrten auf ihren unverrückbaren Standpunkten. Am liebsten wäre sie weggelaufen. Doch sie wollte lernen, kontroverse Meinungen zu akzeptieren, sich von Ansichten abzugrenzen, die nicht ihre sind, und in ihrer Liebe zu bleiben. Die Verantwortung, die Konflikte der Streitenden zu lösen, lag bei ihnen. Mit diesem klärenden Gedanken bekam sie Abstand und beruhigte sich. Christas Bitte an Gott, ihr zu einer Tätigkeit zu verhelfen, die ihren Fähigkeiten entspricht und ihr Freude bereitet, erfüllte sich. Eine Schwester der Gemeinde fragte, ob sie als Tagesmutter arbeiten möchte. Christa freute sich sehr, als die Familie sie annahm, um der jüngsten Tochter an drei Tagen der Woche bei den Hausaufgaben zu helfen, die Freizeit mit ihr zu gestalten und ein paar Handgriffe im Haushalt zu erledigen. Das Mädchen ging in die dritte Klasse und sprach mit ihr vertrauensvoll über schwierige Beziehungen und unangenehme Situationen in der Schule. Dann suchten sie gemeinsam nach Lösungen. Beim Nachspielen solcher Szenen hatten sie viel Spaß und es kamen hilfreiche Ideen dabei heraus. In der Familie war Christa gern gesehen. Sie pflegten einen regen Gedankenaustausch und beteten miteinander und fühlten sich dankbar in ihren Herzen berührt. Gottes Angebot für uns. Es war in der Osterzeit 2010, als Christa in einer Buchhandlung von einem dicken blauen Buch mit dem Titel „Gespräche mit Gott“, von Neale Donald Walsch geschrieben, magisch angezogen wurde. In der Leseecke tauchte sie 90 Minuten in einen Dialog ein, den der Autor mit Gott führte ‚Das ist ja faszinierend. Der Autor stellt Gott Fragen, die mich auch beschäftigen, und empfängt auf großartig verständliche Weise Antworten. Das ist genau das Richtige für mich. Gott sagte mir ja, wenn ich so weit bin, finde ich seine Antworten. Jetzt bin ich zu diesem Buch geführt worden. Danke!‘ Freude sprudelte in ihrem ehrlichen Herzen. Doch der Verstand meldete Bedenken an: „Schau erst im Internet nach, was du dort über den Autor erfahren kannst und welche Meinungen zu dem Buch veröffentlicht sind.“ Es gab ein paar skeptische Stimmen. Na und. Christa hörte auf ihr Herz, kaufte die Trilogie und öffnete sich vorurteilsfrei dem außergewöhnlichen, spirituellen Inhalt. Stundenlang vertiefte sie sich in den Frage-Antwort-Dialog, den der Autor über drei Jahre hinweg von 1992 an mit Gott geführt und aufgeschrieben hatte. Von der geistigen Schöpferquelle erklärt zu bekommen, warum es Leben gibt, welcher Sinn darin steckt und welche Rolle die Menschen im Reich der Unendlichkeit spielen, in dem es nicht nur diese eine Welt mit Leben gibt, und dass alle Wesen entsprechend ihres geistigen Entwicklungsstandes in verschiedener Gestalt ewig leben, erstaunte, beglückte und inspirierte Christa sehr. Göttliche Anregungen dafür zu bekommen, wie es der Menschheit durch einen Bewusstseinswandel gelingen kann, für immer Frieden, Wohlstand und Chancengleichheit für alle zu erschaffen, wenn sie sich kollektiv dafür entscheidet, erkannte sie als wegweisend und ließ Hoffnung in ihr aufkeimen. Dieses Ziel entsprach der tiefsten Sehnsucht ihres Herzens, das sie mit Liebe auf dieser Erde erfüllen wollte. Um in Ruhe diese wertvollen Enthüllungen, die ihr Gott auf diesem Weg machte, studieren und verstehen zu können, fragte sie eine Freundin, die in einer abgelegenen dörflichen Stille alleine in ihrem Haus lebte, ob sie eine Weile bei ihr bleiben darf. Karin freute sich auf Christa und diese genoss ihren Aufenthalt auf dem Lande mit allen Sinnen. Die reifenden Kornfelder, mit Mohnblumen, Kornblumen und Margeriten geschmückt, versetzten sie in jubelnde Stimmung. Ihr Herz hüpfte vor Freude. Sie atmete grüne, süßlich duftende Luft! Ein Kuckuck rief! Einen Kuckuck hatte sie schon Jahre nicht mehr gehört. Und viele Schwalben schwirrten emsig umher. Bei Karin war sie in herzlicher Gesellschaft. Miteinander vertraut, konnten sie über alles reden „Was hat es denn mit diesem dicken Buch auf sich, dass du dich so dafür begeistert und intensiv studierst?“, fragte Karin „Das ist eine geistige Nahrung, die meinen Wissenshunger und -durst stillt, meine Seele auf beglückende Weise anspricht und mein Herz freudig schlagen lässt. Hier begegne ich Gott so, wie ich ihn schon eine Weile in mir wahrnehme. Seit ich mein Herz einladend für ihn geöffnet habe, fühle ich mich in einen besonderen Bewusstseinsprozess geführt, dem ich einfach folge. So kam dieses Buch zu mir, dank dessen ich wahrheitsgemäße Antworten auf die größten Rätsel des Lebens bekomme, direkt von der Schöpferquelle des Lebens!“ „Wie gelingt es dir, das zu glauben?“, fragte Karin „Es fühlt sich für mich einfach stimmig an. Ich nehme Gott über mein Herz in meinen Geist fließend und auch körperlich wahr. Ich kann es nicht erklären. Mein Verstand hat auch Schwierigkeiten, mir zu folgen. Ich bitte ihn darum, alte, überholte Gedanken loszulassen und meine neuen, erweiterten Ideen, mit denen ich positive Veränderungen in mir bewirke, anzunehmen. Was hier in diesem dreiteiligen Buch geschrieben steht, kann man glauben oder nicht. Es sind nur Worte. Und viele bezweifeln, dass Gott auf diese Weise heute mit uns kommuniziert. Ich lese mit meinem Herzen. Für mich ist es zweifelsfrei so, dass sich Gott durch diesen Dialog uns selbst vorstellt. Die geistige Schöpferquelle lässt uns wissen, wie sehr sie uns liebt, ohne dass wir dafür etwas erfüllen müssen. Wir haben alle einen freien Willen. Uns seinen Willen aufzuzwingen, wäre ja keine Liebe. Ich glaube, es geht für die Menschheit darum, endlich wieder in die wahre Gottes-Liebe zurückzufinden. Das stimmt mit meinem inneren Lebensantrieb überein. Es verlangt mich sehr danach, dahinterzukommen, wer ich wirklich bin, wer Gott wirklich ist und was mit Liebe gemeint ist, damit ich mein weiteres Leben entsprechend gestalten kann.“ Karin sah auf das Buch und stöhnte: „Es ist so dick. Mir sind kleine, handliche Bücher lieber.“ „Ja. Es ist ein umfangreiches Werk. Doch aus meiner Sicht, ist kein Wort zu viel darin.“ Karin stand auf. „Möchtest du auch einen Kaffee?“ Mit Kaffeetassen und Keksen setzten sie sich an den Tisch auf der Terrasse, strickten Socken und plauderten über alles Mögliche, bis Karin fragte: „Wie hilft dir dieses Buch konkret?“ „Dank dieser Ausführungen erfahre ich, dass Gott mit jedem von uns kommuniziert. Das kann auf verschiedenste Weise geschehen, durch Gefühlsregungen, geistige Ideen und Vorstellungen, Bilder, Lieder, Filme und vor allem durch Erfahrungen, aus denen wir Erkenntnisse gewinnen können und manchmal auch durch Worte. Ich fühle mich in meiner Wahrnehmung bestätigt, geführt zu sein, um bewusst Antworten auf meine Fragen, Klarheit und Orientierung auf meinem Weg passend zu empfangen. Meine Aufmerksamkeit für das, was mir hilft, Verständnis für mich und das Ganze zu entwickeln verfeinert sich seit einiger Zeit allmählich. Ich glaube, dass alle Menschen, die göttliche Inspiration empfangen können, da wir alle mit der Schöpfer-Quelle verbunden sind. Wir haben es nur vergessen und halten es auch nicht für möglich, weil uns die Wahrheit bisher von gewissen Mächten in Menschengestalt absichtlich verschwiegen wurde. Wir können uns jedoch mit geöffnetem, einladendem Herzen der Verbindung mit unserer Lebens-Quelle wieder gewahr und bewusst werden und so die scheinbare Trennung aufheben und mit Feingefühl und entsprechender Aufmerksamkeit den Kontakt wiederaufleben lassen. So erlebe ich es seit einiger Zeit. Dass ein Vater mit seinen Kindern, seinen Liebesgeschöpfen, Kontakt haben möchte, mit uns zusammen sein will und uns aufmerksam macht, womit wir uns selbst und anderen schaden und wie wir es zum Besseren wandeln können, wenn wir nicht weiterwissen, ist doch natürlich. Also mir leuchtet das ein und fühlt sich erfreulich gut an. Die Erklärungen des Buches verhelfen mir zu einer neuen Sichtweise auf mein bisheriges Leben, um meine erlebte Geschichte zu verstehen, an der ich fast verzweifelt wäre und die mir so oft rätselhaft erschien. Weißt du, wenn wir so mitten drin in unseren Situationen stecken, können wir unser Tun und seine Folgen oft nicht überschauen. Mir fällt dazu ein Bild ein. Wenn du dich an der Tafel verschreibst, johlt die Klasse und du weißt nicht, warum. Doch wenn du ein paar Schritte zurücktrittst, siehst du deinen Verschreiber. Was machst du dann?“ „Ich nehme den Schwamm, lösche und korrigiere die Stelle.“ „Und genau das vermittelt uns Gott auf diesem Weg seiner Kommunikation mit uns. Ich erkenne es so, und der Verlauf meiner Therapien bestätigt es, dass es für uns alle an der Zeit ist, innezuhalten und uns mit gewissem Abstand anzuschauen, mit welchen Denk- und Verhaltensmustern wir unser wahres, natürliches Wesen unterdrückt und verfälscht haben, um es anderen recht zu machen, damit sie uns mögen. Wir haben uns selbst entfremdet und im Dschungel menschengemachter Verbote und manipulierter Ablenkungsmanöver verloren und in Abhängigkeiten gebracht, die uns nicht guttun. In der Folge erkranken wir an Geist, Körper und Seele. Schau, ich bin doch fast durchgedreht, um einen Weg in diesem sonderbaren Gesellschaftssystem zu finden, irgendwie Boden unter meine Füße zu bekommen. Ich habe so mühsam nach Orientierung, Halt, Schutz und Liebe gesucht und konnte es nicht finden. Daran bin ich fast zerbrochen. Mein Körper hatte es so schwer, das alles zu verkraften und reagierte mit vielen Symptomen, so, dass ich nicht mehr ein noch aus wusste und mich selbst dafür bestrafte. Ich war so tief traurig, dass ich nicht mehr leben wollte. Doch seit ich mit Hilfe der Therapeuten nach und nach Abstand dazu herstelle, eine neue Sichtweise und Erkenntnisse daraus gewinne, was ich in meinem Leben korrigieren kann, um es neu, meinem wahren Wesen entsprechend selbst zu gestalten, bemerke ich große Erleichterung, Befreiung von Altlasten. Ich komme schrittweise dahinter, mir meiner SELBST bewusst zu werden. Ich bin auf dem Weg, meinen eigenen Lebens-Ausdruck zu finden. Ich fühle mich dabei geführt. Dieses Buch ist für mich eine weitere, mir sehr dienliche Orientierungshilfe. Und ich bekomme auch viel Bestätigung für meine innere Wahrheit, wie ich mir ein gemeinschaftliches Leben in Einklang mit der Natur vom Herzen her wünsche und anstrebe. Seit es mir zunehmend gelingt, Verständnis für mich und andere zu haben, mich selbst liebend anzunehmen, meiner inneren Führung mit wachsendem Vertrauen zu folgen und nicht mehr gegen Umstände ankämpfe, die mir missfallen, haben meine Magen-Darmbeschwerden und die Herz- und Kopfschmerzen aufgehört. Die Schwindelgefühle lassen nach. Ich fühle mich viel wohler in meiner Haut. Und ich drücke kaum noch im Gesicht.“ Karin schaute Christa an. „Ja, die roten Stellen verblassen. Du bist entspannter und strahlst Lebensfreude aus. Du scheinst viel Kraft aus deinen Studien zu schöpfen. Du beschäftigst dich ja auch schon länger sehr intensiv mit Bewusstseinsfragen. So lange philosophische Texte zu lesen, ist nicht mein Ding. Schön, dass du es mir mit deinen Worten vermittelst. Du weißt ja, dass es mir auf ähnliche Weise schwerfällt, mit den Problemen meines Lebens klarzukommen, und wie lange ich brauchte, Hilfe anzunehmen.“ „Ja, liebe Karin, das geht vielen Mensch so, die sich nach anderen gerichtet haben, die ihnen einredeten, was gut und richtig für sie sei. Die Kliniken sind voll von Suchenden und Suchtpatienten. Alle Therapeuten haben reichlich Zulauf. Wir haben alle unsere besondere Individualität, auf die wir verständnisvoll eingehen müssen. Da sollte jeder auf sich selbst hören und darauf achten, was seinem Wohlbefinden dient und welches Maß für ihn stimmig ist. Es gibt kein Pauschalrezept. Ich bemerke, dass, Gott sei Dank, immer mehr Menschen aus der Betäubung durch Fremdmanipulation erwachen. Sie merken, wie wir uns und der Erde schaden, und ändern ihr Verhalten zum Besseren, um das Leben auf diesem wundervollen, einzigartigen Planeten zu bewahren.“ „Ich hoffe auch sehr, liebe Christa, dass die Menschheit sich besinnt friedliche, lebenswürdige Verhältnisse herzustellen, die allen Lebewesen frei zugutekommen, indem sie viel achtsamer mit der Natur umgeht, statt sie zu zerstören. Mir liegt die Natürlichkeit, so sein zu dürfen, wie es meinem Wesen wahrhaft entspricht, auch am Herzen. Ich gestalte mein Leben so natürlich und einfach wie möglich.“ „Ja. Deshalb fühle ich mich so wohl bei dir, liebe Karin.“ Christa ging ins Haus, setzte sich an den Schreibtisch, vertiefte sich wieder in den Dialog, der von ihren Randnotizen und Unterstreichungen immer bunter wurde. Beim Lesen entstanden ständig Brücken zu dem, was sie selbst erlebt hatte. Und so verstand sie nach und nach immer deutlicher, was Gott damit meint, wenn er sagt, dass jeder Mensch Schöpfer seines Lebens ist und kollektives Bewusstsein die Welt erschafft, wie sie bisher war und heute zu sehen ist, und wir vereint alles zum Besseren verändern können. Als die Freundinnen am nächsten Tag wieder beisammensaßen, fragte Karin: „Um welche Themen geht es denn in dem Buch?“ „Um alles, was die Menschen immer wieder im Zusammenleben auf diesem Planeten bewegt. Stellvertretend für uns stellt der Autor alle die Fragen, auf die wir die Antworten bisher noch nicht gefunden haben. Gott antwortet ausführlich. Er erklärt uns das Schöpfungsprinzip, wie wir mit unserem bisherigen Denken, Fühlen, Sprechen und Handeln den chaotischen Zustand in der Welt herbeigeführt haben und wie wir mit höherem Bewusstsein, lebenserhaltenden Maßnahmen und vor allem mit Liebe zu uns selbst und zu allem Leben den großen Schaden, den wir angerichtet haben, beheben können. Wir bekommen unter anderem Antworten auf Fragen zu den Themen: Gott, Schöpfungsprozess, Bewusstsein, Liebe, Beziehungen, Gesundheit, Sex, freier Wille, Karma, Reinkarnation, Religionen, Geld, Leben auf anderen Planeten. Ein großes Kapitel widmet Gott Anregungen für ein neues Bildungssystem, das unseren Nachkommen Grundwerte vermittelt und Ideenvielfalt und Begabungen fördert, weil er sieht, dass es unserer Entwicklung zu höherem Bewusstsein sehr dienlich wäre. Er legt uns ans Herz, den Kindern und Jugendlichen viel besser zuzuhören und ihnen Bewusstheit, Ehrlichkeit und Verantwortungsgefühl zu vermitteln, damit sie Leben aller Art würdigen und achtsam damit umgehen. Wichtige Voraussetzung dafür ist, dass die Erwachsenen ihnen erlauben, selbstständig kritisch zu denken, damit sie nicht die Fehler der Erwachsenen wiederholen, die das Gleichgewicht der Erde sehr empfindlich gestört haben. Gott weist uns darauf hin, wie wir das einstmals intakte Ökosystem der Mutter Erde zerstören und uns mit chemischen Produkten vergiften. Er weist uns auf die gewaltigen Gefahren unserer Produktion und Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln hin. Und wenn wir mit dem Klonen und der Gentechnologie so weiter verfahren wie bisher, droht von daher die größte Katastrophe für die Menschheit. Wir bekommen in dieser verworrenen Zeit, in der wir oft nicht mehr ein noch aus wissen, und so viele Menschen krank werden, weil Geist, Körper und Seele nicht im Einklang miteinander schwingen, diese Orientierungshilfe vom Schöpfer allen Lebens gereicht. Es geht um die Heilung und Erneuerung unserer Spezies und der Erde, von der wir leben. Wir alle sind aufgerufen, diese Erneuerung zum Besseren selbst herbeizuführen, das Blatt unserer fehlgeleiteten Entscheidungen zu wenden. Gott tut nichts für uns, was wir nicht tun. Er würde uns sonst die Gelegenheit nehmen, uns aus eigenem Antrieb höher zu entwickeln. Doch das ist der Sinn der Evolution. Diese Offenbarungen regen mich an, geben mir Antrieb, mich intensiv meiner eigenen Heilung zu widmen, meinem Herzen zu folgen und meine hilfreichen Erkenntnisse als ein Angebot für andere weiterzugeben. Ich bin dabei, meinen Erfahrungs- und Erkenntnisweg aufzuschreiben. Ich erforsche mein bisheriges Leben und ziehe daraus Schlussfolgerungen, wie ich mit mir selbst wieder in Frieden und Harmonie gelange. So gelingt es mir, wieder Freude und Sinn für mein Leben zu empfinden, die ich beinahe verloren hätte. Und ich lasse los, womit ich mir das Leben schwer gemacht habe.“ Karin beugte sich interessiert über das aufgeschlagene Buch. „Du hast ja eine Blume hineingemalt.“ „Ja, am Ende des ersten Bandes. Danke, lieber Vater!, steht darunter. Ich nenne Gott gerne Vater. Das liegt wohl daran, dass ich meinen irdischen Vater sehr vermisst habe.“ „Du hast dich wirklich stark verändert“, stellte Karin fest. „Ich weiß, wie sehr du lange unter depressiven Verstimmungen, Euphorie, Abstürzen, Selbstzerstörung, Zurückgezogenheit, Selbstzweifeln gelitten hast. Jetzt erlebe ich dich offener, lebhafter, zunehmend ausgeglichener und optimistisch. Ich freue mich für dich und bewundere deine stetige Arbeit an dir. Ich bemühe mich auch um Verbesserungen in meiner Sichtweise auf mich und das Leben um mich herum. Doch ich fühle mich oft so erschöpft von den Anstrengungen als Lehrerin, entgegen meinen Vorstellungen arbeiten zu müssen. Ich sehne mich nach innerer Ruhe. Doch ich kann das viele Nachdenken über dieses Schulsystem und über mich und meine Familie nicht anhalten. Ich will doch so viel wie möglich helfen. „Das glaube ich dir, liebe Karin. Mir scheint, dass du dich in deinen Bemühungen, anderen zu helfen, sehr verausgabst und dir selbst zu wenig Anerkennung und Freude gegönnt hast, deine Bedürfnisse hinten anstellst. Du möchtest, dass es allen anderen gut geht, und forderst sehr viel von dir, über deine Kräfte hinaus. Niemand kann immer nur geben.“ „Aber ich freue mich doch an unserem Zusammensein, an der Natur und den vielen kleinen Dingen und ich gönne mir viel Schlaf. Meine Akkus sind trotzdem ziemlich leer. Allerdings arbeitet mein Kopf auf Hochtouren. Wenn ich nur wüsste, wie ich das abstellen kann!“ „Das kenne ich auch. Doch allmählich komme ich dahinter, wie ich meinen Kopf lüften kann. Ich bin dabei, spekulative Gedanken zu stoppen und wie Seifenblasen platzen zu lassen. Hätte ich doch damals besser dies getan und jenes gelassen, diese Gedanken sind Energieverschwendung. Genauso überflüssig ist es, sich den Kopf über andere zu zerbrechen und sich um alles Mögliche Sorgen zu machen. Schon dadurch werde ich allmählich gelassener. Ich habe mir angewöhnt, mein Denken zu beobachten, um Überflüssiges und Vergangenes, was ich nicht ändern kann und was mir nicht guttut, zu löschen. Schwamm drüber! Die frei gewordene Tafel beschreibe ich neu mit dem, was ich jetzt erreichen will, und konzentriere mich auf das, was mir guttut. Ich bin täglich dabei, bewusst meinen Geist zu trainieren, meinem Wohl dienliche Gedanken zu entwickeln, an denen ich Freude habe, mit denen ich die Tage auf leichtere Art gestalten kann als bisher. Als ich das Leben schwergenommen habe, verkrampfte und verspannte ich mich und wurde krank. Damit habe ich aufgehört und mich fest entschlossen für Leichtigkeit in meinem weiteren Leben entschieden. Das fühlt sich wunderbar stimmig für mich an. Diese allmähliche Umprogrammierung geht sachte voran, bei der auch kleine Rückfälle auftreten, führt jedoch zu spürbaren Verbesserungen. Das Schöne dabei ist, dass ich passende Teile in mein Leben ziehe, die mir dabei helfen, wie auch dieses Buch. Das finstere Tal, mich als Opfer fühlend, habe ich überwunden. Es wird wirklich leichter. Manchmal hüpfen plötzlich Freudentränen aus mir. So dankbar bin ich dafür! Das wünsche ich dir auch und jedem, der das noch nicht kennt, sich jedoch sehr danach sehnt.“ Die Freundinnen umarmten einander. Je mehr Christa dem Verlangen ihrer Seele nach freier geistiger, selbstbewusster Entfaltung folgte, umso mehr fühlte sie sich von dem, was in der Glaubensgemeinde an Bibeltreue und angepasstem Verhalten erwartet wurde, eingeengt. Sie erlebte ihre Beziehung mit Gott auf bedingungslose Weise, die ihr Raum gab, sich völlig frei geistig weiterzuentwickeln, ohne forderndes „Du musst … Du darfst nicht …“ Von ihm erfuhr die Wahrheitssucherin, dass das Leben ein unendlicher Prozess dauernder Veränderungen ist und unbegrenzte Möglichkeiten fortschreitender Höherentwicklung für alles bietet. Und, dass Leben als dauerndes Werden und Vergehen in rhythmischen Zyklen ohne Stillstand ewig verläuft. Ins Tagebuch schrieb sie: ‚Wie gut, dass ich immer besser auf meine Intuition höre und ihr folge, mich bewusst so verändere, wie es meinem Wohlbefinden guttut und sich stimmig für mich anfühlt. Ich habe wieder mehr Freude am Leben. Meine Bewusstseinsarbeit lohnt sich. Da ich nun der Wahrheit meines Herzens folgend, in dem du, lieber Gott, wohnst, meinen Weg uneingeschränkt mit dir weitergehen will, trete ich aus der Gemeinde aus. Mit meinen neuen, erweiterten spirituellen Erkenntnissen fühle ich mich außerhalb der Gemeinde.‘ In einem Brief an die Leitung bedankte sich Christa herzlich für alles, was sie mit der Gemeinde erleben durfte. Sie teilte mit, dass sie sich zunehmend in dem vorgegebenen Rahmen eingeengt fühle und sich nicht so entwickeln und entfalten könne, wie sie es möchte, und deshalb aus der Gemeinde austritt. Mit lieben Grüßen wünschte sie allen Gottes reichen Segen, Wohlergehen und Gesundheit. Ein Buch entsteht. Aus dem Wunsch heraus, die Lernerfahrungen und erleuchtenden Erkenntnisse mit anderen Menschen zu teilen, wuchs in Christa das Verlangen, ein Buch zu schreiben. ‚Vielleicht kann ich Menschen, die sich auch nach Liebe und innerem Frieden sehnen und für Veränderungen zum Besseren offen und bereit sind, gedankliche Anregungen, praktische Unterstützung und Mut vermitteln‘, dachte sie. ‚Immer mehr Menschen fühlen sich in ihren Lebensgeschichten und im hektischen Alltag gefangen und verunsichert, von Pflichten gejagt und schmerzlichen Erinnerungen geplagt. Sie wünschen sich ein leichteres, glückliches Leben und möchten wissen, wie sie es erreichen können.‘ Während Christa überlegte, ob sie ihre Lebenserfahrungen wirklich veröffentlichen sollte, vernahm sie in sich die liebevolle, leise Geist-Stimme: „Du möchtest den Menschen gerne von unserer innigen Beziehung erzählen, wie es dazu kam und wie du damit wächst, Heilung und inneren Frieden erfährst. Was hält dich noch zurück?“ „Na ja, lieber Gott, bestimmt wird mir nicht geglaubt, dass ich direkt mit dir kommuniziere wie mit einem Freund. So wie viele daran zweifeln, dass Neale Donald Walsch ausführliche Dialoge mit dir führt und du ihm sogar Texte diktiert hast.“ „Manche bezweifeln es. Na und. Was stört dich daran? Es gibt auch viele, die sich freuen werden, zu erfahren, dass sich jeder ganz einfach mit mir in seiner Sprache, auf seine Art, unterhalten kann, wenn er/sie/es das Herz für mich öffnet. Du kannst andere dazu inspirieren, den direkten Kontakt mit mir zu suchen, mich einzuladen und Offenheit für meine Botschaften zu entwickeln.“ „Wie soll ich das machen, lieber Vater? Ich bin doch selbst noch am Üben, den Kontakt mit dir zu erhalten, deine Erklärungen zu verstehen und das Erkannte umzusetzen „Du hast eine erstaunliche Lebensgeschichte, die dich eines Tages wieder zu mir geführt hat, du erforschst erleuchtend den Sinn des Erlebten, hast meine Hilfe ergriffen und lässt dich führen. Du bist anhand deiner Erfahrungen zu Erkenntnissen gelangt, die auch anderen Menschen helfen können, sich von ihren gedanklichen Ketten zu befreien. Du schreibst gerne. Du kannst aus deinen Tagebüchern die Teile auswählen, die deine Entwicklung am deutlichsten zum Ausdruck bringen. Und sorge dich nicht, wie die Leser es aufnehmen. Dafür bist du nicht verantwortlich. Schreib einfach aus deinem Herzen heraus. Und noch einen Tipp habe ich für dich. Lass dabei deine Vorstellung von »Perfektion« einfach los. Dieses Wort habt ihr Menschen erfunden. Wenn ich gewollt hätte, dass ihr perfekt im Sinne von fehlerfrei seid, was es gar nicht gibt, dann hätte ich euch perfekt gemacht. Wir wären mit allem fertig und hätten nichts mehr zu tun. Es wäre sterbenslangweilig!“ Christa lachte. „Das wäre ja nicht auszuhalten! Na gut, ich erkenne jetzt meine Möglichkeit, über mich hinauszuwachsen, trotz der Zweifel, die mein Verstand mir manchmal einredet. Schon seit Jahren spüre ich, dass ich ein Buch über meine erfahrungsreiche Lebensgeschichte schreiben möchte. Jetzt weiß ich, warum es mir bisher noch nicht gelang. Ich hatte noch weitere, immer tiefer gehende Entdeckungen zu machen, um zu den Erkenntnissen zu gelangen, die in letzter Zeit in mir gereift sind, um sie anschaulich vermitteln zu können. Danke für deine Ermutigung, diesen Wunsch nun in die Tat umzusetzen.“ Danach schrieb Christa fleißig drauflos. Aber seltsamerweise waren es immer neue Anfänge, bei denen sie steckenblieb. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie mit ihrer Geburt oder mit ihrem Zusammenbruch oder einer anderen Stelle beginnen sollte. Auch fiel es ihr schwer, eine Auswahl aus ihren umfangreichen Aufzeichnungen zu treffen, um das Wesentliche zu erfassen. In sprunghaften Erinnerungen versinkend, verzettelte sie sich. ‚Wie soll ich es denn schaffen, einen Handlungsfaden aufzubauen und strukturiert vorzugehen?‘, fragte sie sich ratlos. Obwohl schon einige Teile fertig waren, verlor Christa die Geduld und ließ alles im Schrank verschwinden „Alles muss klein beginnen, lass etwas Zeit verrinnen. Es muss nur Kraft gewinnen und endlich ist es groß.“ Das Lied fiel ihr ein, und sie beschloss, etwas Zeit vergehen zu lassen. Monate später machte sich Christa bei fünf Grad Minus und kaltem Wind mit dem Fahrrad auf den Weg, um sich ein Konzert anzuhören. Die kraftvollen Schwingungen der Flügelklänge versetzten sie innerlich in starke Bewegung. Ihr war, als ob die Musik ihr Achterbahnleben zum Ausdruck brachte, das sie so lange geführt hatte. In ihr lief ein Film ab. Bilder der Freude wechselten mit Bildern der Trauer, die sie Gott sei Dank größtenteils inzwischen überwunden hatte. Sie fühlte große Dankbarkeit und Triumph. ‚Was ich mit Worten kaum zu beschreiben vermag, bringt diese Musik zum Ausdruck.‘ Während des nächsten Klavierstückes war ihr, als ob die Töne ihr zuriefen: „Komm aus dir heraus! Komm aus dem Versteck! Zeige dich. Du bist so weit!“ Diese Passage wiederholte sich. Christa verspürte schwungvolle Leichtigkeit und einen erstaunlichen Auftrieb. So freudvoll angeregt, radelte sie nach Hause, kuschelte sich auf dem Sofa in eine Decke, nippte an heißem Tee und redete zu Gott, als säße er ihr gegenüber „Mein lieber göttlicher Vater, jetzt will ich es doch selbst glauben, dass mehr in mir steckt, als ich bisher wahrhaben wollte. Warum sollte ich mich kleiner machen, als ich bin, und mich verstecken? Ich werde die Menschen an meiner Geschichte, wie ich Liebe suchte, Enttäuschungen und tiefen Seelenschmerz verspürte und auf diesem Lebensweg deine Liebe in mir wiederfand und mich selbst wieder zu lieben lernte, teilhaben lassen. Du ermutigst mich, selbstbewusst und selbstbestimmt zu sein, mich an meiner Einmaligkeit zu erfreuen und mein Verlangen, der Welt meine Erkenntnisse zu vermitteln, in die Tat umzusetzen. Mir ist, als ob in mir ein »Baum der Erkenntnis« wächst. Und du gibst mir auf deine liebevolle Art zu verstehen, dass ich mir den größten Dienst erweise, wenn ich fürsorglich mit ihm umgehe, ihn achte und pflege, ihm gebe, was er zum Wachsen und Gedeihen braucht: Licht, Wasser, Luft, Liebe, freundliche Aufmerksamkeit, Geduld und Vertrauen in seinen Früchte bringenden Wachstumsprozess.“ Während ihres Sprechens durchströmte Christa ein besonderes Kribbeln. „O, ich spüre dich wie einen mich durchrieselnden Energiestrom.“ „Schön. Du fragst dich, warum du über die Anfänge nicht hinausgekommen bist. Du zweifelst noch daran, dass du ein Buch schreiben kannst, das auch gedruckt wird. So sabotierst du die Schöpferkraft in dir, blockierst deine wahren Fähigkeiten und trittst auf der Stelle. Es wäre dir dienlich, dir mehr zuzutrauen und so deiner Kreativität wirklich freien Lauf zu lassen. Alles, was du dafür brauchst, ist in dir vorhanden. Du hast die schöne Fähigkeit, aus deinem Herzen heraus deine Erfahrungen anschaulich zu beschreiben. Habe Geduld bei deinem Schaffenswerk und bleibe am Ball! Du gewinnst an Weisheit in diesem schöpferischen Prozess. Und sorge dich nicht – ich bemerke, dass du das tust –, ob du dich den Menschen so offen zeigen solltest. Mach dich ganz frei davon, was andere denken könnten. Jeder Mensch bildet sich nach seinen Erfahrungen seine Meinung. Wenn du das so akzeptierst, wird dir das Schreiben leichter fallen und auch Freude bereiten.“ Christa lud Gott herzlich ein, sie in dieser Rückschau auf ihr Leben zu begleiten, zu führen, ihr die Augen zu öffnen, um zu erkennen, welche Sinn-Inhalte in dem Erlebten steckten, die ihr mitunter noch nicht ganz klar geworden waren. Und dann setzte eine sehr intensive Bewusstseinsarbeit ein, die den Schreibprozess in Gang brachte und mit Pausen über ein paar Jahre andauerte. Die schreibende Bewusstseinsarbeiterin zog sich oft in die Stille, ins Alleinsein zurück, um ganz bei sich zu sein und sich auf das entstehende Buch-Werk zu konzentrieren. Das gelang ihr zunehmend besser ‚Ich bin ja nicht wirklich allein‘, sagte sie sich. ‚Gott ist bei mir. Ich kann ihn jeden Moment ansprechen. Und um mich herum sind überall Menschen. Ich brauche nur hinzugehen, wenn ich bei ihnen sein möchte.‘ Eine Weile kam Christa gut voran, bis plötzlich trotz großen Willens nichts mehr lief. Die Erinnerung an ihr früheres angespanntes Verhältnis zu ihrer Mutter, worüber sie momentan schrieb, löste starke Emotionen in ihr aus ‚Ich dachte, es wäre nun alles gut zwischen uns, vergeben und vergessen. Doch jetzt wühlen mich wieder alte Gedanken und Gefühle auf. Achtung, liebe Christa! Pass auf, dass du dich nicht darin verlierst!‘, ermahnte sie sich. ‚Ich muss mal raus hier, möchte wieder Menschen kennenlernen.‘ Vom Kopf ins Herz. Christa fühlte sich mit ihrer Bewusstseinsarbeit zu alleine und sehnte sich nach Austausch mit Gleichgesinnten und nach Impulsen für ihre neue Lebensausrichtung. Diese Gelegenheit bot sich ihr mit der Teilnahme an einem intensiven Trainings-Seminar, bei dem es darum ging, wie man Konflikte mit sich selbst und anderen auf dem Weg liebevoller Zuwendung eigenverantwortlich lösen kann und wie man disharmonische Zustände in Harmonie verwandelt, um ins Gleichgewicht zu kommen. Die Teilnehmer wollten die Ursachen dafür herausfinden, warum es ihnen bisher noch nicht gelungen war, ihr Leben nach ihren Herzenswünschen und eigenen Vorstellungen erfüllend zu gestalten, und wie sie die Erfüllung ihrer Sehnsüchte erreichen können. Auf dem Boden sitzend, an eine Wand gelehnt, mit sanften Klängen ihrem Inneren gefühlvoll nahekommend, rührte Christa oft zu erlösenden Tränen. In sich gehend, spürte sie ihre tiefe Traurigkeit darüber, welche Härte sie im Laufe ihres Erwachsenwerdens gegen sich gerichtet hatte, um unangenehme Gefühle beherrscht zu unterdrücken, weil sie den Schmerz ihres empfundenen Leides nicht aushalten konnte, und sie sah, wie sie sich aus Furcht vor weiteren Verletzungen der Liebe verschlossen hatte. Die Teilnehmer kamen sich selbst auf die Spur, mit welchen Denk- und Verhaltensmustern, die sie in der Kindheit entwickelt hatten, versuchten, sich vor schmerzhaften Gefühlen und weiteren Verletzungen zu schützen, und erkannten, wie sich das in ihrem Leben auswirkte durch wiederholte Leidensgeschichten, Enttäuschungen, Abstürze und Krankheitssymptome. So wurde manchem bewusst, warum sie/er sich als Erwachsener schnell angegriffen fühlt, sich übertrieben verteidigt, auch andere verletzt, sich selbst und anderen Schuld zuweist und aus Angst vor den Herausforderungen des Lebens wegläuft. Mit angeleiteten Übungen kamen blockierende Ansichten, alte Glaubenssätze und lange unterdrückte Emotionen an die Oberfläche. Und das war sehr gut. Indem diese erkannt wurden, konnten sie durch bestimmte Schritte erlöst und in neue Überzeugungen verwandelt werden, die für die Heilung und Erfüllung der Herzens-Wünsche förderlich sind. So entdeckte Christa, dass sie unterbewusst aus dem Vorleben der gekränkten Mutter, die von Männern betrogen worden war, und aus ihrer eigenen Erfahrung vom Vater abgelehnt zu sein, die Meinung gebildet hatte: „Männer lassen Frauen im Stich. Bevor mich ein Mann verlässt, ist es besser für mich, ihn zu verlassen.“ Und noch tiefer saß der Zweifel daran, eine Partnerschaft erleben zu können, nach der ihr Herz sich sehnte. Mit dem Auftauchen der daran hängenden traurigen Gefühle wurde ihr bewusst, dass sie sich an einer glücklichen Beziehung mit einem Mann behinderte. Mit dieser Einstellung hatte sie wiederholt entsprechende Erfahrungen in ihr Leben gezogen. Während des Seminars wurde deutlich, dass dies die ersten Schritte waren. Die von ihnen jahrelang unbewusst unterdrückten, kaum zu ertragenden Emotionen, die sie aus Verletzungen gebildet hatten und die Energien aus sich selbst verurteilenden Gedanken ließen sich nicht wie ein Eimer ausschütten. Sie erkannten den Prozess der schrittweisen, liebevollen Hinwendung, der verständnisvollen, ehrlichen Vergebung sich selbst und anderen gegenüber als Weg der Heilung und Erneuerung, den jeder in seinem Tempo und auf eigene, individuelle Art durchläuft. Dank des ehrlichen Austauschs mit Menschen, die ähnliche Verletzungen in sich trugen und ihre Heilung anstrebten, flossen berührende, wärmende Gefühle in Christa. Verhärtete Stellen weichten auf und vereiste schmolzen. Ihr Herz öffnete sich ein Stück weiter. Als die Teilnehmer am Schluss des Seminars bei kraftvoller Musik Hand in Hand im Kreis liefen, wurde Christa innerlich von einer heftigen Gefühlswoge, einer Welle des Glücks emporgehoben. Wie gut, dass sie gehalten wurde. Mit dem Auflösen alter, irriger Annahmen und durch Ersetzen mit eigener Herzenswahrheit gelangen ihr wichtige Schritte auf dem Weg, sich selbst, ihr sanftes, liebevolles Wesen, wiederzufinden, das sie durch zwanghafte Anpassung an die Gesellschaft versteckt hatte. Sich zunehmend in ihrer Lebendigkeit wiederzuentdecken, bereitete ihr große Freude, ja, sogar Vergnügen! Christa übte, ihr erworbenes Wissen zielstrebig anzuwenden und ihren Verstand zum Umdenken zu bewegen. Der hatte etwas Mühe damit, alte Denkautobahnen zu verlassen und die Richtung zu ändern. Als er mit dem Zweifel kam: „Meinst du wirklich, dass du es schaffst, ein ganzes Buch zu schreiben?“, widerstand sie der Versuchung, das Projekt fallen zu lassen „Ja, ich schaffe das! Ich kann das! Ich habe Freude daran, auf diese Weise bewusst mein Leben zu überschauen, mit welchen Ergebnissen ich es bisher geführt habe und wie ich es verändern kann, um es so zu gestalten, wie es stimmig zu mir passt und meiner Lebensfreude entspricht. Und es fühlt sich für mich gut an, diese Erkenntnisgeschichte weiterzuvermitteln, sodass die Leser Anregungen für ihr eigenes Leben finden können. Ich bleibe dran! Mein lieber Verstand, ich bitte dich, mich dabei zu unterstützen. Immer wieder die früheren Gedankenkreise zu drehen, ist doch langweilig. Beim Schreiben dieses Buches kann ich deine Mitarbeit sehr gut gebrauchen. Dafür ist Bewusstseinserweiterung dringend nötig. Ich brauche dich dabei.“ Mehrmaliges Anhören von Vorträgen und Meditationen und das Lesen im Buch „Gespräche mit Gott“ unterstützten ihren Wandlungsprozess. Es fiel ihr zunehmend leichter, überflüssige und abwertende Gedanken fallen zu lassen und durch freudvolle, ihr dienliche zu ersetzen. Mit der Entrümpelung ihres Gedankenarchivs gewann Christa zunehmend neue Lebensenergie. „Das ist herrlich, lieber Gott!“, rief sie eines Tages glücklich aus. „Es wird leichter, seit ich meiner inneren Führung einfach folge. Ich bin so froh, dass ich diesen Weg für mich erkannt habe.“ Christa zog weitere Bücher an, die ihre Bewusstseinsbildung unterstützten. Ihr Geist war hungrig und sie gab ihm Nahrung mit: Pierre Franck „Das Gesetz der Resonanz“ mit Erklärungen, wie jeder mit seinen Gedanken, Gefühlen und Überzeugungen sein Leben erschafft. Ron Smothermon M.D. „Drehbuch für Meisterschaft im Leben“, wodurch sie mehr über den Verstand und das Selbst erfuhr. Eckhart Tolle „Eine neue Erde“ – Bewusstseinssprung anstelle von Selbstzerstörung, Thom Hartmann „Unser ausgebrannter Planet“ – von der Weisheit der Erde und der Torheit der Moderne, Dr. Frank Kinslow „Suche nichts – finde alles!“ – wie die tiefste Sehnsucht sich erfüllt, Gregg Braden „Fractal Time“ – Das Geheimnis von 2012 und wie ein neues Zeitalter beginnt, Christoph Fasching „Die Rückkehr ins Paradies“ – Weg des Wandels der Menschheit hin zur Einheit in ein friedliches Leben für alle. Weitere ihren Geist beflügelnde Bücher mit Tiefgang folgten. Aus all den Aufdeckungen erkannte Christa, dass jeder Einzelne als Mitglied der kollektiven Menschheit gefordert ist, wieder vollkommen in die Liebe, Offenheit und Ehrlichkeit zurückzukehren, das Herz für Gottes wahre Liebe zu seinen Geschöpfen zu öffnen, um Frieden in sich und für Mutter Erde herbeizuführen. Christa dachte intensiv darüber nach, wie die Menschheit sich und Mutter Erde heilen könnte: ‚Wenn die Mehrheit der Menschen endlich erwacht, sich als göttliche, machtvolle Einheit wiedererkennt und sich auf ihre Herzens-Liebe besinnt und aufhört einen Großteil ihrer Befriedigung in der Anhäufung materieller Güter zu suchen, hätte es enorm positive, heilende Wirkungen für diesen Planeten und das gesamte Universum. In Wahrheit ist genug für alle vorhanden. Wenn wir uns kollektiv dafür entschieden, die Grundbedürfnisse für alle Menschen zu sichern – Nahrung, Kleidung, Wohnung –, brauchte niemand zu hungern, zu frieren, obdachlos zu sein. Jeder Mensch sieht zu, wie er am besten für sich und die Familie haushaltet. Und wie haushalten wir mit den Schätzen von Mutter Erde, die uns nährt, trägt, liebt? Was geben wir ihr dafür im Austausch und zum Dank? Müll – verunreinigte Luft, Böden, Meere, Flüsse – genveränderte Pflanzen und Tiere – Uranabfälle – wild abgeholzte Urwald-Gebiete – gigantische Autobahnen und viel Schädigendes mehr. Und du, lieber Gott, weist uns auch darauf hin, viel achtsamer mit unseren Technologien zu verfahren, um uns nicht selbst abzuschaffen. Mir ist bewusst geworden, warum du das alles zulässt. Weil es unsere Aufgabe ist, ein Leben bewahrendes Gemeinschaftsbewusstsein zu entwickeln, das uns geschenkte, natürliche Leben zu würdigen und verantwortungsbewusst zum Wohle allen Lebens einzusetzen. Du hast uns extra den freien Willen geschenkt, damit wir selbst unsere gewünschte Realität erdenken, erschaffen und erfahren können und uns frei entscheiden können, was unserem Wohl dient und was nicht. Wir sollen selbst erkennen, was für uns zum Guten funktioniert. Es geht darum, dass w i r die Dinge zum Besseren verändern, die nicht dem Wohle des Lebens dienen, wenn uns das am Herzen liegt. Ich bin überzeugt, dass das Leben in einer Welt ohne Konkurrenzkampf, sondern durch gemeinschaftlichen Einsatz und Austausch unserer Begabungen, einander würdigend, alles miteinander teilend, ohne die alten Menschenverwaltungsstrukturen, unseren Planeten schützend, in Frieden und Harmonie möglich ist, ohne, dass es uns langweilig wird. Wir hätten reichlich damit zu tun, die Spuren unseres Raubbaus auf Mutter Erde einsichtig zu beseitigen und uns neu zu entscheiden, was wir an Gutem bewahren, an Schädlichem unterlassen und was wir besser machen wollen, um eine höher entwickelte Menschheitskultur zu entwickeln, die das von Gott geschenkte Leben, die Natur ehrt und pflegt. Unser wahres, geistiges Potenzial ist längst nicht ausgeschöpft. Es liegt an uns, geistig zu wachsen, uns neuen Möglichkeiten zu öffnen, die wir bisher nicht für verwirklichbar hielten, um uns und diese Welt von unseren Wunden zu heilen. Sie klopfen an unsere Tür und bitten um Einlass.‘ Christa legte die Hände auf ihr Herz und sprach laut: „Du, mein geliebter göttlicher Vater, hast uns die Macht und Weisheit für die eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens gegeben. Es liegt an uns, diese in Liebe einzusetzen und uns gemeinschaftlich für das Wohl aller zu entscheiden. Du hast vor ein paar Jahren deine Liebe, nach der ich mich so sehr gesehnt habe, in mir wiedererweckt, so, dass ich ihr wieder vertraue. Ich bin in meinem Herzen wieder mit dir vereint. Das empfinde ich sehr erlösend, befreiend, erhellend, beglückend, ermutigend und heilsam. Mein Leben ist dank meiner Einsichten und der positiven Veränderungen in meinem Denken und Handeln leichter geworden. Ich liebe dich, lieber Gott.“ „Danke, liebe Christa. Ich freue mich, dass du dein Leben, wie es war und ist, als Erfahrungs-Geschenk annimmst und die Wahrheit meines unbegrenzten Schöpfungsprozesses neugierig erforschst und deinem Herzen, das dir den Weg zeigt, folgst und so deinen inneren Frieden wiederhergestellt hast. Und ich danke dir für deine Bereitschaft und Entschiedenheit, dein persönliches Erkenntniswerk nun mit anderen zu teilen. Ist dieses gedankliche Schöpfungswerk, das du mit diesem Buch vermitteln willst, jetzt rund für dich? Möchtest du es nun beenden?“ „Ich bin jetzt zu müde, um das abschließend zu entscheiden, und möchte das noch eine Nacht überschlafen, lieber Freund.“ „Schlaf schön, liebe Christa.“ „Guten Morgen, lieber Gott! Ich danke dir für die friedliche, ruhige Nacht, für meinen Schlaf und diesen hellen, neuen Morgen. Ich sehe, du hast den Himmel mit interessanten Wolken geschmückt.“ „Fein, dass du es bewunderst. Ist dir noch etwas eingefallen?“ „Ja, im Halbschlaf vor dem Aufwachen dämmerte mir, dass ich mit der Absicht herkam, zu erfahren, wie es sich mit der Liebe der Menschen auf der Erde verhält.“ „Ja. So ist es. Wie siehst du im Rückblick deine Erfahrungen?“ „Ganz ehrlich, hätte ich geahnt, worauf ich mich mit dieser Reise einlasse, wäre ich wohl lieber zu Hause, am Ort deiner bedingungslosen Liebe, geblieben. Es war für mich ungeheuer schwierig, mich in den verwirrenden Zuständen dieser Welt irgendwie zurechtzufinden. Ich fühlte mich fremd in diesen komplizierten, die Freiheit einengenden Verhältnissen. Meine Bemühungen, mich anzupassen, um angenommen und geliebt zu werden, wie ich es mir wünschte, führten mich in eine Sackgasse, aus der ich aus eigener Kraft nicht mehr herausfand. Aus deiner bedingungslosen Liebe kommend, mich auf eine Welt voller Vorschriften und krasser Gegensätze und Widersprüche einzulassen, empfand ich oft hart, unverständlich, ungerecht, schmerzlich, sogar lebensbedrohlich, sodass ich mich dadurch ohnmächtig fühlte und tiefe Traurigkeit entwickelt habe, in der ich nach 40 Lebensjahren fast untergegangen wäre. Ich durchlebte eine für meine Empfindungen höchst dramatische Achterbahnfahrt durch Licht und Finsternis, auf der mir schwindlig wurde. Du weißt, wie sehr ich mich nach Frieden und in die einfache Leichtigkeit deiner Liebe zurücksehnte.“ „Ja, das war schwer für dich. Und als du keinen Ausweg mehr sahst und aufgeben wolltest, hast du mich angerufen. Erinnerst du dich an dein erstes Gebet?“ „Ja. In meiner Verzweiflung bat ich: Lieber Gott, wenn es dich gibt, dann hole mich in dein Reich. Hier braucht mich niemand mehr. Niemand liebt mich. Bitte lass’ mich ein Engel sein, der für die Menschen Gutes tut.“ „Und, liebe Christa, habe ich dein Gebet erfüllt? Lies es noch einmal und spüre in dir nach, was du dabei wahrnimmst.“ Sie konzentrierte sich und begann zu lächeln „Mein Gott, es ist wahr. Ja, meine Bitte ist erfüllt! Ich weiß, dass es dich gibt. Ich lebe in deinem Universal-Reich, wozu auch die Erde gehört. Ich bin auf meine individuelle, besondere Weise ein Ausdruck deiner Liebe im Gefüge des Ganzen. Und dass mich niemand liebt und ich nicht mehr gebraucht werde, habe ich als meinen großen Irrtum erkannt. Auch ich schenke Liebe mit meinem Hier-Sein, mit meinem Herzen, mit meinem Leuchten, meinem Verständnis für mich und andere. Ich werde hier als Teil des Ganzen gebraucht. Ich erzähle den Menschen von dir, teile meine Lebenserkenntnisse mit anderen, ermutige sie, ihrer inneren Herzens-Führung zu vertrauen und zu folgen. Ich weiß, was ich will. Ich strahle das Licht aus, das du mir schenkst. Und ich habe erlebt, wie es ist, verletzt zu werden, und dass ich mich selbst und auch andere verletzte, da ich nicht ein noch aus wusste, und wie mir dann von Engeln in Menschengestalt und der Geistigen Welt liebevoll geholfen wurde …“ „So, wie auch du ein Engel bist und anderen auf ihrem Weg gerne verständnisvoll weiterhilfst.“ „Danke! Du, lieber Vater-Mutter-Gott, bist für mich die Ur-Elternschaft meines Seins, die Liebe in mir, die weise Führung auf meinem Wachstums- und Heilungsweg. Meine Seele jubelt! Ich danke dir auch mit diesem Buch, das ich dir hiermit zur Veröffentlichung übergebe.“ „Ich freue mich mit dir und ich danke dir, liebe Christa, dass du dich auf diesen Weg eingelassen hast, die beschriebenen Hoch- und Tief- Erfahrungen von Angst und Liebe in der Welt der Gegensätze zu erleben, um daraus Weisheit und Wahrheit zu erkennen und weitergeben zu können. Alle Menschen können in inneren Frieden gelangen, in meine Liebe zurückfinden, denn ihr seid alle meine geliebten Geistes-Kinder. Ich bevorzuge nichts und niemanden. Meine Liebe ist bedingungslos. Jeder kann sich von Herzen für die Verbindung mit mir öffnen, darf alles fragen und mich um Hilfe bitten. Ich werde mit Wahrheit und Klarheit die Antworten geben, die ihr noch nicht gefunden habt, um euch mit Licht und Liebe bei eurem aktiven Heilungs-, Wandlungs- und Wachstumsprozess zu unterstützen. Schon immer haben Boten und Lehrer meine Antworten auf eure Fragen und Hinweise für eure Lebensführung auf die Erde gebracht. Doch leider wurden sie nicht verstanden und sehr oft misshandelt oder umgebracht. Inhalte der Botschaften wurden vernichtet oder entstellt, um Menschen klein zu halten, sie meiner Liebe unwürdig darzustellen und über sie zu herrschen. Ihr könnt euch aus diesen Lügen befreien. Öffnet euch für neue Möglichkeiten, die in euch darauf warten, ins Leben gebracht zu werden, mit denen ihr eure ersehnte freie Entfaltung eurer wundervollen, sich ergänzenden Fähigkeiten erreichen könnt. Wenn ihr euch beherzt dafür entscheidet, könnt ihr mit eurer geistigen, hervorragenden Schöpferkraft bewusst durch neue konstruktive Gedanken und entsprechendes Handeln diese Welt wieder in einen blühenden Garten verwandeln. Die enormen Energieanhebungen, die ihr aktuell in diesem außergewöhnlichen Wandlungsprozess zu spüren bekommt, helfen euch beim Aufstieg in höhere Bewusstseinsdimensionen. Nehmt sie in euch auf. Es sind Energien, die euch auf eurem Weg der Vereinigung eurer Herzen, um kollektiv ein viel leichteres, freudvolleres Leben zu erschaffen als ihr es je hattet, um euer wahres Sein frei entfalten zu können zu eurem eigenen und zum Wohl des Ganzen. Meine geliebten Gottes-Kinder, die ihr in Wahrheit seid! Die Verantwortung, wie ihr die vielfältigen neuen Möglichkeiten nutzt, die ihr in nächster Zeit nach und nach erkennen und erforschen könnt, um euch und diese geschundene Erde zu heilen, zu entlasten, zu bereinigen, liegt bei euch. Da immer mehr Menschen ihre bisherigen Irrtümer erkennen, den Richtungswechsel in eine neue Welt erfassen und sich entsprechend verändern, wachsen eure Aussichten, diese große Herausforderung eurer Bewusstseinserweiterung zu meistern, stetig an. Ihr seid damit nicht alleine. Ich bin bei euch mit einer großen Schar geistiger Helfer an eurer Seite. Fürchtet euch nicht! Ich lade jeden herzlich ein, mich kennenzulernen, wer und wie ich wirklich bin. Jeder, der mich wahrhaft sucht, mir nahe sein will, findet mich in seinem Herzen, nicht im Verstand.“ Erkenntnisse und Aussichten
Quellen- und Literaturverzeichnis
Отрывок из книги
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
.....
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.
.....