Читать книгу Das schwache Herz - Федор Достоевский, Fyodor Dostoevsky, Tolstoi León - Страница 1
ОглавлениеUnter dem gleichen Dache, in der gleichen Wohnung, im gleichen vierten Stock wohnten zwei junge Beamte und Kanzleikollegen: Arkadij Iwanowitsch Nefedewitsch und Wassja Schumkow … Natürlich erachtet es der Autor für notwendig, dem Leser zu erklären, warum der eine Held mit seinem vollen Namen, der andere dagegen mit dem Diminutiv genannt wird; er müßte es schon aus dem einen Grunde tun, weil ihm sonst diese letztere Form als unanständig und plump vertraulich übelgenommen werden kann. Doch zu diesem Behufe müßte er zunächst den Rang, das Alter und den Beruf einer jeden der handelnden Personen angeben; da es aber allzuviel Schriftsteller gibt, die ihre Erzählungen mit derartigen Charakteristiken beginnen, hat sich der Autor der vorliegenden Novelle entschlossen, nur um den andern nicht zu gleichen (manche werden sagen: um seiner grenzenlosen Einbildung Genüge zu tun), direkt mit der Handlung einzusetzen. Nach dieser Einleitung beginnt er wie folgt.
Schumkow kam am Sylvesterabend, so gegen sechs Uhr, nach Hause. Arkadij Iwanowitsch, der gerade auf dem Bette lag, erwachte und blickte mit noch schläfrigen Augen seinen Freund an. Er stellte fest, daß dieser seinen besten Zivilanzug trug und ein blendend weißes Vorhemd anhatte. Das versetzte ihn natürlich in Erstaunen: Wo mag er in diesem Aufzuge gewesen sein? Auch hatte er heute nicht zu Hause gegessen! Schumkow steckte indessen eine Kerze an, und Arkadij Iwanowitsch erriet sofort, daß sein Freund ihn, gleichsam unbeabsichtigt und zufällig, wecken wollte. Wassja hüstelte auch tatsächlich zweimal, ging zweimal durchs Zimmer und ließ schließlich ganz zufällig seine Pfeife, die er in der Ecke neben dem Ofen zu stopfen begonnen, auf den Boden fallen. Arkadij Iwanowitsch mußte innerlich auflachen.
»Wassja, laß die Komödie!«
»Du schläfst nicht, Arkascha?«
»Bestimmt kann ich es nicht sagen; ich glaube aber, daß ich nicht schlafe.«
»Ach, Arkascha! Guten Abend, mein Teurer! Ja, Bruder! Ja! Du ahnst noch gar nicht, was ich dir erzählen werde!«
»Nein, das ahne ich wirklich nicht! Komm aber etwas näher zu mir.«
Wassja kam sofort näher, als hätte er auf diese Aufforderung nur gewartet; allerdings war er auf die heimtückischen Absichten seines Freundes nicht gefaßt. Dieser packte ihn sehr geschickt bei der Hand, drehte ihn um, fiel mit seiner ganzen Körperschwere über ihn her und begann das unglückliche Opfer zu würgen; das schien dem lustigen Arkadij Iwanowitsch ein unbeschreibliches Vergnügen zu machen.
»Nun hab ich dich!« rief er. »Nun habe ich dich!«
»Arkascha! Was tust du mit mir! Laß mich um Gottes willen los, so wirst du mir meinen Frack schmutzig machen!«
»Macht nichts! Was brauchst du den Frack? Warum bist du so leichtgläubig und gibst dich mir selbst in die Hände? Sag einmal: wo warst du? Wo hast du zu Mittag gegessen?«
»Arkascha, um Gottes willen! Laß mich los!«
»Wo hast du gegessen?«
»Das ist es ja, was ich dir erzählen will!«
»Also erzähle!«
»Laß mich erst los!«
»Das will ich eben nicht! Ich laß dich nicht los, bevor du es mir erzählt hast!«
»Arkascha, Arkascha! Verstehst du denn selbst nicht, daß ich in dieser Lage nichts erzählen kann, daß es ganz unmöglich ist!« schrie der schwächliche Wassja, indem er vergebliche Anstrengungen machte, sich aus den starken Tatzen seines Freundes und Gegners zu befreien. »Denn es gibt Materien … «
»Was für Materien?«
»Nun, Materien, über die man in solcher Situation nicht sprechen kann: sonst verliert man eben jede menschliche Würde; es geht wirklich nicht! Es würde lächerlich erscheinen, doch die Sache ist durchaus nicht lächerlich, sondern bitter ernst!«
»Das Ernste mag der Teufel holen! Was dir nicht einfällt! Du sollst mir die Sache so erzählen, daß ich dabei lachen kann! Ich mag nichts Ernstes hören! Was wärest du sonst für ein Freund? Sag nun selbst: was wärest du für ein Freund? He?«
»Arkascha! Ich kann es nicht, bei Gott!«
»Keine Widerrede!«
»Also gut, Arkascha!« begann Wassja, der quer auf dem Bette lag und sich die größte Mühe gab, seinen Worten eine gewisse Würde zu verleihen. »Arkascha! Ich werde es dir vielleicht sagen, doch … «
»Nun?«
»Ich habe mich verlobt!«
Arkadij Iwanowitsch sagte kein Wort. Er nahm Wassja, der durchaus nicht klein, sondern recht lang, nur etwas mager war, auf die Arme und begann ihn mit großem Geschick auf- und abzutragen und wie ein Kind zu wiegen.
»Gleich werde ich dich, du Bräutigam, wie einen Säugling einwickeln!« sagte er dabei. Als er aber sah, daß Wassja ganz regungslos und stumm in seinen Armen lag, besann er sich und merkte, daß er in seinem Scherze doch zu weit gegangen war; er stellte seinen Freund mitten im Zimmer hin und drückte ihm einen durchaus herzlichen und freundschaftlichen Kuß auf die Backe.
»Wassja, du bist doch nicht böse?«
»Hör einmal, Arkascha … «
»Nun, vergibs mir des Sylvesters wegen!«
»Ich bin ja nicht böse; warum bist du aber so verrückt und ausgelassen? Wie oft hab ichs dir schon gesagt: das ist gar nicht witzig, bei Gott, gar nicht witzig!«
»Also böse bist du mir nicht?«
»Nein … Auf wen bin ich je böse?! Doch du hast mich gekränkt, verstehst du das?!«
»Gekränkt? Auf welche Weise?«
»Ich bin zu dir gekommen wie zu einem Freund, mit vollem Herzen, um dir meine Seele auszuschütten und von meinem Glück zu erzählen … «
»Von was für einem Glück? Warum sagst du das nicht gleich?«
»Ich heirate doch!« antwortete Wassja geärgert; er war wirklich etwas wütend.
»Du? Du heiratest? Ist es dein Ernst?« schrie Arkascha wie besessen. »Nein, nein, was ist denn das? Er spricht wirklich so sonderbar und weint sogar! … Wassja, Wassjuk, mein Söhnchen, beruhige dich doch! Ist es auch wirklich wahr?« Und Arkadij Iwanowitsch schloß ihn wieder in seine Arme.
»Verstehst du denn meine Aufregung noch nicht? Du bist ja ein guter Freund, ich weiß es. Ich komme zu dir mit solcher Freude, mit solcher Begeisterung in der Seele und muß dir diese meine Herzensfreude, ganz würdelos quer über dem Bette liegend, eröffnen … Du verstehst doch, Arkascha,« setzte er halb lachend hinzu, »daß es eine durchaus komische Situation war; ich bin aber in diesem Augenblick gewissermaßen nicht bei Sinnen. Ich konnte meine Angelegenheit nicht so erniedrigen. Hättest du mich zum Beispiel nach ihrem Namen gefragt, ich schwöre dir: du hättest mich morden können, aber den Namen hättest du von mir nicht erfahren!«
»Warum hast du es nicht früher gesagt, Wassja? Hättest du mir das alles früher gesagt, so würde ich nicht so spaßen!« rief Arkadij Iwanowitsch in aufrichtiger Verzweiflung.
»Nun, laß es gut sein, genug! Ich sage es ja nur so … Du weißt selbst, warum ich so bin: ich habe eben ein gutes Herz. Nun ärgere ich mich darüber, daß es mir nicht gelungen ist, die Sache dir so gut und schön zu erzählen, wie ich es wollte, dich zu erfreuen, dir ein Vergnügen zu machen, dich einzuweihen … Im Ernst, Arkascha, ich liebe dich so sehr, daß ich, wenn ich dich nicht hätte, wohl überhaupt nicht heiraten würde und auf dieser Welt nicht leben wollte.«
Arkadij Iwanowitsch, der sehr empfindsam war, weinte und lachte zugleich, während Wassja dies sprach. Wassja tat dasselbe. Sie fielen sich schließlich wieder in die Arme und vergaßen den ganzen Vorfall.
»Wie ist es nun geschehen? Erzähle mir alles, Wassja! Du mußt mich entschuldigen, mein Lieber: ich bin so erschüttert, wie vom Blitz getroffen, bei Gott! Das kann ja nicht sein, mein Lieber, du hast doch das Ganze erfunden, bei Gott, du hast es erlogen!« schrie Arkadij Iwanowitsch auf und blickte mit aufrichtigem Mißtrauen Wassja an; als er aberin dessen Gesicht eine glänzende Bestätigung seiner bestimmten Absicht, so schnell als möglich zu heiraten, wahrnahm, warf er sich aufs Bett und begann vor lauter Entzücken Purzelbäume zu schießen, so daß die Wände erzitterten.
»Wassja, setz dich her!« rief er schließlich, und setzte sich auch selbst hin.
»Ja, mein Lieber, ich weiß wirklich nicht, womit ich beginnen soll!«
Beide blickten einander in freudiger Erregung an.
»Wer ist sie, Wassja?«
»Die Artemjewa! … « versetzte Wassja mit vor Glück gedämpfter Stimme.
»Ist's wahr?«
»Ich hab dir ja schon genug von der Familie erzählt, und du hast gar nichts gemerkt. Es fiel mir wirklich schwer, es vor dir zu verheimlichen; ich hatte solche Angst, davon zu sprechen! Ich fürchtete, das Ganze würde auseinandergehen, ich bin aber verliebt, Arkascha! Ach, mein Gott, mein Gott! Denk dir nur: die Sache war so,« begann er, jeden Augenblick vor Erregung stockend: »Sie hatte bereits vor einem Jahre einen Bräutigam, der wurde aber plötzlich irgendwohin versetzt; ich kannte ihn: er war so ein … Nun, ich will von ihm lieber nicht sprechen. Er ist also fort, läßt nichts von sich hören, ist verschollen. Man wartet und wartet und weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Und plötzlich, so vor vier Monaten, kehrt er zurück – ist verheiratet und läßt sich bei den Artemjews nicht einmal sehen! Es ist doch roh und gemein! Und sie haben niemanden, der für sie eintreten könnte. Das arme Mädchen weint, und weint, und ich – verliebe mich in sie … Ich war, übrigens, in sie schon vorher verliebt! Nun begann ich sie zu trösten, kam jeden Tag ins Haus … Ich weiß wirklich nicht, wie das geschah, doch auch sie gewann mich lieb. Vor acht Tagen hielt ich es schließlich nicht aus, fing zu weinen an, zu schluchzen und sagte ihr alles: nun, daß ich sie liebe – mit einem Wort alles! … ›Auch ich bin bereit, Sie zu lieben, Wassilij Petrowitsch‹, sagte sie zu mir, ›doch ich bin ein armes Mädchen, spotten Sie meiner nicht; denn ich habe gar nicht den Mut, jemanden zu lieben!‹ Nun, mein Lieber, verstehst du es? … Wir haben uns auch sofort verlobt; ich überlegte mir lange hin und her und fragte sie schließlich: ›Wie wollen wir das der Mama sagen?‹ Sie antwortete darauf: ›Ja, es ist schwer! Warten Sie lieber noch eine Zeitlang. Denn Mama hat jetzt Angst; jetzt gleich wird sie mich Ihnen vielleicht noch nicht geben wollen; sie weint ja noch immer.‹ Ohne Lisa auch mit einem Wort vorzubereiten, platzte ich heute vor der Alten mit der Geschichte heraus. Lisa kniete vor ihr nieder, ich ebenfalls … die Alte gab uns ihren Segen. Arkascha, Arkascha! Mein Lieber! Wir wollen doch zusammen wohnen bleiben. Nein, von dir trenne ich mich nicht!«
»Wassja, ich schaue dich an, und kann dir doch nicht glauben! Bei Gott, ich schwöre: ich kann dir unmöglich glauben. Das Ganze kommt mir so vor … Hör einmal, du willst heiraten?.. Wieso habe ich nichts davon gewußt? Ich muß dir gestehen, Wassja: auch ich hatte die Absicht zu heiraten; doch da du es jetzt tust, kommt es auf dasselbe heraus! Also ich wünsche dir viel Glück!«
»Mein Freund, ich habe jetzt ein so süßes Gefühl im Herzen, so leicht ist mir zumute … « sagte Wassja. Er erhob sich vom Bett und ging einigemal erregt durchs Zimmer. »Nicht wahr, du fühlst es ja auch? Wir werden natürlich sehr bescheiden leben, werden aber trotzdem glücklich sein; und das ist doch keine Chimäre; unser Glück ist nicht aus einem Buche geschöpft, es ist die Wirklichkeit: wir werden wirklich glücklich sein!«
»Wassja! Hör einmal, Wassja!«
»Was denn?« fragte Wassja, vor Arkadij Iwanowitsch stehen bleibend.
»Mir kommt eben ein Gedanke; ich weiß nicht warum, ich fürchte ihn auszusprechen!.. Verzeihe mir also und löse meine Zweifel. Wovon willst du eigentlich leben? Ich bin ja entzückt, daß du heiratest, bin ganz außer mir vor Freude, und doch … wovon willst du leben? Wie?«
»Ach, mein Gott! Wie kannst du nur, Arkascha!« sagte Wassja und blickte Nefedewitsch sehr erstaunt an. »Was denkst du dir denn? Selbst die Alte überlegte sich die Sache keine zwei Minuten lang, als ich ihr alles klarlegte. Frage doch zunächst, wovon sie gelebt haben? Sie haben zudritt ja nur fünfhundert Rubel im Jahr! Das ist die ganze Pension, die sie nach dem Tode des Vaters bekommen. Sie alle: Lisa, und die Alte und noch der kleine Bruder, für den man aus dem gleichen Gelde die Schule bezahlen muß, alle drei lebten von den fünfhundert Rubeln; so leben eben andere Leute! Wir beide sind Kapitalisten dagegen! Ich habe ja manches Jahr, wenn es gut geht, beinahe siebenhundert Rubel Einkommen!«
»Höre, Wassja, entschuldige: bei Gott, ich meine es ja nur so … Ich bin doch wirklich besorgt, daß die Sache nicht auseinandergeht; aber von welchen siebenhundert Rubeln sprichst du? es sind ja im Ganzen nur dreihundert … «
»Dreihundert!.. So, und Julian Mastakowitsch ist nichts? Hast du den vergessen?«
»Julian Mastakowitsch! Das ist aber eine unsichere Sache; das ist doch etwas ganz anderes als dreihundert Rubel sicheres Jahresgehalt, wo man sich auf jeden Rubel wie auf einen treuen Freund verlassen kann. Julian Mastakowitsch ist freilich ein hervorragender Mensch, ich achte und verstehe ihn, obwohl er so viel höher steht als ich; ich liebe ihn sogar, bei Gott, weil er dich so liebt und dir jede Extraarbeit bezahlt, obwohl er die Möglichkeit hätte, mit diesen Arbeiten irgendeinen Beamten von Amts wegen zu betrauen. Du mußt dir aber sagen, Wassja … Höre noch folgendes: ich spreche ja wirklich keinen Unsinn; ich will zugeben, daß es in ganz Petersburg keine Handschrift gibt, die mit der deinigen zu vergleichen wäre; das erkenne ich gerne an!« sagte Nefedewitsch nicht ohne Entzücken. »Und doch kann es ja, Gott bewahre, vorkommen, daß du ihm einmal etwas nicht recht machst, oder daß er keine Arbeit mehr zu vergeben hat, oder sich einen andern nimmt … es kann ja schließlich alles passieren! Heute hast du ihn, und morgen – nicht; bedenke das nur, Wassja … «
»Höre einmal, Arkascha, ebenso gut kann jetzt über uns die Zimmerdecke einstürzen … «
»Ja, gewiß, du hast recht, ich meinte es ja nur so … «
»Nein, hör einmal zu, höre, was ich dir sage: wie kann er mich gehen lassen? Höre mich nur an! Ich erledige ja alles so aufmerksam und zuverlässig, und er ist so gut zu mir; heute hat er mir, höre nur, Arkascha, heute hat er mir fünfzig Silberrubel gegeben!«
»Wirklich, Wassja? Ist es eine Zulage?«
»Keine Zulage! Aus seiner eigenen Tasche hat er es mir gegeben! Er sagte zu mir: ›Du hast, mein Lieber, seit vier Monaten nichts bekommen; wenn du willst, nimm dieses Geld: ich danke dir‹, sagte er, ›denn ich bin mit dir zufrieden‹ … Bei Gott, das hat er gesagt! ›Du sollst doch nicht umsonst arbeiten!‹ Mir kamen sogar die Tränen! Mein Gott, Arkascha!«
»Sage einmal, Wassja, hast du die zuletzt bestellte Abschrift fertiggemacht?«
»Nein … noch nicht ganz fertig.«
»Wassinka, mein Engel! Was hast du angerichtet?«
»Das macht nichts, Arkascha, ich habe ja noch zwei Tage Zeit.«
»Ja, warum hast du die Arbeit noch nicht fertig?«
»Nun ja! Du siehst mich mit solcher Leichenbittermiene an, daß sich mir der Magen umdreht und das Herz weh tut! Was ist denn dabei? Du bringst mich immer auf diese Weise um, wenn du zu schreien anfängst: A-a-ah! Überlege dir nur: was ist denn dabei? Ich werde damit noch fertig werden, bei Gott!«
»Und wenn du nicht fertig wirst?« brüllte Arkadij und sprang vom Bette auf. »Erst heute hast du von ihm Geld bekommen! Und du willst heiraten! … Oh weh!«
»Das macht nichts, ich setze mich gleich an die Arbeit und mache sie fertig. Sei unbesorgt!«
»Wie hast du es versäumen können, Wassja?«
»Ach, Arkascha! Konnte ich denn ruhig hier sitzen bleiben? War ich denn in solcher Stimmung? Selbst in der Kanzlei konnte ich kaum sitzen, so übervoll ist mein Herz! … Ach! Nun werde ich die heutige Nacht durcharbeiten, ebenso morgen und übermorgen und mache es fertig! … «
»Ist noch viel übrig geblieben?«
»Störe mich nicht, um Gottes willen, störe mich nicht, schweig!«
Arkadij Iwanowitsch ging auf den Fußspitzen zum Bett und setzte sich hin; nach einer Weile wollte er schon wieder aufstehen, besann sich aber, daß er seinen Freund damit stören könnte und blieb sitzen, obwohl es ihm bei seiner Aufregung sehr schwer fiel: die Nachricht hatte ihn offensichtlich furchtbar aufgeregt, und seine Begeisterung war noch nicht abgekühlt. Er warf Schumkow einen Blick zu; auch dieser warf ihm einen Blick zu, lächelte, drohte mit dem Finger, zog furchtbar die Brauen zusammen (als ob davon seine Kraft und der ganze Erfolg der Arbeit abhingen) und vertiefte sich wieder in die Arbeit.
Auch er schien seine Aufregung noch nicht überwunden zu haben: er wechselte einigemal die Feder, rückte auf seinem Stuhle hin und her, nahm immer neue Stellungen ein, fing immer von neuem an, doch seine Hand zitterte und wollte ihm nicht gehorchen.
»Arkascha! Ich habe ihnen auch von dir erzählt!« schrie er plötzlich auf, als wäre es ihm erst eben eingefallen.
»So?« rief Arkascha, »und ich wollte dich gerade danach fragen! Nun?«
»Nun! Ach, ich werde dir alles später erzählen! Bei Gott, es ist meine Schuld; ich hatte eben meinen Vorsatz vergessen, kein Wort zu sprechen, bevor ich nicht vier Bogen abgeschrieben habe. Und nun mußte ich wieder an sie und dich denken. Ich kann, mein Lieber, gar nicht schreiben: muß immer an euch denken … « Wassja lächelte.
Beide verstummten für eine Weile.
»Pfui! Was für eine elende Feder!« rief Schumkow plötzlich aus und warf die Feder auf den Tisch hin. Er nahm wieder eine neue Feder.
»Wassja! Höre einmal: nur ein Wort … «
»Gut! Aber schnell und zum allerletztenmal … «
»Ist dir noch viel übriggeblieben?«
»Ach, mein Lieber! … « Wassja machte ein Gesicht, als ob es in der Welt nichts Schrecklicheres und Tödlicheres gäbe, als diese Frage. »Es ist noch viel, furchtbar viel!«
»Weißt du, mir kommt eben eine Idee … «
»Was für eine?«
»Nein, nein, schreibe nur weiter.«
»Nun was denn? Was wolltest du sagen?«
»Die Uhr geht schon auf sieben!«
Nefedewitsch lächelte bei diesen Worten Wassja zu, allerdings etwas unsicher: er wußte nicht, wie Wassja es aufnehmen würde.
»Also was denn?« fragte Wassja. Er hörte sofort zu schreiben auf, blickte ihm gerade in die Augen und erbleichte vor Erwartung.
»Weißt du was?«
»Um Gottes willen, was denn?«
»Weißt du was? Du bist zu aufgeregt und wirst wohl sowieso nicht viel zustandebringen … Warte, warte, warte, ich weiß schon, was du sagen willst, höre einmal!« sagte Nefedewitsch, in seiner Begeisterung vom Bette aufspringend und Wassja, der etwas entgegnen wollte, unterbrechend, um jedem Einwand zuvorzukommen: »Vor allen Dingen mußt du dich doch beruhigen und dich sammeln! Nicht wahr?«
»Arkascha! Arkascha!« rief Wassja und sprang von seinem Platze auf. »Ich werde die ganze Nacht durcharbeiten, bei Gott, die ganze Nacht!«
»Nun ja, gewiß! Doch gegen Morgen wirst du einschlafen … «
»Ich werde nicht einschlafen, um nichts in der Welt … «
»Nein, nein! Das geht nicht! Du mußt: um fünf Uhr kannst du dich schlafen legen, und um acht werde ich dich wecken. Morgen ist Feiertag; du setzt dich hin und schreibst den ganzen Tag … und dann wieder die Nacht … Ist noch viel übriggeblieben?«
»Hier! Schau her!«
Wassja zeigte ihm, vor Erregung und Erwartung zitternd, das Heft: »Schau her!«
»Weißt du, mein Lieber: es ist ja gar nicht viel!«
»Mein Lieber, das ist noch nicht alles: es ist noch etwas da!« sagte Wassja und blickte dabei Nefedewitsch so schüchtern an, als hinge von diesem der Entschluß ab, ob sie hingingen oder nicht.
»Wieviel?«
»Zwei Bogen … «
»Nun, was meinst du? Ich meine, wir werden damit noch fertig, bei Gott, wir werden fertig!«
»Arkascha!«
»Wassja! Höre einmal! Den Sylvesterabend verbringen doch alle Leute bei bekannten Familien, nur wir beide sind so gottverlassen und wie obdachlos … Ja, Wassinka!«
Nefedewitsch umarmte Wassja und erdrückte ihn beinahe in seinen Löwentatzen.
»Arkadij, es ist abgemacht!«
»Wassjuk, ich wollte dir nur noch das sagen. Sieh mal, Wassjuk, mein Dicker! Hör einmal! Hör einmal! Du kannst ja … «
Arkadij hielt mit offenem Munde inne, denn er konnte vor Begeisterung nicht weiter sprechen. Wassja hielt ihn an den Schultern, starrte ihm ins Gesicht und bewegte die Lippen, als wollte er den Satz statt seiner zu Ende sprechen.
»Nun?!« sagte er schließlich.
»Stelle mich ihnen heute vor!«
»Arkadij! Wir wollen heute zum Tee hingehen! Weißt du was? Weißt du was? Bis zwölf wollen wir nicht sitzen bleiben, sondern vorher heimgehen!« rief Wassja in echter Begeisterung.
»Das heißt, wir wollen im ganzen zwei Stunden dort bleiben, nicht mehr und nicht weniger! … «
»Und dann trennen wir uns, bis ich ganz fertig bin! … «
»Wassjuk!«
»Arkadij!«
In drei Minuten hatte Arkadij seinen besten Anzug an. Wassja bürstete seinen Anzug nur ab; er hatte ihn noch gar nicht abgelegt: mit solchem Eifer war er soeben an die Schreibarbeit gegangen.
Sie traten eilig auf die Straße hinaus, der eine freudiger als der andere. Ihr Weg ging von der Petersburger Seite zur Kolomna-Vorstadt. Arkadij Iwanowitsch schritt rüstig und energisch aus, so daß man schon an seinem Gang seine Freude über das Glück des sich daran immer mehr berauschenden Wassja merken konnte. Wassja machte kleinere Schritte, trippelte beinahe, bewahrte aber seine Würde vollkommen. Arkadij Iwanowitsch glaubte sogar, noch nie einen so günstigen Eindruck von ihm gehabt zu haben. In diesem Augenblick hatte er sogar mehr Achtung vor ihm als je, und der gewisse körperliche Fehler Wassjas, von dem der Leser noch nichts weiß (Wassja war nämlich etwas schief gewachsen), der im empfindsamen Herzen Arkadij Iwanowitschs immer tiefes Mitgefühl hervorgerufen hatte, trug jetzt noch mehr zum Gefühl inniger Rührung bei, das er in diesen Augenblicken seinem Freunde entgegenbrachte und dessen Wassja selbstverständlich in jeder Beziehung würdig war. Arkadij Iwanowitsch hatte sogar Lust, vor Freude zu weinen, doch er beherrschte sich.
»Wohin, wohin, Wassja? Hier ist es näher!« rief er, als er merkte, daß Wassja die Richtung zum Wosnessenskij-Prospekt einschlagen wollte.
»Schweige, Arkascha, schweige … «
»Hier ist es wirklich näher, Wassja … «
»Arkascha, weißt du was?« begann Wassja geheimnisvoll, mit vor Glück bebender Stimme. »Weißt du was? Ich möchte Lisa ein kleines Präsent mitbringen … «
»Was für eines?«
»Gleich an der nächsten Ecke ist der Laden von Madame Leroux, ein wundervoller Laden!«
»So, so!«
»Es ist ein Häubchen, mein Lieber, ein Häubchen; heute habe ich da ein so liebes, nettes Häubchen gesehen und mich danach erkundigt. Die Façon heißt ›Manon Lescaut‹, es ist wirklich ein Wunderwerk! Die Bänder sind kirschrot, und wenn es nicht zu teuer ist … Arkascha! Und wenn es auch teuer ist … «
»Ich glaube, du bist über allen Poeten erhaben, Wassja! Gehen wir also hin!«
Sie eilten weiter und traten nach zwei Minuten in den Laden. Sie wurden von einer Französin mit schwarzen Augen und Lockenfrisur empfangen, die beim ersten Blick auf die Eintretenden ebenso freudig und glücklich wurde, wie diese es waren, womöglich noch freudiger und glücklicher. Wassja hätte Madame Leroux beinahe abgeküßt: so entzückt war er.
»Arkascha!« sagte er leise, mit scheinbar gleichgültigem Blicke all das Schöne und Erhabene musternd, das, auf hölzernen Haubenstöcken prangend, den großen Ladentisch schmückte. »Es sind doch wahre Wunderwerke! Was sagst du zum Beispiel zu dem da? Hier dieses Bonbon meine ich, siehst du es?« flüsterte Wassja, auf ein reizendes Häubchen weisend, das ganz am Rande stand, doch durchaus nicht dasjenige war, das er zu kaufen beabsichtigte; denn er hatte schon von weitem seine Blicke in das andere, berühmte, echte Häubchen gebohrt, das am entgegengesetzten Tischende stand. Er starrte es so an, als hätte er Angst, daß jemand es stehlen könnte oder daß das Häubchen selbst, nur damit es nicht Wassja in die Hände fiele, von seinem Haubenstocke in die Luft wegfliegen würde.
»Dieses da,« sagte Arkadij Iwanowitsch, auf ein anderes Häubchen zeigend, »dieses da ist nach meiner Ansicht das schönste.«
»Ja, Arkascha, das macht dir sogar Ehre; ich bringe dir von nun an für deinen guten Geschmack noch mehr Achtung entgegen,« sagte Wassja: seine Rührung vor Arkascha ging so weit, daß er ihm zuliebe aufrichtiges Entzücken vorspiegelte. »Dein Häubchen ist wirklich reizend. Aber komm einmal her!«
»Wo ist denn ein noch schöneres, mein Lieber?«
»Sieh einmal her!«
»Dieses da?« sagte Arkadij etwas unsicher.
Als aber Wassja, der sich nicht länger beherrschen konnte, das Häubchen vom Ständer nahm, das ihm, gleichsam über den langersehnten guten Käufer erfreut, selbst zuzufliegen schien, als alle die Bänder, Rüschen und Spitzen zu knistern anfingen, – da drang aus der mächtigen Brust Arkadij Iwanowitschs ein Schrei des Entzückens. Selbst Madame Leroux, die während der Wahl ihre ganze Würde und Überlegenheit in Sachen des Geschmacks bewahrt und herablassend geschwiegen hatte, belohnte nun Wassja mit einem Lächeln der Anerkennung, und alles in ihr, in ihren Blicken, in ihren Gesten und in ihrem Lächeln schien zu sagen: »Ja, Sie haben das Richtige getroffen und sind des Glückes wert, das Sie erwartet!«
»Es hat ja in seiner Einsamkeit kokettiert!« rief Wassja aus, der nun seine ganze Liebe auf das reizende Häubchen übertrug. »Es hat sich mit Absicht versteckt, das Täubchen, das Schelmchen!« Und er küßte das Häubchen, oder vielmehr die Luft, die es umgab: denn er fürchtete, seine Kostbarkeit auch nur zu berühren.
»So verbirgt sich auch das wahre Verdienst und die echte Tugend,« setzte Arkadij ganz begeistert hinzu: diese Phrase hatte er am Morgen in einer geistvollen Zeitung gelesen und tischte sie nun des humoristischen Effektes wegen auf. »Also was meinst du, Wassja?«
»Hurra, Arkascha! Du bist heute auch geistreich, du wirst Furore machen, wie es die Damen nennen, – ich prophezeie es dir! – Madame Leroux, Madame Leroux!«
»Was steht zu Diensten?«
»Meine liebe Madame Leroux!«
Madame Leroux blickte Arkadij Iwanowitsch an und lächelte etwas herablassend.
»Sie glauben nicht, wie ich Sie in diesem Augenblick verehre … Gestatten Sie, daß ich Sie küsse … « Und Wassja umarmte und küßte die Verkäuferin.