Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt
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Frans Diether. Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt
Vorwort
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
Nachwort
Impressum
Отрывок из книги
Warm strichen die Strahlen der Abendsonne über die kleine sächsische Siedlung, deren letztes Gehöft das Ufer der Eems, die die Alten noch Tamesis nannten, erreichte, weit bevor diese in das große Meer mündete, doch immer noch nah genug, die Gezeiten zu spüren. Rotgoldene Schimmer überzogen die im sanften Wind schaukelnden Blätter der knochigen alten Weiden. Wie Schiffchen schaukelten sie, wie die Schiffe der Sachsen, mit denen diese das große Meer befuhren, fremdes Land erreichten und eroberten. Lang war das her. Es lebte allein noch in den Erzählungen der Alten, vorgetragen am knisternden Feuer zur Zeit der Winterstürme, wenn die Feldarbeit ruhte. Versteckt lag er, der sächsische Weiler, die aus mächtigen Stämmen gemachten, jedem Unwetter trotzenden Hütten duckten sich zwischen Hecken und Sträucher. Er lag nicht versteckt genug, lag nicht so abseits, dass ihn nicht die Hirten des neuen Glaubens erreichten, dass ihn nicht die Ritter des neuen Herrschers fanden und in der Allianz von Kreuz und Schwert das Gedenken der alten Götter aus- und den Dienst am neuen Gott und am neuen König eintrieben. Und so klein der Ort auch war, beherbergte er doch eine Kapelle, in die ein weitgereister Mönch regelmäßig als Gast ein- und die Barbaren, wie er sie nannte, bekehrte. Beharrlich in seinen Anstrengungen und im sicheren Wissen um die Unterstützung der fränkischen Besatzer gelang es ihm, die heilige Taufe über jedes Mitglied der Siedlung auszubreiten, die verirrten Seelen in den Schoß von Mutter Kirche zu führen, die stolzen Körper im Frondienst für das Frankenreich zu beugen. Und schrie doch einmal eine Bäuerin im Schmerz der Wehen um Wodans Beistand, flehte doch einmal ein Bauer unter der Abgabenlast um Saxnots Hilfe, dann taten sie es stumm, tief in ihrem Innersten, allenfalls noch in kleiner Runde ängstlich zusammengedrängt im Rauch einer Hütte. Nein, sie waren nicht immer so. Einige ihrer Alten zogen noch mit Widukind, kosteten noch Erfolge im Kriege, kosteten jedoch viel häufiger die Schmach der Niederlage und erfuhren schließlich die endgültige Niederlage, dass Ende von Selbstbestimmung und Freiheit. So auch Odomar der Einäugige, der seinen Beinamen einem Frankenschwert verdankte und neben einem Auge den einzigen Sohn im Kampf verlor und neben der ewig trauernden Schwiegertochter das einzige Enkelkind zu versorgen hatte. Gisbert nannten sie den Kleinen, nannte Adalbert das erste Kind, welches in eine gänzlich zum Christentum bekehrte, gänzlich mit der heiligen Taufe versehene Gemeinschaft geboren wurde. Adalbert, das war ihr Lehrer in der Sache Jesu Christi, ihr Missionar, ihre höchste geistige Autorität. Und so wagte keiner, etwas gegen den so seltsamen, bisher nie gehörten Namen des Kindes einzuwenden, schon gar nicht dessen Mutter, die ohnehin nie etwas einzuwenden hatte, deren Gedanken und Gefühle mit dem geliebten Mann im Felde starben und erst recht nicht Odomar, dessen schlauer Witz sofort das Potenzial des ungewöhnlichen Wortes erkannte, dem der Bert so egal war, wie ihm Adalbert egal war, der sich am Gis erfreute. Gis bedeutete Pfeil in der sächsischen Sprache. Dies schien ihm ein sehr passender Name für den Erben der männlichen Linie seiner Familie.
Die Jahreszeiten wechselten. Die Blätter der alten Weiden am Ufer der Eems schwangen gerade noch sanft im goldenen Licht der Sommersonne, da verrotteten sie auch schon unter dem Schnee der Winterstürme. Adalberts Besuche wurden seltener und die Krieger des Frankenkönigs ließen sich nicht blicken, trugen doch die sächsischen Bauern tapfer die aufgebürdete Last, leisteten sie stets die vorgeschriebenen Abgaben, kämpften sie so manches Mal mit eigenem Hunger, wenn die Ernte schmal, die Steuer hingegen nicht geringer ausfiel. Selten zwar, aber doch immer öfter, einmal im Jahr, einmal im Vierteljahr, einmal in jedem Mondzyklus wich das Leid im Gesicht von Odomars Schwiegertochter, nur für Augenblicke zwar, doch lang genug, diese Augenblicke zu Odomars glücklichsten zu machen. Und noch etwas trug zum Glück des Alten bei, sein Enkel Gis, der ihm wie ein Sohn war, der in allem so großes Geschick zeigte, dass er trotz seiner jungen Jahre allein die Pferde hüten, die Wildesten von ihnen reiten, die Störrischsten von ihnen bändigen konnte, nicht durch Zwang, allein durch Verständnis. Auch wenn es darum ging, mit Pfeil und Bogen das kleinste Ziel aus der größten Entfernung zu treffen, schien Gis den anderen Kindern, gar manchem Erwachsenen um vieles voraus. Allein wenn es darum ging, das Können für die Jagd zu gebrauchen, versagte der Junge. Es schien ihm unmöglich, ein Lebewesen zu töten. So blieb er trotz all seiner Gaben ein Außenseiter.
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Frysunth saß in seinem Hause, dessen dicke Bohlen, dessen erst im letzten Jahr neu gedecktes Dach den unerträglichsten Teil der spätsommerlichen Hitze abhielten. Mit gekreuzten Beinen, die Arme vor dem nackten Oberkörper verschränkt, saß er auf einer Kuhhaut, einen Krug des frisch gebrauten Bieres neben sich. Es mundete hervorragend, würde einen guten Trunk beim großen Fest abgeben, alle Sinne in glückliche Sphären entführen. Drei Tage würden sie feiern, sich betrinken, Dinge tun, an die sie sich später besser nicht erinnern sollten, die jedoch so viel Spaß machten, dass sie die Mühsal des übrigen Jahres aufwogen. Es galt als Pflicht, sich zu betrinken. Seit alters her war es üblich, und ein Verstoß nicht zu verzeihen. Es war auch kein Privileg der Männer. Die Weibsbilder trieben es ebenso wild, und manche, die sich sehnlichst ein Kind wünschte, fand in dieser Zeit die Erfüllung ihres Wunsches. Frysunths Vorfreude wuchs von Tag zu Tag. Dieses Jahr verdiente ein besonderes Fest. Dieses Jahr nahm ihm den einzigen Sohn, doch es schenkte ihm vier neue, von denen einer sich als überaus würdiger Nachfolger erwies. Frysunth gab es nicht zu. Doch wenn er Gis mit Agur verglich, gewann ersterer. Und wenn das Glück ihnen weiter hold blieb, würde das ganze Dorf seinen angenommenen Jungen, seinen erwählten Erben akzeptieren und achten. Da konnten auch die anderen Ziehsöhne, allen voran der zänkische Tammo, nichts ändern. Und um dieses abzusichern, wollte Frysunth den Söhnen seines verstorbenen Bruders dessen Hof übergeben. Tammo schien alt genug, eine Familie zu gründen, mit seinen Brüdern das Land zu bestellen, die Tiere zu versorgen. Auf dem Fest wollte Frysunth seine Entscheidung verkünden. Und auch für Kaya war gesorgt. Für sie wäre kein Platz auf dem elterlichen Hof, sie würde nur stören, ständigen Streit verbreiten. Sie konnte auch nicht ewig bei Frysunth bleiben, schon gar nicht nachdem dieser Gis als Erben erkor. Gis brauchte eine einfache, sich unterordnende, ihren Platz kennende und widerspruchslos einnehmende Frau. Bei seiner Zukunftsaussicht musste man einen Mangel an Bewerberinnen nicht befürchten. Kaya hingegen sollte mit dem leben, dem sie besonders ähnlich war, der ihr die Freiheit gab, die sie brauchte, der ihr ausreichende materielle Sicherheit gab, der ihr handwerkliche Fähigkeiten beibringen könnte, die ihr ein eigenständiges Leben ermöglichten. Und Frysunth wusste, dass ihm sein Freund Tahnker auf ewig dankbar wäre. So erzielte er rasche Einigkeit mit Altje, seiner geliebten Ehefrau, die zwar auf eine wertvolle Arbeitskraft verzichten musste, jedoch auch eine ständige Bedrohung ihrer eigenen, für Gis weiteren Weg geschmiedeten Pläne beenden konnte. Um ein Hemd, eine Hose und ein paar Stiefel gaben sie Kaya an Tahnker. Die Verbindung der beiden sollte auf dem kommenden Fest geschlossen werden. Und während Frysunth einen kräftigen Schluck des kräftigen Trankes durch die Kehle rinnen ließ, stand sein Weib hinter ihm, massierte sie mit kräftigen Händen seine muskulösen Schultern, sein Wohlgefühl in schwindelnde Höhe treibend. Bald wuchs in beiden das Verlangen, sich ohne die Beobachtung durch die Kinder, man wusste ja nie, ob sie wirklich schliefen, aufs innigste nahe zu kommen. Heiß hämmerte die Sonne gegen das Haus. Heiß waren die Körper der Eheleute, so heiß, als trugen sie alle Sonnenstrahlen des langen Sommers in sich. Bald kannten sie nur noch einander, sahen und hörten nichts als ihr lustvolles Stöhnen, ihre animalischen Schreie. Erschöpft und glücklich lagen sie auf dem Boden. Sie sollten das Spiel der Liebe viel öfter pflegen, auch wenn es keine Leibesfrucht mehr erwecken konnte. Gis Arbeitseifer würde ihnen die nötige Freiheit schenken, ihnen viel von der Mühsal des Tages nehmen.
"Das sind die letzten Ähren. Die Speicher sind voll, die deinigen wie die deines Bruders Odas, meines Vaters." Stolz klang aus Tammos Worten und Ärger über die Bevormundung durch den Stiefvater, über die fehlende Würdigung seiner herausragenden Position, über die schmachvolle Gleichstellung mit dem dahergelaufenen Sachsenbastard, der noch immer fast nackt wie ein ungebildeter Heide umherlief, dessen schlechter Einfluss bereits auf die Brüder abfärbte. Tammo musste sich zwingen, nicht verächtlich auf den mit entblößtem Oberkörper vor ihm stehenden Stiefvater zu schauen. Fehlte es denn allen hier an Standesgefühl und Sitte? Frysunth nahm das alles wohl wahr, gab sich jedoch große Mühe, ruhig und freundlich zu wirken, auch wenn ihn der Ton reizte, er innerlich über die zwar standesgemäß wirkende, allerdings bis auf den letzten Faden durchgeschwitzte Tracht des Ziehsohnes lächelte, Tammo die eingenommene, über seine Brüder erhobene Position nicht zugestand.
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