Menschliches, Allzumenschliches: Ein Buch Fuer Freie Geister
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Фридрих Вильгельм Ницше. Menschliches, Allzumenschliches: Ein Buch Fuer Freie Geister
An Stelle einer Vorrede
Vorrede
Erstes Hauptstück. Von den ersten und letzten Dingen
Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen
Drittes Hauptstück. Das religiöse Leben
Viertes Hauptstück. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller
Fünftes Hauptstück. Anzeichen höherer und niederer Cultur
Sechstes Hauptstück. Der Mensch im Verkehr
Siebentes Hauptstück. Weib und Kind
Achtes Hauptstück. Ein Blick auf den Staat
Neuntes Hauptstück. Der Mensch mit sich allein
Unter Freunden. Ein Nachspiel
Отрывок из книги
Es ist mir oft genug und immer mit grossem Befremden ausgedrückt worden, dass es etwas Gemeinsames und Auszeichnendes an allen meinen Schriften gäbe, von der "Geburt der Tragödie" an bis zum letzthin veröffentlichten "Vorspiel einer Philosophie der Zukunft": sie enthielten allesammt, hat man mir gesagt, Schlingen und Netze für unvorsichtige Vögel und beinahe eine beständige unvermerkte Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthschätzungen und geschätzter Gewohnheiten. Wie? Alles nur – menschlich-allzumenschlich? Mit diesem Seufzer komme man aus meinen Schriften heraus, nicht ohne eine Art Scheu und Misstrauen selbst gegen die Moral, ja nicht übel versucht und ermuthigt, einmal den Fürsprecher der schlimmsten Dinge zu machen: wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien? Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit. In der That, ich selbst glaube nicht, dass jemals jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat, und nicht nur als gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes; und wer etwas von den Folgen erräth, die in jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den Frösten und Aengsten der Vereinsamung, zu denen jede unbedingte Verschiedenheit des Blicks den mit ihr Behafteten verurtheilt, wird auch verstehn, wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum zeitweiligen Selbstvergessen, irgendwo unterzutreten suchte – in irgend einer Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit oder Leichtfertigkeit oder Dummheit; auch warum ich, wo ich nicht fand, was ich brauchte, es mir künstlich erzwingen, zurecht fälschen, zurecht dichten musste (– und was haben Dichter je Anderes gethan? und wozu wäre alle Kunst in der Welt da?). Was ich aber immer wieder am nöthigsten brauchte, zu meiner Kur und Selbst-Wiederherstellung, das war der Glaube, nicht dergestalt einzeln zu sein, einzeln zu sehn, – ein zauberhafter Argwohn von Verwandtschaft und Gleichheit in Auge und Begierde, ein Ausruhen im Vertrauen der Freundschaft, eine Blindheit zu Zweien ohne Verdacht und Fragezeichen, ein Genuss an Vordergründen, Oberflächen, Nahem, Nächstem, an Allem, was Farbe, Haut und Scheinbarkeit hat. Vielleicht, dass man mir in diesem Betrachte mancherlei "Kunst", mancherlei feinere Falschmünzerei vorrücken könnte: zum Beispiel, dass ich wissentlich-willentlich die Augen vor Schopenhauer's blindem Willen zur Moral zugemacht hätte, zu einer Zeit, wo ich über Moral schon hellsichtig genug war; insgleichen dass ich mich über Richard Wagner's unheilbare Romantik betrogen hätte, wie als ob sie ein Anfang und nicht ein Ende sei; insgleichen über die Griechen, insgleichen über die Deutschen und ihre Zukunft – und es gäbe vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher Insgleichen? – gesetzt aber, dies Alles wäre wahr und mit gutem Grunde mir vorgerückt, was wisst ihr davon, was könntet ihr davon wissen, wie viel List der Selbst-Erhaltung, wie viel Vernunft und höhere Obhut in solchem Selbst-Betruge enthalten ist, – und wie viel Falschheit mir noch noth hut, damit ich mir immer wieder den Luxus meiner Wahrhaftigkeit gestatten darf?.. Genug, ich lebe noch; und das Leben ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es will Täuschung, es lebt von der Täuschung… aber nicht wahr? da beginne ich bereits wieder und thue, was ich immer gethan habe, ich alter Immoralist und Vogelsteller – und rede unmoralisch, aussermoralisch, "jenseits von Gut und Böse"? -
– So habe ich denn einstmals, als ich es nöthig hatte, mir auch die "freien Geister" erfunden, denen dieses schwermüthig-muthige Buch mit dem Titel "Menschliches, Allzumenschliches" gewidmet ist: dergleichen "freie Geister" giebt es nicht, gab es nicht, – aber ich hatte sie damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nöthig, um guter Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, Acedia, Unthätigkeit): als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen man schwätzt und lacht, wenn man Lust hat zu schwätzen und zu lachen, und die man zum Teufel schickt, wenn sie langweilig werden, – als ein Schadenersatz für mangelnde Freunde. Dass es dergleichen freie Geister einmal geben könnte, dass unser Europa unter seinen Söhnen von Morgen und Uebermorgen solche muntere und verwegene Gesellen haben wird, leibhaft und handgreiflich und nicht nur, wie in meinem Falle, als Schemen und Einsiedler-Schattenspiel: daran möchte ich am wenigsten zweifeln. Ich sehe sie bereits kommen, langsam, langsam; und vielleicht thue ich etwas, um ihr Kommen zu beschleunigen, wenn ich zum Voraus beschreibe, unter welchen Schicksalen ich sie entstehn, auf welchen Wegen ich sie kommen sehe? -
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Ungerechtsein nothwendig. – Alle Urtheile über den Werth des Lebens sind unlogisch entwickelt und desshalb ungerecht. Die Unreinheit des Urtheils liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, nämlich sehr unvollständig, zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird, und drittens darin, dass jedes einzelne Stück des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist und zwar diess mit voller Nothwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel über einen Menschen, stünde er uns auch noch so nah, kann vollständig sein, so dass wir ein logisches Recht zu einer Gesammtabschätzung desselben hätten; alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Endlich ist das Maass, womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche Grösse, wir haben Stimmungen und Schwankungen, und doch müssten wir uns selbst als ein festes Maass kennen, um das Verhältniss irgend einer Sache zu uns gerecht abzuschätzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man gar nicht urtheilen sollte; wenn man aber nur leben könnte, ohne abzuschätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! – denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Ein Trieb zu Etwas oder von Etwas weg, ohne ein Gefühl davon, dass man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Werth des Zieles, existirt beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen, und können diess erkennen: diess ist eine der grössten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins.
Der Irrthum über das Leben zum Leben nothwendig. – Jeder Glaube an Werth und Würdigkeit des Lebens beruht auf unreinem Denken; er ist allein dadurch möglich, dass das Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach im Individuum entwickelt ist. Auch die seltneren Menschen, welche überhaupt über sich hinaus denken, fassen nicht dieses allgemeine Leben, sondern abgegränzte Theile desselben in's Auge. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich auf Ausnahmen, ich meine auf die hohen Begabungen und die reinen Seelen zu richten, nimmt man deren Entstehung zum Ziel der ganzen Weltentwickelung und erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den Werth des Lebens glauben, weil man nämlich die anderen Menschen dabei übersieht: also unrein denkt. Und ebenso, wenn man zwar alle Menschen in's Auge fasst, aber in ihnen nur eine Gattung von Trieben, die weniger egoistischen, gelten lässt und sie in Betreff der anderen Triebe entschuldigt: dann kann man wiederum von der Menschheit im Ganzen Etwas hoffen und insofern an den Werth des Lebens glauben: also auch in diesem Falle durch Unreinheit des Denkens. Mag man sich aber so oder so verhalten, man ist mit diesem Verhalten eine Ausnahme unter den Menschen. Nun ertragen aber gerade die allermeisten Menschen das Leben, ohne erheblich zu murren, und glauben somit an den Werth des Daseins, aber gerade dadurch, dass sich jeder allein will und behauptet, und nicht aus sich heraustritt wie jene Ausnahmen: alles Ausserpersönliche ist ihnen gar nicht oder höchstens als ein schwacher Schatten bemerkbar. Also darauf allein beruht der Werth des Lebens für den gewöhnlichen, alltäglichen Menschen, dass er sich wichtiger nimmt, als die Welt. Der grosse Mangel an Phantasie, an dem er leidet, macht, dass er sich nicht in andere Wesen hineinfühlen kann und daher so wenig als möglich an ihrem Loos und Leiden theilnimmt. Wer dagegen wirklich daran theilnehmen könnte, müsste am Werthe des Lebens verzweifeln; gelänge es ihm, das Gesammtbewusstsein der Menschheit in sich zu fassen und zu empfinden, er würde mit einem Fluche gegen das Dasein zusammenbrechen, – denn die Menschheit hat im Ganzen keine Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Verlaufes, nicht darin seinen Trost und Halt finden, sondern seine Verzweifelung. Sieht er bei Allem, was er thut, auf die letzte Ziellosigkeit der Menschen, so bekommt sein eigenes Wirken in seinen Augen den Charakter der Vergeudung. Sich aber als Menschheit (und nicht nur als Individuum) ebenso vergeudet zu fühlen, wie wir die einzelne Blüthe von der Natur vergeudet sehen, ist ein Gefühl über alle Gefühle. – Wer ist aber desselben fähig? Gewiss nur ein Dichter: und Dichter wissen sich immer zu trösten.
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