Sinnvertiefung im Alltag
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Fritz Bohnsack. Sinnvertiefung im Alltag
Отрывок из книги
[2]Fritz Bohnsack
Sinnvertiefung im Alltag
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Angesichts der Beliebigkeit dessen, was einem Individuum „heilig“ sein kann, bis hin zum Liebesbrief, Mofa, „die Murmel in meiner Tasche“ u.a. scheinbar prophanen Dingen (Sauer 1993, 18), zum Playboy und zur Popmusik, zu Heilsbringern wie New Age und östlicher Meditation, fragt sich allerdings, von welcher Grenze an es dabei um „Religiosität“ bzw. „Spiritualität“ gehen soll, und nicht mehr um willkürliche Sinn-Kreationen. Das heißt, wie weit soll in den folgenden Ausführungen dieses Bandes ausschließlich das Kriterium subjektiven Erlebens von „Heiligkeit“ zur Bestimmung des hier verwandten Begriffes von „Spiritualität“ gelten oder dieser durch objektive Kriterien mitbestimmt werden wie etwa das bereits erwähnte eines Zugangs zum „umgreifenden Ganzen“ (Dewey)? Die Diskussion der letzten Jahrzente zur Bedeutung von „Religion“ und „Religiosität“ schwankt zwischen beiden Konzepten und damit auch zur Frage, ob es für die Mehrheit, zumindest unter den Heranwachsenden, die sich von den institutionellen Festlegungen der Religion durch die Kirchen und den Dogmen der christlichen Offenbarung distanziert, die Möglichkeit einer „religiösen“ Orientierung gibt, welche einen ähnlich substanziellen Tiefgang erreicht wie die der traditionellen Konfessionen und überhaupt der Hochreligionen. Das wird nicht leicht sein, denn zum einen haben sich in diesen Überlieferungen Jahrtausende alte Erfahrungen und ‚Weisheiten‘[28] des Umgangs mit dem letzten Sinn inkarniert. Und zum anderen geht mit der Zurückweisung der überlieferten religiösen Formenwelt an Ritualen, Riten, Praktiken etc. auch erst einmal deren Gehalt verloren, so dass sich die Frage ergibt, wie eine neue religiöse Sinnverwurzelung angestrebt bzw, erreicht werden kann, eine neue Sinnvertiefung also. Dazu wird u.a. das 2. Kapitel über das Seins-Vertrauen eine Antwort suchen.
So viel hat die Diskussion der letzten Jahrzehnte deutlich gemacht: die offensichtlich zum Mensch-Sein gehörende Frage nach dem letzten Sinn, nicht nur des Leidens, führt nicht notwendig zu dem, was traditionell als „Gott“ verstanden worden ist. Das übliche Gotteskonzept, „der Glaube an einen persönl. überweltl. Gott, der […] die Welt als seine Schöpfung erhält, das Weltgeschehen lenkt und im Glauben existenziell erfahren wird“ (Meyers 2003, Bd. 23, S. 7506), ist als Orientierung für eine universale, d.h. Kulturen übergreifende, weltweite Bestimmung ultimater Sinnbindung bzw. Religiosität nicht geeignet. Und er ist auch nicht erst heute mit Glaubenskriegen, Völkermord, Tsunamis u.a. Schicksalsschlägen schwer vereinbar (Theodize), so sehr, dass die Weiterverwendung des Gottesbegriffs, wie sich zeigen wird, sich für die Förderung und Pflege von Religiosität als kontraproduktiv erweisen kann. Von einem anderen Gottesbild berichten Fritz Oser und Anton Bucher (1992, 260): Eli Wiesel erlebte, wie in Auschwitz, vor versammelten Häftlingen, ein 14jähriger am Galgen eine halbe Stunde mit dem Tode rang. Da hat einer der Häflinge gerufen: „Wo ist Gott?“ und Wiesel in sich eine Stimme antworten gehört: „Hier ist er … Er hängt dort am Galgen“ (nach Dorothee Sölle).
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