Vom gesicherten und ungesicherten Leben
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"Keinen Anspruch erhebe ich darauf, mich mit den Realitäten dieser Welt in Einklang zu bringen. Ich suche auch kein Ziel darin, diese in irgend einer Weise abzuändern. Ich erlaube mir nur, zu bemerken, daß ich mit ihnen vielfach nicht übereinstimme. Immerhin würde es mich freuen, wenn ich etwelchen von denen, die sich auch nicht mit ihnen abfinden können, die stumme Seele löse." So Georg Hermanns Vorbemerkung von 1915 zu diesem Band aus Essays, Betrachtungen, Überlegungen, Persönlichkeitsbildern und eben – «Plaudereien» über die Kunst, das Schriftstellerleben und die Welt. Neben dem Titelessay enthält das Buch die Beiträge «Der tote Naturalismus», «Weltliteratur oder Literatur für den Hausgebrauch?», «Die Frühverstorbenen», «Die Unstetheit des Schriftstellers», «Die Zeitung», «Bücher und Autor», «Im Spiegel», «Erinnerung an» und «Hille», ein Porträt des 1904 verstorbenen Berliner Dichters Peter Hille. Georg Hermanns geistreichen und alles andere als belanglosen Plaudereien sind noch heute überaus lesenswert, etwa wenn er, mitten im Ersten Weltkrieg, zu den «Künstleräußerungen über den Krieg und über den Wert oder Unwert einzelner Nationen» Stellung nimmt: «Zum Schluß nimmt man eigentlich einen Thomas Mann, der sagt, daß der Krieg überhaupt der normale Zustand wäre, und der Künstler auch in Friedenszeiten der in Permanenz erklärte Krieger – wie erst im Kriege! – ebensowenig ernst, wie einen Maupassant, der gegen Moltkes Notwendigkeit des Krieges Sturm läuft. Amüsante Phantasten!»Georg Hermann, eigentlich Georg Hermann Borchardt (1871–1943), war ein deutscher Schriftsteller. Georg Hermann wurde 1871 als jüngstes von sechs Kindern einer alteingesessenen jüdisch-berlinerischen und später verarmten Kaufmannsfamilie geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums durchlief er eine Kaufmannslehre und arbeitete als Gehilfe in einem Krawattengeschäft. Von 1896 bis 1899 besuchte er literarische, kunstgeschichtliche und philosophische Vorlesungen an der Universität Berlin. Später war er beim Statistischen Amt Berlin beschäftigt, schrieb daneben Texte für Zeitungen und Zeitschriften und machte sich durch Feuilletons, Kunstkritiken und als Verfasser kunsthistorischer Werke nach und nach einen Namen. Obwohl er sich bereits als Schüler schriftstellerisch versucht und später unter anderem drei Bände Prosaskizzen veröffentlicht hatte, setzte er sich als Schriftsteller allerdings erst relativ spät durch: Erst der Roman «Jettchen Gebert» (1906) machte ihn mit einem Schlag berühmt. «Jettchen Gebert» und sein Fortsetzungsband «Henriette Jacoby», die ein Bild des liberalen Geistes im Berlin der 1840er Jahre in einer jüdischen Familie zeichnen, waren Bestseller mit zusammen mehr als 260 Auflagen. Hermann lebte fortan als vielgelesener Romancier in Berlin, zeitweise in Neckargemünd bei Heidelberg. Sein literarisches Vorbild war Theodor Fontane, was ihm auch die Bezeichnung «jüdischer Fontane» eintrug. Neben oft stark autobiografisch getönten jüdisch-bürgerlichen Themen griff er auch Stoffe aus den unteren sozialen Schichten («Kubinke», 1910, der Zuhälterroman «Rosenemil», 1935) und aus der preußischen Geschichte auf. Seine Romane sind Unterhaltungsliteratur von Rang, wie sie in Deutschland selten ist.Durch die nationalsozialistischen Machthaber ständig bedroht, entschloss sich Hermann nach dem Reichstagsbrand im Jahre 1933, Deutschland zu verlassen und ging nach Holland ins Exil. Seine Werke standen auf der «Schwarzen Liste» und wurden bei den Bücherverbrennungen im Mai 1933 den Flammen übergeben. Im Exil schrieb Hermann unter schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen weitere Romane. Nach der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht wurde Hermann mit seiner Tochter aus zweiter Ehe Ursula und deren Sohn Michael in das Durchgangslager Westerbork und am 16. November 1943 ohne Tochter und Enkel in das KZ Auschwitz deportiert.
Отрывок из книги
Georg Hermann
Ernste Plaudereien
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Mir fällt ein, wie ich einmal durch den Kohlendistrikt fuhr. Da waren Schutthügel unter nie endenden Reihen schwebender Kippwagen, Schlackenberge, rauchend und glimmend, Zechen, Schuppen mit Feueraugen, Senkungen und Erdrisse und ausgekaufte Dörfer, Schienen, Bahnwälle, Dämme und wieder Schienen, Ziegen, Katen, Qualm und geröteter Himmel. Und oben über eine Brücke zog eine Schicht Bergleute, grau, und sich schiebend wie eine Herde Hammel. Und unten auf einem zerstampften Rasenflecke, auf einem Dreieck zwischen sich schneidenden Bahnsträngen inmitten von Kohlenbergen und Russ spielte eine Schar dreizehn- und vierzehnjähriger Jungen Fussball. Ganz, ganz langsam tappte mein Zug sich vorwärts. Man hörte im Speisewagen nur das Klirren der Gabeln und das Klappern der Teller, das mit dem leisen Singsang der zitternden Scheiben zu einer stets sich gleich bleibenden Melodie verschmolz. Ich aber, der noch unbeschäftigt war, starrte in die Melancholie des heraufziehenden Abends. Und plötzlich schnürte mir die wehe Frage würgend und gallebitter die Kehle zu und machte mir die Augen brennen: was wird aus denen da?! Tief in die unterhöhlte Erde drang ich mit den Blicken, und ich sah, wie sie immer wieder neue Massen von Jugend und Leben in sich einfrass, nur um sie alsbald — halb betäubt, grau, stumpf und verbraucht und verkümmert, und mit jenem Glanz in den Augen, den nur das ungesicherte Leben kennt — nur um sie alsbald wieder auszuspeien und zu den anderen da zu werfen, die wie eine schiebende Herde von Hammeln über die Brücke trotteten.
Das ungesicherte Leben, ... ‚die Besitzlosen haben weiter kein Angebot als ihren Dienst‘ meinen die Nationalökonomen in feiner Umschreibung. ‚Sie handeln mit ihren Knochen,‘ sagen wir etwas weniger verklausuliert. Sie gehen durch die Welt, die ungesicherten: jedes Haus, jeder Flecken Land, jedes Stück Holz, das Gras am Wegrain, der Wagen, der vorüberfährt gehört jemandem — Schön! — es soll nicht dem gehören, von dem man glaubt, sondern irgend jemandem, der dahintersteht, einer Bank, einer Genossenschaft, einem Geldleiher. Zum Schluss gehört es doch wem!! Sie aber haben nur ihre Knochen. Was wunder, dass der Arme stets ein Tier ist, das an der Kette zerrt?! Was wunder, dass der vom ungesicherten Leben jede Stunde die tiefe Zwecklosigkeit alles Seins empfindet und immer daran gemahnt wird, und alle Zeit von der Sehnsucht erfüllt ist, dem Sein einen Sinn zu geben?! Ach — Er kennt ja nur das Heute; ob und wieviel ihm noch vom Morgen gehört, weiss er nie! Und das lastet über ihm als eine Wolke, ein Schatten, der sich nie hebt, etwas, das bitter macht, ungerecht, ewig seinen Geschmack behält.
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