Durch den Eisernen Vorhang

Durch den Eisernen Vorhang
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Vor rund 50 Jahren beendete die ›Ära Brandt‹ den Kalten Krieg; in der Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt wurde Kommunikation anstelle von Konfrontation zum handlungsleitenden Imperativ im Umgang mit dem kommunistischen Block. Die Annäherung zwischen Ost und West glich einer Gratwanderung, bei der es viele Interessen zu berücksichtigen galt: Vorbehalte aus Washington und den europäischen Staaten mussten durch die Bundesregierung ausgeräumt werden. Die Sowjetunion wollte durch die verbesserten Beziehungen den Status Quo zementieren und ließ keine Veränderung des politischen Systems zu. Innenpolitisch war der neue Kurs höchst umstritten. Analysestark und sensibel beschreibt Gottfried Niedhart die zeitgenössischen Wahrnehmungen und Ideen. Welche Handlungsspielräume hatte die Bundesregierung zwischen 1969 und 1974? Niedhart eröffnet einen innovativen Blick auf die Außenpolitik in der zweiten Formationsphase der Bundesrepublik. Ein Modell für Außenpolitik heute?

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Gottfried Niedhart. Durch den Eisernen Vorhang

Durch den Eisernen Vorhang

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INHALT

ABSCHIED VOM KALTEN KRIEG

Der Kalte Krieg als Phase im Ost-West-Konflikt

Entspannung als Deeskalation des Ost-West-Konflikts

Jenseits des Kalten Kriegs

Antagonistische Kooperation und Kommunikationsbereitschaft

Zwei deutsche Staaten im Ost-West-Konflikt

Die Ära Brandt

Nationale Interessen und Friedenssicherung

I Ostpolitik als kommunikatives Ereignis

KOMMUNIKATION UND REALITÄTSBEREITSCHAFT

Kommunikative Methoden

Wandel durch Annäherung

Mehr Wahrheit in der Politik

Mut zum Status quo

Hegemonialmacht Sowjetunion

KOMMUNIKATIVE PRAXIS

Auf dem Weg der Normalisierung

Pro und contra Ostpolitik

Politische Dialoge

Tunnelbau von beiden Seiten

Kommunikativer Schub in Bonn

Wallfahrt nach Moskau

Osthandel und Ostpolitik

Deutsch-sowjetischer Gesprächskreis

Entspannungspolitik und Geheimdiplomatie

Dreieckskontakte für Berlin

Permanente Verbindung durch die Hintertür

Entspannungspolitik auf Deutsch

Willy Brandt ans Fenster!

Kommunikativer Gipfel

II Ostpolitik als Interessen- und Friedenswahrung

DIE „ERWACHSENE“ BUNDESREPUBLIK ALS „FRIEDENSMACHT“

Nationale Interessen

Steigendes internationales Gewicht der Bundesrepublik

Westliche Vorbehalte

Sturm im Pariser Wasserglas

Die Last der Vergangenheit

Ostpolitik als Versöhnungspolitik

Frieden gestalten

Frieden mit der Sowjetunion

DIE DOPPELTE WESTBINDUNG

Ostpolitik als Teil der Europapolitik

Misstrauen in Washington

US-Détente und deutsche Ostpolitik

Atlantische Partnerschaft und europäische Dimension

Entspannungskonformer Antikommunismus

III Entspannung als Prozess

KONTRÄRE ERWARTUNGEN

Gewaltfrei, aber nicht konfliktfrei

Das Dilemma der Sowjetunion

Friedliche Offensive oder Aggression auf Filzlatschen

ANTAGONISTISCHE KOOPERATION

Stagnation der Ostpolitik

Gebremste Ausweitung der Wirtschaftsbeziehungen

Friedliche Aufhebung von Grenzen

Politische Kompromisse ohne militärische Entspannung

BILANZ UND AUSBLICK

ANHANG. Zeittafel

ABKÜRZUNGEN

ANMERKUNGEN. Abschied vom Kalten Krieg

I Ostpolitik als kommunikatives Ereignis

II Ostpolitik als Interessen- und Friedenswahrung

III Entspannung als Prozess

Bilanz und Ausblick

QUELLEN UND LITERATUR. Unveröffentlichte Quellen

Gedruckte Quellen und Literatur

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Gottfried Niedhart

Die Ära Brandt und das Ende des Kalten Kriegs

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Auf die bange Frage Präsident Nixons vom August 1971, ob die USA noch die führende Weltmacht seien,30 gab es nur eine Antwort, nämlich die Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen durch eine Deeskalation von Konflikten im Zeichen einer umfassend angelegten Entspannungspolitik. Nicht ohne resignativen Unterton bezeichnete Nixon eine solche Anpassung als „bittere Notwendigkeit“.31 Die zentrale Korrektur im Verhältnis zur Sowjetunion lautete Anerkennung der militärischen Parität, im Verhältnis zu China bedeutete sie die Anerkennung der Herrschaft der KP Chinas, im Verhältnis zu Westeuropa das nach anfänglichem Zögern erfolgte Einschwenken auf die Politik der EG während der multilateralen KSZE-Verhandlungen. Als Fehlschlag entpuppte sich der Versuch von Amerikas Nationalem Sicherheitsberater Henry Kissinger, 1973 ein „Jahr Europas“ auszurufen und damit die transatlantischen Beziehungen unter amerikanischer Führung neu zu ordnen. Die Europäer – insbesondere im Westen, aber auch in Osteuropa – sahen ihre Stunde gekommen. Sie stellten sich schon aus sicherheitspolitischen Gründen weder in West noch in Ost frontal gegen ihre Führungsmächte, aber sie verfügten jetzt über größere Spielräume. Anders formuliert: Der Ost-West-Konflikt kann nicht überwiegend oder gar ausschließlich als Geschichte der Beziehungen zwischen den Supermächten dargestellt werden. Insbesondere die in der EG organisierten Staaten Westeuropas, die in einen Integrations- und Erweiterungsschub eintraten, beanspruchten, als eigenständige Akteure wahrgenommen zu werden.

Von Beginn an spielte sich der Ost-West-Konflikt nicht nur in Europa ab. Allerdings war Europa der Ort, wo der Konflikt als direkte Konfrontation seine schärfste Zuspitzung erfuhr und wo sein Ende eingeleitet und herbeigeführt wurde. In Europa wiederum war es die deutsche Frage, die den Kern dieses Konflikts ausmachte. Die Errichtung von Besatzungszonen nach Kriegsende und die Gründung zweier deutscher Staaten 1949 mit gegensätzlicher politisch-gesellschaftlicher Ordnung und internationaler Ausrichtung auf einem gegenüber dem Deutschen Reich deutlich verkleinerten Territorium brachten zweierlei zum Ausdruck: zum einen das Bedürfnis nach Sicherheit vor Deutschland, zum anderen die Unfähigkeit der für Deutschland als Ganzes verantwortlichen Siegermächte, einen Zustand gemeinsamer Sicherheit herzustellen. Die Herausforderung für die deutsche Nachkriegspolitik bestand in der Notwendigkeit, dem Ost und West gemeinsamen Interesse an einer Kontrolle Deutschlands gerecht zu werden und zugleich das Ziel im Blick zu behalten, als eigenständiger Akteur in die internationale Politik zurückzukehren. Letzteres hing davon ab, ob auch Sicherheit mit Deutschland wieder denkbar wurde. Unter den Bedingungen des Kalten Kriegs waren beide deutsche Staaten unverzichtbare Bastionen in der jeweiligen Bündnisstrategie. Die DDR war zu strikter Ausrichtung auf die Sowjetunion verpflichtet, wenngleich Moskau die Wünsche der DDR-Führung nicht selbstherrlich ignorieren konnte. Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs stieg die Bundesrepublik allmählich Schritt für Schritt zu einer Mitgestalterin westlicher Sicherheitspolitik auf. Darüber hinaus wuchs sie in eine gesamteuropäische Schlüsselrolle hinein. Denn von ihr hing es ab, ob Sicherheit mit Deutschland auf die Ost-West-Beziehungen ausgeweitet werden konnte. Während Adenauer um Vertrauen im Westen gerungen hatte, bemühten sich seine Nachfolger mit unterschiedlicher Intensität, die bestehenden Kontakte zur Sowjetunion zu verbessern und die reflexartige Diskreditierung der Bundesrepublik als revanchistischer Feindstaat aufzuweichen. Die im Dezember 1966 gebildete Regierung der Großen Koalition wünschte unter ausdrücklicher Einbeziehung des Warschauer Pakts Beziehungen mit „allen Völkern“, „die auf Verständigung, auf gegenseitiges Vertrauen und auf den Willen zur Zusammenarbeit gegründet sind“.32 Dieses Angebot, Sicherheit mit Deutschland zu konzipieren, nahm in der Ära Brandt konkrete Gestalt an, als die Bundesrepublik und die Sowjetunion sich 1970 im Moskauer Vertrag wechselseitig zum Verzicht auf die Androhung und Anwendung von Gewalt verpflichteten. Damit war in aller Form ein entspannungspolitisches Projekt aus der Taufe gehoben, das zwar von den Vorstellungen eines europäischen Sicherheitssystems noch weit entfernt, aber durchaus geeignet war, die Bundesrepublik aus dem Schatten sowohl des Zweiten Weltkriegs als auch des Kalten Kriegs herauszuführen.

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