TEXT + KRITIK 230 - Loriot

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Vicco von Bülow (1923–2011) etablierte sich mit dem Künstlernamen Loriot – der französischen Entsprechung des Vogels Pirol, dem Wappentier der Familie Bülow – und galt als Deutschlands größter Humorist. In Loriots Sketch «Literaturkritik» präsentiert ein näselnder Feuilletonist den neuen Bahnfahrplan als aufregendste Neuerscheinung der Frankfurter Buchmesse: Mit Nachdruck weist er darauf hin, dass das Werk in keinem Bücherschrank fehlen solle. Welche Folgen dieser Aufruf für die Breitenwirkung des Fahrplanheftes der Deutschen Bahn hatte, ist nicht bekannt. Loriots Karikaturen, Sketche und Filme hingegen erfreuen sich einer nicht unerheblichen Verbreitung in Bücherregalen und DVD-Schränken, Programmplänen und im Internet.
Die Beiträge des Heftes fragen nach Ort und Funktion des Werks von Vicco von Bülow in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft und in der Geschichte der komischen Kunst. Sie analysieren die Kritik, die er an seiner Gegenwart geübt hat, und die Art und Weise, wie diese inszeniert wird – in der Darstellung von kommunikativem Verhalten, mit den Mitteln des Zeichners oder durch zahlreiche Anspielungen und Querverweise in den Sketchen. Nicht zuletzt vermessen sie Loriots Räume, gehen mit ihm in die Oper und kommen am Ende auf den Hund.

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Inhalt

Sitzmöbel und Schieberhut Richtungsweisendes

Lachen nach dem Luftschutzkeller Loriot in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft

Witz im Wirtschaftswunder. Loriot und die Modernisierung der Bundesrepublik

Lachend auf dem langen Weg nach Westen?

Humor nach Hitler

Loriot und der deutsche Humor?

»Das Bild hängt schief!« Loriots TV-Sketche als Modernisierungskritik

Loriots TV-Sketche – Themen und Motive, Frames und Skripts

Das schiefe Bild, oder: Mobiliar und Lebensstil

Loriots nie endender Anstandsunterricht

Witz mit Über-Biss Loriots künstlerisches Spiel mit Realität und Widerspruch im Kontext humoristischer Zeichnungen des 20. Jahrhunderts

Loriots Fernsehsketche – mehr als nur Klassiker Ein Plädoyer für eine historisch-kritische Loriot-Ausgabe

Von Schwänen und Fahrplänen Loriots komische Oper

Prima la musica, poi le parole

Die Komik der Zusammenfassung

Wagner, Wagnerianer und Wagneriana

Stretta mit Loriot avant la lettre

Was ist das »Loriot’sche« an Loriot? Eine Betrachtung seiner »Ehe-Szenen« aus der Perspektive der kommunikativen Ethik

Analyse von Ausschnitten aus dem Sketch »Feierabend«11

Erster Teil

Zweiter Teil

Von Räumen, Träumen und Türen Aspekte räumlicher Semantik in Loriots Spielfilmen

Filmgeschwister als Summe des Werks

»aus der eigenen Mitte in die Mitte des anderen« – Räume

»die offene Tür, die richtige Türöffnung« – Grenzen

»auf dem Wege der Selbstfindung« – Bewegungen

Fazit

»Menschen sind an der Leine zu führen!« Der Hund bei Loriot

Bibliografische Hinweise

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Anna Bers / Claudia Hillebrandt

Sitzmöbel und Schieberhut. Richtungsweisendes

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Die Komik Loriots in der frühen Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre kann somit einem prominenten konservativen Diskurs zugeordnet werden, der die Dynamik der Wirtschaftswunder-Gesellschaft mit Skepsis betrachtete. Aber er tat dies nicht nur in anderen, ›modernen‹ Medien und an anderen Orten als der tonangebende konservative Mainstream, sondern auch in einer demokratisierten Form. Denn anders als die traditionellen Eliten, denen es dabei immer auch um die Verteidigung ihres gesellschaftlichen Status zu tun war, ließ Loriot keinen Zweifel daran, dass er sich als Teil dieser Gesellschaft betrachtete: Als Mediennutzer, Konsument, Autobesitzer und sogar Hersteller von Werbefilmen war er selbst gleichermaßen Verursacher wie Opfer der von ihm karikierten Modernisierungsfolgen. Daher scheint das sozialgeschichtliche Etikett für die Entwicklung der frühen Bundesrepublik von einer »Modernisierung unter konservativen Auspizien« (Christoph Kleßmann)12 auch für Loriot zu passen.

Die Erzählung der kulturellen Westernisierung und Liberalisierung der Bundesrepublik ist zweifellos eng an Phänomene wie die Entwicklung des Massenkonsums und ihre Medialisierung gebunden, nur ist sie stärker auf kulturelle Transfers, auf die Einflüsse aus den Gesellschaften der westlichen Siegermächte, Phänomene der ›Amerikanisierung‹ und ihrer Abwehr bezogen. Zeitgenössisch spielten dabei überkommene binäre, antagonistische Vorstellungen von Hoch- und Populärkultur eine zentrale Rolle. Die Anstrengungen der kulturellen Eliten richteten sich auf eine Geschmacksbildung der Bevölkerung, die sich am klassischen, nationalen hochkulturellen Kanon orientierte. Demgegenüber galt die Populärkultur als ›amerikanisch‹, als minderwertig, wenn nicht schädlich. Gerade die jungen Medien Comic und Fernsehen sahen sich entsprechenden Ressentiments ausgesetzt.

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