Platon-Lexikon
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Platon-Lexikon
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Inhalt
Einleitung des Herausgebers
Autorinnen und Autoren
Abkürzungsverzeichnis (Werke Platons)
Alphabetisches Verzeichnis der Begriffe
Genannte Autoren der platonischen Tradition
Index. Begriffe
Artikel
Angeführte/zitierte Platonstellen
Bibliographie. Primärliteratur
Textsammlungen
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Отрывок из книги
Begriffswörterbuch zu Platon
und der platonischen Tradition
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Nicht viel anders steht es mit der Aufmerksamkeit, die der Leser den unscheinbaren Nuancen der Formulierungen entgegenzubringen hat, die einem in den Übersetzungen so leicht unter der Hand verschwinden. So lässt sich die Entgegnung des jungen Sokrates auf die Ausführungen des großen Parmenides in Parmenides 131c: phainetai hutô ge, eben nicht einfachhin und wie oft leichtfertig übersetzt als Zustimmung deuten im Sinne von: „offenbar ja“ oder „ja, so scheint es“, so dass man als Leser beruhigt mit der Lektüre weiterfahren könnte. Vielmehr schränkt die unscheinbare enklitische Partikel ge das Gesagte ein und relativiert es in unnachahmlicher Weise, so dass man eher übersetzen müsste: „naja, so (wie du es jetzt sagst) will es ja nun allerdings auf einmal tatsächlich so scheinen“. Der Sinn ist, den Leser aufmerksam werden und ihn aufhorchen zu lassen, ihm klar zu machen oder ihn darauf hinzustoßen, dass vielleicht doch nur mit Vorbehalt zugestimmt werden sollte, und dass es am tunlichsten wäre, das bisher Gesagte noch einmal nachzublättern, über das dort Geschriebene hinaus zu bedenken und zu prüfen, sich nicht überstürzt auf eine Position einschwören zu lassen, ein paar Textseiten zurückzuschlagen und aufs Neue durchzulesen, wo denn Argumentations- oder Voraussetzungsschwächen liegen könnten, wo sich typische kleine Fehler mit enormer Fernwirkung eingenistet haben könnten. Der lebendige Dialog, in den Platon somit mit seinen Lesern tritt, ergibt sich zum guten Teil eben daraus, dass fast jede seiner Aussagen gleichzeitig ernstgenommen und ernsthaft überprüft werden will, dass der Leser an ihnen Anstoß nehmen und eigene Position beziehen soll, und doch steckt die Kunst Platons darin, dass man stets wissen zu dürfen glaubt, worin und womit es ihm ernst ist, worum es ihm eigentlich geht, obwohl und manchmal gerade weil er es nicht ausspricht, obwohl und gerade weil er zum offenen Umgang mit dem Geschriebenen herausfordert und mit dem Ernst spielt. In der alten griechischen Philosophie hat Platon deswegen vor allem zwei einander entgegengesetzte Deutungstraditionen gehabt: Einmal die der von ihm selbst gegründeten Akademie, die mit der Zeit als „Neue Akademie“ zu einer skeptischen Schule wurde, da, wie es noch Cicero scheint (Academica 2, 46), ja auch Platon nie einen eigenen Standpunkt vorgebracht, sondern nur die Standpunkte anderer gegeneinander gestellt habe, ohne dabei auf Wahrheitsanspruch zu pochen; und dann diejenige Richtung, die historisch als „Platonismus“ bezeichnet wird, und die aus Platons Schriften eine eigene platonische Philosophie herausarbeitet, fast wäre man versucht zu sagen: ein „System“. Es ist diese „dogmatische“ Schule, durch die Platon ein Nachleben zuteil wurde, wie es keinem anderen Philosophen jemals beschieden war (das vorliegende Lexikon wird darauf Bezug nehmen). – Für Platons „Spiel im Ernst“ spricht auch das, was Sokrates in Theaitetos 148d–151d erklärt: Er sei wie eine Hebamme, die bei der Geburt von Gedanken hilft, obwohl er es der Beurteilung anderer überlasse, ob die Geburten dann überlebensfähig sind; jeder der Gesprächsteilnehmer solle also prüfen, ob die Gedanken, die das Gespräch unter Leitung des Sokrates hervorgebracht hat, auch der Prüfung standhalten oder nicht vielmehr Fehlgeburten oder nur halbausgetragene Frühgeburten sind, die den Anforderungen des Lebens nicht widerstehen können, oder ob sie nicht vielleicht sogar (denn auch das gehöre zur Fertigkeit von Hebammen) von Sokrates vorzeitig abgetrieben wurden, ob es nicht Scheinschwangerschaften und die Kinder statt wahre Gedanken nur Dummheiten waren usw. Wachsam also solle man gegenüber der Kunst des Dialogführens sein, so wie der keineswegs immer sympathische Sokrates sie betreibe, denn solche Gesprächsführung erfordere Aufmerksamkeit und das Ansehen der Person, und offenbar lässt sich der eine von der Kunst des Sokrates zur Wahrheit verhelfen, der andere zu „Mondkälbereien“ (wie Schleiermacher so nett übersetzt), der eine erweise sich da als aufnahmebereit zum Guten, der andere aber nicht.
Die Wahl der Person und dessen, was er sie auf welche Weise sagen lässt, entspricht also zum guten Teil Platons caveat an den Leser, nicht zu glauben, man könne etwas wie „Platons reine Lehre“ tel quel und mit dem Dialog in der Tasche schwarz auf weiß nach Hause tragen. Man kann dieses Verschwinden Platons in und hinter den eigenen Dialogtexten vielleicht im Anschluss an einige neuere Deutungen am ehesten mit der Auflösung der Zentralperspektive in der Malerei vergleichen. Das perspektivische Malen platziert die Gegenstände in Ordnung auf das „Sehfenster“ des Künstlers hin, auf das alles zu konvergieren scheint: Was in Blickrichtung rechts des Malers steht, wird rechts gemalt, was weiter hinten, kleiner oder verschwunden hinter Objekten im Vordergrund, die deutlich größer und schärfer wiedergegeben werden usw. Wer das Bild richtig sehen will, der muss auf dem Punkt stehen, auf dem der Maler während der Arbeit gestanden hat. Realistisch, würde man nach modernen Maßstäben wohl sagen, doch entspricht das nicht Platons Absichten, denn hier wird eine Perspektive, ein Standpunkt auf die Dinge festlegend aufgezwungen. In der Politeia (596de) beschreibt Platons Sokrates einen solchen Realisten: Es ist ein Mensch, der mit einem Spiegel durch die Welt läuft und ein Künstler zu sein behauptet, da er doch alles natürlich, will sagen mit einem Höchstmaß an Realismus, abbilden könne. Platons Vorstellung von der Darstellungskunst sieht offenbar anders aus: Das Wesen der Sache gilt es erst zu begreifen, dann darzustellen; das „Wesen von etwas“ sei der eigentliche Naturbegriff, der „naturalistische“ nur der abgeleitete. Und so ist der Dialog kein unmittelbarer Reflex dessen, was sich dem Autor darstellt, gewissermaßen wie aus der Zentralfensterperspektive auf die Welt, sondern eher eine Reflexionsleistung, in der das Wesentliche der Situation oder eben der Dialogteilnehmer mit ihren Thesen und Gegenthesen herausgearbeitet wird, und somit das Eigentliche oder Wesentliche daran, und bestenfalls an der Welt. Ein jedes soll, so legt es der Darstellungsversuch Platons nahe, seine Selbständigkeit im Dialog behaupten, ohne von der Interpretation auf den Standpunkt des Autors hin allein schon deswegen abzuhängen, dass er der Autor ist, und in den Hintergrund zu rücken, verstellt zu werden oder eine Position „links“ oder „rechts“ nur dadurch zugewiesen zu bekommen, wie sich der Standpunkt zum Betrachter ergibt, auch wenn sich Platon freilich einige Bösartigkeiten in der Darstellung dadurch nicht verbieten lässt. Allerdings zeigt die in der Politeia vorgetragene Ansicht über die rechte Art der Darstellung auch, dass eine Wesensschau vorausgegangen sein muss, dass mithin das, wozu die schriftliche Fassung von PHILOSOPHIE allein nie dienen kann, erreicht sein muss, bevor die Schrift zur Sprache kommen darf. Schreiben also sollte man als hilfreiche Abstiegsbewegung, wenn man keine Zweifel mehr haben muss, dass man das Wesen selbst aufweisen kann und somit gerade nicht mehr eine eigene Erkenntnis, sondern die Dinge „wie sie sind“, will sagen: wie sie wesentlich sind. Im Ausgleich dazu, dass die Dialogtechnik Platons den „Nullpunkt“ der Argumentation als im schlechten Sinne utopisch aufgibt, holt dieselbe Technik damit das philosophische Anliegen des angesprochenen utopischen „Nullpunkts“ der Argumentation auf ganz andere Weise wieder ein: Ihre Auflösung der auf den Standpunkt des Autors hin konvergierten Zentralperspektive eröffnet der Darstellung der Gedanken und dem Zugriff des Lesers auf sie in gewisser und den Ausstattungen der Vernunftfähigkeit angemessener Weise den berühmten „Blick von Nirgendwo“ auf die Wirklichkeit, der nun wieder eine der epistemischen Vorzugsutopien von Philosophen allgemein ist.
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