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RoadMovie

von

Hans-Joachim Mundschau

Imprint

RoadMovie

Hans-Joachim Mundschau

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2013 Hans-Joachim Mundschau

ISBN 978-3-8442-5312-2

2

Es wird die Zeit kommen, da du glaubst, alles sei geschafft. Das ist der Anfang.

Louis Dearborn LaMoore (gesehen bei KARSTADT Hamburg an der Wand)

Boss, hast du schon mal etwas so schön zusammenkrachen sehen?

Alexis Sorbas (Cacoyannis/Kazantzakis)

All you need is love

(Lennon/McCartney)

PETER

Es war das Blau ihrer Augen oder ihre Größe, ihre Schlankheit. Unsere Blicke sprangen hin und her. Sie begegnete mir, als ich mein Gepäck aufs Zimmer brachte.

Ich beeilte mich, weil ich mich noch vor dem Seminar mit meinen Freunden Johannes und Bruno, die zufällig gemeinsam ein Seminar zum Thema Abschied leiteten, in dem Lokal, wo wir manchmal zu Mittag aßen, zu einem Kaffee treffen wollte. Sie saßen an einem winzigen Tisch in der Mitte des großen Gastzimmers. Es herrschte ein Höllenlärm. Sonntagsgäste, zumeist Menschen im Rentenalter, und Jüngere, wohl Seminarteilnehmer, schienen wie besessen aufeinander einzureden. Als ich mich zu den beiden an den Tisch setzte, sah ich am Nebentisch eine sehr zerbrechlich aussehende junge Frau, die ich ein paar Wochen zuvor hier in einem Seminar getroffen hatte, irgendetwas mit Musik muss es gewesen sein. Sie bemerkte meinen Blick, schien zuerst verwirrt, bis sie ein Lächeln des Erkennens zeigte.

Meine Freunde und ich wandten uns wie üblich den wichtigen Themen des Lebens zu, wie wir denn die Welt erlösen könnten, so wie wir immer redeten. Unter dem Eindruck des Lärms dachten wir wieder einmal darüber nach, wie man die Anzahl der Wörter, die jedem Menschen pro Leben zustünden, limitieren könnte.

Im Nachhinein kommt mir alles sehr unwirklich vor: rotbraune Steinfliesen, die typisch deutsche Betischung und Bestuhlung des Raumes, das Stimmengewirr, die Witze, die wir machten. Nach Kaffee und Apfelstrudel machte sich die Unruhe des Aufbruchs bemerkbar. Die Frau am Nebentisch hatte gezahlt, verabschiedete sich von ihren Begleitern – es waren nur Männer – mit Küsschen. Ihr Seminar schien beendet.

Wir gingen dann auch, trennten uns vor dem Seminargebäude. Ich musste in meinem Zimmer noch das Bett überziehen. Als ich die Bettwäsche aus dem Schrank im Flur holte, begegnete mir die schlanke Frau mit den blauen Augen wieder. Sie trug eine sehr dunkle, eng geschnittene Hose und einen schwarzen Pullover. Sie wirkte noch größer als vorher. Ich sah wieder in diese abgrundtief blauen Augen. Wir nickten uns zu, ich spürte Befangenheit.

Die nervtötende Tätigkeit des Bettüberziehens ließ sie mich erst einmal wieder vergessen. Ein paar Dinge, die getan werden müssen, hasse ich. Ein Bett überziehen gehört dazu. Theoretisch weiß ich, wie es geht. Praktisch stimmt immer irgendetwas nicht. Entweder ist der Überzug für die Decke falsch gefaltet, oder die Decke ist zu breit oder zu lang oder irgendeine andere Katastrophe passiert, was allerdings den Faktor der Ablenkung von den wirklichen Problemen des Lebens sehr in die Höhe treibt. Mein Bett beim Militär gehörte stets zu den am schlechtesten bewerteten. Aber der Kopf wird frei von anderen Verwirrungen.

Trotzdem blieb nicht aus, dass ich mich an Gundel erinnerte, eine kleine kompakte Blonde mit für die damalige Zeit außergewöhnlich kurz geschorenen Haaren, die bei meinem allerersten Seminar in diesem Hause am ersten Abend über mich hergefallen war und mich die restlichen fünf Tage und Nächte nicht aus ihren Fängen ließ. Kaum waren die Gemeinschaftsveranstaltungen beendet, schleppte sie mich in eine nicht einsehbare Ecke, um sich an mir auszutoben. Es gefiel mir, aber es erschöpfte mich und vermittelte mir ein völlig falsches Bild von dem, was mich zukünftig in dieser Bildungsstätte erwarten würde.

Ich zog noch schnell Jeans und Hemd an und stieg die enge Treppe zum Seminarraum hoch. Sie war schon da, dunkle Jeans, strahlend weiße Bluse, durch die ihr dunkler Teint und ihre Augen noch verstärkt wurden. Wir begrüßten uns wieder mit einem Lächeln. Sie schien sehr neugierig auf die anderen Teilnehmer zu sein. Da waren ein älterer Mann und viele Frauen. Eine, die offensichtlich an Fettsucht litt, unterhielt sich intensiv mit einer Mittdreißigerin mit kräftiger Figur. Bei beiden fielen mir die enorm großen Brüste auf. Dieses Mal gelang es mir nicht, die weiblichen Teilnehmer in Hinsicht auf potenzielle Sexualkontakte durchzugehen. Einige hatten den „hungrigen Blick“, wie es mein vergangener Freund Robert auszudrücken pflegte. Dieses Mal ließen sie mich kalt. Ich hatte etwas Neues in mir entdeckt, was sich von der Magengegend her in meinem ganzen Körper ausbreitete. Es gelang mir nicht, dieses Etwas zu identifizieren oder gar es zu benennen. Es war beunruhigend wie Lampenfieber oder eine sich ankündigende Erkältung.

An die Vorstellungsrunde habe ich nur noch bruchstückhafte Erinnerungen. Die fettsüchtige Frau hieß Lore, und sie sagte, sie habe Adipositas und ihr Arzt habe ihr verordnet, sehr viel zu trinken, weswegen sie ständig ihre Mineralwasserflasche an den Mund setzte. Sie schwitzte stark und erzählte von Prozessen, die sie gegen alle möglichen Menschen und vor allem ihren letzten Arbeitgeber führen müsse. Außerdem mache sie Feldenkrais und werde sich demnächst darin selbstständig machen. Ich hatte damals keine Ahnung, was Feldenkrais war und habe es in der Zwischenzeit wieder vergessen. Jedenfalls schien es für eine Gewichtsreduzierung nicht hilfreich zu sein. Ich stellte sie mir nackt vor: große Hängebrüste mit großen dunklen Warzenhöfen, kaum hervorstehende Brustwarzen, überhängender Bauch, säulenartige Beine und eine extrem behaarte Scham. Es gibt keine hässlichen Menschen, und sie hätte mich in anderer Umgebung auch erregen können. Ich hätte mir vorstellen können, dass ich mich über ihren massigen Körper hermache und ihre Falten und Öffnungen erforsche und mich schließlich in sie ergieße.

Die andere kräftige Frau war Zahnärztin, sympathisch aber auf seltsame Weise distanziert. Meine Fantasien nahmen zwei Gestalten an: Opfer sexuellen Missbrauchs oder steht auf Frauen, oder beides.

Alle anderen habe ich vergessen. Dann hörte ich sie. Es war ihre Stimme, die mich traf. Ich nahm sie nicht über den Gehörapparat auf. Sie kam irgendwo im Unterbauch an. Vielleicht war sie schon immer da und wurde plötzlich aktiviert. Ich spürte eine Art von Bekanntheit, die mich verwirrte. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, ich sei endlich angekommen, wo auch immer. Ich hatte etwas endlich erreicht, dem ich immer hinterher gerannt war. Es hatte mich gepackt.

Beim Abendessen saß ich ihr gegenüber zwischen all den Frauen, die sich um mich gruppiert hatten, wie wenn sie mich einkreisen wollten. Es gab das übliche Ankomm-Abend-Nichtssagend-Wurst- und Käsegemisch. Ich hatte sowieso keinen Hunger. Es war wie immer ein vorsichtiges Abtasten, jeder bei jedem, bis sie mich auf meinen Ring ansprach. Er sei wunderschön und wo ich ihn her hätte. Ich erzählte, dass mir bei einer Auswahl von blauen Saphiren und Silber-Ring-Rohlingen bei diesem Sri-Lanka-Saphir sofort das Haben-wollen-schon-immer-meiner-Gefühl erschienen sei.

Und dann sagte sie: „Warum weichst du mir eigentlich immer mit den Augen aus?“ Am Tisch vor allen traf es mich in die Magengrube.

„Ich sag’s dir draußen, wenn du mit mir eine Zigarette rauchst.“ Ich hatte sie vorher rauchen sehen.

„Ja, gehen wir“, sagte sie.

Die anderen am Tisch tauschten wissende Blicke aus. Es war mir egal. Wir gingen in das winzige Treppenhaus gleich hinter dem Windfang, wo Rauchen erlaubt war. Ich bot ihr eine Zigarette an, versuchte schon während des Anzündens zu reden.

„… weil ich befürchte, mich sonst in dich zu verlieben, ach scheiße, es ist schon passiert!“

Sie grinste. „Mir geht es ähnlich“, sagt sie.

Wir küssten uns zunächst vorsichtig, bis unsere Zungen mutiger wurden und sich umspielten, Druck ausübten, die Mundhöhle des anderen erforschten. Sie schmeckte gut. Eine bedrohliche, Schwindel erregende Wärme breitete sich in meinem Bauch aus und griff auf meinen ganzen Körper über. Gleichzeitig schien ich die Orientierung zu verlieren. Ich hatte kein Zeitgefühl mehr. Es war mir völlig gleichgültig, wo ich war. Es gab nur diese Frau, die ich vorsichtig umarmt hatte, deren Zunge mir diese Wärme spendete. Die Erektion, die ich hatte, schien von anderer Art als ich sie kannte. Sie richtete sich nicht auf Entladung. Sie wollte nur vorhanden sein. Unsere Unterkörper hatten sich angenähert. Wir bewegten uns sanft wie im Tanz.

Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte, bis wir uns voneinander lösten, wie wir die abendliche Seminareinheit überstanden. Als danach die anderen im Aufenthaltsraum zusammen saßen, lagen wir im Gruppenraum auf dem Boden und lernten unsere Körper kennen. Es war ein Herantasten, zuerst wieder der Zungen, dann der Hände, die die Form des anderen erforschten. Sie war knabenhaft mit kleinen Brüsten, deren Warzen sich unter der Bluse steinhart anfühlten. Sie öffnete ihre Schenkel wie selbstverständlich, so dass ich mit der Hand ihren Schritt über der Hose berühren konnte.

Sie strich mir über Glied und Hoden, knetete sanft, bis sie sagte: „Ich werde mal die Hose ausziehen.“

Wir entledigten uns auch der Slips. Ich setzte mich mit dem Oberkörper an die Wand. Sie setzte sich einfach auf mich, ich glitt ohne jeden Widerstand in sie hinein. Oben herum waren wir angezogen, um unsere Unterkörper und Beine gruppierte ich die herumliegenden Decken. Wir saßen einfach nur da, mein Glied in ihr, unsere Münder aufeinander, unsere Zungen in Bewegung. Die Zeitlosigkeit holte mich wieder ein. Die Welt gab es nicht. Es gab nur diesen Raum und die Nacht, die sich als schwarzer Himmel durch die schrägen Fenster zeigte. Irgendwann nach einer Ewigkeit schoss es aus mir heraus. Ich musste mich nicht bewegen. Es floss einfach. Es war wie in meinen wenigen feuchten Kinderträumen. Ich glaubte, Kontraktionen ihrer Scheidenmuskulatur wahrzunehmen. Es war gleichgültig, alles war mir gleichgültig. Mein Orgasmus war nicht von dieser Welt. Ich verströmte und es wollte nicht aufhören.

Ich hatte gestöhnt, und sie fragte: „War es so schön?“

Ich nickte, doch die Frage irritierte mich. Ich wusste nicht, was für eine Antwort sie erwartete. Trotz der endlosen Ejakulation ging die Erektion nicht zurück. Ich blieb in ihr und fühlte, wie ich sie immer noch ausfüllte. Die Wärme, die mein Glied umschloss, schien die Steifheit zu erhalten.

Unsere Zungen und Lippen waren fordernder geworden. Wir saugten unsere Zungen ein, hielten sie mit den Zähnen fest, tasteten die Zahnränder ab, erkundeten die Zwischenräume, schoben die Zungen tief in den Rachen, abwechselnd, manchmal fordernd, aggressiv, manchmal zärtlich. Wir tauschten unseren Speichel aus, schlängelten unsere Zungenspitzen in die Nasenlöcher des anderen. Ich spürte ihre Nasenhärchen. Und da war auch ein Knorpel, als ich meine Zunge in ihr Ohr versenkte. Nach und nach entdeckten wir alle unsere Öffnungen am Kopf, während unsere Unterkörper zusammengewachsen schienen.

Es floss ein zweites Mal aus mir heraus. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, dass ich soviel Flüssigkeit produzieren kann. Es lief über, aus ihr heraus über meine Oberschenkel. Ich konnte nichts tun, es geschah einfach.

Wir trennten uns danach und gingen in unsere Zimmer. Ich öffnete eine Flasche Rotwein, die ich mitgebracht hatte. Ich trank aus der Flasche und dachte dabei über den Abend nach. Ich war völlig aufgewühlt und begann zu ahnen, wem ich da begegnet war. Eine Ewigkeit lang hatte ich gesucht und plötzlich war eine Frau erschienen, wie ich sie in meinen Träumen erdacht hatte. Dass ich nicht ganz bei mir war, spürte ich schon. Von Verliebten, die auf Wolken schwebten, hatte ich gelesen. Nun bekam ich eine Erfahrung, wie es sich anfühlt. Mir war völlig gleichgültig, was werden würde. Es gab nur das jetzt, wenn auch mit einer kleinen Irritation. Ihre Frage nach meiner ersten Ejakulation hatte mich verwirrt. Sie klang so verwundert, so als hätte ich mich auf irgendeine Weise nicht normal verhalten. Ich wollte jetzt nicht mehr darüber nachdenken. Ich nahm noch ein paar Schlucke aus der Flasche, die jetzt fast halb leer war, und machte das Licht aus.

Am nächsten Morgen trafen wir uns im Seminarraum wieder, umarmten uns nur kurz und gestanden uns, dass wir uns beide sorgten, dass wir den Teppich mit unseren Körperflüssigkeiten verunreinigt hätten. Wir hatten unabhängig voneinander schon nach Spuren Ausschau gehalten, aber nichts gefunden. Die nächsten Stunden erlebte ich wie in Watte gepackt. In meinen Seminaraufzeichnungen sind zwar Inhalte festgehalten, aber ich habe keine Erinnerung. Es muss eine Partnerübung gegeben haben, während der ich mich plötzlich auf einem Waldweg mit ihr fand. Wir blieben alle paar Meter stehen, küssten uns. Ich redete eine Menge dummes Zeug. Ich weiß noch, dass ich ihr ständig sagte, wie sehr sie mich – und besonders ihre Augen – an Bonnie Tyler erinnerte. Wahrscheinlich begegneten uns eine Menge Spaziergänger, die sich über uns wunderten. Wenn ich heute daran denke, bekomme ich sehr unangenehme Gefühle, weil ich mich für das törichte Gestammel im Zustand der absoluten Verliebtheit schäme. Es ist nicht eigentlich das, was ich von mir gab, sondern das Wie. Ich denke mir, es kommt nicht gut bei einer Frau an, wenn sie von einem verliebten Gockel ständig mit einem Popstar verglichen wird. Wir stolperten durch den Wald. Der Auftrag des Seminarleiters, den wir alle sehr schnell Faule Socke nannten, weil er so gut wie nichts tat, war uns ziemlich gleichgültig. Wir kamen zum Mittagessen zurück, beteiligten uns auch an der gemeinsamen Essenszubereitung, hatten aber nur Augen füreinander. Am Tisch saßen wir uns gegenüber.

Sie sagte: „Weißt du, worauf ich jetzt Lust habe? Ich traue mich nicht so recht.“ Und gleich darauf: „Ist doch egal, die reden doch sowieso.“

Sie nahm meine linke Hand und zog mich aus dem Speisesaal. Sie wusste, wo mein Zimmer war. Ich musste erst aufschließen und glaubte die Blicke der anderen in meinem Rücken zu spüren.

Ich hatte mich schnell meiner Kleider entledigt, legte mich auf das Bett und schaute ihr beim Entkleiden zu. Sie war ein Traum. Als sie ihre Hose auszog, sah ich schon in ihrem Schritt ihre Schamhaare, die aus dem Slip hervorquollen. Auch ihre Ober- und Unterschenkel waren stark mit dunklen Haaren bewachsen.

Sie sah meinen stieren Blick und sagte: „Schau nur, mein Vater hat immer gesagt, behaarte Mädchen bekommen einen reichen Mann. Bisher hat es leider noch nicht geklappt.“

„Mit mir wird das in dieser Hinsicht auch nichts“, sagte ich.

Dass wir keine gemeinsamen Kinder haben würden, hatten wir schon am Abend vorher festgestellt, da wir uns beide zum etwa gleichen Zeitpunkt ein Jahr zuvor hatten sterilisieren lassen.

Als sie ihren Slip ablegte, sah ich ihren dunklen, atemberaubenden Busch, der fast bis zum Bauchnabel reichte. Sie sagte „Na, du Gerät!“ zu meinem Penis, der senkrecht in die Höhe stand und legte sich neben mich. Ich begann die dunklen Brustwarzen ihrer kleinen Brüste mit den Lippen zu bearbeiten. Sie richteten sich in meiner Mundhöhle sofort auf und wurden unglaublich hart. Ich arbeitete mich mit der Zunge abwärts, verweilte in ihrem Nabel. Dann richtete ich mich ein wenig auf, um mir ihre Scham näher anzusehen. Ihre Schamhaare waren erstaunlich in dieser Menge und Ausbreitung. Ihre Schamlippen leuchteten daraus hervor in einem Rot, wie ich es noch nie bei einer Frau gesehen hatte. Sie waren dick angeschwollen und sahen aus wie ein Mund. Ich teilte sie mit dem Mittelfinger und fühlte ein wenig tiefer. Sie zerfloss fast. Ich senkte meine Zunge in den Spalt und nahm ihren Duft auf. Wir kamen nicht dazu, uns zu vereinigen, weil wir so sehr damit beschäftigt waren, unsere nackten Körper kennen zu lernen. Sie kniete sich zwischen meine Beine und begann nun ihrerseits, sich an mir zu schaffen zu machen. Sie bewegte sich auch von oben nach unten. Als sie meinen Penis in den Mund nahm, war ich schon kurz vor der Ejakulation.

Ich stöhnte und sagte: „Noch nicht!“

Sie gab ihn frei und knetete meine Hoden, sagte irgendetwas, das wie Mordsgerät klang, schloss dann wieder ihre Lippen um ihn herum.

Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen würde. Irgendwann später sagte ich: „Ich glaube, wir müssen nach oben.“

„Ja“, sagte sie, wir ließen abrupt voneinander ab, zogen hastig unsere Kleider an, küssten uns kurz und heftig, die Zungen tief im anderen.

In den fünf Tagen, in denen wir uns so nahe waren, haben wir nie in einem Bett miteinander geschlafen. Es war, als dürften wir uns diese letzte Nähe nicht gestatten.

Einmal nahm sie mich morgens im Flur in den Arm, sagte, sie habe in der Nacht Angst gehabt, mich gesucht, aber mein Zimmer nicht gefunden.

Wir gingen nach oben in den Seminarraum, wo alle schon auf uns warteten. Faule Socke machte eine Bemerkung über Pünktlichkeit, die uns galt. Es glitt an mir ab. Es war wie zuvor und danach, ich bekam nichts mit, hatte nur Augen für sie, suchte ihre Gesellschaft, wann immer es möglich war bei Partner- oder Gruppenarbeit.

Abends der gleiche Ablauf: Abendessen, Zigarette im Treppenhaus, hinauf in den Gruppenraum, das Zusammenrücken unter der Decke, das Ineinandergleiten, im Hintergrund lief Musik von Rowland, eine CD, die ich mir im Bookshop besorgt hatte. Die Zeit stand still. Ich fühlte mich in eine Endlosschleife eingebettet. Auch heute noch kann ich mich in diesen entrückten Zustand - mit Anstrengung zwar - hineindenken. Das Gefühl dazu ist allerdings synthetisch. Nichts ist mehr vorhanden, was die Verbindung herstellen könnte.

Am nächsten Tag beim Abendessen wurde sie ans Telefon gerufen. Sie schien erregt, verunsichert.

Als sie zurückkam, sagte sie nur: „Mensch, kann ich lügen!“

Ich fragte zunächst nicht, was sie damit meinte. Später erklärte sie mir, dass ihr Mann angerufen hatte, und dass sie ihm nur gesagt hatte, dass das Seminar gut verliefe. Sie hatte eher den Eindruck, dass er sie kontrollieren wollte.

Für mich war das alles weit weg. Ich erkannte diesen Einbruch der Realität nicht. Eifersüchtige Ehemänner gehörten bis dahin nicht in den Bereich meiner Wahrnehmung. Ich ahnte zu diesem Zeitpunkt nicht, welche Komplikationen sich ergeben würden.

Es gab noch einen Nachmittag, an dem wir uns der Gruppenveranstaltung entzogen. Wir meldeten uns einfach ab, setzten uns in ihr Auto, einen schwarzen Twingo, und fuhren los. Ich redete wieder eine Menge verliebten Unsinn. Manchmal schien sie amüsiert. Sie schaute mich dann lächelnd von der Seite an. Manchmal fühlte ich mich von ihr distanziert beobachtet.

Wir fanden ein Café an irgendeiner Seitenstraße im Odenwald. Es war größer als ich es in dieser Gegend erwartet hätte. Es muss ein Donnerstagnachmittag gewesen sein, gut besucht, meist ältere Menschen, Ausflügler. Wir setzten uns an einen Tisch in einer Nische, um ungestört zu sein. Ich fing bereits an, Pläne zu machen.

„Wollen wir uns nächstes Wochenende treffen?“ fragte ich.

Sie dachte einen Augenblick nach und nickte dann.

„Ja, das lässt sich machen. Ich kann ja sagen, dass es eine Seminarnachbereitung gibt.“

Sie hatte mir von ihrem Mann erzählt, wie eifersüchtig er sei, wie lieb aber auch, und dass sie gelegentlich mit einem Freund der Familie, einem Kunstmaler, ficke. Sie drückte sich so aus. Er sei ein Macho, sei ständig betrunken, aber er sei halt ein Mann. Sie betonte die Wörter halt und Mann so eigenartig, dass ich eine gewisse Traurigkeit herauszuhören glaubte. Sie hat mir nie erklärt, warum sie mit anderen Männern schlief. Ich habe für meine Affären immer Erklärungen gesucht. Bei ihr bin ich mir nicht im Klaren darüber, ob sie die Männer oder sich selbst verachtete.

Wir verabredeten, dass ich mich um ein Hotelzimmer kümmern sollte. In Gedanken gingen meine Planungen schon viel weiter. Da ich sowieso meine Frau verlassen wollte, spann ich mir schon eine neue feste Beziehung zurecht. Mich schreckte auch nicht ab, dass sie zwei Kinder von zwei Männern hatte. Das würde sich schon regeln lassen.

Wir saßen und redeten, irgendwann war es dunkel draußen, ich zahlte, sagte, dass ich sie von der Steuer absetzen würde.

Im Seminarhaus erzählten uns die anderen, dass Faule Socke sauer war, weil außer uns noch ein paar Leute gefehlt hatten. Ich traf ihn auf der Treppe, sagte, dass wir nur das umsetzten, was er ständig predige, dass jeder für sich selbst entscheiden muss, was wichtig ist. Er lächelte säuerlich, sagte ich hätte ja Recht. Er habe sich nur über die Teilnehmer geärgert, die sich nicht abgemeldet hätten. Er war mit sich und dem Seminar unzufrieden. Ich merkte es ihm an, aber ich hatte keine Lust, mit ihm darüber zu sprechen.

Nach dem Essen blieben wir dieses Mal nicht sehr lange im Gruppenraum. Wir waren beide sehr erschöpft. Ich setzte mich im Speisesaal zu der Dicken und der Zahnärztin. Wir sprachen über die Art, wie Faule Socke das Seminar leitete. Es war mir eigentlich völlig egal, aber ich konnte mich dazu durchringen, mit den beiden ein wenig zu analysieren. Es war eines dieser Gespräche an Seminarabenden, die sich im Kreise drehen, und bei denen ich immer müde werde, weil ich zu viel Rotwein trinke. Dann machte Lore noch Notizen, was sie ihm alles sagen wollte. Am nächsten Tag wurde nichts aus der geplanten Kritikstunde. Ich weiß nicht mehr warum. Ich war sowieso der Ansicht, dass er unbelehrbar war.

Ich ging dann doch ins Bett und hörte noch im Halbschlaf Stimmen aus dem Aufenthaltsraum, war jedoch viel zu müde, um ernsthaft zuzuhören.

Der nächste Morgen begann sehr unwirklich. Ich stellte mir schon beim Aufstehen die Frage, wie es denn weitergehen sollte. Für mich ist der letzte Tag eines Seminars immer zwiespältig. Entweder ich bin froh, endlich wegzukommen, oder ich will mich nicht trennen. Letzteres kommt allerdings sehr selten vor.

An diesem Morgen war ich leer und traurig. Ich wusste mit einer seltenen, beängstigenden Klarheit, dass ich eine solche Begegnung mit einer Frau nie wieder haben würde. Gut, ich wusste fast von Anfang an, dass sie verheiratet war. In meiner grenzenlosen Verliebtheit bildete ich mir ein, dass sie ihre Familie verlassen würde. Es konnte gar nicht anders sein. An diesem Morgen hatte ich eine dumpfe Ahnung, wie es werden würde. Ich spürte, dass irgendwo ein großes Loch lauerte, in das ich hineinfallen konnte.

Die Blicke am Frühstückstisch waren diesmal anders zwischen uns. Unsere Augen trafen sich und wandten sich wieder ab. Ich konnte den Augenkontakt nicht halten. Heute lege ich es mir so aus: Sie schaute voller Mitleid auf mich. Wenn ich ehrlich zu mir bin, dann fragte ich mich damals schon, ob sie nicht vielleicht doch ein großes Miststück war.

Der Morgen verlief so wie diese Abschiedsveranstaltungen bei den sogenannten Fortbildungen immer sind. Viel Blabla, das hat mir gefallen, das hat mir nicht gefallen und so weiter. Wenn dann noch jemand sagt – meistens kommt es von Frauen - „Schön, dass es dich gibt!“, dann wird mir meist ein bisschen übel. Es ist schrecklich, wenn sich solche Veranstaltungen nicht in Würde auflösen können.

Wir hatten es hinter uns gebracht, hatten den ganzen Morgen wenig miteinander geredet, uns aber immer wieder angeschaut. Jeder hatte seine Reinigungsaufgabe übernommen, wie es in diesem Haus üblich war. Ich war gerade dabei, den Aufenthaltsraum auszukehren, als sie zu mir kam.

„Ich finde es blöd, wenn wir nachher in unseren Autos einander hinterher fahren und unseren Auspuff anschauen. Ich will mich jetzt von dir verabschieden.“

Wir umarmten uns, ich sog ihren Geruch ein, ich zeigte ihr nicht, dass ich am liebsten geweint hätte. Ich brachte sie nicht zu ihrem Auto. Ich kehrte weiter.

DER EINBRUCH DER WIRKLICHKEIT

Die Autofahrt nach Hause ist mir nicht mehr in Erinnerung. Das nächste Bild, das ich abrufen kann, zeigt mich mit meiner Frau am Küchentisch. Sie sagt, ich sei verändert, ob ich mich verliebt hätte.

Am nächsten Morgen bat ich Friede, unsere Sekretärin im Büro, Briefe von Patrizia direkt an mich zu geben. Ich hatte Patrizia gebeten, nicht an meine Hausadresse zu schreiben. Friede schaute mich verständnisvoll an. Ich hatte ihr vor einiger Zeit schon erzählt, dass meine Ehe sich auflöste. Sie fand es schade, weil sie meine Frau und meine Kinder kannte und mochte, aber sie verstand mich.

Ich hatte an diesem Morgen in Wetzlar zu tun, parkte mein Auto am Arbeitsamt und lief die paar Schritte zur Hauptpost. Ich ging in eine der Telefonzellen und rief sie an. Sie schien auf meinen Anruf gewartet zu haben, sie war sofort am Telefon. Ihre Stimme verlor über die Leitung nichts von ihrer Faszination. Sie fragte mich sofort, ob ich meiner Frau von uns erzählt hätte.

Als ich bejahte, sagte sie: „Das ist gut.“

Die folgende Pause irritierte mich. Ich fragte zögernd: „… und du?“

Pause.

Dann: „Es hat sich keine Gelegenheit ergeben.“

Ich sagte ihr noch, wie schön es mit ihr war und dass ich mich noch heute um das Hotelzimmer für das Wochenende kümmern würde.

„Ja, mach’ das.“ Sie schien seltsam desinteressiert.

Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, fühlte ich eine verzweifelte Leere in mir. Ich lief einfach los und fand mich irgendwo in der Innenstadt wieder. Mir fehlten einige Minuten, ich fand mich nicht zurecht. Wo hatte ich mein Auto abgestellt? Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die Unordnung in meinem Kopf gelegt hatte. Ich kaufte mir in dem Stehcafé am Anfang der Langgasse einen Kaffee und versuchte mich zu sortieren.

Eigentlich hatte sich nichts verändert. Da war das geplante Treffen am nächsten Wochenende; die Aussicht, sie eine ganze Nacht in den Armen zu halten, neben ihr einzuschlafen und aufzuwachen; die Hoffnung, mit ihr einen neuen Anfang zu machen.

Ihre und meine Kinder beschäftigten mich überhaupt nicht. Ich hatte sie völlig ausgeblendet und damit ein mögliches Problem übersehen.

Nach der zweiten Zigarette und einem zweiten Kaffee war ich so weit wieder hergerichtet, dass ich zu meinem Auto gehen konnte. Ich schwebte wieder auf der Wolke, die in der Woche zuvor aufgetaucht war, fing an mich zu freuen, Glück zu empfinden.

Im Büro hängte ich mich sofort ans Telefon und hatte innerhalb einer Viertelstunde mit Hilfe der Gelben Seiten ein Zimmer in einer Pension an einem Stausee in Westfalen gefunden und gebucht. Ich rief Patrizia gleich an und berichtete. Sie sagte, dass sie möglicherweise Argumentationsschwierigkeiten ihrem Mann gegenüber habe, aber sie werde sich schon etwas ausdenken. Sie beruhigte mich damit.

Der restliche Tag erschien mir kurz. Auch die sich allabendlich wiederholenden Auseinandersetzungen mit meiner Frau über die üblichen vermeintlichen Missstände – mein geringer Beitrag zur häuslichen Reinlichkeit, meine langen abendlichen Fernsehorgien, meine mangelnde Beschäftigung mit den Kindern – perlten an mir ab. Ich setzte mich ins Wohnzimmer, nachdem ich die Kinder ins Bett gebracht hatte, öffnete eine Flasche Rotwein und hing meinen Gedanken nach. Ich war dabei, mich zu verabschieden. Schon seit einigen Wochen schlief ich nicht mehr im gemeinsamen Schlafzimmer. Wir hatten extra für mich eine Schlafcouch für das Wohnzimmer gekauft. Dadurch waren wir der Peinlichkeit entkommen, uns beim Masturbieren zu ertappen. Wir schliefen nicht mehr miteinander, weil unsere letzten Kopulationsversuche regelrechte Schlachten gewesen waren. Sie hatte mir einmal gesagt, dass mein Penis für sie zu groß sei und dass es ihr keinen Spaß mache. Es war dann nur noch ein Abladen von Samen. Irgendwann hatten wir damit aufgehört.

Sie begann nach langem Anlauf eine Affäre mit einem Sozialarbeiter, der offenbar auf unausgelastete Frauen spezialisiert war. Pikanterweise hatte ich ihn während eines Bildungsurlaubs kennen gelernt und sie beide miteinander bekannt gemacht. Ich hatte kein Problem damit. Allerdings war er in mancher Hinsicht peinlich – ein Schwadroneur von Gottes Gnaden, und er trug ein Goldkettchen ohne Anhänger um den Hals. Seine Frau ahnte von allem nichts. Sie wurde später von einer wichtigtuerischen Freundin aufgeklärt. Verbissen wie sie war, veranstaltete sie eine Art Tribunal in unserem Haus – ich war nicht da – wobei der gute Knut ziemlich viel einstecken musste. Er soll danach nie wieder fremdgegangen sein. Glaube ich aber nicht.

Der nächste Tag war beschwingt, ich verließ früh das Haus, verbrachte einen schönen Vormittag mit Besuchen bei den Sprachkursen, die ich betreute. Der übernächste Tag brachte den Schlag in die Eingeweide.

Als ich ins Büro kam, lag auf meinem Schreibtisch ein Brief von Patrizia, den mir Friede hingelegt hatte. Mein Magen zog sich zusammen, ich erwartete keine gute Nachricht. Der Inhalt war schlimmer als ich befürchtet hatte.

Wir werden uns am Wochenende nicht treffen können, mir bricht hier alles zusammen schrieb sie.

Ich weiß nicht mehr, was sie noch alles schrieb. Am schlimmsten war, dass ich sie nicht mehr anrufen sollte.

Ich rief sie sofort an und fragte, was das sollte. Sie schien zerknirscht, sagte mir, es täte ihr leid. Sie habe eine Aussprache mit ihrem Mann gehabt, und sie hätten beschlossen, noch einmal neu anzufangen.

Ich sagte das Hotelzimmer ab. Die Dame in der Pension war sehr biestig, wollte einen Teil der entgangenen Zimmermiete haben, aber es gelang mir, sie mit einer schnell erfundenen rührseligen Geschichte milde zu stimmen.

Ich war zerstört. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Meine Ahnungen waren wahr geworden. Am liebsten hätte ich an meinem Schreibtisch geweint, aber da kam nichts. Da wo mein Magen sein sollte, zog sich ein Knoten zusammen. Alles hatte mit einem Mal an Bedeutung verloren. Ich habe erst viel später bei Harry Potter eine passende Beschreibung meines damaligen Zustandes gefunden. Es war, als hätte ein Dementor seinen Kuss aufgesetzt. Ich fürchtete, ich würde nie wieder froh werden.

Meine Frau merkte mir die Veränderung an. Doch wir waren einander nicht mehr so nahe, dass ich mit ihr hätte darüber sprechen wollen. Ich trug es mit mir herum, und es nagte an mir.

Am Freitag dieser furchtbaren Woche gab sie mir zu verstehen, dass sie sich mit ihrem Goldkettchenträger abends in unserem Haus treffen wollte. Mir war es gleichgültig. Ich fuhr mit dem Auto nach Gießen, streifte erst ziellos durch die Stadt und ging dann, weil ich nichts mit mir anzufangen wusste, ins Kino. Es war „Stargate“. Ich habe den Film seither drei oder vier Mal gesehen. Es war jedes Mal eine Tortur. Die Gefühle von damals sind noch geankert, auch wenn sie nicht mehr unmittelbar mit Patrizia zu tun haben, sie sind grausam. Die entsetzliche Leere lauert immer noch.

Nach dem Film fuhr ich nach Hause, sah vor dem Haus noch Knuts Auto stehen. Etwas trieb mich dahin, wo ich glaubte, Patrizia am nächsten zu sein. Es war für andere sicher eine wunderschöne Vollmondnacht. Für mich war es eine Nacht auf der Straße. Ich fuhr durch den Westerwald mit dieser Leere in mir. Etwa gegen zwei Uhr war ich in Neunkirchen, ihrem Geburtsort. Mein Irrtum hätte größer nicht sein können. Da, wo ich ihre Nähe zu spüren hoffte, wurde mir der Verlust am schmerzlichsten bewusst. Ich konnte jetzt auch weinen. Ich fuhr aus dem Ort heraus, hielt am Straßenrand und weinte einfach. Irgendwann schlief ich ein, schlief wohl lange, erwachte gegen halb vier und wusste zunächst nicht, wo ich war. Nach und nach kam die Orientierung wieder. Ich hatte keine Lust, nach Hause zu fahren. Ein Kaffee wäre gut gewesen, aber keine Chance um diese Zeit. Ich fuhr wieder los, ziellos, der nagende Schmerz verschlimmerte sich. Es gab keinen Augenblick der Erleichterung. Ich wollte, dass es aufhörte.

Nach schier endlosen Umwegen kam ich wieder bei unserem Haus an. Knuts Auto war weg. Es war still im Haus. Meine Schlafcouch, auf der sie sich geliebt hatten, war schon für mich hergerichtet. Das Ehebett schien noch tabu zu sein. Plötzlich spürte ich, wie müde ich war. Ich zog mich nicht einmal aus, schlief in meinen Klamotten ein.

Meine Kinder weckten mich, als sie ins Wohnzimmer kamen um fernzusehen. Sie störten mich nicht. Ich war traurig, weil ich das bald nicht mehr so haben würde. Ich nahm mir vor, die Wohnungssuche anzugehen.

Die nächsten Wochen waren nicht einfach. Ich hatte noch nie einen solchen Zustand der Perspektivlosigkeit erfahren. Ich ließ mich treiben oder – besser – wurde getrieben. Damals entdeckte ich, dass es eine Kraft in mir gibt, die mich leitet und schützt, wenn mein bewusstes Ich dazu nicht fähig ist.

Als ich wieder einigermaßen geordnet war, fuhr ich zu Johannes und erzählte ihm die Geschichte. Johannes konnte wie immer brillant analysieren, was passiert war, sowohl bei mir als auch bei Patrizia. Ich konnte gut annehmen, was er sagte, aber es half mir nicht sehr. Von den Sternzeichen her würden wir wohl auch nicht zusammenpassen. Ihrem Schütze-Aszendenten würde diese Affäre wohl gefallen, aber ihr Sonnenzeichen Stier würde sich klar für ihre Familie entscheiden. Das klang plausibel, aber ich hasste es. Johannes, der mich wahrscheinlich kennt wie sonst niemand, sagte dann etwas sehr Schönes, was ich mir aufbewahrt habe:

„Du bist von etwas berührt worden, von dem du wahrscheinlich nicht einmal gewusst hast, dass es das für dich gibt. Nimm es als Geschenk. Manche Dinge entgleiten dir, wenn du versuchst sie festzuhalten. Manches kommt doppelt und dreifach zurück, wenn du es loslässt.“

So oder so ähnlich sagte er es, und dann aßen wir Frankfurter Grüne Soße und tranken eine Menge Pinot Grigio von Aldi Süd.

Ich besuchte ihn öfter in der nächsten Zeit, weil er mir gut tat. Die Suche nach einer Wohnung vernachlässigte ich wieder. Ich kam nicht in Bewegung.

An Patrizias Geburtstag schrieb ich ihr eine Karte mit einem Zitat aus einem Beatles-Song:

There’s nothing you can make that can’t be made.

Nothing you can save that can’t be saved.

Nothing you can do but you can learn

how to be you in time

it’s easy.

(All you need is love, täterättätä)

Der Text triefte nur so von Ich werde immer für dich da sein und natürlich baute ich auch unseren Satz aus Salz auf unserer Haut ein: Dakar ist überall, oder so ähnlich.

Ich hatte es gehofft, aber nicht erwartet. Sie antwortete mir. Ich ließ mich gleich wieder einfangen. Sie schrieb, sie fände es schön und sie sei dankbar, dass ich trotz allem so schöne Worte für sie gefunden hätte. Ich bin mir nicht sicher, ob sie wusste, von wem der Text eigentlich war.

Auf diesen Brief hin schrieb ich wieder einen Brief, und noch einen, und noch einen. Es fiel mir nicht auf, dass sie nicht mehr antwortete. Ein winziger Funken Hoffnung hatte mein klares Denken wieder abgeschaltet. Es war unglaublich, wie sehr sich Hoffnung – auch wenn sie noch so vage war – auf mein Befinden auswirkte.

Johannes würde sagen: „Auch das ist ein Geschenk, wenn so wenig notwendig ist, um dich positiv zu stimmen.“

Ich entwickelte Bilder, von dem was kommen würde. Ich hatte das alles schon einmal in Kitschromanen gelesen, was ich mir da zusammenmodellierte. Das richtige Leben ist viel überraschender.

Ich saß kurz nach der Mittagspause am Schreibtisch im Büro, als meine Frau anrief. Ich merkte an ihrer amüsierten Stimme, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein musste.

„Da war gerade ein interessanter junger Mann bei mir, ein Herr Belmonte, der dich sprechen wollte.“

Mir blieb fast das Herz stehen. „Das ist der Mann von Patrizia“, sagte ich. „Was wollte er denn?“

„Er sagte, er kennt dich von einem Seminar. Er sei gerade hier in der Nähe gewesen, und da wollte er dich mal besuchen.“

„Der will etwas ganz anderes, aber ich weiß nicht was. Sonst hat er nichts gesagt? Hat er gesagt, ob er nochmal kommt?“

„Nein, hat er nicht. Er hat mir aber gut gefallen.“

Ich konnte mir ihr Grinsen vorstellen. Ich beendete das Gespräch, weil ich wütend auf sie wurde, und rief Patrizia an. Sie nahm nach dem ersten Klingeln ab. Ihre Stimme traf mich wieder direkt im Bauch.

„Hallo Peter“, säuselte sie.

Ich erzählte, was ich gerade gehört hatte, ob sie sich das erklären könne.

„Ja, er hat meinen Schreibtisch aufgebrochen und deine Briefe gefunden.“

„Und was will er von mir“, fragte ich.

„Wahrscheinlich will er dir sagen, du sollst mich in Ruhe lassen.“

„Das kann er schriftlich haben“, rutschte mir heraus.

Ich wollte das gar nicht sagen, aber ich war so voller Zorn auf sie und auch auf diesen eifersüchtigen Italiener.

Ich sagte noch: „Ich habe Angst!“ und verabschiedete mich dann von ihr mit „Tschüs.“

Das war unser letzter Kontakt.

Ich hatte mich schon vor lange zuvor zu einem Seminar angemeldet, das ich fast vergessen hatte. Ich kann mich nicht einmal mehr an das Thema erinnern. Es muss etwas mit Arbeit und Perspektive und soziale Beziehungen am Arbeitsplatz zu tun gehabt haben.

Ich fuhr hin, gleiches Seminargebäude, gleicher Seminarraum, andere Leute, aber ich war nicht wirklich interessiert. Die ersten beiden Tage sagte ich fast gar nichts. Es gab wohl Partner- und Kleingruppenarbeit, aber alles ging an mir vorbei.

Es muss am dritten Tag gewesen sein, als meine Aufmerksamkeit geweckt wurde. Wir sollten uns von etwas verabschieden, von irgendeiner schlechten Erinnerung in irgendeinem wichtigen Arbeitszusammenhang. Das war zwar nichts für mich, aber es war eine Aufgabe, die ich in meinem Sinne verändern konnte.

Ich schrieb Patrizias Namen auf einen Zettel und ging damit aus dem Haus, ein Stück in den Wald. Nach etwa zweihundert Metern gab es auf der linken Seite einen Durchgang auf eine rechteckige Wiese, die steil abfiel und auf allen Seiten von mannshohen dichten Büschen eingerahmt wurde. Ich war früher schon hier gewesen, und ich erlebte es jedes Mal wie das Betreten einer abgeschlossenen kleinen Welt. Ich schritt die Wiese am Rande ab, völlig unschlüssig, was ich tun sollte. Ich hatte diesen Zettel mit dem Namen, trug ihn mit beiden Händen vor mir her wie ein Messbuch. Was sollte ich damit anfangen?

Ich ließ mich von meinen Beinen auf dieser Wiese fortbewegen, zunächst im Rechteck an den Büschen entlang. Dann begann ich neue Wege zu entdecken. Das Gras war längere Zeit nicht mehr gemäht worden, so dass meine Spuren da blieben, wo ich es umtrat. Ich versuchte, meinen Schritt nicht zu lenken. Es trieb mich im Kreis und kreuz und quer. Das Muster im Gras wurde immer dichter. In einer Ecke ganz unten am Hang kam ich zum Stillstand.

Plötzlich wusste ich, was ich tun musste. Ich ging in die Hocke und grub mit meinen Händen ein etwa zwanzig Zentimeter tiefes Loch in den weichen Boden. Dann legte ich den Zettel hinein und füllte das Loch mit der Erde, die ich daneben aufgehäuft hatte, wieder auf. Ganz oben pflanzte ich die ausgerissenen Grasbüschel wieder ein.

Dann erhob ich mich, wischte meine Hände am Taschentuch einigermaßen sauber und betrachtete mein Werk. Es hatte etwas von einer Beerdigung. Spätestens jetzt hatte auch mein Körper verstanden, dass es keine Hoffnung gab. Ich fühlte gleichzeitig unendliche Trauer und Erleichterung. Da war aber auch eine Ahnung, dass Platz geschaffen wurde für etwas Neues, für das es noch keine Anzeichen gab. Zuerst hatte ich mir vorgenommen, sie für immer zu vergessen. Ich merkte sehr schnell, dass dieser Ansatz falsch war. Ich musste nur Abschied von der Vorstellung nehmen, dass es ein Miteinander gäbe.

Über diesen Sommer weiß ich nur noch sehr wenig. Ich weiß auch nicht mehr, wie sich die Verhältnisse in meiner damaligen Familie genau entwickelten. Es ist alles wie von einem gnädigen Schleier zugedeckt. Die wirklich deutlichen Erinnerungen beginnen etwa ein Jahr später wieder, als ich mich darauf vorbereitete, mit einer Gruppe unter Johannes’ Führung zum Wandern in die österreichischen Alpen zu gehen.

Ich hatte mittlerweile eine eigene Wohnung. Es war nicht leicht gewesen, mich von meinen Kindern räumlich zu trennen. Mein Sohn war schon so verständig, dass ich mit ihm über meinen Auszug sprechen konnte. Ich fragte ihn eines Tages, was er denn davon hielte.

Er drückte es sehr einfach aus: „Ich finde es schade, aber es ist gut, wenn dann nicht mehr so viel Streit im Haus ist.“

Das machte es mir leichter. Ich fand, nachdem die innere Trennung vollzogen war, sofort eine Wohnung im selben Dorf, dreihundert Meter Luftlinie entfernt. Damals empfand ich es als Glücksfall, heute denke ich anders darüber. Die räumliche Nähe brachte eine Menge Schwierigkeiten, die ich mir hätte ersparen können.

Ab und zu tauchen Erinnerungsfetzen auf. Manches Mal lag ich in der Nacht lange wach und trauerte. Erstaunlicherweise spielte der Alkohol keine Rolle. Ich trank meist wenig, ganz im Gegensatz zu der Zeit, als ich noch bei meiner Familie wohnte. Ich rauchte viel, meist Zigaretten, stieg aber dann nach und nach auf Zigarillos und Zigarren um. Zigaretten griffen mich körperlich zu sehr an. Ich saß oft einfach in meinem Sessel im Wohnzimmer und schaute den Rauchwölkchen nach. Zu der Zeit habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben einsam gefühlt. Es war niemand für mich da, wenn ich nach Hause kam. Ich hatte gelegentlich Anfälle von Angst, wenn ich mir vorstellte, dass ich krank oder pflegebedürftig werden könnte. Ich musste sehr oft an meine Großmutter denken, besonders an die Zeit, als meine Mutter berufstätig war und ich bei meinen Großeltern aufwuchs. Es hat nie wieder eine Zeit gegeben, zu der ich mich so geborgen fühlte.

Ich versuchte für mich herauszufinden, was dieses Erlebnis mit Patrizia mit mir gemacht hatte. Ich sperrte mich gegen das, was ich mir eingestehen musste. Ich hatte eine Art von Schwäche an mir kennen gelernt, die mich völlig aus der Bahn warf. Es war diese vollkommene Hingabe an eine Frau, mit der ich nicht einmal fünf ganze Tage zusammen gewesen war. Einerseits erfüllte es mich mit einer mir unverständlichen Freude, dass mir so etwas passieren konnte. Andererseits kam ich mir lächerlich vor, weil mein Innenleben so aus den Fugen geraten war, und weil ich es zugelassen hatte, dass Patrizia mich so berührt hatte - wie wenn ich in eine Fallgrube hineingetappt wäre. Nun lag ich in dem Loch und wusste nicht, wie ich wieder hinaus kommen sollte.

Es kam dann aber auch eine Zeit, wo ich wieder unter Menschen ging. Ich spielte wieder Tennis, ging wieder in Kneipen.

Am schlimmsten war immer die Rückkehr in die leere Wohnung. Ich schaltete meist den Fernseher an, wählte irgendein Programm und schlief in dem unbequemen Sessel ein. In der Nacht schleppte ich mich dann ins Schlafzimmer, schlief oft in den Kleidern weiter. Am nächsten Morgen fühlte ich mich nicht einmal unausgeschlafen. Nur die Seele war meist wund. Ich habe keine Zeitempfindung dafür, wie lange dieser zutiefst lästige Zustand dauerte.

Mich wundert heute, dass ich in dieser Zeit des Trauerns keinerlei Sexkontakte hatte. Nicht, dass ich kein Bedürfnis danach gehabt hätte. Ich konnte mich nicht aufraffen. Ich wollte mich auch nicht auf einen anderen Menschen in irgendeiner Weise einlassen, nicht einmal für einen One-Night-Stand. Ich sah den Frauen durchaus mit Interesse nach, konnte mir aber in keiner Weise vorstellen, mit einer etwas anzufangen. Ich war fertig mit ihnen.

Patrizia hielt ich inzwischen tatsächlich für ein Miststück, das nur auf eine Woche Abwechslung aus gewesen war, vielleicht auf einen guten Fick. Der Zorn auf sie half mir. Ich hatte einen Kanal, durch den ich mich erleichtern konnte. Ich begann Sympathie für ihren Mann zu empfinden, der sie sicher ebenso sehr wie ich liebte und den sie nach Strich und Faden betrog. Vielleicht war es so etwas wie männliche Solidarität, die ich empfand. Vielleicht werden Männer solidarisch, wenn sie von Frauen verletzt werden. Mag sein, dass ich mir diese Solidarität einbildete, weil ich feststellte, dass ich nicht der einzige war, der wegen Patrizia litt. Ich dachte kurzzeitig daran, einen Brief an ihren Mann zu schreiben, ließ es aber dann doch.

Auch dieser Zustand dauerte eine Weile an. Ich stellte mir ausgiebig vor, wie ich sie mit Worten niedermachen würde, wenn ich nur noch einmal die Gelegenheit haben würde, sie zu sehen. In meinen Fantasien schrie ich ihr meine ganze Verletztheit entgegen, konnte mir aber nicht vorstellen, wie sie reagieren würde.

Mit der Zeit wurde ich milder. Meine Fantasien gingen in andere Richtungen - nicht sofort, sondern nach und nach. Ich malte mir aus, wie ich sie zufällig treffen würde, auf einem Rastplatz an der Autobahn, vielleicht wieder auf einem Seminar. Ich würde mich sanft und abgeklärt verhalten, würde Verständnis für ihre Situation ausdrücken, würde mich bei ihr noch einmal für die schönen fünf Tage bedanken. Ich würde ein richtiges Arschloch sein. Auch das ging vorüber.

Lange Zeit war mein Gemütszustand wechselhaft, voller Brüche und sprunghafter Änderungen. Es kam dann auch wieder die Zeit, zu der mich Frauen erregten. Eine Nachbarin hatte die Gewohnheit, nachmittags zu baden. Ein paar Mal musste ich nach der Arbeit bei ihr klingeln, weil sie Post für mich entgegengenommen hatte. Ich musste immer etwas warten nach dem Klingeln, und jedes Mal öffnete sie in ihrem geblümten abgewetzten Bademantel. Dazu gehörten entweder Lockenwickler oder eine Duschhaube, wie sie auch immer meine Mutter trug. Mir fielen besonders ihre dunkelblond behaarten Beine auf. Ich wusste zu der Zeit noch nicht, dass ihr Mann fast ständig auf Montage war. Wie man sich im Dorf erzählte, ließ er auf seinen Reisen nichts anbrennen. Sie wäre sicher nicht abgeneigt gewesen, aber ich konnte mich nicht überwinden, den Anfang zu machen. Und so wurde nichts daraus.

Ich entschloss mich, mit Johannes die diesjährige Wanderung in die österreichischen Alpen mitzumachen. Als ich kurz vor der Abfahrt am Telefon mit ihm die letzten Einzelheiten besprach, bat er mich, zwei Frauen im Auto mitzunehmen. Die eine, Emma, würde ich kennen, sie sei schon vor Jahren einmal mitgewandert. Ich erinnerte mich dunkel an eine kleine, nervige, ständig quasselnde Frau. Ich sollte sie an einer Raststätte bei Frankfurt aufgabeln. Ihre Freundin Reinhilde würde am Abreisetag von ihrem Mann bei mir abgeliefert werden. Natürlich nahm ich diese harte Prüfung auf mich.

Morgens hielt dann ein uralter Hanomag-Bus vor meiner Haustür, ein freundlich grinsender Teddybär mit Vollbart stieg aus, öffnete die Schiebetür und ein nöliges kleines Mädchen quoll hervor. Ihr folgte eine etwa fünfunddreißigjährige, riesige rothaarige Frau mit Pferdeschwanz und nackten Beinen und einem riesigen Hintern. Ihre Stimme nervte mich schon, als sie das erste Mal nach ihrem Kind rief. Es dauerte ewig, bis dann ihr Rucksack in meinem Auto verstaut war und sie sich von Mann und Kind verabschiedet hatte. Dann wurden wir jedoch sehr schnell miteinander warm. Offensichtlich war sie ganz anders, wenn sie nicht in ihren Familienclan eingebunden war. Bis wir Emma an der Autobahnraststätte trafen, war ich schon weitgehend über ihre und Emmas persönliche Verhältnisse der letzten zehn Jahre informiert.

Ich hätte Emma nicht mehr erkannt. Reinhilde zeigte sie mir, als wir auf den Parkplatz fuhren. Sie war ein schlankes Wesen geworden, das mit einem dunkelblauen, ärmellosen Oberteil und mit einem kurzen weißen Rock herumstand. Sie hatte kurzes, gelocktes, brünettes Haar, das ihr keck ins Gesicht hing.

Ihr Vater, der mit dem breitesten amerikanischen Akzent sprach, den ich je gehört habe, hatte sie gebracht. Wir luden ihren Rucksack um und fuhren dann endlich los.

Nach langer Zeit konnte ich wieder richtig albern sein. Ich merkte sehr bald, dass sich zwischen Emma und mir etwas aufbaute. Von der Tour, auf der wir uns kennen gelernt hatten, wussten wir beide nicht mehr allzu viel. Sie erzählte es, und ich erinnerte mich auch, dass sie damals – es musste zehn Jahre her sein – gerade frisch in ihren jetzigen Mann verliebt gewesen war, von dem sie sich aber jetzt gerade räumlich getrennt hatte.

Nach drei Tagen war ich in sie verliebt. Es traf mich, als sie nach einer Rast auf allen vieren vor mir kniete. Sie hatte wieder ein ärmelloses Top an, zeigte dichte Achselhaare und lächelte mich an. Aber ich hatte gelernt, nicht zu schnell zu viel zu investieren.

Der Rest der Wanderung bestand für mich im Überprüfen meiner Gefühle. Ich war mir so unsicher, ob ich mich auf sie einlassen sollte. Sie lebte in Scheidung, war – so vermutete ich - deshalb oft gereizt. Das war typisch männliches Denken, denke ich mir jetzt.

Den letzten Nachmittag in den Bergen verbrachten wir zusammen im Bett, ohne miteinander zu schlafen. Wir trugen beide nur Unterwäsche. Wir küssten uns gelegentlich, rieben uns aneinander, aber machten keinen Versuch, uns ganz zu entkleiden. Sie erzählte mir später, dass sie ihre Tage gehabt hatte. Wir gingen sehr entspannt miteinander um. Es machte mir nichts aus, dass sie mein steifes Glied bemerkte und gelegentlich mit der Hand darüber strich. Die Brustwarzen ihrer kleinen Brüste zeichneten sich die meiste Zeit deutlich unter ihrem Bustier ab. Irgendwann gegen Abend tranken wir in einem Café im nächsten Dorf, wo wir die anderen trafen, einen Espresso.

Das gemeinsame Abendessen zum Abschluss war richtig schön. Ich war witzig, schlagfertig, sogar charmant. Ich fühlte mich glücklich, wie lange nicht mehr. Patrizia war vergessen, so schien es.

Auf der Fahrt nach Deutschland erzählte Emma von ihrer Großmutter, die an Alzheimer erkrankt war. Ich machte mir keine Vorstellung, wie sehr dies ihr Leben und unsere entstehende Beziehung beeinträchtigen sollte. Wir hatten zunächst eine wunderschöne Zeit miteinander. Wir verbrachten ein Wochenende in Dresden, wo wir auch zum ersten Mal miteinander schliefen, wobei ich schon zu vergleichen begann. Mit Patrizia war es geflossen, mit Emma erforderte es Anstrengung. Es war nicht dieses tiefe, unendliche Versinken. Es war anders.

Wir trafen uns über ein Jahr, meist am Wochenende, meist bei ihr. Gegen Ende wurden unsere Treffen immer weniger, wir hatten uns nur noch wenig zu sagen. Ich fühlte mich immer mehr nur als der Kerl, der in der Nacht seinen Samen ablieferte, weil sie es wollte. Ansonsten hatte sie nur Interesse an ihrer Großmutter.

Als sie mich zum zweiten oder dritten Mal versetzte, als sie auf ein Wochenende zu mir kommen sollte, war es Zeit das Verhältnis zu beenden. Ich schrieb ihr einen Brief, der sehr bitter war. Die Antwort klang eher beleidigt, sie hätte auch daran gedacht, sie hätte sich das alles sehr viel lustiger, leichter vorgestellt. Der Brief war so oberflächlich, wie ich sie selbst erlebt hatte. Es tat nicht sehr weh. Ich spürte Erleichterung, weil ich etwas entronnen war, das mich ängstigte, weil ich es nicht verstand.

Der Rückschlag war brutal. Die Leere tat sich wieder auf. Ich konnte tagelang das Haus nicht verlassen. Da ich sowieso eine Erkältung hatte, ließ ich mich krankschreiben und vergrub mich in meiner Wohnung. Ich verließ die Wohnung nur um Essen und Getränke einzukaufen. Eigentlich trank ich mehr als ich aß. Trotzdem gelang es mir nicht, mich so zu betrinken, dass ich hätte vergessen können. Ich vermied es in den Spiegel zu schauen, weil ich mich vor meinem Aussehen fürchtete. Ich rasierte mich nicht, zog mich nur an, wenn ich zum Einkaufen ging. Meine Erkältung besserte sich nicht. Viele schwarze Zigaretten trugen zur ständigen Verschlechterung meines Gesundheitszustandes bei.

Ich kann nicht mehr sagen, wann ich die Tür zum Ausstieg aus diesem Trip fand. Ich glaube, ich wachte eines Morgens auf, ging ins Bad, duschte und rasierte mich, ging in die Küche, machte mir einen Espresso und beschloss, zur Arbeit zu gehen. Meine Auszeit hatte fast drei Wochen gedauert. Sie war offensichtlich notwendig gewesen, um etwas in mir in Gang zu bringen. Etwas hatte sich verändert. Ich bemerkte es, als mir auf der Autofahrt ins Büro zehn Minuten Erinnerung fehlten. Ich hatte – so schien es mir – meinen Körper verlassen, um einen Plan zu entwickeln.

Als ich das Geschäftszimmer betrat, begrüßten mich Anita und Friede freundlich wie immer. Doch Friede sagte auch gleich in der ihr eigenen offenen Art:

„Du hast dich im Aussehen verändert, ehrlich gesagt, nicht zu deinem Vorteil.“

„Ich weiß, ich arbeite aber daran. Wollte jemand was von mir in den letzten drei Wochen?“

„Die Herren vom Arbeitsamt haben dich vermisst. Frau Müller ruft ständig an, wann du wieder gesund seist, aber sonst war nix.“

Ich arbeitete damals bei einer Filiale einer bundesweit tätigen Bildungsfabrik, die viel zu groß und zu unbeweglich in der Durchführung ihrer Aktivitäten war. Dazu kam, dass die führenden Köpfe in dieser Organisation anscheinend nach dem Grad ihrer Inkompetenz ausgesucht wurden. Meine Position war zu diesem Zeitpunkt noch komfortabel, weil ich mich in meinem Arbeitsbereich relativ selbstständig bewegen konnte. Ich hatte zum örtlichen Arbeitsamt, das heißt zu den zuständigen Mitarbeitern für den Bereich Sprachkurse, enge und stabile Beziehungen aufgebaut, die uns über lange Zeit im Geschäft hielten.

Ich fühlte mich plötzlich sehr müde. Mit Paula Müller, einer schwarzhaarigen, dicklichen mit einem Studienrat als Ehemann und zwei zickigen Töchtern gesegneten Person, hatte ich einige Monate zuvor eine etwa sechs Wochen andauernde Affäre gehabt. In den Pausen ihres Sprachkurses gingen wir ein, zwei Mal die Woche in ihre Wohnung, wo sie sofort meinen Hosenschlitz öffnete und meinen Penis in den Mund nahm. Ich kam meist sehr schnell, weil sie eine Meisterin des Blowjobs war. Interessanterweise verbot sie mir, ihr den gleichen Dienst zu erweisen. Sie war vollkommen auf Schwänze fixiert. Als ich einmal bei ihr übernachtete, lutschte sie etwa zweieinhalb Stunden an mir herum. Es hatte abrupt geendet, als sie mich fragte, ob ich sie liebte. Ich sagte ihr, dass ich gerne mit ihr Sex hätte, aber auch nicht mehr. Sie vergoss ein paar Tränen, ich verließ ihre Wohnung, und nach ein paar Tagen war alles wieder so, als wäre nichts zwischen uns gewesen.

Ich setzte mich hinter meinen Schreibtisch und schaute mir die Anrufliste an. Die üblichen Verdächtigen vom Arbeitsamt hatten angerufen. Ich hatte groteske Fantasien, was wieder passiert sein konnte. Ich hatte schon so viele schräge Geschichten mit meinen Lehrkräften erlebt, dass ich glaubte, es gäbe nichts Neues mehr. Die Wirklichkeit überraschte mich jedoch immer wieder. Meine Aufgabe war es dann, zu vertuschen, zu glätten, Krisen- und Beschwichtigungsgspräche zu führen.

Einmal hatte die Leitung eine Szenefrau eingestellt, die wenig Talent zum Unterrichten hatte. Ihre Spezialität war, mit löchrigen Jeans zum Unterricht zu erscheinen, was einerseits auf ihre Teilnehmer - Aussiedler und Kontingentflüchtlinge vorwiegend - einen recht merkwürdigen Eindruck machte – wie sie mir im Vertrauen sagten. Andererseits erschien sie beim zuständigen Arbeitsberater im selben Outfit, was diesen unmittelbar nach dem Besuch zum Telefon greifen ließ, um unserem Filialleiter klar zu machen, dass er das nicht noch einmal sehen wollte. Der Filialleiter war wie immer sprachlos, wenn er mit vermeintlichen Autoritätspersonen zu tun hatte. Wie immer delegierte er die Bereinigung der Angelegenheit an mich, der ich angeblich dafür am nächsten an der Person dran wäre. Die Besitzerin der löchrigen Jeans war in keiner Weise problembewusst, wie ich am Telefon schnell herausfand. Ich zog mich daher auf die Anweisung zurück, dass wir es künftig nicht tolerieren würden, wenn sie in dieser Aufmachung das Arbeitsamt aufsuchen würde. Die Folge war, dass sie den Arbeitsberater anrief, sich zwar entschuldigte, aber gleichzeitig behauptete, dass sie sich nichts Besseres kaufen könne, solange ihr Arbeitgeber so schlecht zahle. Ein Anruf des Arbeitsberaters bei mir folgte sofort, ob wir denn tatsächlich unsere Leute so schlecht bezahlten und warum das so sei. Ich glaube, ich war ziemlich klar am Telefon, nahm unsere Mitarbeiterin zwar nicht in Schutz, wies aber noch einmal darauf hin, wie unverschämt die Preispolitik des Arbeitsamtes sei, was wiederum auf der anderen Seite des Telefons Unmut hervorrief. Wir kamen dann doch wieder irgendwie auf eine Ebene der Verständigung. Es war eher ein Ritual als ein Streit, es wiederholte sich in Abständen immer wieder.

Manches bekam der Arbeitsberater auch nicht mit. Dadurch blieb mir eine Menge Ärger erspart. Kurzzeitig beschäftigten wir eine schlanke, blonde Lehrerin, eine richtige Schönheit, die allerdings von entwaffnender Naivität war. Sie bestätigte alle Vorurteile, die ich gegen diesen Typ Frau mit mir herumtrug. Zuletzt leitete sie einen reinen Frauensprachkurs. Gelegentlich schaute ich einfach nur so vorbei, um etwas von der Stimmung mitzubekommen, oder brachte Materialien. Bei einem dieser Besuche – ich hatte eine Information des Arbeitsamtes weiterzugeben – grinsten und giggelten die Damen ständig, während ich redete. Ich beachtete es zunächst nicht, sprach meinen Text zu Ende, und fragte dann:

„Gibt es etwas, was Sie mir erzählen wollen?“

Sie drucksten zunächst herum. Eine Teilnehmerin sagte dann zaghaft „Schauen Sie doch einmal Frau Loschka an!“

Frau Loschka hatte die ganze Zeit auf dem Stuhl hinter dem Lehrerpult gesessen. Mir war nichts aufgefallen. Jetzt erst sah ich, dass sie außer einem langen Strickpullover nichts anzuhaben schien. Ich sah ewig lange, braungebrannte Beine, die im Pullover verschwanden. Sonst war da nichts. Meine Verblüffung bildete sich heftig auf meinem Gesicht ab, denn alle brachen in lautes Gelächter aus. Frau Loschka erklärte mit ihrer mädchenhaften Stimme, sie habe sich Kaffee über die Hose geschüttet und habe dieselbe zum Trocknen über die Heizung gehängt. Sie sagte es so, als sei es das Normalste von der Welt, schnell mal im Unterricht die Hose auszuziehen. Ich bat sie vor die Tür und erklärte ihr so ruhig, wie ich dazu in der Lage war, was denn wohl passiert wäre, wenn jemand vom Arbeitsamt vorbeigekommen wäre.

„Ach ja“, sagte sie, „daran habe ich gar nicht gedacht.“

Diese kleinen alltäglichen Kämpfe belasteten mich am meisten. Sie ließen mich diesen Job nach und nach hassen. Irgendwann würde ich so weit sein, alles hinzuwerfen und etwas ganz anderes anzufangen.

DIE VERÄNDERUNG

Ich war auf der Autobahn, als es passierte. In Gedanken war ich bei einer Wanderung in den Dolomiten. Ich fuhr an der Abfahrt Butzbach vorbei, ohne es zu merken. Ich hing dem Gefühl nach, auf dem höchsten Punkt des Chicolate-Passes zu stehen, den schmalen Weg, den ich heraufgekommen war, hinter mir zu haben, jetzt auf die andere Seite zu sehen. Ich konnte die Sonne spüren, wie sie auf meine Kopfhaut brannte, sah den stahlblauen Himmel, schmeckte die klare Luft, empfand auch diese Leichtigkeit, die sich in den Bergen einstellt. Offenbar steuert in solchen Augenblicken beim Autofahren ein lebenserhaltendes System des Unterbewusstseins die Vorgänge, so dass während dieser Zeit der mentalen Abwesenheit kein Unglück geschieht. Als dieser Wachtraumzustand zu Ende ging, wusste ich nicht, wo ich war.

Die äußere Wirklichkeit umhüllte mich. Ich musste an Gelatine denken. Es war, wie wenn ich in einer zähen, durchsichtigen Flüssigkeit steckte, die mich am Denken hinderte. Es ängstigte mich, dass ich diesen Zustand in letzter Zeit ein paar Mal erlebt hatte, in immer kürzeren Abständen. Dieses Mal musste ich bis zur Abfahrt Bad Homburg fahren. Ich verließ die Autobahn, fuhr aber nicht zurück. Ich wollte jetzt nicht ins Büro. Ich konnte sie jetzt nicht ertragen, diese Menschen, die mich so anödeten. Mir war fast schlecht bei dem Gedanken, jetzt mit jemandem sprechen zu müssen. Es war dasselbe Gefühl, das sich früher an der Uni vor manchen Seminaren eingestellt hatte.

Ich wollte mit mir allein sein, keine Ansprüche erfüllen müssen. Ich ließ Bad Homburg hinter mir und folgte der Straße in den Taunus. Es herrschte strahlender Sonnenschein. Als ich mich Usingen näherte, fiel mir Jennifer ein. Während meines Studiums entdeckte ich eines Tages plötzlich in einer Übung zum Thema essay writing, dass sich eine Frau für mich interessierte. Sie saß einfach neben mir. Wenn sie mit mir sprach, berührte sie meinen Arm, merkte sich sehr schnell meinen Vornamen. Sie war nicht sehr groß, sehr schlank, kleine Brüste. Manchmal schaute sie mich verträumt an. Etwas in ihrem Blick signalisierte eine unendliche Traurigkeit. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Dieser Blick ließ mich Distanz halten. Da war etwas Fremdes, Unheimliches.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich feststellte, dass auch ihre Schwester an der Übung teilnahm. Sie richtete mir eines Morgens aus, dass Jennifer heute nicht kommen könne. Ich war überrascht, weil mir klar wurde, dass sich beide mit mir beschäftigten. Wir kannten uns ja nur vom Sehen und von den paar Gesprächen, die wir während der Übung geführt hatten. Von da an beschäftigte auch sie mich. Ich war verwirrt. Eine schöne Frau, eine von denen, an die ich mich normalerweise nicht herantraute, zeigte unverhohlen Interesse an mir, das war ich nicht gewohnt. Ich wurde befangen. Vor der nächsten Sitzung fürchtete ich mich fast. Wie sollte ich das angehen? Ich war völlig ratlos. Gleichzeitig faszinierte mich die Situation. Ich hatte Fluchtgedanken. Letztlich entschied ich mich hinzugehen.

Es war anders. Wir begrüßten uns zaghaft. Ich hatte den starken Wunsch, sie zu küssen. Erst redeten wir nichts, folgten dem, was in der Übung abgehandelt wurde. Dann fragte sie plötzlich, ob ich Freitagnachmittag schon etwas vorhätte. Als ich verneinte, fragte sie, ob ich Lust hätte, mit ihr zu einer Literaturlesung in die evangelische Studentengemeinde zu gehen. Panik verleitete mich dazu, nun doch einen Termin vorzuschieben, den ich vergessen hätte. Sie sah sehr enttäuscht aus. Ich fühlte mich erleichtert. Ich war wieder einer Falle entkommen. Wir verabschiedeten uns recht kühl nach der Übung. Die Erleichterung wich einem Gefühl von verpasster Gelegenheit. Ein seltsamer Zwiespalt tat sich auf.

Zu Hause kam ich ins Grübeln. Ich sprach mit der Frau darüber, mit der ich zusammen wohnte, der späteren Mutter meiner Kinder. Sie schien desinteressiert. Je näher der Freitag kam, umso unruhiger wurde ich. Ich ging dann doch zu dieser Veranstaltung. Schon am Eingang sah ich sie mit einem anderen Mann. Sie sah mich, wir blickten uns kurz an, dann ging ich. Ich konnte ihr keinen Vorwurf machen, ich hatte meine Chance gehabt.

Wir verloren uns aus den Augen, das heißt sie war plötzlich nicht mehr da. Von einem Freund, der sie und ihre Schwester kannte, erfuhr ich, dass sie für ein Auslandssemester nach Schottland gegangen war. Es war schön mir einzureden, dass sie wegen mir gegangen war, weil sie mich nicht mehr treffen wollte.

Ein halbes Jahr später traf ich sie wieder. Es war in einer Vorlesung über Kleist. Ich setzte mich in eine dieser endlos langen, aufsteigenden Reihen in einem dieser schrecklichen Hörsäle. Als ich saß, entdeckte ich sie neben mir. Es war, als hätten wir uns immer schon gekannt, als hätte es dieses halbe Jahr Unterbrechung nicht gegeben. Wir trafen uns fast ein Semester lang, zweimal die Woche bei Kleist, sprachen über Literatur, Politik und alles Mögliche, nie über uns. Wir verließen meist noch zusammen das Philosophikum, sprachen gelegentlich noch auf dem Parkplatz miteinander, trennten uns dann. Es gab weder von mir noch von ihr einen Versuch, außerhalb der Uni etwas gemeinsam zu unternehmen. Die letzten paar Male fiel mir auf, dass sie beim Sprechen durch mich hindurch schaute. Es war, als sähe sie etwas irgendwo hinter mir, was sie anzog, was sie aber gleichzeitig bedrohte. Kurz vor Ende des Semesters erschien sie nicht mehr zu der Vorlesung. Da ich ihre Schwester auch nicht mehr traf, konnte ich nichts über sie herausfinden. Sehr viel später erzählte mir ein Freund, dass sie mit einem Mann, einem Rechtsanwalt, nach Fulda gezogen war und sich kurz darauf aus dem Leben verabschiedet hatte.

Ich fuhr durch Usingen, dann in Richtung Erdefunkstelle. Auf dem großen Parkplatz stieg ich aus, zündete mir eine Zigarette an und lief einfach los. Ich fühlte mich verlassen. Es nagte wieder in mir. Mir war klar, dass ich eine Entscheidung treffen musste, um aus diesem Zustand, der mich allmählich zugrunde richtete, herauszukommen. Mir war allerdings noch keineswegs klar, was und wie ich zu entscheiden hatte.

Ich versuchte eine Bestandsaufnahme: Ich hatte eine Frau, die mich nicht liebte; zwei Kinder, die anstrengend waren; so anstrengend, dass es manchmal über meine Kraft ging; einen Job, der mich anödete; einen Chef, der inkompetent, ignorant und launisch war; gelegentlich eine Affäre, die einen schalen Geschmack hinterließ. Insgesamt nicht viel, was das Leben lebenswert machte. Familie verlassen, Job hinschmeißen, das fühlte sich verlockend an. Ein Hauch von Freiheit streifte mich bei dem Gedanken.

Ich hatte mich am Waldrand auf eine Bank gesetzt. Eine ganze Weile saß ich dort mit übergeschlagenen Beinen und schwelgte in der Vorstellung, wie es wäre, wieder frei zu sein. Es blieb nicht aus, dass ich an Patrizia dachte. Und es tat nicht mehr weh.

Die Erfahrung mit Patrizia war ein Symptom gewesen. Sie hatte mir gezeigt, dass ich immer noch in der Lage war, mich bedingungslos an einen anderen Menschen zu binden. Sie hatte mir aber auch gezeigt, wie gefährlich es für mich war, weil ich leicht den Boden unter den Füßen verlor, wenn es nicht so lief, wie ich es mir ausgemalt hatte.

Immerhin musste ich ihr für diese Erfahrung dankbar sein. Ich hätte es ihr gerne persönlich gesagt. Einmal hatte ich einen Versuch per eMail gemacht. Ich war durch einen eigenartigen Zufall an ihre eMail-Adresse geraten. Sie hatte auf einer Auktionsseite ein Musikinstrument zum Verkauf angeboten. Ich schrieb unter einer Fake-Adresse, die ich für meinen Job benutzte, dass wir uns kennen würden, dass wir uns vor einiger Zeit sehr nahe gekommen seien, dass ich aber, weil ich nicht wüsste, wer ihre eMails läse, nicht unter meinem richtigen Namen schreiben wolle. Sie möge mir bitte antworten, weil ich ihr etwas Wichtiges zu sagen hätte. Sie hat mir nicht geantwortet. Ich legte es mir so zurecht, dass sie wohl die eMail-Adresse gewechselt hatte. Mein Wunschdenken war gar nicht so unwahrscheinlich, weil sie wenig später ihre Adresse wechselte, wie ich dem Telefonbuch entnahm. Ich machte danach keinen Versuch mehr, beobachtete aber weiter per Telefonbuch ihre Ortsveränderungen. Mittlerweile schien sie sich von ihrem Mann getrennt zu haben. Seine Telefonnummer tauchte irgendwann an einem anderen Ort auf. Ihre eigene war irgendwann nicht mehr zu finden.

Ich zündete mir noch eine Zigarette an. Mir wurde beim ersten Zug schwindelig. Ich machte die Zigarette aus und legte mich lang auf die Bank und schlief ein. Ich träumte wirr. Ein Mann mit einem langen Messer rannte in einer Einkaufsstraße hinter mir her. Ich versuchte ihm zu entkommen, sah mich aber ständig über die Schulter um. Sein Messer hatte sich in ein Samurai-Schwert verwandelt. Damit fuchtelte er in der Luft herum. Als er ganz dicht hinter mir war, wachte ich auf. Es war kühler geworden. Ich fröstelte und hatte Hunger. Ich ging zurück zu meinem Auto und fuhr nach Butzbach, wo ich im Zentrum ein Restaurant kannte. Es gab dort ein echtes Wiener Schnitzel vom Kalb. Weil ich in den Feierabendverkehr geraten war, dauerte es eine Ewigkeit, bis ich aus dem Taunus heraus war.

Als ich mein Auto in Butzbach parkte, war es fast dunkel geworden. Ich betrat das Lokal und fand es wie immer sehr heimelig. Ich war vor Jahren mal mit meinem schwierigen Freund Ralf hier gewesen. Der Schauspieler Alexander Kerst, den ich sehr mochte, hatte am Nebentisch gesessen. Es waren nicht viele Gäste da, ich fand einen kleinen freien Tisch an einem der Fenster, die, wie meine Mutter es immer nannte, Butzenscheiben hatten. Passt doch zu Butzbach dachte ich. Ich bestellte bei der Kellnerin das Wiener Schnitzel und einen halben Liter Bordeaux. Als sie den Wein brachte, schaute ich sie mir genauer an. Sie war blond, sah atemberaubend aus. Sie trug eine enge, weiße Bluse, die verriet, dass sie sehr große Brüste hatte. Sonst war sie schlank und bewegte ihre braungebrannten Beine in diesen birkenstockartigen Schuhen, wie viele Kellnerinnen sie tragen, elegant wie eine Gazelle. Ihr Lächeln war freundlich, nicht aufgesetzt.

Während ich auf das Schnitzel wartete, schaute ich mir die paar Menschen im Lokal an: Ein Paar in den Fünfzigern, sich anschweigend. Ein jüngeres Pärchen, sie mit einem gewagten Ausschnitt in einem krätzegrünen Pullover, er im dunklen Zwirn, entsetzliche Hornbrille, stocksteif. An einem großen Tisch in einer Ecke saßen, dem Dialekt nach, fünf Einheimische, Männer in mittleren Jahren, die schon einiges getrunken hatten. Ihre Gesichter waren gerötet, und meistens redeten mehrere gleichzeitig.

Ich hielt nach einer Zeitung Ausschau, konnte aber keine sehen, also richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Kellnerin. Sie hatte verschiedene Tische zu bedienen, warf aber immer einmal wieder einen Blick zu mir herüber. Zuerst dachte ich, es sei der berufsmäßige Blick, mit dem Kellnerinnen überprüfen, ob ein Gast etwas nachbestellen will. Doch sie lächelte zu auffällig, wenn sich unsere Augen trafen. Ich bekam schon wieder dieses mulmige Gefühl im Magen, das sich immer einstellte, wenn ich die Kontrolle in der Begegnung mit einer Frau zu verlieren drohte.

Das Wiener Schnitzel kam, sie stellte den Teller und den Salat mit einem animierenden Lassen Sie es sich schmecken! vor mich hin. Es war genau so, wie ich es gerne hatte, goldbraun, Bratkartoffeln dabei und Gurkensalat mit einfachem Weinessig angemacht.

Die nächste halbe Stunde vertiefte ich mich ganz in die Verarbeitung des Schnitzels. Ich hatte den halben Liter Bordeaux schnell getrunken und bestellte eine neue Karaffe. Ich verspürte schon Wirkung und machte mir Gedanken, wie ich nach Hause kommen sollte. Mit dem Auto konnte ich nicht mehr fahren. Als die Kellnerin das Geschirr abräumte, fragte ich sie, ob das Haus auch Zimmer vermietete. Ich meinte an der Hauswand „Hotel-Restaurant“ gelesen zu haben.

„Ich werde mal nachfragen, ob wir noch etwas frei haben“, sagte sie und kam kurze Zeit später mit einer positiven Antwort zurück. „Ja, wir hätten noch ein Zimmer allerdings nur mit fließendem Wasser und zur Straße hin. Wollen Sie das nehmen?“

Ich nickte, weil ich wirklich nicht mehr fahrtüchtig war, und bestellte mir eine Zigarre, Dominikanische Republik, und einen Grappa. Eine wohlige Wärme breitete sich in mir aus. Ich spürte die Hitze in meine Wangen steigen, meine Ohren waren wohl auch schon gerötet. Der Grappa tat noch ein Übriges. Ich trank ihn in ganz kleinen Schlucken. Er erwärmte meine Speiseröhre wie heißer Tee. Der Rauch der Zigarre stand über meinem Tisch, meine Sinne waren ein wenig benebelt. Ich rief die Kellnerin noch einmal an meinen Tisch, fragte sie nach den Frühstückszeiten und ob sie das Essen auf die Zimmerrechnung schreiben könne. Ich rauchte die Zigarre nur halb fertig. Es war schade darum, denn sie hatte ein ausgezeichnetes Aroma. Aber ich fürchtete, dass mir übel würde.

Am Tresen bekam ich den Schlüssel von ihr.

„Zimmer 23, zweite Etage“, sagte sie, wieder mit einem netten Lächeln. „Gute Nacht, schlafen Sie gut!“

„Danke, bis morgen.“

Ich sagte nur so wenig, weil ich fürchtete, dass ich meine Sprache wegen des vielen Alkohols nicht mehr unter Kontrolle hatte. Ich stieg die Treppe hinauf, musste mich am Geländer festhalten. Oben wollte ich den Lichtschalter suchen. Das Licht ging jedoch von selbst an. Aha, Bewegungsmelder dachte ich. Die Zimmer mit den ungeraden Nummern waren auf der linken Flurseite. Allerdings war das erste Zimmer die Nummer 29. Der Flur war sehr niedrig, das Haus war ein altes Fachwerkhaus, der Boden an einigen Stellen uneben. Ich schwankte, und auf der Höhe von Zimmer 27 stolperte ich über den Läufer, der über einer Bodenerhöhung lag und schlug der Länge nach hin. Es rummste gewaltig. Ich blieb erst einmal liegen um abzuwarten, ob jemand kommen würde. Als es still blieb und als keine zu Tode erschrockene, schreiende alte Dame aus einem der Zimmer gestürzt kam, richtete ich mich vorsichtig auf. Alles schien in Ordnung zu sein, die Knie vielleicht ein wenig aufgeschürft, es brannte leicht. Natürlich hatte ich den Schlüssel bei dem Sturz verloren. Also wieder auf die Knie und mit den Händen den Teppich absuchen, denn das Licht war nicht allzu stark und beleuchtete nicht jede Ecke des Flurs. Er lag da, wo ich ihn vermutet hatte, zwischen Teppich und Fußleiste.

Mein Magen revoltierte inzwischen heftig. Ich raffte mich auf, schloss das Zimmer auf, gleich links war ein Waschbecken. Ich übergab mich ausgiebig. Wenigstens hatte ich genug gegessen. Es gibt nichts Schlimmeres als Kotzen, wenn man nichts gegessen hat dachte ich. Als es vorbei war, wusch ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Ich tastete nach einem Handtuch neben dem Waschbecken, trocknete mir Gesicht und Hände und suchte dann nach einem Lichtschalter im Zimmer. Über dem Waschbecken ertastete ich einen Allibert und fand auch den Schalter. Zuerst tat mir das Licht in den Augen weh. Mein Spiegelbild gefiel mir überhaupt nicht. Die Haare hingen mir wirr ins Gesicht, die Wangen waren stark gerötet, die Augen schauten mich entsetzlich müde an. Ich wendete mich ab und schaute mir das Zimmer an: ein großes französisches Bett, ein kleiner Schreibtisch, zwei Sessel, ein Fernseher, ein Kleiderschrank. Alles nicht mehr ganz neu, aber nicht schäbig. Ich suchte die Minibar. Es gab keine. Dafür stand auf dem kleinen Nachttisch ein Kühler mit einer Flasche echtem Champagner. Es war zwar nicht das, was ich jetzt brauchte, aber besser als nichts. Ich öffnete die Flasche vorsichtig, so dass der Korken nicht knallte, weil es mittlerweile nach Mitternacht sein musste. Um den üblen Geschmack aus meinem Mund wegzubekommen, nahm ich einen großen Schluck aus der Flasche.

Er schmeckte besser als erwartet. Ich setzte mich auf das Bett und goss mir eines der beiden auf dem Nachttisch stehenden Gläser voll. Ich stellte das volle Glas ab, zog meine Schuhe aus und legte mich in den Kleidern auf den Rücken. Die Lampe über dem Waschbecken gab ein angenehm gedämpftes Licht. Ich starrte zur Decke, von der mich eine Art siebenarmiger Lüster anstarrte. Fünfziger Jahre schätzte ich.

Ich erinnerte mich an ein Schlafzimmer, in dem ich mit meiner Großmutter bei ihrer Taufpatin im tiefsten Bayern immer übernachtete, wenn wir dort zu Besuch waren. Wir waren jeden Sommer da, eine oder zwei Wochen. Das erste Mal 1952, nachdem ich meine Scharlacherkrankung überstanden hatte. Das letzte Mal muss 1962 gewesen sein. Die Patin war schon gestorben, ihre androgyne Tochter, die mein Großvater Eiserner Gustav nannte, weil sie ein Pferdefuhrgeschäft betrieb und rauchte und trank wie ein Mann, verlor langsam den Boden unter den Füßen.

Meine Großmutter hatte immer dafür gesorgt, dass unter dem Bett ein Nachttopf aus Porzellan stand. Der Weg zum Klo, das eigentlich nur ein Brett mit einem Deckel über einer Röhre war, war weit und dunkel. Dieses Schlafzimmer hatte allerdings außer der Tür, die vom Flur Zugang verschaffte, eine weitere Tür, die direkt in das Schlafzimmer einer Nachbarfamilie führte, in das der Familie Neser, die zur Miete im Haus wohnte. Manche Namen vergesse ich nicht, besonders wenn sie zu interessanten Menschen gehören. Frau Neser hatte eine spitze Nase und erinnerte mich an die Windliese aus Peterchens Mondfahrt. Diese Tür war natürlich immer verschlossen und mit allerlei Kisten und Kartons verstellt. Meine Großmutter hatte die menschenfreundliche Idee, den Nachttopf dick mit Papier auszulegen, um den Schlaf von Herrn und Frau Neser nicht durch unser geräuschvolles nächtliches Wasserlassen zu stören. In Wirklichkeit genierte sie sich bei dem Gedanken, dass jemand sie dabei hören könnte.

Ich konnte es mir nicht verkneifen, unter meinem Bett nachzuschauen, ob sich nicht vielleicht ein Nachttopf darunter befände. Es war natürlich keiner da. Da ich nun schon mal aufgestanden war - oder eher - neben dem Bett kniete, beschloss ich nun doch, mich meiner Kleider zu entledigen. Ich hängte meine Lederjacke in den Schrank. Sie hatte nichts abbekommen am Waschbecken. Die Hose hängte ich über den Sessel. Und dann klopfte es.

Ich hasse es, genau in diesem Aufzug auf Klingeln oder Türklopfen reagieren zu müssen. Ein Mann in Hemd mit Krawatte, Unterhosen und schwarzen Socken bietet einen bemitleidenswerten Anblick. Darüber hinaus war ich in einer Stimmung, die nicht auf Besuch eingestellt war. Also sagte ich laut „Einen Moment bitte!“ und sprang schnell wieder in meine Hose. Dann ging ich an die Tür und machte sie einen Spalt weit auf.

Die Kellnerin stand draußen.

„Ich wollte Ihnen noch einen Bademantel und einen Schlafanzug vom Haus bringen. Sie haben ja kein Gepäck dabei. Darf ich hineinkommen?“

Ich war völlig überrumpelt.

„Ja, ja … natürlich“, stammelte ich. Ich ließ sie herein.

„Sie haben’s aber dunkel.“

Sie hängte den Bademantel auf einen Kleiderbügel im Schrank. Den Schlafanzug legte sie aufs Bett.

„Der Champagner geht übrigens auch aufs Haus. Unsere Chefin hatte gestern Geburtstag.“

„Ähm, so was hab’ ich mir gedacht. Arbeiten Sie eigentlich immer so lange?“

„Nein, nur heute, weil noch ein paar neue Gäste gekommen sind.“

Sie hatte sich auf das Bett gesetzt. Dabei hatte ihr schwarzer Wickelrock ihre Knie und einen Teil ihrer Oberschenkel freigegeben. Sie bemerkte meinen Blick, machte aber keine Anstalten, ihren Rock zu ordnen. Sie strich sich mit der Zunge über die Oberlippe und betrachtete mich. Ich wurde verlegen und fragte sie, ob sie auch ein Glas Champagner wolle.

„Gerne“, sagte sie und schenkte mir ein weiteres Lächeln. Sie strich sich ihre mittellangen blonden, etwas wuscheligen Haare mit der linken Hand zurecht und lehnte sich zurück, um mich beim Einschenken zu beobachten. Meine Hand zitterte, als ich die Gläser füllte.

„Sie sehen müde aus“, sagte sie.

„Ich hatte einen ziemlichen langen und anstrengenden Tag“, antwortete ich.

„Haben Sie Ärger bei der Arbeit gehabt?“

„Ich habe immer Ärger bei der Arbeit, aber das ist es nicht. Ich muss über vieles nachdenken.“

„Beziehungsprobleme?“

„Ja, auch das, und Probleme mit mir selber.“

„So etwas habe ich mir gedacht, als ich Sie heute Abend so allein am Tisch gesehen habe. Sie haben auch viel und sehr schnell getrunken. Und Sie haben auch niemanden angerufen, als Sie sich entschlossen hatten, hier zu übernachten.“

„Sie beobachten Ihre Gäste sehr genau“, sagte ich ein wenig irritiert.

„Nicht alle, nur wenn sie mich interessieren. Die meisten sind mir völlig gleichgültig.“

„Und ich interessiere Sie? Wollen Sie mit mir schlafen?“

„Das wäre nicht die schlechteste Variante“, grinste sie, „aber so weit sind wir noch nicht.“

Sie nahm eines der Gläser und prostete mir zu. „Ich heiße übrigens Gesine.“

„Peter“, sagte ich und nahm einen tiefen Schluck. „Wir lassen das Brüderschaft-Trinken weg, mir ist heute nicht danach“, setzte ich hinzu und leerte mein Glas. „Sie haben mich in einem denkbar schlechten Augenblick erwischt, ich habe gegenwärtig wenig mit Frauen am Hut.“

„So etwas habe ich mir auch gedacht, aber ich glaube nicht, dass Sie schwul sind.“

Wir mussten beide lachen. Ich schenkte den Rest der Flasche aus, und wir stießen an.

Ich spürte schon wieder den Alkohol, jetzt aber eher angenehm. Ich bot ihr eine Zigarette an. Als ich ihr Feuer gab, hielt sie einen Moment meine Hand. Wir rauchten eine Weile schweigend. Ich fühlte mich erschöpft und wollte sie loswerden. Allerdings hatte ich keine Idee, wie ich das schaffen sollte, ohne sie vor den Kopf zu stoßen. Und das wollte ich auf keinen Fall. Sie war mir sehr sympathisch. Ich fand sie auch sexuell attraktiv.

Ich rauchte schneller als sie, warf meine Kippe in die leere Champagnerflasche und trat an das kleine Fenster. Es war sehr dunkel in Butzbach, soweit ich das sehen konnte. Es hatte angefangen zu regnen. Der Straßenbelag glitzerte nass, wo sich der Laternenschein spiegelte.

„Ich werde jetzt auch ins Bett gehen“, hörte ich sie hinter mir sagen. Und: „Sie sollten auch schlafen. Wenn Sie Zeit und Lust haben, können wir morgen noch einmal sprechen. Ich habe morgen frei.“

Ich drehte mich um und sagte abwesend: „Wie? Ja, bitte gern, und vielen Dank noch für den Schlafanzug.“

„Tschüs“, lächelte sie und ging.

Ich legte mich wie ich war aufs Bett, konnte noch die Krawatte öffnen und schlief sofort wie ein Stein.

ich bin im zug nach istanbul das schlafwagenabteil sieht aus wie die unterkunft in einer kaserne mir gegenüber liegt eine schwarzhaarige frau im unteren bett stehe noch einmal auf stoße ihr glas mit gelblicher flüssigkeit um sie sagt das ist schlimm ist das arznei nein ich gehe zum klo um lappen zu holen als ich das klo verlasse gehe ich in die falsche richtung sehe ende des zuges will wieder in andere richtung da sind nur noch ein oder zwei wagen steige aus sehe auf dem gegenüberliegenden gleis einen zug abfahren von hinter mir kommt plötzlich mein schulfreund eppstein gerannt will noch auf den zug aufspringen versuche es auch schaffen es beide nicht sind im hauptbahnhof münchen verlassen das bahnhofsgebäude kommen auf eine wiese an deren ende ein prächtiges gelbes schloss suchen die auskunft müssen zurück ins gebäude im warteraum finden wir einen würstchenverkäufer der gleichzeitig die fragen der reisenden beantwortet gibt keinen zug mehr nach salzburg erst morgen wieder sagt er stelle fest dass ich meinen geldbeutel dabei habe kaufe uns zwei große riegel streuselkuchen im aussehen ähnlich einer zwei-mann-blattsäge laufen los sprechen darüber ob wir in münchen jemand kennen mir fällt heide maroni ein traue mich nicht sie anzurufen eppstein verwandelt sich in schulfreund güstrow der hat sagt er eine amerikanische freundin die nell heißt versuchen in der nächsten telefonzelle ihre nummer über die auskunft zu bekommen hörer links oben am kabel ist zerbrochen müssen 25 pfennige einwerfen ich nehme ab gespräch ist da kann nichts hören weil der hörer kaputt ist nächster aufenthalt bei einem kleinen unbewohnten haus sieht aus wie gastwirtschaft wollen etwas kaufen aber niemand da auch kein telefon sind plötzlich zu dritt klaus aus einem fortbildungskurs zeigt mir bilder von leuten die ich aus verschiedenen kursen kenne macht mich auf eine frau mit einem doppelnamen aufmerksam die ich nicht ausstehen kann die er sehr mag wir trampen nach salzburg packen uns einige lebensmittel und getränke ein einer schaut in einem wandregal nach zigaretten für mich nichts dabei gibt nur r8 und r16 sind whiskey-zigaretten verlassen das haus begegnen einer alten frau weiß schon von ihren problemen kann aber nichts für sie tun wir müssen die chefin fragen sie führt uns zu einem haus wir sehen durch ein fenster in eine küche sehen wie eine nackte dicke frau in riesigen ölbehältern pfannkuchen schnitzel und fische brät ich sage das ist doch gefährlich wenn da jemand hineinfällt wir wollten nicht stehlen es war niemand da sage ich übernachten in einem zelt am isarufer wohngebiet in der nähe dunkelheit und scheinwerfer am himmel luftangriff von einmotorigen maschinen drehen loopings am himmel werfen kleine schwarze kugeln ab explodieren sobald sie den boden berühren habe das gefühl treffen absichtlich keine menschen um das zelt läuft ein mann mit einer grünen gärtnerschürze sammelt kugeln ein wir schauen durch einen schlitz in der zeltwand er tut so als werfe er eine der kugeln durch den schlitz ins zelt dann lacht er freundlich und sagt er dürfe das nicht über uns tiefblauer himmel

Ich fand mich nach dem Aufwachen nur langsam zurecht, erinnerte mich an die Lampe an der Decke, schmeckte den schlechten Geschmack in meinem Mund und hatte ein schlechtes Gewissen. Ich hatte mich bei niemandem gemeldet, hatte mein Büro nicht benachrichtigt. Und dann fühlte ich eine diebische Freude. Ich hatte mich verpisst. Einfach abgetaucht war ich. Mir fiel Gesine ein, wunderte mich nun doch, dass sie so spät noch auf mein Zimmer gekommen war. Was hatte sie noch gesagt, bevor sie ging? Sie habe heute frei, und wenn ich wollte, könnten wir sprechen. Klang mir jetzt alles erst einmal zu kompliziert. Ich hatte Durst und Lust auf einen doppelten Espresso und Rühreier mit Schinken.

Aber zuallererst brauchte ich eine Dusche. Ich erhob mich so dynamisch es mir möglich war und sah das Waschbecken. Gab ja keine Dusche. Ich hängte meinen Kopf unter den Wasserhahn und ließ mir kaltes Wasser darüber laufen. Das machte mich vollends wach. Zahnbürste hatte ich natürlich auch keine. Warum hatte sie mir wohl gestern Nacht noch den Bademantel gebracht. War das der Vorwand? Was wollte sie überhaupt von mir? Das alles verwirrte mich.

Ich untersuchte meine Kleider. Ich hatte es in der Nacht nicht mehr geschafft, den Schlafanzug anzuziehen, hatte dummerweise in Hemd und Hose geschlafen, die nun beide recht zerknittert waren. Wenigstens hatte ich mich beim Kotzen nicht besudelt. Die Lederjacke hing im Schrank und sah ganz passabel aus. Meine Schuhe musste ich etwas länger suchen. Sie waren in der Nacht irgendwie unter das Bett geraten. Sonst hatte ich nichts mitgebracht.

Ich fuhr mir vor dem Spiegel mit den Händen über die nassen Haare, bis die Frisur einigermaßen saß. Ich hatte bisher noch nicht nach der Zeit gesehen. Meine Uhr zeigte kurz nach acht. Also bestand die Hoffnung, dass ich schon ein Frühstück bekommen würde. Ich schaute mich noch einmal in dem Zimmer um, das mir bei Tageslicht nun doch einigermaßen schäbig vorkam. Ich trat auf den Flur und hörte den Staubsauger im Nachbarzimmer. Offensichtlich waren die Fleißigen des Tages bereits am Werk. Ich sah auch die Bodenwelle, über die ich in der Nacht gestolpert war, machte einen großen Schritt darüber und ging die enge Treppe hinunter. Im Erdgeschoss trat ich ins Gastzimmer, hinter dem Tresen stand ein mir unbekanntes junges Mädchen und spülte Gläser.

„Möchten Sie frühstücken?“ fragte sie mich mit einem Lächeln.

„Ja, gerne, kann ich mir den Tisch aussuchen?“

„Wir haben im Nebenzimmer für Sie gedeckt.“

Ich betrat das Nebenzimmer durch die breite geöffnete Schiebetür. Ein kleiner Tisch in einer gemütlichen Fensternische war offensichtlich für mich vorbereitet. Ich schien doch der einzige Übernachtungsgast gewesen zu sein. Hatte Gesine geschwindelt, als sie sagte, späte Gäste seien noch gekommen?

Ich setzte mich, ein Exemplar der Wetterauer Zeitung lag neben dem Gedeck. Das junge Mädchen war gekommen und fragte, ob ich Tee, Kaffee oder Kakao wolle. Ich bestellte einen doppelten Espresso und ein Mineralwasser. Frische Brötchen standen bereit. Als sie mir den Kaffee brachte, bestellte ich Rühreier mit Schinken. Meine Lebensgeister kamen langsam zurück.

Als ich meine Eier fertig gegessen hatte, fragte ich, ob denn die Bedienung, die Gesine hieße, heute Morgen auch Dienst habe. Das junge Mädchen schaute mich erstaunt an.

„Soweit ich weiß, gibt es bei uns keine Mitarbeiterin, die Gesine heißt. Ich will die Chefin noch mal fragen, ob wir vielleicht eine Aushilfe haben.“

Sie verschwand in der Tür hinter dem Tresen, die wohl in die Küche führte. Ich fragte mich, während ich meinen Kaffee austrank, ob ich das alles geträumt hatte. Statt der jungen Bedienung kam eine Frau, etwa Ende vierzig, an meinen Tisch. Die Ähnlichkeit mit Gesine war verblüffend.

„Tut mir leid, unsere Auszubildende kennt meine Tochter noch nicht. Gesine hat mich gebeten, Ihnen diesen Brief zu übergeben.“

Sie legte einen hellblauen Umschlag neben meinen Teller.

„Haben Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit vorgefunden?“

„Oh ja, danke, könnte ich dann bitte die Rechnung haben?“

„Das ist schon erledigt“, sagte sie. „Nehmen Sie es als Geschenk für einen netten Menschen.“

Ich war so überrascht, dass ich zunächst kein Wort herausbrachte. „Danke“, stammelte ich, „das ist sehr großzügig von Ihnen. Aber wie komme ich dazu?“

„Meine Tochter findet Sie sehr sympathisch, und sie möchte, dass Sie sie in guter Erinnerung behalten.“

„Werde ich sie heute noch sehen können?“ fragte ich.

„Es steht alles in dem Brief, nehme ich an. Möchten Sie noch einen Espresso?“ fügte sie nahtlos hinzu.

Ich nahm noch einen Kaffee. Dann, als die Mutter sich entfernt hatte, schaute ich mir den Brief an. Auf dem Umschlag war nichts geschrieben, auch nicht auf der Rückseite. Er war nicht zugeklebt und enthielt ein dreifach gefaltetes Blatt im selben Hellblau. Die Worte waren mit grüner Tinte geschrieben.

Hallo Nachtgefährte,

leider kann ich unsere Verabredung heute nicht einhalten. Ich habe gespürt, dass du nicht bereit für mich bist. Dein Herz ist schwer, und es gibt vieles, was du bereinigen musst. Ich wäre dir jetzt nur im Wege. Ordne, was du ordnen musst. Pass’ auf, dass du dabei nicht Schaden nimmst. Du bist gefährdet. Wenn du nicht auf dich achtest, wirst du leicht ein Opfer.

Deine tiefe Traurigkeit hat mich gerührt. Es hat mir gefallen, dass du nicht auf ein schnelles Abenteuer aus warst. Ich wünsche mir, dass du wiederkommst, wenn du bereit für mich bist.

Gesine

Ich war erschrocken. Wie konnte eine Frau, die mich gerade mal ein paar Stunden kannte, mir einen solchen Brief schreiben? Ich war wütend über die Intimität ihrer Worte und erstaunt zugleich, wie sie mich in ihrer Einschätzung so genau treffen konnte.

Ich war auch enttäuscht, weil ich sie an diesem Tag nicht wieder sehen würde. Doch sie hatte Recht. Es gab so viele Dinge, die ich regeln musste.

Als ich meinen Kaffee beendet hatte, verabschiedete ich mich von ihrer Mutter, die die ganze Zeit hinter dem Tresen gestanden und mich beobachtet hatte. Ich bedankte mich noch einmal und bat sie, ihre Tochter zu grüßen.

Sie sagte noch: „Wir freuen uns, wenn Sie wiederkommen!“

Die Auszubildende öffnete mir die Tür. Ich trat auf den nassen Butzbacher Bürgersteig hinaus.

*

Es war ein ungemütlicher Mittwochmorgen. Ich entschloss mich noch ein paar Sachen aus meinem ehemaligen Haus zu holen. Es war noch nicht einmal zehn Uhr, also konnte ich sicher sein, dass weder meine Frau noch meine Kinder im Haus waren.

Als ich mein Auto abstellte, war niemand von den Nachbarn zu sehen. Ich war froh darüber. Ich schloss die Haustür auf und ging gleich ins Obergeschoss, um auf dem Dachboden meinen alten braunschwarzen Reisekoffer zu holen, den ich von meiner Großmutter geerbt hatte. Es war ein Modell aus den fünfziger Jahren, mit einem kaputten Schloss aber mit zwei Lederriemen zum Verschließen. Ich musste zuerst die Bücher ausräumen, die noch vom letzten Umzug darin verblieben waren. Dabei entdeckte ich ein altes Exemplar des Zauberbergs, das ich lange gesucht hatte. Ich ließ es im Koffer, stieg die steile Stiege hinunter und packte im Schlafzimmer wahllos einige Kleidungsstücke zusammen.

Unten an der Haustür klapperte etwas. Ich befürchtete schon, dass meine Frau früher aus der Schule zurückkommen würde. Aber es schien nur der Briefträger zu sein, der den Deckel des Briefkastens fallen ließ. Ich wollte jetzt nichts erklären. Hastig raffte ich noch einiges zusammen und verschloss den Koffer. Ich schaute mich noch einmal im Schlafzimmer um. Dann trug ich den Koffer ins Erdgeschoss, stellte ihn im Flur ab und überlegte einen Augenblick, ob ich eine Nachricht hinterlassen sollte. Ich entschied mich dagegen.

Ich verstaute den Koffer im Auto. Gegenüber stand Brunhilde, eine ältere Nachbarin, im Garten und hängte Wäsche auf.

„Na, verreist du?“ fragte sie.

„Ja, ich muss dienstlich weg“, log ich. „Tschüs“, sagte ich noch.

Ich setzte mich ins Auto und fuhr weg. Ich spürte eine grenzenlose Erleichterung. Endlich hatte ich die Schwelle überschritten, die ich so lange vor mir gesehen hatte. Ich schaltete das Autoradio ein, um den Verkehrsfunk zu hören. Es lief gerade Free Electric Band von Albert Hammond. Es passte - irgendwie.

In Herborn fuhr ich auf die A 45 Richtung Norden. Der Tag klarte auf, die Sonne zeigte sich, die Fahrbahn trocknete langsam ab. Genau wusste ich nicht, wie ich nach Gumpingen, Patrizias Wohnort, kommen würde. Ich wollte erst einmal Richtung Münster fahren. Das Weitere würde sich finden.

Mir fiel ein, dass ich vergessen hatte, mich krank zu melden. An der nächsten Raststätte, rief ich im Büro an. Friede war am Telefon. Ich log irgendetwas von Erkältung. Friede wünschte mir noch gute Besserung. Im Lokal bestellte ich mir eine Gulaschsuppe mit Pommes und eine Cola, kaufte mir die BILD und verzog mich in eine Ecke. Es war ein Ritual, das ich viele Jahre praktiziert hatte. Ich schüttete einen Teil der Pommes in die Suppe, wartete, bis sie durchtränkt waren, und aß sie dann mit dem Löffel. Dazu die Sportseite der Zeitung – und nur die Sportseite. Das war eine coole Sache.

Nach dem Essen fiel mir ein, dass ich nur die Schuhe dabei hatte, die ich an den Füßen trug. Ich würde mir welche kaufen müssen. Ich schlenderte zurück zum Auto. Bevor ich einstieg, zündete ich mir eine Zigarette an, lehnte mich gegen die Kühlerhaube und betrachtete das Treiben auf dem Parkplatz. Irgendwo musste am Abend ein Fußballspiel sein, es waren eine ganze Menge Autos mit Schals und Fahnen von Fußballclubs unterwegs. Sie hatten hier Rast gemacht und die meisten kamen mit Bierdosen zu ihren Fahrzeugen zurück. Sie grölten bereits ihre Schlachtgesänge und einige würden wohl am Abend nicht mehr viel von dem Spiel mitbekommen. Ich drückte meine Kippe aus und warf sie in einen Müllbehälter.

Die Sonne war hinter dunklen Regenwolken verschwunden. Regen hatte eingesetzt. Ich musste mir langsam Gedanken machen, wo ich an diesem Abend übernachten würde, mittlerweile war es später Nachmittag geworden. Ich nahm mir vor, die Autobahn bei der nächsten Abfahrt zu verlassen, tat es dann doch nicht. Das ging eine ganze Zeit so. Dann beschloss ich, so lange zu fahren, wie ich konnte, und irgendwo am Straßenrand zu schlafen.

Es war dunkel geworden, ich wusste nicht mehr genau, wo ich war. Also nahm ich die nächste Abfahrt, fuhr einfach drauflos und kam in ein kleines Straßendorf, wo eine Kneipe war. Ich fuhr erst daran vorbei, bremste dann aber, fuhr rückwärts und parkte genau vor der Tür. Ich überlegte noch, ob ich das Standlicht anlassen sollte, weil die Durchgangsstraße nicht sehr gut beleuchtet war, ließ es dann aber. Ich betrat den Gastraum, das übliche Gelsenkirchener Barock, ein kleiner hufeisenförmiger Tresen, ein paar Tische und wenige Gäste, die sich gedämpft unterhielten. Oder es kam mir so vor, weil ich das Brummen von Motoren im Ohr hatte. Hinter dem Tresen stand eine dralle Blondine, Ende fünfzig, und wünschte mir einen guten Abend.

„Kann ich noch etwas zu essen bekommen?“ fragte ich.

„Aber sicher, für Reisende tun wir doch alles“, sagte sie mit ziemlich verrauchter Stimme.

Die Uhr mit dem schmiedeeisernen Zifferblatt an der Wand hinter dem Tresen zeigte immerhin schon halb zwölf.

„Wie wär’s mit einem Schnitzel mit Brot?“ fragte sie.

„Gute Idee, vermieten Sie auch Zimmer?“

„Auch das.“

„Na gut, dann hätte ich gerne ein großes Pils und das Schnitzel.“

„Pils dauert einen Moment.“

Sie zapfte es an und verschwand in der Küche, wo ich sie hantieren und klappern hörte. Ich wollte eine Zigarette anzünden, aber mein Zippo war leer. Ich sah mich um. An einem runden Tisch in einer Nische neben dem Tresen saßen drei Männer in mittleren Jahren, alle in Anzug mit Krawatte. Da sie rauchten, ging ich hinüber und bat um Feuer.

„Auf der Durchreise?“ fragte einer.

„Ja, nach Münster“, antwortete ich.

„Da haben Sie’s ja nicht mehr weit morgen, möchten Sie sich nicht zu uns setzen?“

Ich nahm die Einladung an, holte meine Zigaretten vom Tresen und setzte mich auf einen freien Stuhl. Ich stellte mich vor, was sie der Reihe nach auch taten. Ich kam mir vor wie im Film. Es waren tatsächlich der Lehrer, der Doktor und der Apotheker, fehlte eigentlich nur der Pfarrer. Sie erzählten, dass sie hier nach der Gemeinderatssitzung noch hängen geblieben seien. Sie wollten natürlich wissen, was ich denn beruflich machte. Vage erzählte ich etwas von einer Tätigkeit im Bereich der beruflichen Qualifikation und erfand eine Fortbildungsveranstaltung in der Nähe von Münster, an der ich teilnehmen wollte. Inzwischen hatte die Wirtin ein großes Pils vor mich hingestellt.

„Schnitzel kommt gleich.“

„Gehören Sie denn alle der gleichen Partei an?“ wollte ich wissen.

„Nein, nein“, sagte der Apotheker, „wir gehören alle verschiedenen Parteien an, das heißt ich bin in einer freien Wählergruppe. Wir sind aber alte Schulfreunde und treffen uns sozusagen überparteilich.“

Sie lachten alle drei, als er das sagte, und ich lachte mit, weil es so ehrlich klang. Gar nicht wie ich es von diesen unsäglichen Kommunalpolitikern kannte, die mir bei meiner Arbeit immer wieder begegnet waren.

Sie wünschten mir einen guten Appetit, als das Schnitzel kam, und der Lehrer bestellte noch eine Runde Pils. Ich merkte erst jetzt, wie hungrig ich war. Das Schnitzel schmeckte. Das Bauernbrot war frisch trotz der vorgerückten Stunde.

„Trinken Sie einen Grappa mit mir?“ fragte ich, als ich fertig war.

„Natürlich“, kam es einstimmig zurück.

Da wir inzwischen die letzten Gäste waren, lud ich die Wirtin auch ein. Sie brachte fünf Gläser und die Grappaflasche. Als sie die Gläser auffüllte, lächelte sie mir zu, und dieses Lächeln war hart an der Grenze zur Anmache. Ich lächelte zurück und wir stießen alle an. Schon wieder war ich nicht mehr ganz nüchtern. Worüber wir redeten weiß ich nicht mehr. Wir erzählten Witze, die immer frivoler wurden. Bei allen wurde langsam die Zunge schwer.

Die Wirtin, die Sieglinde hieß, sagte irgendwann: „So jetzt ist Feierabend! Ich muss Ihnen noch Ihr Zimmer zeigen.“

Die anderen drei verabschiedeten sich, wir umarmten uns alle. Ich trank mein letztes Bier aus, holte meinen Koffer aus dem Auto und sie schloss die Tür ab.

Sie schaltete die meisten Lampen aus, kam dann an den Tisch, an dem ich wieder Platz genommen hatte, setzte sich neben mich und küsste mich unvermittelt. Das heißt sie steckte mir ihre Zunge in den Hals und begann, meinen Schritt abzugreifen. Obwohl ich ziemlich betrunken war, reagierte ich sofort. Wir umklammerten uns und begaben uns auf den Boden, wo sie meine Hose öffnete und meinen Penis heraus holte. Sie knetete ihn so heftig, dass ich vor Schmerz aufschrie.

„Warte“, sagte sie und riss sich die Kleider vom Leib. Sie hatte große, schwere Brüste mit großen Warzenhöfen, ein gewaltiges Gesäß und dichte dunkelblonde Schamhaare. Ich vergrub meine Zunge in ihrer Vagina. Sie schmeckte herb, ein wenig ungewaschen und sie war sehr nass. Sie machte sich frei und setzte sich auf mich. Mein Penis verlor sich in ihrer Höhle. Sie versuchte, auf mir zu reiten, aber mein Penis wurde schlaff. Sie stieg ab und versuchte ihn mit dem Mund zu stimulieren. Ohne Erfolg.

Sie küsste mich auf den Mund und sagte: „Wir gehen jetzt wohl besser schlafen.“

Ich erhob mich, sie ging nackt vor mir her, die Treppe hoch, zeigte mir mein Zimmer, drückte noch einmal meinen Penis, der immer noch schlaff aus meinem Hosenschlitz hing, und sagte: „Frühstück zwischen sieben und neun!“

Ich war der einzige Übernachtungsgast. Am nächsten Morgen setzte sich Sieglinde zu mir und wir frühstückten gemeinsam im Gastzimmer.

„Du hast mich ziemlich überrumpelt gestern“, sagte ich. „Tut mir leid, dass es nicht so gelaufen ist, wie du es dir vorgestellt hast.“

„Dich beschäftigt eine Frau“, sagte sie. „Es muss dich heftig erwischt haben.“

Sie war nicht angezogen, saß in einem dunkelblauen Morgenmantel aus Satin am Tisch. Ihre schweren Brüste zeichneten sich ab. Bei manchen Bewegungen klaffte der Morgenmantel so auseinander, dass ich sehen konnte, dass sie nichts darunter trug.

„Und du?“ fragte ich, „hast du einen Mann?“

„Ach, die Männer und ich, das ist eine lange, traurige Geschichte“, sagte sie und grinste dabei. „Mein Mann ist vor drei Jahren gestorben. Darmkrebs. Innerhalb von drei Monaten war alles vorbei. Wir waren auf der Heimfahrt vom Urlaub in Italien. Er bekam eine Schmerzattacke. Als wir ins Krankenhaus gingen, war alles schon viel zu spät.“

„Das tut mir leid.“

„Es muss dir nicht leid tun, es sollte wohl so sein. Seither habe ich immer mal wieder Männergeschichten. Es sind halt Geschichten. Ich nehme mit, was ich kriegen kann. Das Leben ist kurz und kann schnell zu Ende sein.“

Sie strich eine lange, etwas fettige Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie war keine Schönheit. Ihr Lächeln, das zuweilen in ein Grinsen überging, hatte etwas Schelmisches.

„Ich habe gerade was mit dem Fahrer, der mir die Tiefkühlkost bringt. Jeden Donnerstagnachmittag. Du wirst es nicht glauben, seine Frau ist dahinter gekommen und hat ihm neue Unterhosen gekauft, damit sie sich nicht schämen muss, wie sie sagt. Menschen sind manchmal komisch.“

Mir war bis dahin noch nicht aufgefallen, dass sie einen leichten englischen Akzent hatte.

„Mein Mann war Lehrer am Gymnasium in der Kreisstadt. Wir haben uns kennen gelernt, als er Assistant Teacher in Brighton war. Ich bin mit ihm nach Deutschland gegangen.“

„Hast du es jemals bereut?“ wollte ich wissen.

„Vielleicht. Manchmal. Ich weiß nicht.“

Eine Weile tranken wir schweigend unseren Kaffee.

„Kommst du mal wieder vorbei?“ fragte sie dann. Ihre Stimme klang unsicher.

„Kann schon sein. Ich habe was in Münster zu erledigen. Kann ein paar Tage dauern. Auf dem Rückweg. Vielleicht können wir dann was nachholen.“

Ich küsste sie auf den Mund. Sie schien gierig nach Zärtlichkeit. Ich war versucht, meine Hand in ihren Morgenmantel gleiten zu lassen, diese großen Brüste zu betasten. Ich tat es nicht.

„Ich glaube, ich muss jetzt los.“

Nachdem ich meine Rechnung gezahlt hatte, ging ich auf mein Zimmer und packte meinen Koffer. Wir umarmten uns noch einmal, bevor ich das Haus verließ. Sie suchte meinen Mund und küsste mich gierig, fast gewalttätig, vergrub ihre Zunge tief in mir. Ich riss mich los, winkte ihr und stieg in mein Auto.

Der Tag war sonnig, die Luft war wunderbar klar, fast würzig. Jetzt sah ich, dass ich mich in eine grüne, hügelige Landschaft verirrt hatte. Ich fuhr die Bundesstraße zurück zur Autobahn. Bis Münster war es nicht mehr weit. Kurz vor Münster musste ich auf die Autobahn Richtung Dülmen, von der ich die Abfahrt Gumpingen nehmen wollte.

*

Ich hatte bisher nicht über Einzelheiten nachgedacht. Es gab in meinem Kopf eine grobe Planung, wie ich mich Patrizia annähern würde. Ich hatte aber bisher keine Strategien entwickelt, wie ich es vor Ort angehen würde.

Zunächst brauchte ich ein Basislager. Ich dachte an eine kleine Pension, vielleicht ein Privatzimmer, zur Not durfte es auch ein kleines Hotel sein. Ich würde mich als jemanden ausgeben, der ein paar Tage ausspannen, seine Ruhe haben wollte. Doch zuallererst brauchte ich noch ein, besser zwei Paar Schuhe. Ich hatte eine ganz bestimmte Vorstellung wie sie aussehen sollten: leichte, schwarze, geflochtene Schnürschuhe, möglichst italienische. Ich richtete mich also nach dem weißen Verkehrsschild, das den Weg zur Innenstadt anzeigte. Direkt am Eingang der Fußgängerzone fand ich einen Parkplatz, hatte aber kein Kleingeld für den Parkautomaten. Ich stellte das Auto einfach ab. Würde schon nichts passieren.

Wie in den meisten Fußgängerzonen in Deutschland gab es ein Schuhgeschäft neben dem anderen. Ich vermied Deichmann und Görtz und betrat einen kleinen boutiquenähnlichen Laden. Die Schuhe standen nicht in Regalen, sondern ringsum an den Wänden auf braunen Schuhkartons. Aus unsichtbaren Lautsprechern erklang sanfte Musik. Zwei, drei Kundinnen wurden auf Polstern sitzend von Verkäuferinnen beraten. Ich drückte mich an der Wand entlang, beschaute mir die Schuhpaare. Damen- und Herrenschuhe standen ohne sichtbare Ordnung nebeneinander. Die Farbpalette war sehr ungewöhnlich, von den üblichen Farben bis zu gelb, lila und hellblau. Alles in Leder. Es gab auch solche geflochtene, wie ich sie suchte, in einem eleganten Stahlblau. Es gab sie auch in Größe 46. Ich nahm einen Schuh in die Hand, befühlte ihn innen und außen. Er war wunderbar weich. Ich nahm auch den zweiten und schaute mich suchend nach einem freien Polster um, als eine Verkäuferin mich fragte, ob sie mir helfen könne. Sie trug Jeans und ein ärmelloses Top in demselben Braunton wie die Schuhkartons. Ich schätzte sie auf etwa fünfundzwanzig. Ihre kräftig ausgebildeten Oberarme verrieten ihre häufigen Besuche im Fitnessstudio. Sie trug ihre ebenfalls braunen Haare sehr kurz, fast zu kurz. Ich fragte mich, ob sie die Haare passend zur Uniform gefärbt hatte. Die Augen waren grell geschminkt, ein Nasenflügel trug einen winzigen Brillistecker.

„Ich möchte dieses Paar gerne anprobieren. Haben Sie die vielleicht auch noch in schwarz?“

„Da muss ich im Lager nachschauen, Sie können schon mal da drüben in der Ecke Platz nehmen.“

Sie zeigte auf ein freies Polster und verschwand hinter einem Vorhang, den ich bisher nicht bemerkt hatte. Ich schlüpfte aus meinen schwarzen Halbschuhen, die ich nun schon seit drei Tagen trug. Ich konnte ohne Schuhlöffel in die Geflochtenen hineinfahren. Ich stand auf, ging ein paar Schritte, bewegte die Zehen. In einer plötzlichen Laune drehte ich mich um mich selbst, bekam dafür missbilligende Blicke von den anwesenden Kundinnen. Das störte mich nicht. Mittlerweile war meine Verkäuferin wieder hinter dem Vorhang hervorgekommen.

„Tut mir leid, in schwarz sind sie nicht mehr da. Aber ich habe etwas anderes gefunden, ich denke, die passen zu Ihrem Typ.“

Sie trug unter dem rechten Arm ein Paar vorne leicht angespitzte anthrazitfarbene Cowboystiefel. Ich schaute sie erstaunt an, weil sie so treffsicher meinen Geschmack erraten hatte.

„Entwickelt man mit der Zeit einen Blick für so etwas, oder was ist das?“ fragte ich sie und nahm einen Stiefel entgegen.

„Man bekommt ein Feeling dafür, vielleicht hat es auch etwas mit Intuition zu tun, vielleicht auch mit der Verarbeitung von vielen Informationen.“

Ich war sehr überrascht über ihre Ausdrucksweise. „Sie machen sich offensichtlich Gedanken über das, was Sie tun“, sagte ich. „Das ist heutzutage eher außergewöhnlich.“

„Das ist hier nur ein Nebenjob für mich, ich studiere Psychologie. Es macht Spaß, mit Menschen umzugehen. Und ich beobachte viel. Sie, zum Beispiel, passen irgendwie nicht in diese Stadt. Sie haben etwas Suchendes oder gar Gehetztes in Ihrem Blick.“

„Ja, natürlich, ich suche Schuhe und hetze seit zwei Tagen hinter meinem Zeitplan her“, versuchte ich zu scherzen.

Sie lächelte, als sie mich ansah: „Ich glaube, Sie wissen, was ich meine.“

Ich zog die blauen Geflochtenen wieder aus. „Die nehme ich auf jeden Fall.“

Auch die Stiefel waren aus weichem Leder und saßen wie eine zweite Haut.

„Ich behalte sie gleich an, verpacken Sie bitte meine eigenen Schuhe zusammen mit den blauen.“

„Klar doch, die Stiefel sind wirklich wie für Sie gemacht. Gehen Sie dann bitte rüber zur Kasse?“

„Eine Frage habe ich noch“, sagte ich hastig. „Sie kennen sich doch sicher hier aus. Kennen Sie vielleicht hier eine Pension oder ein kleines Hotel?“

„Für wie lange suchen Sie denn?“

„Genau weiß ich es noch nicht, vielleicht zwei, drei Wochen.“

„Ich wüsste da vielleicht etwas für Sie. Haben Sie große Ansprüche, was den Komfort betrifft?“

„Ich brauche eigentlich nur ein Bett und eine Dusche. Frühstücken kann ich auch woanders.“

„Ich habe mit einer Kommilitonin eine kleine Wohnung hier. Sie macht im Augenblick in Hamburg ein Praktikum. Ich könnte Ihnen ihr Zimmer vermieten.“

Sie lachte laut, als sie mein verdutztes Gesicht sah. „Sie sollen mich nicht heiraten, das Zimmer steht leer und ich hätte weniger Miete zu zahlen. Sie brauchen nur ja zu sagen.“

„Ich schnarche, dass sich die Balken biegen. Nicht, dass Sie hinterher behaupten, ich hätte es Ihnen nicht gesagt. Ich nehme Ihr Angebot gerne an. Soll ich Sie nach Feierabend hier abholen?“

„Ich kann jetzt Schluss machen, wir können uns hier die Zeit frei einteilen. Aber die Schuhe müssen Sie noch bezahlen.“

„Ja, natürlich.“ Ich hatte überhaupt nicht auf den Preis geschaut und war nun erstaunt, wie preisgünstig der Laden war, als ich mit der Kreditkarte zahlte. Als ich meine Tüten in Empfang nahm, stand sie schon hinter mir. Sie hatte eine gelbe Jeansjacke über die Schultern geworfen. Mir fiel jetzt zum ersten Mal auf, dass sie so groß war wie ich.

„Sind Sie mit dem Auto hier?“

„Ja, ich stehe da vorne am Eingang der Fußgängerzone“.

Sie hängte sich unkompliziert in meinem linken Arm ein. Es tat mir gut. Das Auto war noch da. An der Windschutzscheibe hing kein Strafzettel.

„Da haben Sie Glück gehabt. Normalerweise sind die hier ziemlich fix mit den Tickets und dem Abschleppen. Ich heiße übrigens Inga.“

„Peter“, sagte ich. „Was studiert Ihre Freundin?“ fragte ich, nur um etwas zu sagen. Ich merkte, wie befangen ich in ihrer Nähe wurde. Sie hätte meine Tochter sein können.

„Sie ist ein ziemliches Ass in BWL. Sie macht gerade ein Praktikum bei PHILIPS in Hamburg, vielleicht kann sie da auch mal einsteigen. Ich habe BWL im Nebenfach und das macht mir manchmal ganz schön zu schaffen. Und du, was machst du?“

„Ich bin Knecht bei einem Bildungsträger, der für das Arbeitsamt arbeitet. Sprachkurse, Personaltraining, Motivation und so.“

„Klingt interessant. Bist du verheiratet?“

Sie war ganz selbstverständlich zum Du übergegangen. Es schmeichelte mir.

„Ist auch interessant, wird aber beschissen bezahlt, das heißt einige verdienen sich eine goldene Nase dabei, und die, die Arbeit machen, bekommen ein Butterbrot dafür. Ja, verheiratet, zwei Kinder, Ehe zerrüttet, Traumfrau gerade getroffen, aussichtslos, weil Mann und Kinder an ihr ziehen. Stimmung depressiv, null Bock auf nix, reif für die Insel. Sonst noch Fragen?“

Sie lachte wieder ihr unbekümmertes Lachen, das ich im Schuhgeschäft schon gehört hatte.

„Hört sich an, als wärst du so richtig kaputt.“

„Nee nicht ganz, solange Frauen wie du mich noch bemerken.“

Ich lachte jetzt auch. Wir standen immer noch vor meinem Auto.

„Vielleicht sollten wir was essen gehen, ich habe heute nur wenig gefrühstückt.“

„Ich werde uns was kochen“, sagte sie. „Magst du Ratatouille? „

„Liebe ich abgöttisch, aber lass‘ mich den Rotwein beisteuern. Kennst du einen Weinladen hier?“

„Ja, ganz in der Nähe meiner Wohnung, lass‘ uns fahren.“ Sie dirigierte mich in ein Wohnviertel etwas außerhalb, zum großen Teil Einfamilienhäuser. Sie ließ mich vor einem Mehrfamilienhaus anhalten.

„Du kannst deinen Wagen auf Britts Parkplatz stellen. Lass uns noch schnell in den Weinladen gehen um die Ecke.“

Ich parkte das Auto rückwärts auf dem markierten Parkstreifen. Wir stiegen aus und liefen wieder Arm in Arm die paar Meter zu dem kleinen Laden, der wirklich gut sortiert war. Ein älterer Mann begrüßte uns freundlich, wie Weinhändler das eben tun, und fragte, wie er uns helfen könne. Ich fragte nach einem Bordeaux vom letzten Jahr.

„Da hab ich was Besonderes für Sie und das Fräulein Tochter, wenn Sie bitte hier herüber kommen möchten!“

Inga und ich schauten uns nur an und grinsten. Dann probierten wir den Wein, er war genau richtig. Ich nahm zwei Flaschen. Als ich bezahlen wollte, hatte ich nicht genug Bargeld. Ich hatte einfach vergessen, zum Geldautomaten zu gehen. Es war mir sehr unangenehm, Inga zu bitten, mir den Betrag vorzuschießen. Sie lachte wieder dieses Lachen, was ich inzwischen so sehr mochte.

„Kein Problem, Papa“, sagte sie und zückte ihren Geldbeutel. „Aber dafür musst du mir heute Abend eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen“, fügte sie hinzu. Sie war großartig in ihrer Unbekümmertheit.

Der freundliche Weinhändler gab uns noch eine Jutetasche für die Flaschen, auf der seine Geschäftsadresse aufgedruckt war. Auf dem Weg zurück zu ihrem Haus konnten wir uns fast nicht einkriegen vor Lachen. Ich holte noch meinen Koffer aus dem Auto und schleppte ihn in den dritten Stock, wo sie eine 3 ZKB-Wohnung mit Britt hatte. Die Wände des Flurs waren ganz in Weiß gestrichen. Über der Tür zu Britts Zimmer am Ende des Flurs hing eines meiner Lieblingsbilder von Edward Hopper, eines mit Leuchtturm und Segelboot.

„Geh einfach hinein,“ sagte sie, „mach’s dir bequem. Du kannst deine Sachen in den Schrank hängen. Das Wohnzimmer gehört dir, du kannst schon mal den Wein aufmachen, damit er atmet.“

Ich sah mich in dem Zimmer um. Ein Schreibtisch, ziemlich antik, mit Computer, einige Familienbilder, ein Bett im IKEA-Stil, ein kleiner runder Tisch, zwei kleine Ledersessel in dunkelblau und rot. Ein riesiger Bauernschrank, der als Kleiderschrank diente. Er war fast leer, Britt musste fast ihre gesamten Kleidungsstücke mitgenommen haben. Ich räumte ein, was ich in den nächsten Tagen zu brauchen glaubte. Meine Hosen hängte ich auf die hölzernen Hosenbügel, die es auch gab.

Ich ging durch den Flur in das Wohnzimmer, hörte sie in der Küche klappern. Das Wohnzimmer war gemütlich eingerichtet Es gab eine weitläufige Couchlandschaft aus dunkelblauem Leder, einen niedrigen Tisch aus Glas, einen Fernseher mit riesigem Bildschirm, Bilder von Hopper und Dali an der Wand. Neben einem großen Spiegel hing ein Druck der brennenden Giraffe. Den Korkenzieher fand ich in der obersten Schublade einer Anrichte aus Kirschbaumholz. Als ich die Flasche geöffnet hatte, ging ich in die kleine Küche und fragte Inga nach einer Weinkaraffe. „Da oben im Hängeschrank“, sagte sie, während sie mit dem Oberarm ihre Nase rieb, weil sie feuchte Finger hatte. Ich holte die Karaffe heraus und ließ den Wein langsam hinein fließen. Die rote Farbe erinnerte stark an Holundersaft. Inga war dabei, verschiedene Gemüse in Würfel zu schneiden.

„Kann ich auch was tun?“ fragte ich.

In ihrer Reichweite stand ein Glas, in dem sich der Rest einer Flüssigkeit befand, die wie ein Eiweißshake aussah.

„Du kannst uns einen Schnaps einschenken. Da oben im Regal. Der mit den Knoblauchstücken drin.“

Sie zeigte auf eine Wodkaflasche, in der kleine weiße Teilchen schwammen. „Ein altes Rezept meines Großvaters, der trank täglich drei Gläschen davon und ist uralt geworden. Ich habe einen Wodka mit Zitrone genommen, da kommt der Knoblauchgeschmack besser zur Geltung.“

Ich nahm zwei Schnapsgläser vom Regal und füllte sie auf. Sie wischte sich die Hände ab und prostete mir zu: „Hau wech!“ Knoblauch und Wodka ergänzten sich ideal. Die Wärme tat mir gut. Der Knoblauchgeschmack weckte Erinnerungen an den Süden, an schöne Tage in Italien. Aber das war aus einem anderen Leben.

„Dein Großpapa wusste, was gut ist. Und wenn es hilft, sehr alt zu werden - umso besser.“

„Wie alt bist du eigentlich?“ fragte sie.

„Neunundvierzig und ein paar Tage.“

„Kompliment, ich hätte dich glatt zehn Jahre jünger geschätzt.“

„Eine meiner Sprachschülerinnen aus der Ukraine hat mich mal gefragt, wie ich es schaffe, so jung auszusehen. Ich habe ihr gesagt, das komme vom Wein und von den Weibern.“

„Und ist das so?“

„Ja, irgendwie schon. Ihr haltet uns jung. Aber im Ernst, ich glaube, das spielt sich im Kopf ab. Wenn du dir einredest, du wirst alt, dann alterst du. Ich kenne eine Menge Leute, die beschlossen haben, sich nicht mehr jung zu fühlen. Und dann haben sie angefangen zu verkalken. Schlimm, sag ich dir. Wie alt bist du denn?“

„Schätz’ mal!“

„Na ja, du studierst, du machst einen sehr lebenserfahrenen Eindruck auf mich. Ich denke mal so Mitte zwanzig.“

„Ich bin letzte Woche achtundzwanzig geworden. Mein gefühltes Alter liegt aber ungefähr bei neunzehn. Du magst Knoblauch, wie ich sehe.“

Sie deutete auf den Schnaps und schälte drei Knoblauchzehen, die sie anschließend mit der Knoblauchpresse in den Topf mit dem Gemüse drückte.

„Erzähl’ doch mal ein wenig von dir“, sagte sie beim Umrühren und Würzen. „Ich will mehr von dir wissen.“

„Stell’ mir doch lieber Fragen, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Was interessiert dich?“

„Magst du lieber Baguette oder Couscous?“

„Merkwürdige Anfangsfrage. Zum Ratatouille lieber Baguette.“

Sie lachte. „Wie lange bist du denn schon verheiratet?“

„Genau genommen bin ich mit meiner Frau fast vierundzwanzig Jahre zusammen, davon elf Jahre verheiratet. Nächste Frage.“

„Bist du zu Hause abgehauen?“

„So ähnlich. Sieht man mir das an?“

„Ich schon. Du siehst so abgehauen aus. Weißt du, was ich meine?“

„Nicht so ganz, kannst du’s mir erklären?“

„Als du heute in den Laden kamst, kam es mir vor, als seist du vor etwas auf der Flucht. Du sahst so unausgeschlafen aus, hast dich öfter umgeschaut. Es war so ein Gefühl, ich kann’s nicht näher beschreiben.“

„Ja, ich bin in der Tat auf der Flucht, nicht so wie Richard Kimble, eben auf meine Weise.“

„Wie ist sie, deine Frau?“

„Schwierig. Ich kann’s ihr nie recht machen. Sie kommt aus einem Elternhaus, wo jeder das tat, was ihm irgendwie nützte oder zu nutzen schien. Das hat sie geprägt. Sie hat so gar keinen Blick dafür, dass es neben ihr auch noch andere Menschen gibt. Ich habe fast fünfundzwanzig Jahre gebraucht um herauszufinden, dass ich nicht mit ihr zusammenleben kann.“

„Hast du Kinder?“

„Zwei. Junge und Mädchen. Um die tut es mir am meisten leid. Ich liefere sie ihr aus. Aber was soll ich machen, wenn ich überleben will? Es geht einfach nicht mehr.“

Ich drehte mich um und schaute aus dem kleinen Fenster auf einen jetzt langsam dunkler werdenden Innenhof. Ich wollte ihr nicht zeigen, dass meine Augen feucht wurden.

„Kann ich noch so einen Knobischnaps haben?“

„Bedien’ dich. Du musst nichts erzählen, wenn du nicht willst.“

Wir schwiegen eine ganze Weile, bis sie mich bat, den Tisch im Wohnzimmer zu decken.

„Die Teller sind unten in der Anrichte, das Besteck ist da, wo du den Korkenzieher gefunden hast.“

Ich stellte zwei tiefe Teller auf den Tisch, legte Löffel und Gabel daneben, zündete zwei blaue Kerzen an, die auf der Anrichte standen, fand auch zwei wunderschöne große Rotweingläser. Sie brachte den Topf mit einem Untersetzer aus der Küche, bat mich noch das Brot aus der Küche zu holen. Wir setzten uns einander gegenüber an den kleinen runden Tisch. Ich schenkte den Wein aus der Karaffe ein.

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange das her ist, dass jemand für mich gekocht hat. Auch wenn es komisch klingt, für so etwas bin ich sehr dankbar.“

„Wie ist das denn bei dir zu Hause?“ fragte sie zwischen zwei Löffeln Gemüse. „Kocht deine Frau nicht?“

„Für mittags, wenn die Kinder aus der Schule kommen, haben wir Tilly, eine Nachbarin. Abends koche ich normalerweise, wenn ich von der Arbeit komme.“

„Und was ist, wenn du mal später kommst?“

„Frag‘ lieber nicht.“

Sie schwieg. Ich löffelte das Gemüse in mich hinein. Zwischendurch prosteten wir uns immer mal wieder zu und ich versicherte - vielleicht ein bisschen zu oft - wie sehr ich das Essen genoss.

Ich spürte, dass sie mich manchmal nachdenklich ansah. Dann: „Du willst mir aber nicht erzählen, dass das seit zwanzig Jahren so läuft?“

„Mehr oder weniger schon. Bin aber selbst mit schuld daran. Ich habe so ein paar Sachen einfach an mich gezogen. Irgendwann habe ich dann nicht mehr auf mich geachtet und hab’ mich dann treiben lassen. Es ist mir schon immer nur schwer gelungen, eingefahrene Wege wieder zu verlassen. Ich koche ja an sich gerne, das ist nicht das Problem. Es blieb nach und nach zu viel an mir hängen. Ich habe neben meinem Job immer noch freiberuflich gearbeitet. Ich hatte meistens einen Zehnstundentag, hab’ es aber immer noch geschafft, mich auch um die Kinder zu kümmern, als sie klein waren.“

„Was macht deine Frau eigentlich den ganzen Tag?“

„Sie ist Steuerberaterin, arbeitet zu Hause. Nach dem Essen muss sie erst einmal Mittagsschlaf halten. Mehr weiß ich eigentlich nicht. Irgendwie gelingt es ihr, den Tag herumzubringen, und abends hat sie Termine oder trifft sich mit Freundinnen.

„Läuft bei euch überhaupt noch was im Bett?“

„Wir schlafen nicht mehr im selben Bett. Wir vögeln beide anderweitig, haben wir nebenher schon immer gemacht. Zu unserer Zeit nannte man das offene Beziehung.“

„Ist nicht unbedingt die beste Voraussetzung für ein harmonisches Zusammenleben“, stellte sie fest und nahm einen Schluck Wein.

„Hat immerhin fast fünfundzwanzig Jahre gehalten.“

„Aber du bist jetzt ziemlich kaputt“, fügte sie gnadenlos hinzu. „Gut war das für dich sicher nicht.“

„Wie man’s nimmt. Ich bin gerade dabei, noch einmal davonzukommen. Aber du hast schon Recht, so ganz unbeschädigt bin ich nicht.“

„Was hast du eigentlich jetzt vor? Magst du noch etwas Gemüse?“ fragte sie in einem Atemzug.

„Nein danke, schmeckt hervorragend, aber ich kann nicht mehr. Ich weiß noch nicht genau, ich will jetzt erst mal Luft holen. Ich bin eher zufällig in dieser Gegend hier gelandet. Vielleicht sollte ich mir erst mal richtig die Kanne geben um abzuschlaffen.“

„Muss ja nicht gerade heute sein“, sagte sie, während sie mir Wein nachschenkte.“

„Nee, hab’ nicht die Absicht. Ich glaube, ich müsste jetzt auch bald schlafen. Die letzte Nacht war ein wenig unruhig. Soll ich dir noch beim Abwasch helfen?“

„Wir haben doch eine Spülmaschine. Du kannst zuerst ins Bad. Nimm dir ein Handtuch aus dem Regal über der Tür.“

Wir tranken unseren Wein aus, räumten das Geschirr in die Küche. Ich sagte noch: „Das war ein sehr schöner Abend. Ich danke dir dafür.“ Ich traute mich nicht, sie zu umarmen. Sie tat es für mich, schlang ihre Arme um mich, drückte mich.“

Ich ging ins Bad, putzte meine Zähne, mit einer Zahnbürste, die ich von Inga bekommen hatte, betrachtete mich dabei im Spiegel und war nicht begeistert von dem, was ich sah. Ich hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ich wusch mich mit kaltem Wasser und trocknete mich mit einem flauschigen, dunkelblauen Handtuch ab.

In Britts Zimmer kleidete ich mich langsam aus, einen Schlafanzug hatte ich natürlich auch vergessen. Ich behielt T-Shirt und Slip an, wollte gerade ich das lila überzogene Bett steigen, als sie die Tür öffnete.

Sie stand völlig nackt im Türrahmen, zeigte mir ihren trainierten braungebrannten Körper, an dem kein einziges Haar sichtbar war.

Ich hatte mit mir zu kämpfen, sagte aber dann: „Sei mir nicht böse, aber ich glaube, wir würden jetzt etwas kaputt machen, was gerade schön begonnen hat.“

Ich trat in meiner Unterwäsche auf sie zu, nahm sie in den Arm, spürte die Straffheit ihres Körpers und küsste sie sanft auf den Mund.

Dann sagte ich noch: „Der Mann, der dich mal kriegt, darf sich glücklich schätzen.“

Sie schien nicht enttäuscht. „Du hast ja so recht, Papa! Mir war einen Augenblick danach. Ich geh’ jetzt wieder. Schlaf’ gut!“

Sie machte sich los, strich mir über die Wange und verschwand.

*

Ich musste mehrmals niesen, weil mir die Sonne auf das Gesicht schien. Dann war ich wach. Dieses Mal wusste ich sofort, wo ich war. Durch das viergeteilte Fenster sah ich einen strahlend blauen Himmel. Ich genoss es, mich zu räkeln und zu strecken. Ich gab laute Geräusche von mir, bis mir einfiel, dass Inga mich hören könnte. Ich lauschte, ob ich sie in der Wohnung hörte. Aber sie schlief entweder noch oder sie war schon aus dem Haus gegangen.

So wie ich war setzte ich mich erst einmal auf das Sofa im Wohnzimmer und schaute mich nun bei Tageslicht um. Die Möbel waren nicht neu, aber geschmackvoll zusammengestellt. Manches sah aus, als sei es geerbt. Ein altdeutscher Schrank, weinrotes Holz, mit zwei Glastüren in der Mitte. Dahinter Wein- und Sektgläser in unterschiedlichen Formen. Ein geöffneter Sekretär, dunkles Chippendale, stand an der Wand neben der Tür. Auf dem kleinen Tisch, an dem wir gestern gegessen hatten, lag ein handgeschriebener Zettel.

Guten Morgen, Cowboy,

bin zur Uni nach Münster. Am Nachmittag muss ich arbeiten. Bin etwa gegen 19 Uhr zurück. Wenn du magst, besorge eine Flasche Rotwein. Ich koche uns was. Habe dir einen Hausschlüssel hingelegt.

Keep on trucking!

Inga

Ich saß lange, träumte vor mich hin, bis ich beschloss, unter die Dusche zu gehen. Danach zog ich Jeans, die neuen Stiefel, ein gelbes Hemd und meine Lederjacke an.

Fast hätte ich meine Geldbörse vergessen. Ich schaute noch einmal nach meinem Bargeld und stellte fest, dass ich dringend zum Geldautomaten musste. Ich nahm den Schlüssel vom Tisch und verließ die Wohnung.

Mein Auto ließ ich stehen und ging nach Gefühl in Richtung Innenstadt. Gewöhnlich kann ich mich auf meinen Orientierungssinn verlassen, brauchte aber doch einige Zeit, bis ich den richtigen Weg fand.

Da ich noch nichts gegessen hatte, benötigte ich zuerst Geld, damit ich mein Frühstück auch bezahlen konnte. Ich betrat die Schalterhalle der erstbesten Bank und zog mir fünfhundert Mark aus dem Automaten.

Gleich neben der Bank fand ich eine Art Bistro, das gerade öffnete. Serviererinnen waren dabei, draußen Tische und Stühle aufzustellen, die neben dem Eingang gestapelt waren. Da die Sonne schon sehr viel Kraft hatte, öffneten sie auch einige große, blau-weiß gestreifte Sonnenschirme.

Ich fragte, ob ich schon etwas zu essen bekommen könnte. Eine kleine blonde Serviererin sagte, ich solle mich schon mal setzen, sie bringe mir dann die Karte.

Ich nahm in einem der, wie sich herausstellte, sehr bequemen Korbstühle Platz und zündete mir eine Zigarette an, was ich gleich bereute. Ich rauchte normalerweise nicht, bevor ich etwas gegessen hatte. Die Zigarette schmeckte widerlich, meine Zunge brannte und ich bekam einen Hustenanfall. Ich drückte sie aus und schaute den Serviererinnen bei ihrer Arbeit zu. Sie waren alle vier klein, alle blond und alle pummelig. Es schien, als seien sie nach diesen Merkmalen ausgesucht worden.

Als sie mit dem Aufstellen fertig waren, säuberten sie die Tische mit feuchten Lappen. Die Serviererin, die mich zum Hinsetzen aufgefordert hatte, brachte mir die Karte. Ich bestellte einen doppelten Espresso, studierte die Karte und entschied mich für das englische Frühstück, das günstig angeboten wurde.

Nach und nach belebte sich die Fußgängerzone, weitere Gäste kamen, teilweise in Grüppchen, setzten sich an die Tische. Wo eben noch morgendliche Ruhe gewesen war, herrschte nun Stimmengewirr um mich herum.

An einem Nachbartisch saß jetzt ein schwarzhaariger, südländisch aussehender Mann, etwa Mitte vierzig, der den Gazetto dello Sport las. Ab und an senkte er seine Zeitung, schaute zu mir herüber, durch mich hindurch, wie wenn er über das gerade Gelesene nachdachte, nahm dann die Zeitung wieder hoch und verschwand dahinter.

Ich widmete mich meinem Frühstück, das meine Bedienung auf einem großen Holztablett gebracht hatte. Als ich mir zwischendurch die Nase putzen wollte, fand ich den Brief von Gesine, den ich in die Innentasche der Lederjacke gesteckt hatte.

Als ich meinen Teller geleert hatte, bestellte ich noch einen Espresso und las den Brief noch einmal Wort für Wort. Ich war wieder sehr befremdet von ihrem Stil, in dem sie mir schrieb. Ich fragte mich wie schon zuvor, was sie von mir erwartete, wie sie dazu kam, mir in dieser Weise zu schreiben. Ein Teil von mir empfand es als unzulässiges Eindringen in einen Bereich, in den ich niemanden ohne ausdrückliche Erlaubnis zuließ. Ein anderer Teil von mir fühlte sich verstanden, ohne viel erklären zu müssen. Ich faltete das blaue Papier sorgfältig zusammen und verstaute es wieder in der Jackentasche. Ich nahm mir vor, Inga zu bitten ihn zu lesen und mir ihre Meinung zu sagen.

Der südländisch aussehende Mann senkte gerade wieder einmal seine Zeitung und blickte auf einen Punkt hinter mir, als ich zahlte. Er hatte buschige Augenbrauen, an seinen Schläfen erkannte ich einige graue Haare.

Es war mittlerweile etwa zehn Uhr geworden. Ich mischte mich in den Strom der hochsommerlich gekleideten Passanten. Es war sehr warm geworden. Trotzdem behielt ich meine Lederjacke an, weil ich ein wenig fröstelte.

*

Ich musste jetzt analytisch vorgehen, um mich nicht in sinnlosen oder zeitraubenden Aktivitäten zu verzetteln. Bargeld hatte ich erst einmal genug. Als nächstes brauchte ich einen Stadtplan von Gumpingen, den ich in einem Schreibwarengeschäft bekommen würde. Außerdem brauchte ich ein Notizbuch für meine Aufzeichnungen und einen Kugelschreiber oder Füllfederhalter.

Ich schlenderte die Hauptstraße entlang, kam an dem Schuhgeschäft vorbei, in dem ich Inga kennen gelernt hatte. Ich wollte sie jetzt nicht treffen und auch nicht von ihr gesehen werden, wenn sie vielleicht doch jetzt gerade arbeitete.

Ohne zur Seite zu blicken, drückte ich mich am Schaufenster vorbei. Fast atemlos lief ich an einer Reihe von Geschäften entlang, die ich nur aus den Augenwinkeln wahrnahm. Als ich zum Stehen kam, befand ich mich vor dem Schaufenster eines Hutgeschäftes. Bilder stiegen in mir auf: Rick, Hans Söhnker, Hubert und Philip Marlowe, der aussah wie Robert Mitchum.

Ich wollte auch so einen Hut. Die Preise waren furchterregend, aber der Wunsch war stärker. Ich betrat das Geschäft. Der Verkaufsraum war düster. Durch die Schaufenster fiel wegen der Gestelle, auf denen die Hüte präsentiert wurden, nur wenig Licht nach innen. Die erstaunlich hohen Wände bestanden bis unter die Decke aus Regalen, in denen die einzelnen Stücke teilweise auch mehrfach übereinander eingeordnet waren. Die teureren Stücke schienen einzeln gelagert.

Ich hatte eine genaue Vorstellung, was ich wollte. Ein vornehmes Grau mit blauem Band, die Krempe nicht zu breit, und diese Schnur, mit der man den Hut am Revers des Jacketts fixieren konnte.

Hinter einem Vorhang hinter der langen Theke, die die gesamte Wand entlang lief, kam ein uralt wirkender Mann hervor. Er trug einen feinen, dunkelgrauen Anzug, ein weißes Hemd und eine scharlachrote Krawatte. Auf dem Kopf trug er eine seltsame Mütze, wie ich sie von Ernst Fuchs kannte.

„Se sind richtig, der Herr, wenn Se e Hut kaufen wollen“ sagte er als Gruß mit einer wohlklingenden Stimme.

Dabei lächelte er das Lächeln eines Mannes, der alles gesehen hat. The one-thousand-yard-stare nannte Stanley Kubrick diesen Blick in Full Metal Jacket. Er hatte den Blick, den nur Menschen haben, die über die Schwelle gesehen haben.

„In der Tat“, sagte ich, und mir wurde bewusst, dass ich so normalerweise nicht redete. „Ich beabsichtige, mir eine Kopfbedeckung zu kaufen.“

„Darf ich Ihnen e Rat gäben? Se sind e Borsalino-Typ,“ sagte er ohne Umschweife, schob eine große Leiter, die ich bis dahin nicht bemerkt hatte, in einer Schiene an einem Regal an der linken Wand entlang, bis sie im richtigen Segment angekommen war.

Mit einer Behändigkeit, die ich ihm nicht zugetraut hatte, nahm er die vier, fünf Sprossen, bis er in das Regalfach greifen konnte, das er angesteuert hatte.

Er entnahm einen Hut, den ich zunächst nicht genau sehen konnte, stieg die Sprossen herunter und legte meinen Hut vor mir auf die Theke.

„Das wird er sein.“ Mehr sagte er nicht, er lächelte wissend dabei.

Ich war überwältigt. Genau so hatte ich ihn mir vorgestellt.

„Der hat auf Ihnen gewartet“, sagte der Mann.

Als ich mich gefasst hatte, fragte ich: „Wie konnten Sie wissen, was für einen Hut ich haben will?“

„Es gibt für jeden Menschen e Hut, und das ist Ihrer!“

Plötzlich fiel mir ein, an wen der Mann mich erinnerte: an den Kleiderjuden aus der Grenadierstraße. Fehlte nur noch, dass er am Ende sagte: Se haben nich gekauft, Se haben geerbt.

„Wollen Se ihm aufprobieren? Da drüben is e Spiegel.“

Fast ehrfürchtig nahm ich den Hut vorsichtig mit drei Fingern und setzte ihn auf. Er war für mich gemacht. Ich fragte nach dem Preis und erwartete eine Summe, die meine Möglichkeiten überstieg.

„Fer Ihnen, sagen wir 140 Mark.“

„Gekauft!“ sagte ich. „Ich behalte ihn gleich auf.“

„Geben Se mer den Hut noch e Mal, ich werd’ ihn noch e bissel aufbürsten.“

Er nahm den Hut entgegen und ging damit hinter den Vorhang. Ich stand wie in Trance. Die Sprache des Mannes, diese fremdartige Mischung aus Hochdeutsch und etwas, was wie Jiddisch klang oder was ich dafür hielt, verzauberte mich. Es erschien mir wie eine Ewigkeit, bis er wieder hervor kam.

„Hier nehmen Se das gute Stück!“

Er reichte mir den Hut wie eine kostbare Vase mit beiden Händen.

„Halten Se ihm in Ehren. Wenn Se ihm mal aufarbeiten müssen, telefonieren Se mit mir. Wenn ich noch leb’, kann ich Ihnen immer einen guten Hutmacher empfehlen. Ansonsten sprechen Se mit meinem Sohn. Wenn Se jetzt bitte zur Kassa kommen würden!“

Ich hatte einen Hunderter und zwei Zwanziger, die ich ihm neben die alte verchromte Registrierkasse am Ende der Theke legte.

„Brauchen Se e Quittung?“ Als ich verneinte, sagte er: „Ist auch besser so, bei solchen Sachen muss das Geschäft in den Hintergrund treten.“

Ich schaute noch einmal in den Spiegel, rückte den Hut zurecht und bog die Krempe vorne ein wenig nach unten. Er öffnete mir die Ladentür, verbeugte sich und sagte liebenswürdig: „Es war mir e Vergnügen!“

Ich bedankte mich und trat in die helle Sonne hinaus.

*

Der Kauf des Hutes hatte meinen Tagesplan und meinen Etat durcheinander gebracht. Ich hatte eine Geldausgabe, die nicht geplant war, und war gedanklich mit etwas beschäftigt, wozu ich im Augenblick keine Zeit hatte.

Ich zwang mich, ein Schreibwarengeschäft zu betreten und ein kleines Moleskine-Notizbuch, kariert, sowie einen einfachen, schwarzen Parker-Kugelschreiber zu verlangen. Ich bezahlte schnell, verließ den Laden und suchte einen Supermarkt, am liebsten einen minimal, wo ich einige Sachen für den Abend einkaufen wollte. Am Ende der Fußgängerzone fand ich ihn. Mir fiel ein, dass ich keine Tasche dabei hatte, aber es würde eine Plastiktüte geben. Außer dem Rotwein wollte ich noch Parma-Schinken, Baguette und verschiedene Salate für das Abendessen einkaufen. Es gab eine Wurst- und Käse-Theke, wo auch verschiedene Salate angeboten wurden. Ich nahm Krabbensalat, etwas mit Pute und Mandarine und einen Waldorf-Salat. Die Tüte mit den Plastikbehältern legte ich im Einkaufswagen ab und bewegte mich in Richtung Weinregal. Dann sah ich sie.

Sie stand vor den französischen Rotweinen. Ich konnte gerade noch in den nächsten Gang verschwinden, bevor sie mich entdecken würde. Ich fühlte rasendes Herzklopfen. Ich musste mich mit dem Rücken an ein Regal lehnen, mir wurde schwindlig. Ich zwang mich, tief und regelmäßig zu atmen. Dadurch beruhigte ich mich allmählich. Ich spürte kalte Schweißperlen den Rücken hinunterlaufen. Zum letzten Mal hatte ich das als Jugendlicher während der Beichte erlebt.

Ich musste jetzt klar denken. Ich musste so lange warten, bis sie an der Kasse war. Da konnte ich am besten beobachten, in welche Richtung sie gehen würde. Zwischen ihr und mir war nur ein Regal. Wenn ich zwischen Konservendosen hindurchschaute, konnte ich sie sehen. Sie nahm verschiedene Weinflaschen in die Hand, besah sich jeweils das Etikett, legte ein paar in ihren Einkaufswagen, stellte andere wieder ins Regal zurück.

Ich hätte „Hallo Patrizia“ rufen können. Welche Geschichte hätte ich erfinden müssen, um meine Anwesenheit an diesem Ort, in Gumpingen, in demselben Supermarkt, in dem sie einkaufte, zu erklären?

Ich machte mich an verschiedenen Konservendosen zu schaffen, weil einige andere Kunden in meinen Gang zwischen den Regalen kamen und ich nicht auffallen wollte. Mit meinem neuen Hut war ich an einem heißen Sommertag schon auffällig genug.

Ich könnte einen Salat Olivier machen, dachte ich. Dazu brauchte ich Kartoffeln, Mais, Erbsen, Eier, Gürkchen, Karotten und Remoulade. Ich lud wahllos kleine Döschen und Gläser ein, schaute noch einmal zwischen den Dosen hindurch in den anderen Gang. Sie war nicht mehr da. Ich musste zusehen, dass ich ihr nicht zufällig über den Weg lief, musste sie also lokalisieren. Ich ließ meinen Einkaufswagen stehen, schlich vorsichtig an das Ende des Ganges und spähte um die Ecke in Richtung der Kassen. Sie stand am Ende der Schlange an der Schnellkasse.

Ich überlegte einen Augenblick und entschied dann, dass ich ihr jetzt nicht folgen würde. Zuerst wollte ich meinen Einkauf zu Ende bringen und dann weiter sehen. Ich schaute mich vorsichtig um. Niemand schien mich zu beachten. Die Schlange an der Kasse bewegte sich langsam. Als Patrizia an der Reihe war, holte ich meinen Wagen und schob ihn in den nächsten Gang zu den Weinflaschen. Ich musste ja noch den Chateau l’Eglise für den Abend besorgen. Es waren noch vier Flaschen vorhanden, die ich in meinen Wagen lud.

Jetzt brauchte ich nur noch Kartoffeln, Eier. Es dauerte sehr lange bis ich alles gefunden hatte, weil ich kopflos durch die Gänge rannte. Das Knabbergebäck wurde in der Nähe der Kasse angeboten, Chips wollte ich noch. Immer noch sehr vorsichtig verließ ich den Gang zwischen den Regalen und bewegte mich in Richtung Kasse, nahm im Vorübergehen drei Pakete scharf gewürzte Chips mit. An den fünf Kassen standen im Augenblick jeweils drei, vier Kundinnen. Ich reihte mich ganz rechts hinter einer korpulenten, braunhaarigen Mittvierzigerin ein, die einen viel zu kurzen Rock trug, der zu viel von ihren fetten Oberschenkeln freigab. Ihr Top war so kurz, dass die Falten ihres viel zu dicken Bauches überhingen. Ihre enormen Brüste hingen sehr tief, wie ich feststellen konnte, als sie ihre Sachen auf das Band räumte. Sie warf mir zwischendurch ein Lächeln zu. Sie hatte ein sehr schönes Gesicht, das von einer Pagenfrisur umrahmt wurde. Ich lächelte zurück. Ein Teil war ihr vom Band gefallen. Als sie sich bückte, um es aufzuheben, ließ sie mich sehen, dass sie unter dem Rock einen winzigen rosafarbenen Tanga trug, der ihre Schamhaare nur unzulänglich bedeckte.

Die Kassiererin bemerkte, wohin mein Blick ging und grinste. Ich schaute demonstrativ nach oben, konnte mir aber auch ein Grinsen nicht verkneifen. Als ich an der Reihe war, sagte die Kassiererin: „Ja, ja, unverhofft kommt oft.“ Sie grinste wieder und begann meine Weinflaschen einzuscannen.

Die fette Dame war indessen immer noch mit der Verpackung ihrer eingekauften Waren beschäftigt. Sie schaute ab und an auffällig zu mir. So wie sie sich gab, hatte ich den Verdacht, dass sie käuflich war. Ich beschloss, sie nicht zu beachten.

Ich bat die Kassiererin um zwei Plastiktaschen, verpackte meine Sachen, sagte „Tschüs“ und verließ den Supermarkt, blieb aber im Eingangsbereich stehen und schaute vorsichtig nach allen Seiten. Patrizia war nicht zu sehen. Ich war erleichtert. Mir war nach einem Bier. Ich ging durch die Fußgängerzone zurück, immer darauf achtend, ob Patrizia vielleicht in einem der Straßencafés sitzen würde.

Ich entdeckte sie nirgends. Darüber war ich froh, weil ich mich noch nicht vorbereitet fühlte. Es war warm, ich schwitzte unter meinem Hut. Ich hätte mir gerne den Schweiß von der Stirn abgewischt, aber ich hatte ja in beiden Händen die Plastiktaschen. Ich ging so schnell ich konnte, geriet dadurch immer mehr ins Schwitzen. Zu allem Überfluss rissen die Griffe der Taschen nach und nach ein, so dass ich die Taschen um die Handgelenke wickeln musste.

Vor der Tür von Ingas Wohnung stellte ich die Taschen erst einmal auf dem Boden ab und setzte mich auf die Treppenstufen, die nach oben führten. Ich fühlte mich erschöpft und mir war schwindlig. Ich nahm den Hut ab, Meine Stirn und meine Haare waren schweißnass. Mit fahrigen Händen suchte ich in meiner Jacke nach Zigaretten. Ich musste sie irgendwo vergessen haben. Als ich mich zurücklehnte, schlief ich fast augenblicklich ein.

Jemand riss mich aus einem kurzen, wirren Traum. Es war Inga, die mich an der Schulter rüttelte.

„Hallo Peter, aufstehen, Karriere machen!“ sagte sie.

Ich schaute sie schlaftrunken an und sagte überflüssigerweise: „Ich muss eingeschlafen sein.“

„So siehst du auch aus. Komm rein, es ist Zeit, die Hühner zu füttern.“

Nachdem ich mich hochgerappelt hatte, nahm ich meine Einkaufstüten und folgte ihr in die Wohnung. Ich stellte alles zunächst in Britts Zimmer ab, setzte mich aufs Bett und wischte mir mit meinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Ich war ziemlich kaputt. Ich hätte mich einfach umlegen können und weiterschlafen. Todmüde war ich - und unendlich erschöpft. Mir war nicht nach Gesellschaft, doch ich wollte Inga nicht enttäuschen. Sie hatte mich bei sich aufgenommen, und ich konnte mich nicht einfach entziehen.

Ich brauchte dringend eine Dusche und dann ein Glas Rotwein, um meine Lebensgeister zu wecken. Ich raffte mich auf, zog meine verschwitzten Klamotten aus, mein T-Shirt und meine Unterhose waren völlig nass, und ging nackt ins Badezimmer. Die Tür war offen, aber Inga stand unter der Dusche. Ich sagte „Oh, Verzeihung!“ und wollte den Raum verlassen. Sie rief mir aber nach: „Bleib doch hier, komm’ unter die Dusche!“

Ich zögerte nicht und ging zu ihr in die Duschkabine. Da war wenig Platz, so dass wir sehr eng beieinander standen.

„Wasch’ mir den Rücken“, sagte sie und drehte sich um. Ich nahm etwas Duschgel aus der Tube, die in der Seifenschale lag, und begann ihren Rücken einzuseifen. Die Berührung erregte mich, meine Erektion berührte ihre Pobacken.

Es war mir peinlich. „Tut mir leid, du wirkst halt auf mich.“

Das Wasser lief ihr über Haare und Gesicht, als sie mich grinsend über die Schulter ansah. „Würde mich schwer enttäuschen, wenn es nicht so wäre.“

Ich verteilte die Seife auf ihrem Rücken und rubbelte ein wenig. Ich bemühte mich, sie nicht an intimen Stellen zu berühren.

„Warte“, sagte sie, „ich wasch dich auch.“ Sie drehte sich wieder zu mir um, schaute sich erst einmal meinen steifen Penis an, nahm Shampoo, verteilte es in meinen Kopfhaaren.

„Du, ich muss raus, mir wird’s zu warm“, sagte ich. Ich wusch mir das Shampoo aus den Haaren und stieg aus der Duschkabine. Ich nahm mir das Handtuch, das sie für mich bereitgelegt hatte und trocknete mich langsam ab. Es war mir peinlich, dass meine Erektion anhielt.

Inga stellte das Wasser ab und kam ebenfalls aus der Duschkabine. Sie schaute zwischen meine Beine und grinste. „Der Kleine ist aber hartnäckig.“

„Es tut mir leid, ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen.“

„Du hast dich doch auf gar nichts eingelassen, und das ist nicht der erste Schwanz, den ich sehe. Du musst dir nichts vorwerfen. Ich hätte gerne mit dir geschlafen, aber ich bin dir nicht böse, weil du nicht magst.“

„Ich komm’ mir so blöd vor“, erwiderte ich. „Ich bin hier mit einer tollen Frau zusammen, die mit mir vögeln will, und ich habe eine ganz andere im Kopf.“

„Ich hab’ mir schon so was gedacht“, sagte sie, während sie unbefangen ihre Scham abtrocknete. „Ich nehme mal an, sie wohnt hier in der Stadt. Sie muss ja eine Granate sein.“

„Ja, sie wohnt hier. Hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen.“

„Das ist nicht zu übersehen. Du stehst, glaube ich, ziemlich neben dir. Seit wann geht das schon so?“

„Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Es ist, als würde ich mich ständig im Kreis drehen. Ich hab’ sie etwa vor einem Jahr kennen gelernt.“

„Und jetzt läufst du hinter ihr her wie ein Hund, und sie wollte nur einen schnellen Fick.“

„Inzwischen glaub’ ich das auch. Aber es ändert nichts. Da ist etwas mit mir passiert, was ich nicht in den Griff kriege.“

„Du bist also deiner Traumfrau begegnet.“

Es war keine Frage sondern eine Feststellung. Sie zog sich einen quietschgrünen Slip über und ein T-Shirt in fast der gleichen Farbe.

„Ist mir auch mal passiert, mit einem Mann natürlich. Hab’ einige Zeit gebraucht, bis ich darüber hinweg war. Der Scheißkerl hat mich ganz schön kaputt gemacht. Er war verheiratet und wollte uns beide haben.“

„Das mit der Traumfrau kann schon stimmen, aber es ist doch eher ein Alptraum geworden.“

Sie verschwand in ihrem Zimmer. Ich hörte, wie sie Schubladen öffnete und schloss. Ich war immer noch dabei, mich abzutrocknen, als sie wieder ins Badezimmer kam und mir ein Bild zeigte.

„Das ist er, der Saukerl. Ich bin immer noch nicht darüber hinweg.“

Der Mann auf dem Bild kam mir bekannt vor, aber ich konnte mich nicht erinnern, wo und wann ich ihn schon einmal gesehen hatte.

„Er ist Italiener“, sagte sie. „Er brauchte mich nur anzusehen und mein Höschen wurde schon nass. Ich hab’ mich von ihm getrennt, weil ich es nicht mehr ertragen konnte, ihn mit einer anderen teilen zu müssen…“

Aus ihren Worten klang Zorn. Sie hatte keine Ahnung, wie gut ich das nachvollziehen konnte. Aber sie lachte gleich wieder.

„So was passiert halt, und du bist machtlos. Lass uns einen Wein darauf trinken.“

Meine Erektion war so weit abgeklungen, dass ich jetzt unbefangen an ihr vorbei in Britts Zimmer gehen konnte, um mir eine Unterhose und ein T-Shirt anzuziehen. Ich zog mir noch eine Jeans über und fühlte mich dann so, dass ich in die Küche gehen konnte. Sie war dabei, Brötchen mit Schinken zu belegen. Ich hatte die Flaschen in Britts Zimmer vergessen. In den Plastiktüten und fand ich auch meine Zigaretten, als ich eine Flasche Wein herausholte.

Während ich die Flasche öffnete, stellte Inga zwei Gläser auf den Tisch und sagte: „Gib mir auch eine Zigarette. Ich brauche heute Drogen.“

Ich steckte mir zwei Zigaretten in den Mund, zündete sie an, gab ihr eine davon. Sie nahm einen tiefen Zug mit geschlossenen Augen. Sie wirkte müde. Ich goss die Gläser halb voll und reichte ihr ein Glas. Wir stießen an, schauten uns in die Augen, sie wandte allerdings ihre Augen schnell ab.

„Ist was?“ fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf, lächelte und nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas.

„Ich bin noch immer nicht ganz über die Geschichte hinweg.“

Ich stellte mein Glas auf dem Tisch ab, nahm ihres aus ihrer Hand, stellte es daneben und nahm sie in die Arme. Sie begann zu schluchzen. Ich streichelte sanft ihren Rücken. Das Schluchzen ging in heftiges Weinen über. Ich weiß, nicht wie lange wir so standen.

Dann sagte sie: „Du bist ein lieber Mann. Vielleicht verliebe ich mich in dich.“

„Mach’ das ja nicht, sonst müsste ich dich töten!“

Wir mussten beide lachen. Wir drückten uns und ließen dann voneinander ab.

„Ich brauche jetzt einen Schnaps, hast du vielleicht einen Grappa ohne Knoblauch?“

„Schau’ mal da oben auf dem Regal.“

Sie deutete mit der linken Hand nach oben, während sie mit der rechten ihr Weinglas ergriff. Ich musste mich strecken, um die Flasche vom Regal zu holen. Ich nahm einen Schluck aus der Flasche, hielt sie ihr dann hin. Sie ließ den Grappa einfach in ihren Schlund laufen, als sei es Wasser.

„Muss ich mir Sorgen um dich machen?“ fragte ich, als sie die Flasche absetzte. Sie schüttelte wieder den Kopf und stellte die Flasche auf den Tisch.

„Nein, musst du nicht. Wir Frauen vertragen sowieso viel mehr als ihr Männer. Ich brauch’s heute eben heftig, sonst kommen diese blöden Gedanken so massiv. Das kann ich heute nicht haben. Ich möchte mich mit dir betrinken.“

Wie sie es sagte, verwirrte mich. Sie war nicht mehr das fröhliche Mädchen, das ich in ihr gesehen hatte.

Sie setzte die Grappaflasche noch einmal an. Ich muss etwas verstört ausgesehen haben, weil sie jetzt ihrerseits „Ist was?“ fragte.

„Nichts“, antwortete ich. „Ich mag es nur nicht, wenn du schneller betrunken bist als ich. Ich werde dann zum Beobachter, und das mag ich nicht. Lass’ uns ins Wohnzimmer gehen. Hast du vielleicht eine CD von Dire Straits?“

„Klar, im Schrank unter dem CD-Player. Such’ was aus, während ich die Brötchen fertig mache. Nimm bitte den Rotwein mit rüber.“

Sie hatte plötzlich wieder einen sehr normalen Ton in ihrer Stimme. Ich fand Brothers in Arms und schob die CD in den Player. Ich setzte mich aufs Sofa, zündete mir eine Zigarette an und schaute den Rauchwölkchen nach.

„Bring’ die Grappaflasche mit!“ rief ich in die Küche. Ich war jetzt auch in der Stimmung, mich zu betrinken. Sie kam mit einem Tablett und der Grappaflasche, die sie unter ihre linke Achsel geklemmt hatte.

Sie setzte die Flasche und das Tablett auf dem Wohnzimmertisch ab, und ließ sich auf das Sofa fallen.

„Puh, war das ein Tag!“

„Für mich auch“, sagte ich. „Ich glaube, ich sollte dir mal erzählen, warum ich nach Gumpingen gekommen bin.“

„Ich bin gespannt. Ich habe mir schon die verrücktesten Erklärungen ausgedacht.“

„So? Was ist denn im Augenblick deine Lieblingsgeschichte?“

„Am spannendsten wäre, wenn du aus einem Irrenhaus ausgebrochen wärst und versuchtest, dich bei mir zu verstecken. Das fände ich richtig cool.“

„Hast du keine Angst bei dem Gedanken? Entlaufene Psychopathen vergewaltigen und morden meistens.“

„Du guckst zu viele schlechte Filme.“

„Aber im Ernst, in letzter Zeit habe ich öfter das Gefühl, ich stehe neben mir. Irgendwie bin ich nicht mehr ich selbst.“

„Und daran ist diese Frau schuld?“

„Sie wohnt hier, ich habe sie heute im Supermarkt gesehen. Es hat mich ganz schön mitgenommen. Außerdem komme ich mir wie ein Spanner vor.“

„Stalker heißt das neuerdings, klingt ein bisschen professioneller.“

„Sie hat mir keine Chance gegeben, mich von ihr zu verabschieden. Ich habe nicht den Mut, mit ihr offen Kontakt aufzunehmen. Deshalb schleiche ich um sie herum.“

„Wovor hast du Angst? Was denkst du, könnte passieren?“

„Ich weiß nicht, vielleicht sagt sie, sie will mich nicht sehen, oder sie ist sauer, weil ich sie nicht in Ruhe lasse.“

„Hast du sie denn irgendwie genervt?“

„Ach, die ganze Geschichte ist so kompliziert. Ich sträube mich dagegen, sie zu erzählen, weil ich das Gefühl habe, dass ich mich permanent zum Deppen mache. Ich kann nur so viel sagen: Sie hat mich an der Stelle erwischt, wo ich sterblich bin. Ich hab mich sowas von verliebt, und ich weiß seit einiger Zeit nicht mehr, wo mir der Kopf oder sonst was steht. Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass es das gibt. Es ist aber wohl so, dass die größten Skeptiker am leichtesten in emotionale Fallen tappen. Aber um deine Frage zu beantworten: Ich hab’ vielleicht zu lange gebaggert, und das hat wohl nicht in ihren Plan gepasst. Sie wollte wahrscheinlich nicht so einen Flächenbrand legen, aber sie hat dann die Kontrolle verloren.“

„Du meinst, sie ist eine kleine Schlampe, die mal schnell was mitnehmen wollte.“

„Ich hab’ immer noch Schwierigkeiten, es so auszudrücken, aber das war es wohl. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und einen sanften Mann, der ihr ein wenig zu sanft ist.“

„Ja, soll’s geben, ich mag auch die sanften Männer nicht so sehr.“

„Das ist ja auch ok, wenn sie sich gelegentlich was nimmt. Nur scheint sie sich keine Gedanken zu machen, welche Katastrophen sie heraufbeschwört. Sie ist eine faszinierende Frau, die bei Männern den Wunsch nach mehr weckt. Das hat zumindest bei mir fatale Folgen gehabt. So wie sie mir erzählt hat, war ich wohl nicht ihr einziges Opfer. Es fühlt sich ein bisschen so an, als sammle sie Männer wie Trophäen.“

„Und du kannst es nicht ertragen, die Trophäe einer Frau zu sein?“ Sie schaute mich mit ihren großen grünen Augen an, als sie das sagte.

„Darum geht’s mir nicht. Wenn ich wüsste, dass sie nur eine Schlampe ist, könnte ich es vielleicht besser wegstecken. Ich kenne sie einfach zu wenig. Deshalb ist es wahrscheinlich so hart.“

Ich nahm einen Schluck aus der Grappaflasche und merkte plötzlich wie fertig ich war. Die Tränen stiegen mir in die Augen. Ich tat mir so leid. Gleichzeitig schämte ich mich vor Inga, weil ich mich so gehen ließ. Sie schien es zu spüren, denn sie stand auf, lief in die Küche und machte sich dort zu schaffen. Ich suchte mein Taschentuch, fand es nicht und schnäuzte in die gelbe Papierserviette, die auf dem Tisch lag. Dann schämte ich mich auch dafür.

Inga kam zurück. „Hör auf damit!“ sagte sie sehr bestimmt. „Den letzten Mann, der sich bei mir ausgeheult hat, habe ich rausgeschmissen. Ich habe keine Lust, die tröstende Tante zu machen.“

„Tut mir Leid, ich reiß’ mich zusammen. Hast du vielleicht ein Taschentuch für mich?“

Sie öffnete eine Schublade in der Anrichte, holte eine Packung Papiertaschentücher heraus und warf sie mir zu. „Mach’ dich frisch und dann erzähl mir, was du vorhast.“

Ich nahm die Packung und ging mit der Grappaflasche auf die Toilette. Ich putzte mir die Nase und betrachtete mich im Spiegel über dem Waschbecken: graues Gesicht, Bartstoppeln und unendlich müde Augen.

Ich setzte mich auf die Toilette und dachte nach. Ich wollte das alles nicht mehr. Ich wollte nicht mehr Mitleid mit mir haben, ich wollte mich nicht bei wildfremden Frauen ausweinen. Ich wollte glücklich sein, ich wollte geliebt werden, ich wollte Lust empfinden. Ich hatte so die Schnauze voll von allem, und besonders von den Frauen. Ich wusste, dass ich Inga Unrecht tat, aber sie bekam eben alles ab.

Zum tausendsten Mal schwor ich mir, mein Leben zu ändern, und zum tausendsten Mal wusste ich nicht wie. Ich saß auf dem Klodeckel, die Grappaflasche in der Hand und fühlte mich elend.

Dann leerte ich den Grappa langsam ins Waschbecken neben dem Klo. Morgen würde ich ihr eine neue Flasche kaufen. Ich brauchte jetzt dieses Ritual. Es war schade um den guten Schnaps, aber es musste sein. Es war genau so wie mit den Zigaretten. Viele Schachteln hatte ich schon, obwohl noch halb voll, weggeworfen - und mir dann am nächsten Morgen eine neue gekauft.

Als die Flasche leer war, stand ich auf, lauschte an der Tür, ob von Inga etwas zu hören war. Dann schlich ich mich in Britts Zimmer, entkleidete mich und legte mich in der Unterwäsche aufs Bett. Morgen würde ein anderer Tag sein.

*

Ich erwachte, schaute auf meine Armbanduhr, es war halb vier. Ein Traum hatte mich geweckt.

Ich saß wieder im Mathematikabitur und sollte eine Formel ableiten. Ich war dazu nicht in der Lage und schaute mich hilfesuchend um, aber alle Gesichter, in die ich sah, zeigten eine feindselige Leere. Der Prüfer schaute mich voller Schadenfreude an, so wie es mein letzter Mathematiklehrer immer getan hatte. Er war sehr viel kleiner als ich, hatte ungebändigte, wirre Haare, nicht der Typ, der bei Frauen ankam.

Diesen Traum habe ich immer wieder. Ich erwache schweißgebadet und bin froh, in der jeweiligen Jetzt-Zeit zu sein.

Gelegentlich hörte ich das Geräusch von vorbeifahrenden Autos. Es wurde schon langsam hell. Ich erinnerte mich, dass ich vor dem Einschlafen einen Entschluss gefasst hatte. Ich überlegte, ob ich mich von Inga verabschieden oder wie ein Dieb in der Nacht verschwinden sollte. Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte. Sie hatte mich bei sich aufgenommen, hatte mir zugehört, war lieb zu mir gewesen. Ich hatte mich eher unangenehm benommen, hatte mich bei ihr breit gemacht, hatte ihr Angebot mit mir zu schlafen abgelehnt. Stattdessen hatte ich ihr vorgejammert. Alles in allem hatte ich ein schwaches Bild abgegeben.

Ich schämte mich, ihr noch einmal unter die Augen zu treten. Ich stand auf, wechselte meine Unterwäsche, zog meine Klamotten an und packte meine Sachen zusammen. Mir fiel ein, dass ich ihr noch nichts für die Miete gegeben hatte und legte ihr 150 Mark aufs Bett. Ich warf noch einen Blick ins Zimmer, ob ich etwas vergessen hatte. Der Hut! Ich holte ihn von dem Haken hinter der Tür, wo ich ihn am Abend zuvor aufgehängt hatte. Dann schlich ich mich leise durch den Flur. Als ich die Wohnungstür leise hinter mir schloss, glaubte ich, freier atmen zu können. Ich trat vor das Haus, die ersten Vögel zwitscherten. Ich erinnerte mich an meine Studentenzeit in Mannheim, wenn ich frühmorgens nach einer durchzechten Nacht nach Hause ging. Die Luft hat um diese frühe Zeit eine ganz besondere Qualität. Alles scheint leichter zu sein. Es ist etwas dran, dass morgens um sieben – oder eher ein bisschen früher – die Welt noch in Ordnung ist.

Im Auto legte schob ich Beethovens Sechste in den CD-Player. Ich lehnte mich zurück und ließ mich von der Musik tragen. Bilder kamen und gingen. Ich sah einen ähnlichen Film, wie ich ihn aus den Beschreibungen von Menschen kannte, die Nah-Tod-Erlebnisse gehabt hatten. Mein Leben zog an mir vorüber. Ich sah unglaublich präzise Einzelheiten, Ereignisse, die ich vergessen zu haben glaubte. Es waren auch welche darunter, die ich lieber nicht mehr in meinen Erinnerungen gehabt hätte. Das eine oder andere Bild wollte ich nicht loslassen, doch es entzog sich mir.

Als ich aus dieser Zwischenwelt zurückkam, zeigte die Uhr auf dem Armaturenbrett halb neun. Ich hatte Hunger und Lust auf eine Tasse Kaffee. Für einen Moment dachte ich daran, zu Inga in die Wohnung zu gehen, mich zu entschuldigen und mit ihr zu frühstücken, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Alles hätte von vorne angefangen, die schlechten Gefühle, das schlechte Gewissen wäre wieder da gewesen. Ich wollte den Schlussstrich jetzt und hier ziehen.

Ich ließ den Wagen an und fuhr los. An einer Ampel musste ich anhalten und da sah ich sie wieder. Patrizia stand in weißer Bluse und schwarzer Jeans vor einem Schaufenster. Über die Schulter gehängt trug sie eine dunkelblaue Ledertasche. Hinter mir hupte jemand, weil ich die Grünphase verschlafen hatte. Ich bog rechts ab und suchte einen Parkplatz, natürlich um diese Zeit aussichtslos. Ich fuhr einfach weiter, bis ich einen großen Parkplatz sah, fuhr aber dann doch vorbei.

Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie ich auf sie zugehen, wie ich sie ansprechen sollte. Ich war immer noch nicht so weit. Ich fuhr ein gutes Stück aus der Stadt hinaus. Bei einem kleinen Landgasthof an der Straße hielt ich an. Vor dem Eingang standen mehrere Gartentische mit rot-weiß karierten Decken unter einem riesengroßen Laubbaum, von einem hinfälligen alten Holzzaun von der Straße abgesondert. Ich setzte mich an einen der Tische und wartete auf die Bedienung.

Eine ältere Frau kam, grüßte freundlich und fragte, ob ich noch frühstücken wollte. Ich bestellte Kaffee und Rühreier mit Schinken und fragte nach einer Zeitung. Während ich wartete, saß ich auf meinem Stuhl und dachte an nichts. Ich spürte einen warmen Luftzug auf meiner Haut, genoss die Wärme der Sonne, empfand eine Leichtigkeit, die ich lange nicht mehr gekannt hatte.

Als das Frühstück samt einer großen Kanne Kaffee kam, war es mir fast unangenehm, in meiner Ruhe gestört zu werden. Aber der Duft von Kaffee und Eiern holte mich zurück. Ich legte die Zeitung neben den Teller und vergaß die Zeit.

Irgendwann nach zwei Brötchen und einer fast leeren Kaffeekanne und dem Sporttteil der Zeitung nahm ich meine Umwelt wieder wahr. Der Tag war atemberaubend schön. Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück, schloss die Augen, spürte die Sonne auf meinen Lidern und sah das Rot, das ich immer sehe, wenn ich mit geschlossenen Augen in die Sonne schaue.

„Hat’s Ihnen geschmeckt?“ fragte die nette Bedienung, und begann, das Geschirr abzuräumen. „Sind Sie auf der Durchreise?“

„Eigentlich wollte ich ein wenig in dieser Gegend bleiben, aber ich habe noch nicht die passende Unterkunft gefunden. Vermieten Sie denn auch Zimmer?“

„Wir haben ein paar Zimmer, aber bei uns übernachtet außer ein paar Stammgästen selten jemand von außerhalb. Wollen Sie’s sich mal anschauen? Wir haben auch ein schönes Einzelzimmer nach hinten raus.“

„Ja, würde ich gerne tun. Mir gefällt’s hier.“

„Ja, dann kommen Sie mir nach, ich muss nur schnell das Geschirr in der Küche abstellen.“

Ich lief hinter ihr her in einen dunklen Flur, in dem es nach Äpfeln roch. „Warten Sie, ich komme gleich!“ Ich hörte sie in der Küche mit dem Geschirr klappern, und dann ging sie vor mir eine Treppe hoch, die ich in der Dunkelheit nicht wahrgenommen hatte. Es ging nicht sehr hoch hinauf zu einem langen Flur, der offensichtlich parallel zur Straße verlief. Auf beiden Seiten des Flures waren Türen zu den Zimmern, nahm ich an.

„Ich denke, Sie schlafen lieber nach hinten hinaus, da ist es ruhiger. Ich zeige ihn mal ein Zimmer.“

Sie öffnete eine der Türen und ließ mich eintreten. So hatte ich mir die Zimmer in Märchen immer vorgestellt. Ich sah ein Himmelbett mit blau-weiß karierten Kissen und Bettdecken. Am Fenster, das eine viergeteilte Scheibe hatte, stand ein kleiner Tisch mit rot-weiß karierter Tischdecke und einer Vase mit Schnittblumen, blaue Gerbera. Es gibt gar keine blauen dachte ich. Sie musste sie auf irgendeine Weise gefärbt haben. In der Ecke links neben dem Fenster stand ein kleiner Fernsehapparat auf einem Regal, in dem eine ganze Menge Bücher aneinandergereiht waren, deren Einbände sympathisch bunt aussahen. In der anderen Ecke stand eine Art Sekretär, an der freien Wand rechts ein riesiger Kleiderschrank aus altem Holz. Überall hing der Duft von Äpfeln in der Luft.

Ich fragte nicht nach dem Preis. „Kann ich ein, zwei Wochen hier bleiben?“

„Sie können bleiben so lange Sie wollen, wir haben keine Vorbestellungen. Wir haben regelmäßig ein paar Gäste, die für eine Firma in der Nähe arbeiten. Die werden Sie aber nicht stören. Die gehen früh ins Bett und sind auch früh aus dem Haus. Wir bieten auch Halbpension an, wenn sie das wollen. Sie können auch wählen, ob Sie mittags oder abends essen wollen.“

„Ich glaube, Frühstück reicht mir erst mal. Ich weiß nicht, ob ich immer da sein werde. Kann ich gleich hier bleiben?“

„Ja, natürlich, die Betten sind frisch gemacht. Die Matratze ist übrigens aus Latex, nicht, dass Sie glauben, Sie müssten auf einem Strohsack schlafen.“ Sie lachte, als Sie das sagte.

Sie zog einen Schlüssel mit einem runden Metallanhänger aus der Tasche ihrer Schürze. „Hier, der passt auch für die Haustür. Wir schließen nach 21 Uhr ab. Und jetzt richten Sie sich erst mal ein. Hier ist übrigens das Bad.“

Sie öffnete eine Tür in der Holztäfelung der Wand unmittelbar neben der Zimmertür. Die Tür war so geschickt in die Wand integriert, dass ich sie übersehen hatte. Das Licht war automatisch angegangen und beleuchtete ein gelbes Waschbecken, eine gelbe Toilette und eine raffinierte Verspiegelung auf dem Hintergrund von sagenhaft blauen Fliesen.

„Grandios“, sagte ich überwältigt. „Hätte ich nicht erwartet, aber umso besser.“

Sie verließ das Zimmer und sagte noch: „Wenn Sie etwas brauchen, ich bin unten in der Küche.“

Ich öffnete das kleine Fenster. Der Blick ging auf einen kleinen Garten hinter dem Haus. Es gab einen Rasen, auf dem ein Tisch stand mit drei Stühlen. Es gab wieder diese rot-weiß karierte Tischdecke, einen zusammengeklappten Sonnenschirm, eine Handpumpe mit einem ausgehöhlten Baumstamm davor, der als Wasserspeicher diente.

Ich hatte das Gefühl, dass ich der einzige Gast war. Es war sehr still im Haus. Von der Vorderseite her war kein Verkehrslärm zu hören. Ich schlug die Decke meines Himmelbetts zurück, zog die Schuhe aus und legte mich mit den Kleidern hinein. Zwischen dem vorderen linken Bettpfosten und dem Baldachin hatte eine kleine Spinne ihr Netz gebaut. Sie verharrte reglos am Rande. Ich erinnerte mich an eine Situation kurz vor der Geburt meines Sohnes. Da meine damalige Frau mit dem Gebären nicht voran kam, hatte die Hebamme vorgeschlagen, ein Bad zu nehmen. Wie saßen beide auf dem Rand der Badewanne. In der Badewanne saß eine große Hausspinne. Wir draußen, sie drinnen, die Zeit schien still zu stehen. Es war ein Moment vollkommener Ruhe, wie ich ihn selten erlebt und nie vergessen habe. Eine Art Eins-Sein mit der Natur, dem Kosmos. Es gibt viele Worte dafür.

Ich beschloss, mit der Spinne in friedlicher Koexistenz zu leben. Ich musste an Inga denken. Mein schlechtes Gewissen quälte mich. Ich hätte nicht so einfach abhauen sollen. Ich überlegte, ob ich ihr einen Brief schreiben sollte, aber ich hatte nicht einmal ihre Adresse. Ich wusste, wo sie arbeitete, zur Not würde ich auch ihre Straße wieder finden, aber ich hatte auch nicht auf ihren Nachnamen geachtet.

Ich schlief über diesen Gedanken ein, träumte wie immer in letzter Zeit wirres Zeug, erwachte irgendwann und stellte nach einem Blick auf meine Uhr fest, dass es später Nachmittag war. Es war angenehm, nichts tun zu müssen, zu wissen, dass niemand auf mich wartete. Gleichzeitig kamen aber die verstohlenen Gedanken, wie lange das wohl so gehen könnte. Ich spürte körperlich das Unbehagen der Ungewissheit. Ich wusste nicht wie lange meine Geldmittel reichen würden, wie lange ich das so durchhalten würde. Mir war klar, dass ich bald eine Entscheidung über meine Zukunft treffen musste. Es grauste mir davor, diesen leichten Zustand, in dem ich mich befand, aufgeben zu müssen. Ich konnte mir gut vorstellen, für immer so einfach in den Tag hinein zu leben.

Ich konnte mich auch mit dem Gedanken anfreunden, allein zu leben, dachte aber auch daran, was im Alter sein würde, wenn ich vielleicht Pflege brauchte. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie es sein würde. Ich war nicht in der Lage, diesem Teil meiner Zukunft ein Gesicht zu geben.

Wieder lief ein Film in meinem Kopf ab, Erinnerungen aus meiner Studentenzeit in Mannheim, Bundeswehr, Schulzeit, alles in hellem Licht, eine Menge Gerüche, die mich überfluteten. Gesichter, die ich lange vergessen hatte oder die ich hatte vergessen wollen, geisterten an mir vorbei, Freunde im Studentenwohnheim, Genossen in der Partei, Kollegen aus meinen verschiedenen Jobs, die ich angenommen hatte, um mir etwas leisten zu können, Menschen, mit denen ich Fußball oder Tennis gespielt hatte. Zu den allermeisten hatte ich keinen Kontakt mehr. Meist hatte es sich totgelaufen, hatte sich durch Umzug erledigt, oder ich hatte mich bewusst getrennt, weil ich sie irgendwann unerträglich fand.

Ein paar wenige begleiten oder verfolgten mich immer noch, je nachdem wie ich die Sache besah. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass die Lücken, die bestimmte Personen hinterließen, sich entweder schlossen oder dass andere die Positionen besetzten.

Ich spürte auch den Schmerz, wenn eine Lücke wie eine offene Wunde blieb. Davon gab es wenige, doch diese schmerzten heftig und lange. Die Zeit ist ein langsamer Heiler.

Seventy-nine fiel mir ein. Wir nannten sie so, weil sie im Studentenwohnheim in Zimmer 79 wohnte. Sie hieß Hilde, war aus Hannover und machte einen Sommerkurs an der Mannheimer Universität. Ich kam eines Abends relativ früh aus der Kneipe, fuhr mit dem Fahrstuhl in den Keller, um mir noch ein Bier aus dem Automaten zu holen. Sie wollte gerade einsteigen, als ich im Keller ankam. Wir grüßten uns, hatten uns wohl vorher im Haus schon einmal gesehen. Sie hielt die Fahrstuhltür offen, während ich mein Bier aus dem Automaten zog. Auf der Fahrt nach oben fragte ich sie, ob sie ihr Bier nicht bei mir trinken wollte. Sie stimmte fast zu schnell zu. Sie schien einsam, machte den Eindruck als wollte sie reden, fing schon im Fahrstuhl an, von sich zu erzählen.

Ich konnte schon immer gut zuhören, was mir oft hinderlich war, weil ich mich besonders gern von Frauen benutzen ließ, die bei mir ihre seelischen Beschwerden abladen wollten. Durch das Reden über die intimsten Dinge entstand meist eine Distanz, die nicht mehr aufzulösen war. Bei Hilde hatte ich Glück, dass sie so viel trank.

Nachdem wir uns auf meinem Bett in meiner kleinen Studentenbude, wo es weder Tisch noch Stuhl gab, niedergelassen hatten, erzählte sie mir endlose Details aus ihrem reichlich verkorksten Leben. Manchmal konnte ich den Faden nicht verfolgen, den sie vor mir abrollte. Zwischendurch fuhr ich mehrmals nach unten, um mehr Bier zu holen. Ihre Erzählungen wurden mit jedem Bier ein wenig wirrer. Ich spürte den Alkohol auch, ohne richtig betrunken zu werden. Ich hörte, wie sie umständlich eine verwirrende Missbrauchsgeschichte darstellte. Ihr Großvater hatte sie anscheinend an einer intimen Stelle berührt. Es hörte sich aber auch teilweise so an, als sei sie selbst gar nicht beteiligt gewesen, als habe sie das nur beobachtet.

RoadMovie

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