Der Prophet und sein Buch

Der Prophet und sein Buch
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Описание книги

Die Sterblichkeit der Menschheit ist die Quelle der Religionen, da sich die Menschen schon seit jeher die Grundfragen stellen und auf der Suche nach Antworten sind. Doch im Wandel der Zeit wurden etablierte Religionen wieder verworfen und durch neue Glaubensrichtungen ersetzt. Jedoch hatte jeder Wandel etwas gemein, denn die Propheten, die ihre Religion vertraten und unter das Volk brachten, wurden von einem Fanatismus beherrscht. Ebenfalls versuchte die Herrscherklasse sowie die obere Schicht der Gesellschaft die Religionen zu nutzen, um somit mehr Einfluss auf das Volk haben zu können. Das vorliegende Werk bietet einen Überblick über die unterschiedlichen Religionen und ihre Anschauungen. Der Koran wird näher analysiert sowie mit dem Christentum und mit dem Judentum verglichen.

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Hasan Denis Kalkan. Der Prophet und sein Buch

Impressum

2. Ein kurzer Blick in die Galerie. der Religionen und die geistige Entwicklung des Menschen. Erst möchte ich dem Leser einen kurzen Blick in die große Galerie der Religionen ermöglichen, damit er den Propheten Mohammed und seine Religion mit anderen Glaubensrichtungen vergleichen und diesen Glauben in der geistigen Entwicklung der Menschheit selber platzieren kann. Als der Mensch in der grauen Vergangenheit eines Tages aufwachte und sich seiner selbst bewusst wurde und verstand, dass er anders war als alle anderen Geschöpfe in der Natur, so begann er mit seinem Überlebenskampf. Während dieses dramatischen Überlebenskampfes, den er gegen die Naturgewalten und wilden Raubtiere führen musste, stand er sicherlich auch der ersten geistigen Herausforderung gegenüber. Denn er konnte weder die Entstehung der bedrohlichen, sogar vernichtenden Naturphänomene noch die Gründe seines eigenen Todes erklären. In diesem Stadium seines Bewusstseins blieb ihm bestimmt nichts anderes übrig, als hinter all diesen Geschehnissen geheimnisvolle, unheimliche Kräfte zu sehen. Um die Unterstützung dieser geheimnisvollen und gefürchteten Kräfte zu haben oder sie zu besänftigen, entstanden sicherlich die ersten Anbetungsobjekte und Anbetungsformen. Dass die ersten Religionen aus der Hilflosigkeit des Menschen gegenüber den Naturgewalten, und aus der Ausweglosigkeit der menschlichen Realität, nämlich des Todes entstanden sind, wird von fast allen Wissenschaftlern, von den meisten Philosophen und sogar von einigen Theologen angenommen. Der Mensch war nicht in der Lage, die verheerenden Erdbeben und vernichtenden Vulkane, die ständig Asche und Feuer auf die Erde schleuderten, zu erklären. Genauso wenig kannte er die Gründe der Donner und Blitze, der verheerenden Waldbrände, des Regens, der plötzlich vom Himmel in Strömen fiel und in kürzester Zeit sich in einen reißenden Strom verwandelte, und der Zerstörungskraft der sich ständig im Wandel befindenden Meere. Daher vermutete er unheimliche Mächte hinter all diesen geheimnisvollen Kräften und Phänomenen. In seiner Verzweiflung brauchte der Mensch einen Halt bzw. eine Hoffnung – die allerdings in allen Religionen zum Ausdruck kommen –, um in diesem Kampf des Überlebens seine Kraft nicht zu verlieren, mit anderen Worten, vor den Naturgewalten nicht zu kapitulieren. Wir stellen fest, dass die Entwicklung der Religionen in verschiedenen Gebieten der Erde der Evolution des menschlichen Geistes entspricht: Am Uranfang der Religionen suchten die Ureinwohner von Australien Schutz bei einem Tier oder einer Pflanze, nämlich bei einem Totem, das sie als ihren Ahn verehrten und sich mit ihm identifizierten. In der Nähe seines Totems (man kann es auch als Gott bezeichnen), das der Mesnsch sehen und berühren konnte, fühlte er sich in Sicherheit. Es wird angenommen, dass die Zauberei auch aus dem Totemismus hervorgegangen sei. Im Laufe der weiteren Entwicklung glaubte man, dass die Toten in Form eines Geistes weiterlebten. So wurde in jedem Tier, jeder Pflanze, sogar in allen nicht lebendigen Wesen ein lebender Geist gesehen, den man „Mana“ nannte. Demzufolge wurde dem Mana göttliche Kräfte zugeschrieben, d. h. er wurde vergöttlicht. In der Tat wurde eher die geheimnisvolle Kraft des Totems angebetet als das Tier oder die Pflanze selbst. Dieser uns bekannte älteste Glaube lebte in verschiedenen Gebieten der Welt mehrere zehntausend Jahre. (Diesen Gedanken sieht man auch in den Anfängen des mosaischen Glaubens bei den Buschgeistern. Und stellte man den Heiligen Geist in den Mittelpunkt, so könnte man auch im christlichen Glauben eine ähnliche Idee erkennen.) Da dieser Glaube in jedem Wesen, sei es etwas Lebendiges oder Nichtlebendiges, einen ihm innewohnenden Mana sah und diesen Geist personifizierte, hat man ihn auch „Animismus“ genannt. Der Animismus lebt heute noch bei vielen primitiven Gesellschaften, zum Beispiel bei vielen Stämmen in entlegenen Gebieten der Welt weiter, die mit der sogenannten modernen Kultur und Zivilisation noch nicht in Berührung gekommen sind. (Ich habe selbst diese Gesellschaften in verschiedenen Wald- und Bergregionen im Fernen Osten besuchen und deren Kulthandlungen beobachten können.) In diesem Glauben fanden die Menschen einen großen Trost, den sie heute genauso bei den theistischen Religionen haben. Denn sie glaubten nicht, dass der Tod das endgültige Ende sei. Sicherlich lebten die Geister der Verstorbenen in einem anderen Ort weiter. Aber allein die Vorstellung eines weiteren Lebens als Geist reichte dem Menschen nicht aus, sich mit dem Tod seiner Familienangehörigen abzufinden, er wollte auch deren Seelen in seiner Nähe wissen. So wurde der Animismus auch zur Basis der Ahnenverehrung. Man verehrte sie nicht nur aus Liebe und Respekt. Sie wurden auch aus Angst verehrt, damit sie ihren zurückgebliebenen Angehörigen nicht schadeten. Deshalb versuchte man stets, die Geister der Ahnen durch die Kulthandlungen, insbesondere durch Opfergaben gnädig zu stimmen oder zumindest zu besänftigen. Das fundamentale Bedürfnis geschützt zu werden, und die Schwierigkeit, sich von geliebten, vertrauten Menschen zu trennen, waren offensichtlich die Hauptgründe der Ahnenverehrung. Auf der anderen Seite ist die Ahnenverehrung sicherlich ein Zeichen dafür, dass der Mensch geistig gesehen noch nicht reif und frei genug war, sich von Blutsbindungen loszulösen. Die aus dem Geisterglauben hervorgegangene Ahnenverehrung erreichte ihren Höhepunkt allemal in China, und sie wurde von dem berühmten Gelehrten Konfuzius zur Spitze getragen. Demzufolge wurde der Himmel als der höchste Geist der Ahnen personifiziert und der Kaiser wurde zum Sohn des Himmels erhoben. Auf dieser Grundlage wurde eine komplizierte und strenge Hierarchie des Ahnenkultes begründet. Der Ahnenkult hat über die Jahrtausende hinweg nicht nur die Mentalität, sondern auch das soziale und politische Schicksal der chinesischen Völker bestimmt. Der auf dem Geisterglauben basierende Ahnenkult lebte in den chinesischen Gesellschaften neben Taoismus und Buddhismus jahrhundertelang weiter. Keine der beiden Glaubensrichtungen konnte jemals die Macht des Ahnenkultes in jener Kultur brechen. Auch der marxistisch-kommunistischen Ideologie ist es nicht gelungen, den Einfluss des Ahnenkultes zu schwächen. Selbt die sogenannte Kulturrevolution Maos und seine vorlauten und übereifrigen Anhänger versagten bei diesem Glauben, und zwar trotz aller Staatsgewalt. Der Animismus, besser gesagt, Geisterglaube, der eigentlich als Vorstufe der Hochreligionen gilt, wurde in der polytheistischen Epoche vor allem von Römern als Kaiserkult (oder Herrscherkult) weiter gepflegt. Infolgedessen wurde der Herrscherkult mit dem Ahnenkult verbunden. Jedenfalls lebt der Animismus als Herrscherkult oder Ahnenverehrung noch heute bei oder in den monotheistischen Hochreligionen weiter. Auf dem Wege seiner geistigen Entwicklung erreichte der Mensch eine Stufe, wo er anfing, den Gottheiten, die für bestimmte Naturphänomene oder -elemente zuständig waren, menschliche Eigenschaften zuzuschreiben. Dann formte der Mensch die Figuren seiner Gottheiten selbst und stellte sie in die Häuser und Tempel, wo er sie anbeten konnte. Dadurch entstanden bei vielen Völkern in verschiedenen Gebieten der Welt unzählige Heiligtümer. In manchen Beziehungen wurden die Götter mit Menschen verglichen. Also, sie hatten auch Leidenschaften wie die Menschen, ebenso hatten sie Streitigkeiten und Probleme miteinander. Sie kämpften zwar öfters gegen dämonische Mächte, aber sie kämpften auch gegeneinander. Sie töteten, ergriffen Partei, wurden manchmal wütend und zornig wie die Menschen. Wie sie liebten, so hassten sie auch. Natürlich waren sie neidisch aufeinander und auch sehr launisch. Es war nichts Außergewöhnliches, dass die Gottheiten Liebschaften untereinander und auch mit den Sterblichen hatten und fremdgingen, d. h. Ehebruch begingen. Der Mensch wollte zum einen seine Götter durchaus vermenschlichen und wie sich selbst betrachten, zum anderen identifizierte er sich mit ihnen. In Wirklichkeit wurden die eigenen Wünsche und Träume, die aus sozialen, wirtschaftlichen oder persönlichen Gründen schwer oder überhaupt nicht zu erfüllen waren, durch die Eigenschaften und Beziehungen der Gottheiten zum Ausdruck gebracht. Wenn die Götter kämpften und töteten, dann dürfte der Mensch es auch tun. Wenn eben die Götter einander belogen und hassten und auch viele Tricks verwendeten oder einander Fallen stellten, so durfte dies der Mensch auch. Wenn die Gottheiten fremdgingen, dann durfte der Mensch auch unter Umständen das Gleiche tun. Obwohl jedes Volk oder mehrere Volksgruppen in einem Land ein gemeinsames Pantheon hatten, durften verschiedene Glaubensgemeinschaften oder Stämme ihre eigenen Gottheiten innerhalb des gleichen Heiligtums verehren oder anbeten. In großen Heiligtümern oder heiligen Bezirken standen unterschiedliche Götterfiguren friedlich nebeneinander. Aus den oben genannten Gründen wurde der Polytheismus zur Basis der großen Toleranz jener Epoche und erleichterte den Menschen das gemeinsame Leben in der Gesellschaft. Mit anderen Worten: Der polytheistische Glaube konnte den Menschen das damalige schwere Leben einigermaßen erleichtern. Darüber hinaus glaubte man fest an ein Leben nach dem Tode. Die damaligen Pantheons hatten aber oft unterschiedliche Vorstellungen von einem weiteren Leben im Jenseits. Wenn die Vorstellungen von Paradies und Hölle auch je nach dem Pantheon unterschiedlich waren, doch waren die Konsequenzen gleich. Das Paradies war immer die Belohnung, während die Hölle als Strafe betrachtet wurde. Überdies lieferte das Formen und Zeichnen von Götterfiguren auch die Grundlagen der Malerei, nicht zuletzt der Bildhauerkunst. Die Malerei und Bildhauerei, deren Grundsteine schon beim Totemismus gelegt wurden, gingen dann im Verlauf der geistig-religiösen Entwicklung Hand in Hand. Die Idealisierung des Aussehens der Gottheiten förderte sicherlich das Kunstschaffen des Menschen. Ständig versuchte er die Figuren der Gottheiten so makellos und vollkommen wie möglich darzustellen. Obwohl er sich die Götter auch physiognomisch gesehen wie die Menschen vorstellte, sahen diese doch fast immer schöner aus als der Mensch. Der Mensch betete nun das Werk seiner Hände an. Dies war vermutlich auch der Anfang der Entfremdung des Menschen. Die Entfremdung lag aber nicht im Beten, sondern woanders: Der Mensch übertrug den Göttern all seine guten menschlichen Eigenschaften, indem er seine Tugenden wie Liebe, Mitleid, Würde, Integrität und Stärke an die Götter abtrat. Letztendlich überschrieb er den Göttern sogar die größte menschliche Errungenschaft, nämlich seine Vernunft. Soviel die Geschichte berichtet, hatte der Polytheismus seinen Anfang in Mesopotamien bei den Völkern wie Babyloniern, Assyrern, Sumerern, Ägyptern, dann in Griechenland und Italien. Etliche animistische Naturgottheiten, aus denen im Verlauf der Geschichte die polytheistische Glaubensweise hervorgegangen war, lebten jedoch neben oder im Polytheismus weiter, wie zum Beispiel die Mutter- und Fruchtbarkeitsgöttin Kybele in Anatolien, Ishtar (oder Astarte) in Mesopotamien und dergleichen mit ähnlichen Eigenschaften und magischen Kräften überall in der Welt, insbesondere im Mittleren Osten. Der Hinduismus, der etwa in der gleichen Epoche entstand, kann auch dem Polytheismus zugeordnet werden, denn in diesem Glauben werden ebenso unzählige Gottheiten verehrt. Der Hinduismus, den man wegen der heiligen Texte (Veda, pl. Veden) jahrhundertelang Vedismus nannte, und auch der Pantheismus, den man zum Teil bei den chinesischen Völkern noch immer antreffen kann, können in einem Sinne ebenso dem Polytheismus zugeordnet werden, weil sie viele Ähnlichkeiten haben. Was aber das weitere Leben im Jenseits anbetrifft, gingen die Völker im indischen Raum einen Schritt weiter und stellten sich das Leben nach dem Tode auf der gleichen Welt vor, und zwar in Gestalt eines anderen Menschen, und je nach der Stufe der Wiedergeburt vielleicht auch als ein Tier. Bei diesem Glauben gab es zwar weder Paradies noch Hölle, aber in Wirklichkeit kam das Niveau der Reinkarnation diesen imaginären Orten im Jenseits gleich. Denn eine höhere Wiedergeburt bedeutet ein weiteres Leben im Paradies, eine niedere Wiedergeburt hingegen ein Leben in der Hölle. Laut dem hinduistischen Glauben hat man zwar einen Schöpfergott, nämlich den Brahma, aber er ist nicht der höchste Gott, denn er trat in den Hintergrund, nachdem er die Schöpfung des Universums (wohlgemerkt die Welt des hinduistischen Glaubens) vollendete. Dann rückten zwei große Götter, Shiva und Vishnu, in den Vordergrund. Obwohl der Brahma das ganze Universum umfasst und auch dessen Urstoff ist, und mit dieser Eigenschaft zur Trimurti (hinduistisches Hochgötter-Trio Brahma-Vishnu-Shiva) gehörte, wurden die unzähligen großen Tempel nicht für ihn, sondern für Vishnu und Shiva errichtet, wie die Alten Griechen die größten und schönsten Tempel nicht für den Göttervater Zeus, sondern für einige andere Gottheiten errichtet hatten. Im hinduistischen Glauben sind andere unzählige Gottheiten verschiedene Inkarnationen, das heißt Erscheinungen (sanskrit: avatar) von Vishnu und Shiva. Vishnu ist der Beschützer und Erhalter allen Lebens, Shiva ist hingegen der Zerstörer der Welt. Wenn die Menschen die Götter vergessen und den gerechten und sittlichen Weg verlassen, mit anderen Worten, wenn der Weltuntergang bevorsteht, dann steigt der Hochgott Vishnu in Menschen- oder Tiergestalt auf die Erde herab und bekämpft und besiegt das Böse und stellt die sittliche Weltordnung wieder her. Dagegen aber muss Shiva die Welt, das heißt alles Leben zerstören, vernichten, damit es von Neuem erschaffen werden kann. In dieser Eigenschaft ist Shiva der Zerstörer und Gnädige zugleich. Trotz der monotheistischen Tendenzen des Hinduismus, der heute einer der fünf großen Religionen der Erde ist, existieren bei diesem Polytheismus zahlreiche Gottheiten friedlich nebeneinander, ebenso viele verschiedene religiöse Gemeinschaften, die verschiedenen Gottheiten anhängen und sie anbeten. Diese tolerante Haltung der Hindus den Gottheiten anderer Volksgruppen gegenüber ist noch immer wie bei den einstigen polytheistischen Gesellschaften. Dieses Verständnis, was die Hindus in Indien den Gottheiten anderer Glaubensgemeinschaften entgegenbringen, ist mehr als beneidenswert, wovon man bei großen monotheistischen Reiligionen heute nur träumen kann. Schon im Totemismus und danach bei den animistischen Glaubensrichtungen bildete sich je nach Bedarf eine geistliche Gruppe wie die Schamanen, Priester und dergleichen, welche die Opfer- und Kulthandlungen vollzogen und die Verbindung zwischen Menschen und Gottheiten herstellen mussten. Seit Ewigkeit glaubte man, dass das Wohl und Weh des Volkes sowie das Gedeihen von Vieh, Pflanzen und Getreide hinsichtlich der Kulthandlungen von dem jeweiligen Priester abhing, wobei es auf den richtigen Vollzug der Riten, insbesondere der Opferriten ankam. So wurde der Opferkult ein Bestandteil aller Religionen, der im Polytheismus seinen Höhepunkt erreichte und alle Epochen der Menschheitsgeschichte überdauerte und noch heute in allen Religionen in verschiedenen Formen weiterlebt. Der Mensch muss wohl die personifizierten Naturkräfte und die Gottheiten, die er anbetete, wie sich selbst gesehen haben. Wie er gegenüber demjenigen, der ihm etwas gab, gnädig oder gut gesinnt war, so sollten auch die Gottheiten dem Menschen gegenüber gnädig und großzügig sein, der ihnen Opfer, in welcher Form auch immer, darbrachte. Diese Denkweise war wohl auch der Anfang des größten Lasters, der unheilbaren Krankheit der Menschheit, nämlich der Bestechung, die seitdem in allen Gesellschaften in verschiedenen Formen weiterlebt und bis zum Ende der Menschheitsgeschichte weiterzuleben scheint … In jener Epoche wurde dem Opferkult in vielen Gebieten der Welt, vor allem im Mittleren Osten, solch eine große Bedeutung beigemessen, dass man auch Menschen opferte, das heißt zu Ehren einiger Götter Menschen abschlachtete, um deren Gunst zu gewinnen oder sie zu besänftigen. Im Laufe der gleichen Epoche gelangte der Mensch wohl zu einem geistigen Niveau, dass die Eltern ihre Töchter oder Söhne nicht mehr als Opfer weggeben wollten. Deshalb war man gezwungen, Sklaven oder Kriegsgefangene zu opfern. Sie waren aber weder jung noch schön. Vielen von denen fehlte ein Arm oder ein Bein. Damit die Gottheit wegen des unschönen Opfers nicht beleidigt war, wurden der Kultfigur des jeweiligen Gottes die Augen zugebunden … Jedenfalls brauchte der Mensch nur die erforderlichen und vom Priester für richtig gehaltenen Opfergaben, sei es Speise, Wertgegestand oder Tier, zu den Kultstätten bzw. Heiligtümern zu bringen; den Rest aber musste er den Priestern überlassen. Allein die Priester hatten die jeweiligen Kulthandlungen und Opferriten zu vollziehen, weil nur diese die Riten kannten und dazu auserwählt waren. Insofern man das von der Priesterschaft geforderte Opfer zum Tempel brachte und wiederum die von ihr festgelegten Gebote – diese galten durchaus als göttliche Offenbarungen – befolgte, konnte man sich auf die Götter verlassen. Das war jene Zeit, wo die Priesterschaft in der Geschichte solch einen großen Einfluss wie noch nie auf das Volk hatte. Außer der Priesterschaft gab es im Altertum sehr wenige Schriftkundige, wobei es nicht unbedingt bedeutet, dass alle Priester des Lesens und Schreibens mächtig waren. Wie die meisten Brahmanenpriester in jener Epoche nur auf ihren Vorteil bedacht waren, führt der letzte Satz eines Lobliedes aus dem zehnten Buch von Rig-Veda vor Augen: „Wer einem Brahmanen eine Kuh gegeben hat, der hat schon alle Sphären des Alls zu seinen Gunsten eingestimmt.“ Trotz all jener Opfergaben und -tiere, trotz der Befolgung aller Gebote, trotz des Vollzugs aller erforderlichen Riten durch die Priester kam es doch oft anders als geglaubt und gehofft. Trotz allem geschahen die Naturkatastrophen oft genug. Entgegen aller Hoffnungen blieben die verheerenden Waldbrände, Überschwemmungen, Erdbeben und andere Feuerbrände und Tod durch die Vulkanausbrüche und Blitzschläge nicht aus. Dennoch wüteten die Wirbelstürme und Taifune in einigen Gebieten und verwüsteten alles, was ihnen im Wege stand. Dürreperioden waren ebenso schlimm wie andere Katastrophen, sogar manchmal schlimmer. Deshalb machte sich der Mensch stets große Sorgen um sein Überleben. Trotz all dieser Verzweiflungen erreichte der Mensch allmählich eine höhere geistige Stufe und begann, sich zum ersten Mal ernsthafte Fragen zu stellen, denn irgendwas stimmte nicht. All das, was die Priester sagten oder behaupteten, erwies sich als nichtig. Aufgrund dieser Tatsachen zweifelte er nicht nur an den Priestern. Er zweifelte auch an der Macht der Götter. Angesichts jener Entwicklung begannen erst diejenigen, die ein höheres Bewusstsein hatten, Fragen zu stellen. Freilich befanden sich diese Menschen zum größten Teil, wenn nicht alle, unter den Reichen, welche in der Regel schriftkundig waren. Da sie von den Priestern keine befriedigenden Antworten auf ihre Fragen bekamen, fingen sie an, selber danach zu suchen. Im Grunde waren die Reichen und der Adel ohnehin unzufrieden, weil die Priester ihre Reichtümer und Macht vor Krankheit und Tod gar nicht bewahren konnten. Es war sicherlich jene Unsicherheit und Unzufriedenheit, die viele überwiegend schriftkundige Menschen bewog, Haus und Hof zu verlassen und sich in die Wälder oder Höhlen zu begeben, um in der Abgeschiedenheit nach einer Antwort auf ihre Fragen zu suchen. Es schien den Menschen endlich ein großer und bedeutender geistiger Sprung in der Geschichte gelungen zu sein. Es war die Epoche – bezogen auf alle Erdteile der ehemals bekannten Welt – ungefähr zwischen dem 8. Jh. und 4. Jh. v. Chr., in der viele Weisen und Denker den Anfang machten, die Glaubwürdigkeit der Priesterschaft (Schamanen, Brahmanen und dergleichen) sowie die Allmacht der Götter infrage zu stellen. Es war jene Epoche, in welcher Heraklit aus Ephesus sagte, alles bewege sich, alles fließe und ändere sich ohne Unterlass. Und man könne nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen. Es war jener geistiger Sprung, welcher den größten Grundstein auf dem Wege zum menschlichen Bewusstwerden bildete, wo Thales aus Milet das Wasser für den Urgrund des Universums hielt, wo Anaximenes sagte, die Luft sei der Urstoff des Alls, und Anaximander behauptete, der Urgrund des Universums sei das Grenzenlose. Dies waren die ersten ernsthaften Erklärungen über die Welt und das Leben, welche den althergebrachten Erklärungen und Aussagen den jeweiligen polytheistischen Religionen gegenüberstanden und darüber hinaus die Existenz der Götter bezweifelten. Was hatten wohl die Menschen damals über den Sonnengott Helios und womöglich über die anderen gedacht? Was hatten sie wohl dabei gefühlt, als die gewagte Voraussage von Thales über die Sonnenfinsternis tatsächlich zutraf? (Er hatte nur das Jahr 585 v. Chr. voraussagen können und er stand richtig, denn es geschah am 28. Mai 585 vor Chr.) Mit diesen Aufsehenerregenden Aussagen und Behauptungen begann eine Kette von Spekulationen, die schließlich im 20. Jahrhundert zu den Kerntheorien, zur Atombombe und zur Kybernetik sowie zur Mondfahrt führte. Auf der anderen Seite beeinflussten solche Ideen und Theorien das Gemeinvolk kaum, abgesehen von ein paar Intellektuellen in der Oberschicht, denn der einfache Mensch hatte zum einen keine Zeit und Möglichkeit für solche geistigen Aktivitäten, zum anderen war er kulturell gesehen noch nicht so weit, mit jenen Theorien irgendetwas anzufangen. Wäre dies nicht der Fall gewesen, dann hätten diese Ideen bei den Völkern einen Widerhall gefunden, und so hätten sie zumindest den grausamen Brauch, nämlich das Menschenopfer schon damals aufgegeben. Jene schreckliche Tradition wurde trotzdem in vielen Teilen der Erde jahrhundertelang fortgeführt. Kurzum war der Mensch auf der Suche. Dies scheint auch der Anfang der großen asketischen Bewegungen in einigen Teilen der Welt gewesen zu sein, vor allem im Nahen Osten, im asiatischen Raum sowie im Alten China und Indien. Viele weise Männer – darunter auch einige Frauen – verzichteten auf die irdischen Genüsse und Besitztümer und verließen Haus und Hof, um das Rätsel des Daseins zu ergründen. Durch Askese und Nachsinnen suchten sie Antworten auf die vielen Fragen. Was waren eigentlich die Fragen, nach deren Antworten seit Ewigkeit vergebens gesucht wurde? Im Grunde waren sie stets gleicher Natur: Es handelte sich mehr oder weniger um die Vergänglichkeit, nämlich um den Tod. Auch viele andere Fragen über Schöpfung und Schöpfer, Urmaterie und das Wesen der Gottheiten usw. Jene geistige Bewegung war vor allem im indischen Raum intensiv und bahnbrechend. Offensichtlich war die Reaktion gegen die erstarrte Opferreligion bzw. den Opferkult (vedisch-brahmanische Epoche) und deren Priesterschaft sehr groß. So zogen viele in die Abgeschiedenheit. Alle zugänglichen Wälder und Höhlen wimmelten von Menschen, welche Askese übten, nachsannen, meditierten und diskutierten. Diese geistigen Sprünge haben sicherlich der damaligen Gedankenwelt Indiens eine besondere Note gegeben. Zum ersten Mal in jenem Zeitalter erkannte der Mensch seine Realitäten und auch seine eigenen Kräfte. Infolgedessen verstand er, dass kein Gott, kein Schöpfer ihn vor dem Tode bewahren konnte. Er begriff das Universum mit allen Wesen darin als Ganzes, als eine Einheit. Er sah keinen Grund mehr, den Göttern untertan zu sein. Alle Wesen und Lebewesen waren den ewigen Gesetzen des Universums unterworfen. Alle Gesetze des kosmischen Geschehens gingen aus derselben Urkraft hervor. Dieser Grundstoff war dem Kosmos immanent. Dieser Urgrund existierte in aller Ewigkeit von selbst und ruhte in sich selbst. Er hatte weder Anfang noch Ende. Demzufolge gingen alle Lebewesen unzweifelhaft aus jenem Urstoff hervor. In jenem Gedanken und Glauben identifizierte sich der Mensch mit dem Urgrund aller Dinge. Er war selbst ein Stück vom Makrokosmos, und dieser existierte als Urkraft in jedem Mikrokosmos und folgerichtig auch in jedem Menschen. Demnach war es das höchste Ziel des Weisen, dieses Wesen zu erkennen. Seine Aufgabe bestand vor allem darin, dieses Wesen (Urkraft) in sich selbst zu erkennen. Dies konnte man aber nur durch die wahre Erkenntnis erlangen. Nach sehr langen Diskussionen und Disputationen nannten jene Weisen diesen Urgrund „Brahman“. Das Wort „Brahman“ bedeutete ursprünglich „Gebet“, „Zauberrede“ oder „heiliges Wissen“. Es erfuhr jedoch im Verlauf der Jahrhunderte eine interessante Umwandlung an Bedeutung, wodurch es zu einer allgemeinen schöpferischen Kraft wurde. Schließlich war es das große Weltprinzip, die große Weltseele, welche in sich selbst ruhte und aus welcher alles hervorgegangen war, in welcher alles ruhte. Diese Urkraft wurde im Einzelwesen „Atman“ genannt. Der Begriff „Atman“ erfuhr auch eine mannigfache Umwandlung. Vermutlich war er ursprünglich „Hauch“ oder „Atem“; er erlangte aber danach den Inhalt „das Wesen“, „das eigene Ich“, „das Selbst“. „Der Atman sei also der innerste Kern unseres Selbst, den man durch die wahre Erkenntnis wahrnehmen könne, wenn man die körperliche Hülle und dadurch entstandene und an die Seele behaftete Leidenschaften wegdenke“, sagten die Weisen, allen voran die Upanishaden-Meister. Brahman und Atman seien gleich. Sie seien lediglich zwei verschiedene Erscheinungen desselben Wesens. (Wenn wir im 6. Kapitel die islamische Mystik erläutern, die jahrhundertelang versuchte, die Härte und Strenge des Koran und damit auch die starre Haltung der islamischen Orthodoxie zu mildern, dann werden wir sehen, wie weit die jüdische, christliche, insbesondere die islamische Mystik von diesem geistigen Gedankengut, nämlich von der Philosophie der Upanishaden beeinflusst wurden.) Im Hinblick auf diese Erkenntnis gibt es im Grunde nur eine wahre Wesenheit im Universum: Sie ist im Weltganzen gesehen Brahman, im Einzelwesen erkannt Atman. Das heißt das Weltall ist Brahman, es ist aber der Atman im Menschen. Die Meister der Upanishaden (Das bedeutet so viel wie in der Nähe des Meisters sitzen, weil die Erkenntnisse und Erfahrungen in der Regel vom Meister an den Schüler mündlich weitergegeben wurden.), von denen mehrere Dutzende Texte für die Nachwelt erhalten blieben, waren nie müde zu sagen, wenn jemand den Atman wahrnehmen könne, dann könne er auch das ganze Weltall erkennen. Es wäre angebracht, folgende Beispiele hier anzuführen, um den Geist der Upanishaden zu veranschaulichen: Die Überlieferung will wissen, dass Yagnavalkya (dieser legendären Gestalt werden viele der Upanishaden-Texte zugeschrieben) ursprünglich das Leben eines reichen brahmanischen Hausvaters führte und zwei Frauen hatte: Maitreyi und Katyayana. Als er beide Frauen verlassen und in den Wald ziehen wollte, um in der Abgeschiedenheit nachzudenken und nach der Wahrheit zu suchen, wollte auch Maitreyi mitziehen. „Maitreyi“, sagte Yagnavalkya, „siehe, ich bin im Begriffe, von diesem Staat fortzuwandern. Ich will nun für dich und für Katyayana eine endgültige Regelung treffen.“ Da sprach Maitreyi: „Wenn nun, mein Herr, diese ganze Erde mit allen ihren Reichtümern mein wäre, würde ich wirklich dadurch unsterblich sein?“ „Nein, nein!“, sagte Yagnavalkya. „Es gibt keine Hoffnung auf Unsterblichkeit durch Reichtum.“ Da sprach Maitreyi: „Was soll ich tun mit dem, was mich nicht unsterblich machen kann? Was du weißt, Herr, das erkläre mir.“ Als seine Frau um die Belehrung bat, sprach der Meister: „Das Selbst, fürwahr, soll man verstehen, soll man überdenken, o Maitreyi; wer das Selbst gesehen, gehört, verstanden und erkannt hat, von dem wird diese ganze Welt gewusst!“ (Paul Deußen, 60 Upanishads des Veda, aus dem Sanskrit übersetzt, 1897, S. 481-Störig, H.J., Weltgeschichte der Philosophie) Diese Frau soll in jener Zeit am geistigen Leben Indiens sowie an der Wahrheitssuche teilgenommen haben. Ein anderer uns namentlich bekannter Meister Aruni belehrt seinen Sohn Shvetaketu: „… genauso wie durch ein Stück Lehm alles aus Lehm Gemachte erkannt werden kann. Mögen auch die verschiedenen Formen zerbrechen, er weiß nicht einmal, dass sie zerbrochen sind. Diese ganze Welt hat das als ihre Seele in sich; das ist die Wirklichkeit; das ist Atman; das bist du, Shvetaketu“, sagte der weise Aruni. „Das bist du.“ (tat twam asi), dieses Wort des alten Brahmanen Aruni an seinen Sohn wird zur „großen Formel“ der vedantischen Lehre. (Changdoya Upanishad, 3.2.8. Zimmer, H., Philosophie und Religion Indiens, S. 323) Im Lichte jener Erkenntnisse, nach denen alle Asketen und auch ein Großteil der Brahmanen strebten, lag die Erlösung (Sanskrit: Moksha) in der Überwindung dieser trügerischen Welt (Maya) und deren verführerischen Genüsse. Wie konnte man denn diese Wahrheit erfassen? Nur durch Studium konnte man nicht zum Atman gelangen. Der Weise sollte auf das Lernen verzichten und sich leer machen; er sollte sich nicht immer wieder mit vielen Worten und Begriffen beschäftigen. Man sollte sie auch nicht zerreden. Also legten sie keinen Wert auf das Bücherwissen. Sie sagten, der Mensch sei überhaupt nicht imstande, mit seinen gegebenen Sinnesorganen im Universum alles zu erkennen, zu begreifen. Alles, was man als Tatsache oder Realität sieht, seien nur die Phänomene, die der Mensch mit seinen begrenzten Sinnesorganen kennt, mit anderen Worten, sie seien nur die Wahrheit des Menschen. In einem bekannten Dialog mit seiner geliebten Gattin Maitreyi sagte der weise Yagnavalkya, dass es für den vollendeten und erlösten Wissenden nach dem Tode kein Bewusstsein gäbe, weil dann alle Gegensatzpaare, alle Dualismen, auch die Unterscheidung von Subjekt und Objekt verschwunden sein würden. „… Wenn es eine Zweiheit gäbe, dann würde einer den anderen sehen, einer den anderen riechen, einer den anderen schmecken, einer zum anderen reden, einer den anderen hören, einer an den anderen denken, einer den anderen berühren, einer den anderen erkennen. Wenn einem aber alles zum Selbst geworden ist, womit und wen sollte er dann sehen? womit und wen sollte er dann riechen? womit und wen sollte er dann schmecken? womit und zu wem sollte er dann sprechen? womit und wen sollte er dann hören? womit und an wen sollte er denken? womit und wen sollte er berühren? womit und wen sollte er erkennen? womit sollte er den erkennen, durch den er dieses All erkennt? … Sieh her, womit sollte er den Erkenner erkennen? Dieses Selbst (Atman), es ist nicht dieses und nicht das. Es ist ungreifbar, denn es kann nicht gegriffen werden; unzerstörbar, denn es kann nicht zerstört werden; es ist unhaftbar, denn es haftet nichts an ihm; es ist ungebunden, es zittert nicht, es leidet keinen Schaden.“ (Brihadaranyaka Upanishad, das oben genannte Werk, S. 327) Die logische Folge all dieser geistigen Sprünge war eine Art Relativismus, der vermutlich zum ersten Mal auf der geistig-geschichtlichen Bühne erschien. Denn jene weisen Männer waren geistig so weit zu erkennen, dass alles, was der Mensch in der Welt beziehungsweise im Universum sieht, hört, berührt, im Grunde nur Trugbilder (maya) sind und daher keinen Bestand haben. Dieser relativistische Gedanke war auch einer der Grundlagen der Toleranz in jener Zeit. Die sozialen Gegebenheiten und das geistige Niveau jener Zeit werden von Heinrich Zimmer in seinem oben genannten Werk zutreffend beschrieben: „Die schöpferischen Philosophen aus der Periode der Upanishaden … überwanden die traditionellen theologischen Anschauungen über den Kosmos, aber wie wir sehen, überwanden sie, ohne sie zu zerstören oder auch nur zu kritisieren. Denn die Sphäre, in der ihr Denken sich bewegt, war eine ganz andere als die, welche die Priester für sich in Anspruch nahmen. Sie kehrten der äußeren Welt den Rücken, jener Welt, die durch die Mythen gedeutet und durch komplizierte Riten im Gleichgewicht gehalten wurde; denn sie hatten etwas gefunden, das ihre Aufmerksamkeit viel stärker anzog: sie hatten die Innenwelt entdeckt, den inneren Kosmos im Menschen selbst und darin das Mysterium des Selbst. Diese Entdeckung trug sie weit hinaus über den Bezirk der zahlreichen anthropomorphen Gottheiten, die nach althergebrachter Vorstellung den Makrokosmos und die Sinnesfunktionen des mikrokosmischen Organismus lenkten. Den nach innen gewandten brahmanischen Philosophen blieb daher jener heftige Zusammenstoß mit den Priestern und der Vergangenheit erspart, den ein Demokrit, ein Anaxagoras und andere griechische Naturphilosophen (wie Thales, Anaximandros, Anaximenes, Heraklit u. a. – Zufügung des Verfassers) erleben mussten, als ihre wissenschaftlichen Erklärungen der Himmelskörper und anderer Phänomene des Universums in Widerspruch gerieten zu den von den Priestern aufrechterhaltenen und von den Göttern gestützten Vorstellungen … Denn trotz der frommen Hinwendung zu den Göttern und zur äußeren Welt widmete die neue Generation ihre ganze Aufmerksamkeit ausschließlich dem alles transzendierenden, wahrhaft überirdischen Prinzip, aus dem die Kräfte und Erscheinungen und die göttlichen Lenker der Naturwelt erst hervorgingen. Ja, mehr noch: diese schöpferischen Denker fanden jenes Prinzip sogar in sich selbst und traten dort mit ihm in Verbindung. So geschah es: die geistige Energie, die bisher auf das Studium und die Entwicklung einer Technik zur Bewältigung göttlicher und dämonischer Kräfte im Kosmos verwandt worden war – einer Technik, die aus einem weitläufigen System von Sühneopfern und Beschwörungsformeln bestand –, dass diese Energie sich nun auf das Innere richtete, wo sie mit der erhabensten Lebenskraft selbst in Berührung kam. Die kosmische Energie wurde dort aufgefangen, wo sie entsprang, dort, wo ihre Macht und Fülle am stärksten war. Deshalb gerieten all jene sekundären, bloß abgeleiteten Energieströme, die durch die magische Technik des Priesterrituals eingedämmt, kanalisiert und für menschliche Zwecke nutzbar gemacht waren, in den Hintergrund …“ Jene Seher, Denker und Asketen auf der Suche nach der religiösen Wahrheit kletterten auf den höchsten Gipfel der damaligen Geisteswelt, wodurch sie der Nachwelt einen unvergleichlich wertvollen Schatz hinterließen. Die Upanishaden, die mit dem Vedanta ihren Höhepunkt erreichten, bilden kein geschlossenes System. Die meisten sind die Lehren und Gedanken vieler anonym gebliebenen weisen Männer. Schopenhauer sagte einst von den Upanishaden: „Es sind die belohnendeste und erhabendeste Lektüre, die in der Welt möglich ist. Sie ist der Trost meines Lebens gewesen und wird der meines Sterbens sein.“ (Chapata Brahmanam, Deußen, Allgemeine Geschichte der Religionen I, 1, S. 259) Die oben erwähnte Einstellung des Brahmanismus ist durchaus allen nicht-theistischen Glaubensrichtungen eigen. Es ist dieser Gedanke, der die nicht-theistischen Glaubensrichtungen von den theistischen Religionen (die Religionen wie Judentum, Christentum und Islam, die einen Schöpfergott haben, an den sich der Mensch persönlich wenden kann) unterscheidet. Die Einstellung einer Religion gegenüber dem Gott oder den Gottheiten bestimmt zweifelsohne auch die Haltung der Menschen gegenüber dem Tod. Bei den theistischen Religionen, nämlich bei Judentum, Christentum und Islam ist es Gott, der Herr, der den Menschen bestrafen darf und soll, wenn er gesündigt hat. Der Mensch ist sein Diener und Knecht, er hat zu gehorchen. Dagegen aber betonen die nicht-theistischen Religionen wie Hinduismus, Jainismus, Buddhismus, Taoismus die Wesensgleichheit von Gott und Mensch. Also ist es nicht nötig, sich den Göttern zu unterwerfen. Unter diesem Aspekt ist der Mensch den Göttern ebenbürtig. In dieser Betrachtungsweise sind Götter und Menschen dem gleichen kosmischen Kausalgesetz Karma unterworfen. Es gibt keinen Gott, keine Göttin, der oder die den Menschen wegen seiner Sünden bestrafen kann oder soll. Wenn man die Gottheiten und Wesenheiten so betrachtet, hat man natürlich keine Angst vor ihnen und folgerichtig auch keine Angst vor Höllenstrafen und -qualen. Dieser ursprünglich aus einer Art „Dualismus“ hervorgegangene „Nicht-Dualismus“ entfaltete sich in den „Upanishaden“, „Bhagavad Gita“ und erfuhr schließlich im „Vedanta“ seine Vollendung. In jeder Hinsicht war es wahrhaft eine große Revolution auf der geistigen Ebene. Sie war jener geistige Sprung, der zum Geburtshelfer der nicht-theistischen Religionen wurde. Auf diesem Wege enstanden in jener Epoche auch die humanistischen Glaubensrichtungen sowie bekannte Moralphilosophien wie Buddhismus, Jainismus und Taoismus. Wie schon oben erwähnt war es eine große geistige Anstrengung, die der autoritären, machthungrigen Priesterschaft der Opferkulte den Boden unter den Füßen wegzog. Von nun an verlief die religiös-geistige Entwicklung bei den meisten Völkern zweigleisig. Auf dem zweiten Gleis setzte sich nun der Zug der Mystik in Bewegung. So entstand eine breit gefächerte geistige Bewegung, nämlich die Mystik, die von da an über die Jahrtausende hinweg insbesondere die Härte und Intoleranz der theistischen Religionen zu mildern suchte. Nach der Lehre von Mahavira, nämlich dem Jainismus, der eine der Früchte von den Samen war, die auf jenen geistigen Boden gefallen waren, gab es keinen Schöpfer der Welt; das Universum funktioniert nach den ewigen Gesetzen des Werdens und Vergehens. Alle Lebewesen, das heißt Menschen, Tiere und Pflanzen sind wesensidentisch und daher verdienen sie dieselbe Achtung wie der Mensch. Wenn wir bedenken, dass die Menschheit jahrhundertelang trotz des einstigen Sprungs mit dem Menschenopfer in etlichen Erdteilen weitermachte und der Opferkult mit dem Tieropfer bei vielen Religionen heute noch weiter gepflegt wird, dann können wir umso besser verstehen, wie human und mitfühlend allen Lebewesen gegenüber dieser Glaube ist. Das Universum besteht von Ewigkeit her aus unzähligen belebten Seelen (Jiva) und unbelebter Materie (Ajiva). Die Erlösung erfolgt durch die Bezwingung der Welt, d. h. durch den Triumph des Geistes über die Materie. Dies kann man nur verwirklichen, wenn man auf die weltlichen Genüsse verzichtet, durch strenge asketische Bußübungen die Leidenschaften überwindet und ein tugendhaftes Leben führt. Jainismus verschmäht also die irdischen Reichtümer und Genüsse. (Dies wird etwa fünfhundert Jahre später auch von Jesus gepredigt.) Manche gingen mit der Besitzlosigkeit so weit, dass sie nicht einmal Kleider trugen, und daher lebten sie nackt in den Wäldern und Höhlen, weit weg von Siedlungen. Überdies soll der Mensch durch strenge asketische Zucht die Leidenschaftslosigkeit erreichen und das eigene Ich überwinden, wie die Jaina-Erlöser (es bedeutet so viel wie Sieger oder Bezwinger der Welt), die sogenannten Tirthankaras (Furtbereiter) predigten. Mahavira verstand sich nicht als ein Heiliger, sondern als einer der Sieger (Jain) über die Welt und als Tirthankara (Furtbereiter) für die Menschheit. Diese Gestalten haben durch die strenge Askese und Selbstzucht all die verführerischen Leidenschaften und alles Übel besiegen können. Daher haben sie die leidvolle Kette der Wiedergeburten (Samsara) gebrochen und sind in die himmlische Zone des Alls gerückt, wo sie über dem kosmischen Geschehen stehen. (Es ist ein Zeichen dafür, dass man sich die heiligen Bereiche auch bei den nicht-theistischen Religionen im Himmel vorstellte.) In dieser Eigenschaft haben die Erlöser und die Erlösten mit dem Bereich des Schaffens, Erhaltens und Zerstörens nichts mehr zu tun. Sie sind transzendent und allen Zeitlichkeiten entrückt. Sie verweilen allwissend und tatenlos im ungestörten ewigen Frieden. Also sind sie für keine Gebete erreichbar. Man verehrt den Tirthankara, nämlich den Bezwinger der Welt nicht in der Erwartung, dass er auf die Welt herabsteigen würde, um den frommen Menschen zu helfen. (Dies ist der wichtigste Unterschied zum Hinduismus.) Das heißt die erhabene Wesenheit soll nicht der Gnade wegen, sondern seiner Liebe (Darshana) willen verehrt werden. Der buddhistische Glaube entstand auch als ein Protest gegen die Priesterkaste des vedisch-brahmanischen Glaubens, vor allem gegen dessen erstarrten Opferkult. In jener Epoche als Hindu geborener Buddha war mit dem Brahmanismus, nämlich dem späteren Hinduismus nicht einverstanden, nachdem er als junger Mann das Leiden der Menschen wahrgenommen hatte. Obwohl er als Prinz zum Nachfolger seines Vaters, einem Fürsten, bestimmt war, ließ er doch das fürstliche Leben und seine Frau(en) hinter sich und ging in die Waldeinsamkeit, um Askese auszuüben und zu meditieren, wie auch viele andere adlige Männer es taten. Seine größte Frage kreiste offenbar stets um die Vergänglichkeit. Er wollte wissen, warum alles Leben so schmerzvoll war, und warum der Mensch altern, krank werden und überhaupt sterben musste. Das war eben die menschliche Wirklichkeit: der Mensch war sterblich. An sich war Buddha nicht der erste Denker, der diese Fragen gestellt hatte. Mit Sicherheit suchten vor ihm auch unzählige Denker oder Sucher vergeblich eine Antwort auf die gleichen Fragen. In der Erwartung, die richtige Antwort zu finden, übte Buddha in der Waldeinsamkeit Askese. Nachdem er einige Zeit mit anderen Suchenden meditiert und diskutiert hatte, verließ er seine Mitasketen und meditierte in Abgeschiedenheit jahrelang allein. Bei seinem nüchternen Vorgehen stellte er fest, dass der Mensch geistig gesehen nicht gesund ist, weil er eine schwere Last auf seinen Schultern trägt. So erwacht er (Buddha bedeutet der Erwachte, der Erleuchtete) und kommt zu der Erkenntnis, dass alles leidvoll ist und keinen Bestand hat, weil alles vergänglich ist. Kurz, er kommt zum Schluss, dass alles Leben Leiden ist. Dies ist seine „Erste Edle Wahrheit“. Nachdem er diese Diagnose gestellt hat, forscht er nach der Ursache und findet sie auch: die Ursache der Krankheit (Leiden) ist unwissendes Verlangen, nämlich Gier, Hass, Neid und geistige Blindheit (Unwissenheit). Das bedeutet, das Leiden entsteht aus den biologischen und geistigen Eigen- und Leidenschaften des Menschen. Es ist aber keineswegs mit irgendeinem Sündenfall oder einer Schuldfrage verbunden. Die oben genannten Grundübel lassen schlechtes Karma (Kausalgesetz; die Summe der guten und bösen Taten) entstehen und fesseln den Menschen an den leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten. Das ist die „Zweite Edle Wahrheit“. Doch muss der Mensch nicht so verzweifelt sein; wie bei einem organischen Leiden sollte es eben gegen dieses Leiden auch einige Heilmittel geben. Es gibt sie auch. Und Buddha verkündet: nur die Befreiung vom Begehren, von illusorischen Leidenschaften (von Grundübeln) führt zur Befreiung vom Leiden. Das ist die „Dritte Edle Wahrheit“. Diese Wahrheit bildet im Grunde genommen den Schwerpunkt des Heilverfahrens. Und schließlich verkündet er jenen Heilsweg, nämlich den „Achtfachen Heiligen Pfad“, was seine „Vierte Edle Wahrheit“ bildet. Nur der achtfache Pfad führt zum Ziel, nämlich zur Befreiung, nicht die Gnade eines Gottes. Der Achtfache Weg lautet: rechte Erkenntnis, rechte Gesinnung, rechtes Reden, rechtes Handeln, rechter Lebensunterhalt, rechtes Streben, rechtes Aufmerken und rechte Versenkung (Meditation) Wer die Erlösung vom Leiden sucht, der soll die „Vier Edlen Wahrheiten“ vom Leiden erkennen und den Weg des Achtfachen Pfades der Selbstdisziplin gehen. Dieser achtfache Weg beschreibt im Grunde die tugendhaften Verhaltensweisen, welche die geistige Blindheit, Selbstsucht, Gier, Hass und Neid beseitigen. Wie kann dann der heilige Weg, dessen erste Stufe die Erkenntnis ist, dieses Ziel bewirken? Hierzu wirkt das Karma, das heißt das Kausalgesetz von Ursachen und Auswirkungen, mit anderen Worten, die Summe der guten und bösen Taten im Leben eines Menschen. Das Karma steht über allen Gesetzlichkeiten, es ist frei von allen Einflüssen und Kräften des Kosmos. Einzig und allein der Mensch kann es beeinflussen bzw. ändern. Es gilt also die guten, verdienstvollen Taten anzuhäufen. Das Ziel ist, durch immer höhere Wiedergeburten sich irgendwann von dem Kreislauf der Wiedergeburten zu bfreien und die Erlösung (Nirwana) zu erlangen. Wer einmal durch die Erleuchtung das Nirwana erreicht hat, der hat den ewigen Frieden, die ewige Ruhe. Das Ende der Wiedergeburten bedeutet auch das Ende der ungewissen Zahl von leidvollen Leben in der Welt. Wenn man auch glaubt und hofft, in einem der weiteren Leben die Erlösung, nämlich das Nirwana erlangen und mit dem Universum eins werden oder in ihm aufgehen zu können, ist hier auch angesichts der Wiedergeburten doch ein weiteres Leben nach dem Tode im Spiel. Je nach seinem Handeln und Wandeln formt sich das Karma eines Menschen. Wenn man etwas Böses getan hat, wird man als Böses, wenn man aber etwas Gutes getan hat, wird man als Gutes wiedergeboren. Jeder Mensch ist verantwortlich für die eigenen Taten und er muss dafür selbst die Folgen tragen. So legte Buddha das Schicksal des Menschen in seine eigenen Hände, als er sagte: „Die Götter (damit waren die Götter des Hinduismus gemeint) können euch nicht helfen; helft euch selbst.“ Wie Jesus und der Prophet Mohammed in ihrer Jugend bezüglich der Religionen ihrer Sippen taten, hatte bestimmt Buddha auch die Hindu-Heiligtümer besucht und gewissen Gottheiten Opfer dargebracht. Aber sobald er die Erkenntnis erlangte, stellte er sich gegen den Opferkult der Brahmanenpriester und auch das Kastenwesen. Er lehnte viele Riten und Traditionen des Hinduismus ab, aber einige Glaubensgrundlagen wie Karmagesetz, Wiedergeburt, Moksha (was man beim Buddhismus Nirwana nennt) hatte er beibehalten. Sonst hätte sein Glaube, genauer gesagt, seine Lehre überhaupt keine Chance gehabt, in jener Gesellschaft Fuß zu fassen. Buddha legte den größten Wert auf Erkenntnis, aber jene Erkenntnis ist eine andere: um diese Erkenntnis zu erlangen, braucht man überhaupt keinen hohen Berg von Wissen anzuhäufen und dann von der Spitze dieses Berges aus nach den Sternen zu greifen. Ganz im Gegenteil, es gilt den Berg von Nichtwissen (geistige Blindheit) durch immer neue Erkenntnis Stück für Stück abzutragen. Wenn der Berg vom Nichtwissen bis auf den Grund abgetragen ist, dann bleibt nichts mehr übrig. Was bleibt, ist in der Tat die Leere, das Nirwana, das nicht durch Bücherwissen, sondern durch Selbsterkenntnis erreicht werden kann. Aufgrund dieser Lehre kann man allerlei Ängste – auch die Angst vor dem Tode – durch die Selbsterkenntnis überwinden, das heißt durch das Verstehen und Akzeptieren der menschlichen Realität und durch das Gehen des Achtfachen Pfades kann man die vollkommene Freiheit, nämlich die innere Freiheit auf dieser Welt erreichen, was in der Tat der Erlangung vom Nirwana gleichkommt. Das Nirwana wurde in der Vergangenheit, nicht zuletzt in den letzten zweihundert Jahren von mehreren Gelehrten unterschiedlich gedeutet und ausgelegt. Einige haben es als „Nichts“ oder „sich-in-Nichtsein-Auflösen“ definiert. Aber die Definition, die von den meisten Gelehrten in den betreffenden Fachbereichen angenommen oder geteilt wird, lautet: „der Zustand einer Flamme, die erloschen ist.“ Der Erwachte vergleicht das Leben mit einem Feuerbrand, den es zu löschen gilt. Was bleibt, wenn das Feuer gelöscht ist? Die absolute Ruhe und der ewige Frieden. Obwohl Buddha von den Göttern des Hinduismus nichts hält, stellt er doch deren Existenz nicht infrage. Er verwirft jeden äußerlichen Ritus und Kultus. Er richtet seinen Blick auf das Innere des Menschen, so wie viele Upanishaden-Meister seiner Zeit. Die ewige Spekulation über die allgemein üblichen Fragen wie „Ist der Kosmos endlich oder unendlich?“, „Hat das Universum einen Anfang in der Zeit?“ lehnt der Erleuchtete ausdrücklich ab. Er nahm jene Brahmanenpriester nicht ernst, welche behaupteten, aus den Veden, die als göttliche Offenbarungen gelten, die Antwort dieser Fragen zu wissen. Folgendes wird überliefert: Als ein Brahmane ihm eines Tages vorschlug, eine Reise nach Bodhgaya zu unternehmen, um sich im heiligen Fluss Gaya zu reinigen, so antwortete Buddha: „Bade hier, gerade hier, o Brahmane, sei freundlich zu allen Wesen. Wenn du nicht die Unwahrheit sprichst, kein Leben tötest, nicht nimmst, was dir nicht gegeben und sicher bist in der Selbstentsagung, was würdest du gewinnen, wenn du nach Bodhgaya gingest?“ (Durant, „Osten“, S. 473 – Radakrishnan, Indian Philosophy, Bd. I, S. 241) So ungefähr wurden auch die „Fünf Gebote“ des Buddhismus formuliert: „Töte kein Lebewesen (Du sollst nicht töten!). Nimm nicht, was dir nicht gegeben (Du sollst nicht stehlen!). Sprich nicht die Unwahrheit (Du sollst nicht lügen). Trinke keine berauschenden Getränke (Trinke keinen Alkohol!). Sei nicht unkeusch (Du sollst nicht die Frauen anderer begehren!). Diese Gebote beinhalten alles, was die ethische Komponente des mosaischen Gesetzes (Zehn Gebote) anbetrifft. Nach Buddhas Erkenntnis kann jeder die Erlösung (Nirwana) erlangen, der den Heilsweg erkennt und entsprechend diesen Geboten lebt. Es liegt auf der Hand, dass die urbuddhistische Lehre eine sittliche Ordnung, eine Ethik in der Gesellschaft anstrebte. Diese Lehre ist eine der ersten universalen Glaubensrichtungen, die allen Menschen als Lebewesen den gleichen Wert beimisst und keinen Unterschied zwischen Sklaven und Herren macht. Wenn man bedenkt, wie jede von drei großen theistischen Religionen heute noch all die Antworten bezüglich der Schöpfung und des Lebens im Hier und im Jenseits für sich in Anspruch nimmt und darüber keine Diskussionen duldet, so kann man die geistige Größe und Kühnheit von Buddha und den Upanishaden-Denkern, von denen er beeinflusst wurde, besser verstehen. In der gleichen Epoche lebte ein großer Gelehrter namens Konfuzius (Kong-tse) im Alten China, dessen Ansichten das Leben und die Mentalität der chinesischen Völker am nachhaltigsten (ungefähr zweitausendfünfhundert Jahre) beeinflusste. Wie einige andere Denker sieht auch er, dass die Harmonie zwischen den kosmischen Elementen und Kräften durch ein ewiges Zusammenwirken zustande kommt und bestehen bleibt. Das Entstehen und die Beständigkeit des Universums fußt also nur auf diesem kosmischen Gesetz. Da die Harmonie zwischen Himmel und Erde so wie allen gegensätzlichen Phänomenen und Elementen im Kosmos ihre Entsprechung im Menschen als Mikrokosmos hat, so muss in der Gesellschaft auch eine entsprechende Harmonie zwischen den Menschen herrschen. Was die Ordnung im Universum aufrecht hält, das sorgt auch für die Ordnung in der Gesellschaft. Dies wird im „Buch der Sitte“ prägnant zum Ausdruck gebracht: „Die Kraft der Sitte ist es, durch die Himmel und Erde zusammenwirken, durch die die vier Jahreszeiten in Harmonie kommen, durch die Sonne und Mond scheinen, durch die die Sterne ihre Bahnen ziehen, durch die Gut und Böse geschieden wird, durch die Freude und Zorn den rechten Ausdruck finden, durch die die Unteren gehorchen, durch die die Oberen erleuchtet sind, durch die alle Dinge trotz ihrer Veränderungen nicht in Verwirrung kommen.“ (Helmuth von Glasenapp, Die fünf Weltreligionen, Li-Gi, das Buch der Sitte, S. 173) Schon lange vor der Geburt Konfuzius’ war die damalige Gesellschaft aus den Bahnen geraten und in ein großes Chaos hineingerutscht. Für ihn waren die Hauptgründe dafür die Veräußerlichung der Riten und das Aufgeben des sittlichen Lebens. Um das Gleichgewicht zu schaffen, muss man also danach streben, mit seinen Mitmenschen in Harmonie zu leben. Jeder Einzelne, jede Gruppe, jede Schicht sowie jeder Stand muss seinen Platz, seine Pflichten und Rechte kennen. Das alles kann nur dann realisiert werden, wenn man die althergebrachten Riten, vor allem die Tugenden lehrt und fördert. Hiermit wird tugendhafte Verhaltensweise und Lebensführung zur Grundlage der sittlichen Ordnung gemacht. In dieser sittlichen Ordnung sollten alle Namen und Begriffe klar gestellt werden: der Vater soll Vater sein, der Sohn Sohn; der Fürst Fürst, der Diener Diener und so fort. In seinen Augen ist die Kardinaltugend fraglos die Pietät, im Rahmen derer die Ehrerbietung gegenüber den Ahnen und dem Kaiser die wichtigste Stellung einnimmt. Die Unwissenheit hingegen ist das Grundübel. Der Obergott des ehemaligen chinesischen Pantheons war ja Himmelsgott „Shang-ti“, anders gesagt, „T’ien“, der in Wirklichkeit die Personifizierung des Himmels, genauer gesagt, des Kosmos war. Dadurch, dass der Kosmos seine Entsprechung im Menschen und in der sozialen Ordnung auf der Erde hat, wird der Kaiser als der Sohn des Himmels betrachtet. Obwohl Konfuzius auf die Ahnenverehrung einen großen Wert legt, hat die Metaphysik keinen Platz in seiner Lehre. Er ist davon überzeugt, dass man über das Jenseits nichts wissen kann. Er pflegt zu sagen: „Wenn wir noch sehr wenig über das Leben wissen, wie können wir über den Tod wissen?“ Der tugendhafte Mensch soll nicht nur mit der Gesellschaft in Harmonie leben, sondern er soll auch in seiner Person ein Gleichgewicht haben. Er verbindet den Ahnenkult mit dem Herrscherkult und idealisiert die Ahnen und Kaiser gleichermaßen. Er sagt: „Der Herrscher gleicht dem Winde, der Geringe dem Grase. Wenn der Wind über das Gras dahinfährt, muss es sich beugen … Wer durch sein tugendhaftes Wesen herrscht, gleicht dem Polarstern. Der verweilt in seinem Ort, und alle Sterne umkreisen ihn.“ (Helmuth von Glasenapp, Die fünf Weltreligionen, S. 146). Konfuzius vergilt Güte mit Gütigkeit, aber er begegnet der Boshaftigkeit oder Schlechtigkeit mit Gerechtigkeit. Ganz anders als die brahmanischen Upanishaden, als Mahavira (der Begründer der jainistischen Lehre) und als Buddha hat Konfuzius nichts gegen die irdischen Reichtümer, im Gegenteil ist ein Leben im Wohlstand wünschenswert. Im Mittelpunkt seiner Lehre steht ein erfülltes, gutes Leben in dieser Welt, aber immer im Einklang mit der Gesellschaftsordnung. Mit dieser Einstellung scheint er der erste berühmteste Konformist gewesen zu sein. Der Gedanke von ihm „Man soll über das Jenseits nicht sprechen und das Leben der Verstorbenen darin nicht schönreden, sonst würden viele versuchen, sich das Leben zu nehmen, um dahinzugehen.“ zeigt eindeutig, dass er trotz der Ahnenverehrung sich keine großen Gedanken über das Jenseits gemacht zu haben scheint. In jener geistig fruchtbaren Epoche erscheint ein anderer Gelehrter namens Laudse (nach der alten Transkription Laotse bzw. Lao Tse geschrieben) im Alten China. Diese legendäre Gestalt muss ein Zeitgenosse von Konfuzius (im 6. Jh. vor Chr.) gewesen sein. Er ist gewiss einer der größten Kometen, die jemals am Himmel der geistigen Welt erschienen. Das Buch „Tao-te-king“ (nach neuer Transkription „Daudedsching“) wird ihm zugeschrieben. Er nennt den Urstoff bzw. das Urprinzip des Alls Tao (Dau). Tao bedeutet so gut wie „Weg“, „Prinzip“, „Art und Weise“ und auch „gehen“, „lenken“, „regieren“. Diese Ursubstanz kann man mit „Jiva“ der jainischtischen Lehre, mit dem „Brahman“ des brahmanischen Weltprinzips und dem „Dharma“ der buddhistischen Lehre vergleichen. Die Attribute wie Ewigkeit, Unvergänglichkeit, Unzerstörbarkeit und Unbeweglichkeit sind dem Tao eigen. Aber die Bewegung ist auch ihm immanent und sie ist eine alles bewegende Kraft in ihm. Es ist der Urgrund allen Werdens und Geschehens, doch braucht er keinen Anstoß von außen. Er ist unfassbar, unhörbar, nicht nennbar. Der große Weise sagt, er kenne seinen Namen nicht, aber er nenne es Tao (Dau). Es wird auch als Urmutter und Ahn des Himmels betrachtet. Das Dau entsteht aus dem Zusammenwirken von „Yang“ und „Yin“. Yang steht für das männliche Prinzip, nämlich für den Himmel, für die Sonne, für das Aktive, für das Licht, für das Warme, für das Trockene … Yin hingegen steht für das weibliche Prinzip, das heißt für den Mond, für die Erde, für das Passive, für das Dunkle, Kalte, Feuchte … Yin und Yang vereinen ihr „De“ und so entsteht das Universum. Demnach sind Yin und Yang jedem Wesen, auch dem Menschen immanent. „De“ bedeutet an sich so viel wie „das Wesen“. Als eine Art Lebens-Monade gesehen kann man es mit „Atman“, der brahmanischen Weltseele vergleichen. Auf der anderen Seite ist das „De als Wesenskern von „Dau“ zu betrachten. Dau ist zwar in den Augen der Dauisten (Taoisten) ein Nichtseiendes, aber es ist keinesfalls ein absolutes Nichts. Es hat zumindest die Eigenschaft der Ausdehnbarkeit und ebenso die Potenz, sich in ein Seiendes zu verwandeln. Es wirkt als ewig zeugende Kraft durch das Tschi – es ist das zweite Attribut von Dau, welches seinem Wesen nach an Materielles gebundene Bewegung ist. Die Taoisten bezeichnen diese Bewegung als eine Art Rückkehr. Demzufolge formt sich das „Tschi“ zum „De“, das heißt zum Wesen der Einzelerscheinungen und Gattungen, in denen sich die Kraft des Nichtseienden (Dau) in ein Seiendes umwandelt, um in einem immer wiederkehrenden Zyklus in das ewige, unnennbare, unendliche Dau zurückzuströmen. Unter anderem kann das Tschi mit Atem, Hauch, nämlich mit Atman, der brahmanischen Lehre, und auch mit dem Pneuma des Anaximenes verglichen werden. Ein weiteres Attribut des Dau ist „Wu“. Es ist das Leere, ein Zustand Noch-nicht-Seins oder Nicht-mehr-Seins; ein Raum des Übergangs vom Seienden zum Nichtseienden. Das Dau ist als Ding etwas Schattenhaftes, etwas Nebelhaftes; man sieht es, aber man kann nichts erkennen, man hört es, aber man kann nichts vernehmen. Im Zusammenwirken von Yin und Yang verkörpern sich alle Vorgänge des kosmischen Geschehens. Im Wechselspiel von Yang und Yin wurzelt die Existenz des Universums. Wie Himmel und Erde eine Einheit bilden, so befinden sich die Natur und Gesellschaft auch in Eintracht. Alle Wesen im Universum wie Menschen, Tiere, Pflanzen und die ganze Natur bilden eine Urgemeinschaft, einen Stamm. Zwischen Menschen und Natur herrscht seit Ewigkeit ein Gleichgewicht, eine Harmonie. Daher muss sich der Mensch in der Welt gemäß der natürlichen Gegebenheiten einrichten und mit der Natur in Harmonie leben. Vernunftgemäßes Leben bedeutet für Laudse allemal naturgemäßes Leben. Jeder Eingriff in die Natur bedeutet gleichwohl einen Angriff gegen das Dau; wer die Natur zerstört, der handelt eben auch gegen die kosmische Harmonie. Dies ist ebenso ein Vergehen gegen das Menschenwesen, mit anderen Worten, ein Versuch, die Natur des Menschen zu entstellen, und daher gilt es auch als ein Vergehen gegen das ewige Gesetz. Die Weisheit besteht nur in einer naturgemäßen Lebensweise. Diese Auffassung kann man mit der der Stoiker vergleichen, für die das naturgemäße Leben vernunftgemäßes Leben bedeutet. Angesichts dieser Einstellung gegenüber der Natur kann man in Laudse den ersten berühmten Naturfreund, mit anderen Worten, den ersten bewussten Naturschützer sehen, weil er einen aufrichtigen Respekt vor der Natur hat „Sich der Natur anpassen allein reicht nicht aus, um naturgemäß zu leben, der Mensch müsse auch danach streben, die Geheimnisse der Natur zu erfahren. Wenn man die Geheimnisse der Natur wahrnehme und verstehe, dann könne man sich danach richten und sogar davon im Sinne eines gesunden Lebens profitieren“, so sagt der Meister Laudse. Der Weise müsse die Natur und Gesellschaft als Ganzheit in ihren Wechselwirkungen wahrnehmen und begreifen und seine auf diesem Wege erworbenen Erkenntnisse auch anderen weitergeben. Die höchste Erkenntnis liege demnach in der Wahrnehmung und im Verstehen der Natur und deren ganzen Wesen. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse der Mensch versuchen, sich mit der Natur zu vereinen und sich mit allen Wesen eins zu fühlen. Diese Lehre ensteht allerdings als eine Reaktion gegen die Feudalherrschaft und deren Ritualismus, in jenem Wirrwarr des Alten Chinas. Aufgrund der Widersprüche von Klassen und Standesinteressen herrscht ein Missstand in der Gesellschaft. Diese Tatsache führt zu einem Bruch mit der Menschen-Natur und verursacht den Verlust der Ursprünglichkeit. In einer Zeit des Niederganges besteht die wichtigste Aufgabe des Weisen darin, diesen zweifachen Bruch zu überwinden. Hier lassen wir die Taoisten zu Wort kommen: „Zu jener Zeit (der Zeit des höchsten „De“) – die Worte in Klammern sind Zufügungen des Übersetzers und Herausgebers – gab es weder Pfad über die Berge noch führten Boote oder Brücken über die Gewässer. Die Dinge gediehen in Eintracht. Die Gemeinden standen (lose) miteinander in Verbindung … Die Menschen lebten gemeinsam mit den Vögeln und Tieren und bildeten mit allen Dingen eine Sippe. Konnten sie da etwa von einem Unterschied zwischen Herr und Knecht wissen? Alle lebten in gleicher Unwissenheit, und ihr De verließ sie nicht. Alle waren in gleicher Weise frei von Begehr – und das mag man ‚reine Unverdorbenheit‘ nennen. Solange die reine Unverdorbenheit währt, bewahrt die Natur des Volks ihr Ureigenstes. Als sich aber dann die Weisen krampfhaft um ‚Güte‘ bemühten und selbstherrlich von ‚Tugend‘ sprachen, begannen sich überall Zweifel zu regen. Als sie dann auch (Ritual-, Volks-)Musik willkürlich abänderten und die Riten verzerrten, da begannen sich unter den Menschen (soziale) Unterschiede zu zeigen. Denn kann man Opfergefäße herstellen ohne die ureigenste Art (des Materials – des Holzes) zu verderben? Jadezepter schnitzen, ohne reine Jade zu zerstören? Güte und Tugend einführen, ohne Dau und De abzutun? Musik und Riten in Mode bringen, ohne das Volk seiner Natur zu berauben? Die ureigenste Art eines Stoffs zu verderben, um daraus Gegenstände zu formen, ist ein Vergehen des geschickten Handwerkers. Aber das Dau und De zu zerstören, um daraus Güte und Tugend zu machen, das ist wohl die Schuld der Weisen …“ (Laudse, Daudedsching –, dtv Klassik – S. 16, 17, Herausgeber: Ernst Schwarz) Nach Laudse gibt es zwei Kategorien der Weisen: jene, die im Dienst der Gewalt sind oder die Gewalt selbst verkörpern, und jene, welche mit allen Dingen in Einklang stehen und sich mit allen Lebewesen im Universum eins fühlen. Aus dem oben Gesagten geht ganz deutlich hervor, dass Laudse alle Lebewesen wie Menschen, Tiere und Pflanzen sowie das Universum miteinander versippt betrachtet und von einer Zeit träumt, wo die Menschen mit anderen Wesen und Lebewesen in der Natur glücklich und in Eintracht lebten. An diesem Niedergang, so heißt es, sind nur die Weisen schuld. Jedenfalls wird von den Dauisten eine naive Ursprünglichkeit angestrebt. Dies wird in folgendem Text treffend zum Ausdruck gebracht: „In ihrer Soziallehre nahmen die frühen Dauisten eine betont anti-feudalistische, anti-hierarchische Haltung ein. Sie träumten von der Wiederherstellung der ursprünglichen Gleichheit unter den Menschen – von einer urtiefen Gemeinsamkeit: So kann keiner verwandt sein, keiner fremd sein, keiner Gewinn erringen, keiner Verlust erleiden, keiner edel sein, keiner gemein sein … (Kap. 56) Das setzt einen Nivellierungsprozess des Raubkantigen und Wirren voraus, das der Zerfall der klassenlosen Urgesellschaft mit sich gebracht hat. Aber um die Menschen wieder zu einer Gemeinsamkeit im Staube zurückzuführen, muss ihnen das Wissen um die Namen genommen werden. Als man aber mit Namen begann zu trennen die Dinge, heißt es im Kapitel 32, wurden selbstherrlich die Namen. In der feudalistischen Standesstufung bedeuteten die Namen so viel wie Rang, Würde und Ehre und damit auch Reichtum und Macht. Die Namen hatten wahrlich ‚Selbstherrlichkeit‘ errungen: Sie hatten sich zum Herrentum emporgearbeitet und bestätigten nun die soziale Stellung ihrer Träger … Was auch immer den Einzelnen über die Masse hinaushebt, wird mit Skepsis oder Hohn betrachtet. So heißt es im Kapitel 3: Achtet nicht die Achtenswerten, und es wird nicht Streit sein im Volk. Und im Kapitel 19: Schafft ab die Heiligkeit, verwerft die Klugheit – die Menschen werden hundertfach gewinnen …“ (Das oben genannte bei dtv erschienene Werk S. 25, 26, Herausgeber: Ernst Schwarz) Es wird überliefert, dass Konfuzius (Kong-tse) – er war höchstwahrscheinlich um einiges jünger als Laudse – eines Tages nach Tschou ging, um Laudses Meinung über das Zeremoniell persönlich zu hören. Laudse sprach: „Die Menschen, von denen du sprichst, sind samt ihren Gebeinen bereits vermodert, und nur ihre Worte sind noch vorhanden.“ Und weiter sprach er: „Wenn ein Edler seine Zeit findet, so steigt er empor; findet er seine Zeit nicht, so geht er hin und lässt das Unkraut wachsen … Stehe ab, Freund, von deinem hoffärtigen Wesen und von deinen vielerlei Wünschen, von deinem äußeren Gebaren und deinen hochfliegenden Plänen. Das alles ist ohne Wert für dein eigenes Selbst. Weiter habe ich dir nichts zu sagen!“ Der Weise darf nicht das Geringe, das Niedrige verachten, weil es eben kein solches gibt; das Dau (Tao) ruht im Wesenskern aller Menschen. Zusammengefasst nach der Lehre von Laudse ist alles aus dem Dau, der Urmutter, hervorgegangen. Wie das Dau in einem fortwährenden Zyklus des Werdens und Vergehens, des Seins und Nichtseins immer wieder in sich zurückkehrt, zurückströmt, so kehrt der Mensch auch in den Schoß der Urmutter zurück; er löst sich im Dau auf; einerlei, ob er es will oder nicht. (Was für eine Gemeinsamkeit mit der jüdischen, christlichen und islamischen Mystik!) Das ist die einzige Antwort Laudses auf die Frage der Vergänglichkeit des Menschen. Wie die brahmanischen Upanishaden-Meister und wie Mahavira und Buddha hatte auch Laudse den Menschen weder ein Paradies versprochen noch von der Hölle geredet. Aber in den Mutterschoß zurückkehren und sich im Dau auflösen allein reichte den Menschen nicht, weil es denen keine Hoffnung, keinen Trost gab. Wie man alle Begründer der nicht-theistischen Glaubensrichtungen oder Lehren zum Gott erhoben hat und obendrauf sie mit zahlreichen Gottheiten oder heiligen Wesenheiten umgeben hat, so hat man auch diesen Glaubensrichtungen mannigfaltige Paradiese und Höllen zugestellt. Das Gleiche geschah auch der Lehre von Laudse, und zwar mit unbeschreiblich schönen Paradiesvostellungen. Seiner (Laudse) Ansicht nach braucht der Weise (Gelehrte) sich keinen Namen zu machen; er soll verborgen und namenlos bleiben. Einer Überlieferung zufolge führte er in seiner Heimat ein bescheidenes, unauffälliges Leben. Seiner Ansicht nach: „Der vollkommene Mensch wünscht, nichts zu wünschen, und schätzt nicht schwer erlangende Güter … Er soll höchste Leere schaffen, um die feste Stille zu wahren.“ (Durant, „Osten“ – Störig, H. J. Weltgeschichte der Philosophie, S. 701) Die Grundgedanken seiner Lehre zeigen auch deutliche Parallelen zu einem der Grundprinzipien der brahmanischen Lehre, so wie es bei dem indischen Begriff „Karma-Yoga“ zum Ausdruck kommt: Man handelt und tut seine Pflicht, während man doch innerlich frei und unabhängig bleibt, und eben dadurch sich selbst und Dinge meistert, wird auch dasselbe von Laudse gefordert: Handeln durch Nicht-Tun. Die Dinge schön finden und mit denen in Beziehung treten, ohne sie besitzen zu wollen, seine Aufgabe erledigen, ohne stolz darauf zu sein. Eine Überlieferung weiß Folgendes zu berichten: „Als Laudse den Verfall des Fürstentums Tschou sah, entschloss er sich, seine Heimat zu verlassen. Am Grenzpass erkannte ihn glücklicherweise der Passaufseher Yin Hin und sprach: ‚Ich sehe, o Herr, dass du in die Einsamkeit gehen willst; ich bitte dich um meinetwillen, schreibe deine Gedanken in einem Buche nieder.‘ (Er soll auch dem Weisen einen Raum gegeben und das benötigte Schreibmaterial besorgt haben. Zufügung des Verfassers.) Und Laudse schrieb ein Buch, bestehend aus zwei Abschnitten in fünftausend und einigen Wörtern, welches von Dau und Tugend handelt. Dann zog er von dannen. Niemand wusste, wo er geendet hat.“ (Deußen, Geschichte – Weltgeschichte der Philosophie, Hans Joachim Störig, S. 679, 680) Wenn wir dieser Überlieferung Glauben schenken, dann müssen wir jenem Grenzwärter die gleiche Ehre zollen wie dem Weisen selbst. Hätte er nicht Laudse zum Niederschreiben seiner Gedanken aufgefordert, so wären die Gedanken eines der größten Weisen der Menschheitsgeschichte der Nachwelt verschlossen geblieben, wie dies in der Geschichte bestimmt bei vielen unbekannten Weisen der Fall war. Wie oben erwähnt, schon im 2. Jahrtausend v. Chr. begannen etliche Denker und Sucher an einen einzigen Schöpfergott zu denken. Sie hatten großen Zweifel an der Existenz und Macht von zahlreichen Gottheiten, weil diese trotz der Darbringung allerlei Opfergaben und der Einhaltung der Gebote den Menschen überhaupt nicht halfen. Wenn die Götter, deren Figuren per Menschenhand gemacht wurden, die Katastrophen überhaupt nicht verhindern konnten und für das Gedeihen von Vieh und Getreide nicht sorgten, so hatte man falsche Götter angebetet und falschen Gottheiten geopfert, hieß es. In Mesopotamien und Persien, im Alten Ägypten waren viele Menschen allmählich so weit, zu denken, dass die Götter, die menschliche Eigenschaften trugen und die man sah und berührte, den Menschen nicht helfen können. Also fing man an, an einen einzigen und unsichtbaren Gott zu denken. Der Einzige und Unsichtbare allmächtige Gott und Schöpfer könnte nur im Himmel sein. So richtet der Mensch seinen Blick zum Himmel. Er tut dies nicht aus dem Grund, weil er den Himmel vergöttlicht, wie es bei dem chinesischen Pantheismus der Fall war, sondern er sieht ihn als einzig würdige Sphäre, wo der allmächtige Schöpfer verweilen kann. Demzufolge wird der Himmel zum Maß aller Dinge bei den kommenden drei theistischen Religionen – alle drei werden auch als semitische Glaubensrichtungen betrachtet. Von da an stellt man sich das Reich Gottes sowie das Paradies im Himmel vor. Dass der Mensch sich von den Göttern oder Götzen abwendet und sich dem Einen und unsichtbaren Schöpfer zuwendet, ist ein großer Schritt auf der geistigen Ebene, ein großer Sprung im Bewusstsein der Menschheit. Dieser Schritt zum Monotheismus wird sich jedoch im Verlauf seiner Geschichte ziemlich schmerzvoll, sogar blutig erweisen, weil der Eine und Einzige wird neben sich keine anderen Götter dulden. Diese Unduldsamkeit und Intoleranz wird ein friedliches Leben der Völker nebeneinander und miteinander beeinträchtigen, ja, manchmal unmöglich machen. Im Vergleich zum Monotheismus mag Polytheismus eine niedere Stufe darstellen, jedoch was die Toleranz und Koexistenz der Stämme oder Völker anbelangt, war er eine friedliche und kompromissbereite Glaubensweise: In der Regel respektierte man die Gottheiten anderer Menschen, anderer Stämme, anderer Völker; in einem gemeinsamen Heiligtum oder im gleichen heiligen Bezirk hatten verschiedene Gruppierungen, Clans und Stämme ihre Götterfiguren nebeneinander, und jeder durfte seinen Gott oder seine Götter anbeten, ohne dass die anderen beleidigt waren. Obwohl die Geschichte berichtet, dass Pharao Amenophis der IV. (Echnaton) schon im 14. Jh. v. Chr. in Ägypten einen monotheistischen Glauben einführte, indem er die Sonnenscheibe Aton zum einzigen Gott erhob, und ein paar hundert Jahre zuvor in Persien Zarathustra (Zoroaster) auch eine Religion namens Mazdaismus mit einem Schöpfergott namens Ahura Mazda, begründet hatte, wird dennoch die Begründung des ersten monotheistischen Glaubens Moses zugeschrieben. Demzufolge wird das Judentum als die erste monotheistische Religion betrachtet. Das heilige Buch des Mazdaismus, nämlich Awesta, das von dem legendären Stifter dieser Religion geschrieben sein soll, weist auf ein dualistisches Prinzip hin. In dieser vermutlich ersten monotheismusähnlichen Religion wird die Welt vom Gott des Lichtes Ahura Mazda erschaffen. Um alle Schlechtigkeiten zu beseitigen und die Menschheit zu einer gerechten, tugendhaften Lebensweise und dadurch auch zur Erlösung zu führen, muss er aber als Gott des himmlischen Lichtes an der Spitze der guten Geister gegen den Gott der Finsternis und Schlechtigkeiten Angra Mainju und seine Helfer (böse Geister) einen schweren Kampf führen. Das bedeutet, alleine die Schöpfung garantiert nicht die ewige Existenz des Universums. Das Bestehen der Welt der Gerechtigkeit hängt von diesem Kampf ab. Ahura Mazda, der Gott des Lichtes und aller Tugenden, appelliert an alle Menschen, bei diesem ewigen Kampf auf der Seite des Lichtes, nämlich auf der Seite der Wahrheit und Gerechtigkeit zu sein und gegen die Finsternis zu kämpfen. Mit diesem Appell zeigt der Mazdaismus einen universalen Charakter. Das Licht, das Gute wird zweifelsohne die Finsternis, nämlich das Böse besiegen und die Menschheit retten und ins Licht führen. Diejenigen, die in diesem Kampf auf der Seite des Lichtes sind, sind die Tugendhaften und Gerechten, kurz die guten Menschen. Was die Seele und Materie anbetrifft, gilt auch bei diesem Glauben der Dualismus. Obwohl bei diesem Dualismus in der Waagschale die Seele schwer wiegt, sagt der Prophet Zarathustra, sei es falsch, die guten Eigenschaften nur der Seele und die schlechten der Materie zuzuschreiben, weil diese Eigenschaften in beiden vorhanden seien. Nach diesem Glauben gelten die vier Elemente wie Feuer, Luft, Wasser, Erde als heilig. Soviel wir aus dem Alten Testament und der Geschichte erfahren, lebten die einer großen Hungersnot entkommenen Israelis zum größten Teil als Sklaven in Ägypten, als Echnaton die Sonne zum einzigen Gott erhob. Moses war in jener Zeit geboren und aufgewachsen. Es spricht nichts dagegen, dass Moses davon beeinflusst worden wäre … Was man aber nicht weiß, ist, ob Amenophis der IV. die Sonne aus Überzeugung zum einzigen Gott erhob, oder ob er dies tat, weil er nur die Macht der übermächtigen Amunpriester – sie hatten die wahre Macht im Lande – brechen wollte, selbst wenn er den Sonnengott Aton, der mit der Kraft seines Lichtes die Welt jeden Tag wieder zum Leben erweckt, mit solch überschwänglichen Worten lobte: „O allmächtiger Aton, mit deinem herrlichen Licht steigst du vom Horizont empor. Deine Schönheit erhellt alle Länder …“ Ähnliche Lobesworte über die Sonne kommen später auch im Psalm (104/1,2) des Alten Testaments zum Ausdruck und etwa zweitausend Jahre danach werden sie auch im Koran mit anderen Worten ihren Platz finden. Die Wahrscheinlichkeit kann man nicht von der Hand weisen, dass das Judentum eine vage Vorstellung von einem Leben nach dem Tode von den Alten Ägyptern, und den Paradies-Gedanken vom Mazdaismus (oder Zoroastrismus), nämlich von dem Glauben Zarathustras übernommen hätte. Demnach musste der Verstorbene vor dem Gericht, d. h. vor dem Gott des Totenreiches Osiris einen festgeschriebenen Text aussprechen, um seine Unschuld zu beteuern, genauer gesagt, zu beschwören. Dieser Text lautet sinngemäß: „Ich habe niemandem etwas zuleide getan. Ich habe meine Verwandten nicht ins Unglück gestürzt. Im Tempel der Wahrheit habe ich keine Niedertracht begangen. Niemanden habe ich gezwungen, über seine Kräfte zu arbeiten. Meinetwegen hat niemand unter Angst gelitten, niemand hat Armut und Schmerz erleiden müssen und ich habe niemanden unglücklich gemacht. Ich habe die von Göttern verbotenen Taten niemals begangen. Ich habe die Sklaven nicht schlecht behandelt. Ich habe niemanden unter Hunger leiden lassen. Niemand musste meinetwegen Tränen vergießen. Ich habe niemanden getötet. Ich habe keinen Menschen heimtückischer- und niederträchtigerweise umbringen lassen. Ich habe niemanden belogen. Ich habe nichts Schandhaftes getan, und bin niemals fremdgegangen. Nahrungsmittel habe ich weder weniger gewogen noch teurer verkauft. Ich habe niemals meine Hand auf das Gewicht in der Waagschale gedrückt. Beim Abwiegen habe ich niemals einen Trick angewendet. Den Säuglingen habe ich die Milch niemals weggenommen. Ich habe niemandem seine Tiere gestohlen. Keinen Vogel habe ich durch die Falle gefangen. Keinen toten Fisch habe ich gefangen. Ich habe niemals das Wasser in einem Kanal heimlich in eine andere Richtung geleitet. Ich bin unschuldig! Ich bin unschuldig! Ich bin unschuldig!“ In diesem Verhaltensbekenntnis oder der Unschuldsbeteuerung kann man die Grundlage des Moralkodexes fast von allen großen Religionen sehen. Dieser Text beinhaltet mehr oder weniger alle tugendhaften und guten Taten, und umgekehrt auch alle sündhaften und bösen Taten von Judentum, Christentum und Islam. Ob der Glaube Zarathustras bzw. Mazdaismus die damaligen indischen und chinesischen Lehren und Religionen beeinflusst hatte, gibt es keine relevanten Hinweise darüber. Wie schon erwähnt, nach dem Glauben der Zarathustrier bekämpft der Gott des Lichtes den Gott der Finsternis, nämlich des Bösen, und besiegt ihn am Ende der Zeiten endgültig. Am Schluss dieses großen Weltdramas werden die Toten vom Heiland wieder zum Leben erweckt und die Guten von den Bösen geschieden. Jener eschatologische Gedanke, der mit einem Dualismus verbunden ist, beeinflusste viele Religionen, insbesondere das Christentum und den Islam, demnach der Geist des Verstorbenen je nach seinem Lebenswandel im Himmel oder in der Hölle seinen Platz findet. Er muss aber bis zum Ende der Zeiten warten, um endlich vor dem Jüngsten Gericht vom Weltenrichter (Gott) gerichtet zu werden. Dies muss sich auch wie erwartet auf die jüdische Religion ausgewirkt haben, auch wenn beim jüdischen Glauben anfänglich nur die heiligen Männer wie Propheten nach dem Tode im Himmel weiterlebten. Was den Ein-Gott-Glaube von Moses anbelangt, vertreten etliche Theologen, Gelehrten und Historiker die Ansicht, dass Moses den monotheistischen Gedanken in Ägypten vom kurzfristig allein dominierenden Aton-Kult übernommen habe. Da die Sonne die ganze Welt mit ihrem Leben spendenden Licht belohnt, hatte der Aton-Kult einen universalen Charakter, aber Moses nimmt diesen Ein-Gott-Gedanken Echnatons nur für sein Volk. Es wird überliefert, dass Moses nach seiner ersten Flucht aus Ägypten bei einem Weisen Mann nicht nur Zuflucht findet, sondern auch seine Tochter heiratet. Hinsichtlich der Einzelheiten der neuen Religion müsste dieser Mann ihm seine Gedanken übertragen haben. Daran kann gar kein Zweifel bestehen, dass die hebräischen Stämme im polytheistischen Zeitalter, wie die anderen Völker im Vorderen Orient, die Naturphänomene als Götter verehrten. Zu Lebzeiten Mose herrschte auch der animistische Glaube fast überall in der Welt vor, demnach alle Wesen in der Natur beseelt sind. Höchstwahrscheinlich wurde einer der Buschgeister Elohim (Einzahl „Eloah“) von ihm zum einzigen Schöpfergott auserwählt. (Man bedenke Moses vor dem brennenden Dornbusch!) Auf Geheiß Eloahs nennt er ihn „Jahwe“, was im Hebräischen „der Engel“ und auch „der Herr“ oder „Gott“ bedeutet. Was im Alten Testament als „Ich bin, der ich bin!“ zum Ausdruck kommt. Von da an wird Jehova, im Alten Testament Jahve od. Jahwe genannt, das Geschick der Hebräer bestimmen. Er bestimmt die Israelis zum auserwählten Volk, genauer gesagt, zu seinem Volk und dann schließt er mit diesem einen Bund. Des Weiteren verspricht Jehova die Israelis zu schützen, solange sie ihm gehorchen und ihm die Treue halten. Er wird sie über alle Stämme und Völker erheben. In jener Epoche, wo die Israelis als Diener und Sklaven in Ägypten lebten, waren zwei Götter unter vielen Gottheiten sehr beliebt und deren Kulte sehr verbreitet: Amun und Aton. Der mächtige Amun ist der Gott der Reichen und Wohlhabenden; er ist immer förmlich und streng und für die strickte Einhaltung der Riten; er fordert fortwährend Opfergaben und -tiere. Ihn können nur die Reichen zufriedenstellen, weil er nicht genügsam ist. Der Letztere, nämlich Aton jedoch ist der Gott der Armen und Unterdrückten, besser gesagt, der Sklaven. Er ist bescheiden und fordert keine Opfergaben und -tiere. Er ist milde und hat Mitleid für die Leidenden. Daher ist er der einzige Hoffnungsschimmer der Armen und Sklaven. Sobald der Pharao Echnaton stirbt – er hatte ja sehr kurz gelebt –, wird der vom Pharao entmachtete Amun durch seine mächtigen Priester wieder zum einzigen Obergott erhoben und auf seinen Thron gesetzt. Auch wenn Aton den Armen und Sklaven Trost und Kraft gibt, doch ist er für die Israelis, die von Freiheit und Unabhängigkeit träumen, nicht stark genug. Dagegen passt Amun in das Bild sehr gut, wovon die Israelis träumen. Die Namen „Elohim“ und „Jehova“ entstehen aus diesem widersprüchlichen Gedanken. Meiner Ansicht nach (wenn es auch vielen sehr gewagt erscheinen mag), kann man Elohim als den judaisierten Aton und Jehova hingegen als den judaisierten Amun ansehen. Dieser gegensätzliche Gedanke, der vermutlich aus dem Klassenkampf der ersten städtischen Bevölkerung entstand, formte sich im Kopfe von Moses zu einem einzigen Gott. Gewiss sorgte er dafür, dass das ganze Volk sich auf Jahve konzentriert und ihn unbedingt in den Mittelpunkt des religiösen und auch weltlichen Lebens stellt. Der im 1. Buch (Genesis) der Thora erwähnte Elohim ist ein erbarmugsvoller und gerechter Gott, der allen Menschen das Gute wünscht und die Witwen und Waisen beschützt. Der Jehova, der im 2. Buch (Exodus) der Thora in Erscheinung tritt, ist ganz im Gegenteil für die Rache und Strafe; er will alle Völker bestrafen und versklaven, die den Israelis nicht gehorchen oder gegen sie kämpfen. Jedenfalls brauchte er einen Gott, der den Göttern anderer Völker unbedingt überlegen sein sollte. Moses muss erkannt haben, dass die Vielgötterei seines Volkes gegen das mächtige ägyptische Pantheon der Pharaonen und die einflussreichen Pantheons der Babylonier und Syrer keine Chance hatte. Moses, der Anführer der Flüchtlinge, war aus dem Stamm Levi und geistig gesehen war er seinem Volk haushoch überlegen, weil er die damalige hohe Kultur der Ägypter in sich aufgenommen hatte. Er wollte seinem Volk einen allmächtigen Gott geben, dem es ganz ergeben dienen sollte. Dieser Gott (Jehova) ist den Israelis gegenüber immer schützend und milde – es sei denn, sie halten die Gebote nicht –, während er aber anderen Völkern gegenüber feindselig und gnadenlos ist. Im 5. Buch der Thora (Deuteronomium), das 20. Kapitel (20, 1–18) führt diese Eigenschaft Jehovas eindeutig vor Augen: Wenn du zum Kampf gegen deine Feinde ausziehst und Pferde und Wagen und ein Kriegsvolk erblickst, das zahlreicher ist als du, dann sollst du dich nicht vor ihnen fürchten; denn der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten herauf geführt hat, ist bei dir. Wenn ihr in den Kampf zieht, soll der Priester vortreten, dem Kriegsvolk eine Ansprache halten und zu ihnen sagen: „Höre, Israel! Ihr zieht heute in den Kampf gegen eure Feinde. Verliert nicht den Mut! Fürchtet euch nicht, geratet nicht durcheinander, und weicht nicht erschreckt zurück, wenn sie angreifen. Denn der Herr, euer Gott, zieht mit euch, um für euch gegen eure Feinde zu kämpfen und euch zu retten.“ Dann sollen die Listenführer zum Kriegsvolk sagen: „Ist unter euch einer, der ein neues Haus gebaut und noch nicht eingeweiht hat? Er trete weg und kehre zu seinem Haus zurück, damit er nicht im Kampfe fällt und ein anderer es einweiht. Ist unter euch einer, der einen Weinberg angelegt und noch nicht die erste Lese gehalten hat? Er trete weg und kehre nach Hause zurück, damit er nicht im Kampfe fällt und ein anderer die erste Lese hält. Ist unter euch einer, der sich mit einer Frau verlobt und sie noch nicht geheiratet hat? Er trete weg und kehre nach Hause zurück, damit er nicht im Kampfe fällt und ein anderer seine Frau heiratet.“ Außerdem sollen die Listenführer zum Kriegsvolk sagen: „Ist unter euch einer, der sich fürchtet und keinen Mut hat? Er trete weg und kehre nach Hause zurück, damit nicht auch noch seinen Brüdern der Mut genommen wird.“ Und wenn die Listenführer damit zu Ende sind, dies dem Kriegsvolk zu sagen, sollen sie Truppenführer ernennen und ihnen das Kommando über das Kriegsvolk übertragen. Wenn du vor eine Stadt ziehst, um sie anzugreifen, dann sollst du ihr zunächst eine friedliche Einigung vorschlagen. Nimmt sie die friedliche Einigung an und öffnet die Tore, dann sollte gesamte Bevölkerung, die du dort vorfindest, zum Frondienst verpflichtet und dir untertan sein. Lehnt sie eine friedliche Einigung mit dir ab und will sich mit dir im Kampf messen, dann darfst du sie belagern. Wenn der Herr, dein Gott, sie in deine Gewalt gibt, sollst du alle männlichen Personen mit scharfem Schwert erschlagen. Die Frauen aber, die Kinder und Greise, das Vieh und alles, was sich sonst in der Stadt befindet, alles, was sich darin plündern lässt, darfst du dir als Beute nehmen. Was du bei deinen Feinden geplündert hast, darfst du verzehren; denn der Herr, dein Gott, hat es dir geschenkt. So sollst du mit allen Städten verfahren, die sehr weit von dir entfernt liegen und nicht zu den Städten dieser Völker gehören. Aus den Städten dieser Völker jedoch, die der Herr, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen. Vielmehr sollst du Hethiter und Amoriter, Kanaaniter und Perisiter, Hiwiter und Jebusiter der Vernichtung weihen, so wie es der Herr, dein Gott, dir zur Pflicht gemacht hat, damit sie euch nicht lehren, alle Gräuel nachzuahmen, die sie begingen, wenn sie ihren Göttern dienten, und ihr nicht gegen den Herrn, euren Gott, sündigt. Selbst die Zehn Gebote von Moses wurden oft zugunsten des eigenen Volkes interpretiert und ausgeführt. Nehmen wir nur zwei von diesen Geboten: „Du sollst nicht stehlen!“, „Du sollst nicht lügen!“ galten anderen Völkern gegenüber nicht. Das heißt das Bestehlen und Belügen eines Israelis ist eine Sünde, aber das Bestehlen und Belügen eines anderen Volkes wird nicht als Sünde angesehen. Dies kommt im 3. Kapitel des 2. Buchs (Exodus) ganz lapidar zum Ausdruck (3:22): Jede Frau kann von ihrer Nachbarin oder Hausgenossin silberne und goldene Geräte und Kleider verlangen. Übergebt sie euren Söhnen und Töchtern, und plündert so die Ägypter aus! Das heilige Buch des Judentums, das neben den Offenbarungen auch viele Geschichten und Überlieferungen beinhaltet, besteht aus vielen Teilen. Nur die ersten fünf Bücher der Thora soll Moses selbst verfasst haben. Die anderen Teile müssen von anderen Geistlichen oder Schriftgelehrten im Verlauf der Jahrhunderte geschrieben worden sein. Auch wenn Moses den monotheistischen Gedanken von Ägypten übernommen haben sollte, besteht der Großteil der Geschichten und Gebote aus den sumerischen Traditionen und Legenden, in deren Mittelpunkt der Obergott der Babylonier, nämlich Marduk steht. Etliche Gebote im Alten Testament ähneln sogar den Gesetzen im Hammurabikodex. In der Exilperiode in Babylon im 6. Jahrhundert v. Chr. übernahmen die Israelis viele Traditionen und Bräuche von Sumerern und Assyrern und brachten sie mit nach Palästina, als sie vom Exil zurückkehrten. Die Geschichten, Legenden und Traditionen, die jahrtausendelang in Mesopotamien und auf der arabischen Halbinsel lebten, fanden durch das Judentum später auch bei Christentum und Islam ihre Geltung. Es ist nicht zu verleugnen, dass das Judentum hinsichtlich jener Traditionen, den letzteren zwei Religionen, vor allem dem Islam zur Geburt verholfen hat. Darüber hinaus wurde der auf dem Animismus basierende Glaube Mose im Laufe der Jahrhunderte zur Grundlage des Idealismus, der als die bekannteste Ideologie im Bereich der Philosophie seit über 2500 Jahren dem Materialismus gegenübersteht. Die auf dieser Grudlage basierende Metaphysik ist eine der größten Theorien, welche die Menschen heute noch beschäftigt. Es liegt auf der Hand, dass der Gedanke von Moses im Hinblick auf die geistige Entwicklung, mit anderen Worten, beim Weiterkommen der Philosophie eine sehr große Rolle spielte und auch zur Grundlage der Theologie wurde. Gleich harte und gnadenlose Befehle Jehovas, wie wir oben gesehen haben, kommen auch in anderen Büchern der Thora vor. Wenn man das ganze Leiden der Knechtschaft in Ägypten und den Überlebenskampf unter schwierigen Umständen im Verlauf der Jahrhunderte vor Augen führt, dann könnte man die harten und kompromisslosen Gebote im Alten Testament besser verstehen. Der Glaube des Auserwähltseins bzw. das Sendungsbewusstsein wurde den Israelis Segen und Fluch zugleich. Einerseits wurde es zur Quelle von Zusammenhalt und Stärke, welche bis zur Gründung des Salomonischen Reiches führte, andererseits isolierte sie. Nach-außen-geschlossen-Sein oder Unter-sich-Bleiben brachte dem jüdischen Volk unheimlich viel Leid und Schmerz. Die Feindseligkeiten dem jüdischen Volk gegenüber kann man nicht nur auf die Mitverantwortung für die Kreuzigung Jesu Christi zurückführen. Was die jüdische Mystik anbetrifft, hat sie zwar der eigenen erstarrten Religion nicht in erwünschtem Maße die Härte nehmen können, aber sie hat die christliche und islamische Mystik umso mehr beeinflusst. Obgleich die mystischen Lehren und Bewegungen in der Vergangenheit fast bei allen Religionen die erstarrte und intolerante Form der jeweiligen Religion einigermaßen abschleifen und mildern konnten, hatte jedoch die jüdische Mystik aus historischen Gründen dem jüdischen Glauben nicht die Härte nehmen können. In jener Zeit, wo die jüdische Religion eine Erstarrung erfuhr und unter die Kontrolle der hebräischen Herrenschicht sowie Schriftgelehrten und Priester geriet, kam Palästina unter die Herrschaft des Römischen Reiches. Jesaja schildert die Stagnation des jüdischen Monotheismus in den Händen der Ober- oder Herrscherschichten jener Epoche mit folgenden Worten, indem er die Entstellung des Glaubens verwirft: Warum fasten wir, und du siehst es nicht? Warum tun wir Buße, und du merkst es nicht? Seht, an euren Fasttagen macht ihr Geschäfte. und treibt alle eure Arbeiter zu Arbeit an. Obwohl ihr fastet, gibt es Streit und Zank, und ihr schlagt zu mit roher Gewalt. So wie ihr jetzt fastet, wird eure Stimme droben nicht gehört. Ist das ein Fasten, wie ich es liebe, ist das ein richtiger Bußtag: wenn man den Kopf hin- und herwiegt, wie ein Schilfrohr sich wiegt, und sich mit einem Sack und mit Asche bedeckt? Nennst du das ein Fasten. und einen Tag, der dem Herrn gefällt? Nein, das ist ein Fasten, wie ich es liebe: die Feseln Unschuldiger zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen, den Hungrigen dein Brot zu geben, die Armen aufzunehmen, die keine Wohnung haben, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden. und deinen Bruder nicht im Stich zu lassen. Dann wird dein Licht aufleuchten wie die Morgenröte, und bald bist du geheilt. Deine Rettung geht dir voran, die Herrlichkeit des Herrn folgt dir nach. (Jes. 58, 3-8) Nicht nur die Unterdrückten hatten ihre Schwierigkeiten mit der römischen Herrschaft, die gläubigen Juden hatten auch große Probleme mit dem Kaiserkult. Insbesondere in den Grenzgebieten des Imperiums herrschte ein großes Wirrwarr in den religiösen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Bereichen. Die Ungerechtigkeit schrie zum Himmel, die in Palästina zum Geburtshelfer eines neuen Glaubens werden sollte. Dennoch waren die Reaktionen des jüdischen Volkes gegen die römische Herrschaft aus Interessensgründen verschieden. Obwohl auch die jüdischen Aristokraten und Schriftgelehrten in Wirklichkeit die Römer nicht mochten, sogar zum Teil hassten, waren sie doch bereit, die Macht und auch die damit verbundenen ökonomischen Vorteile mit ihnen zu teilen. Zu dieser Schicht gehörten auch Sadduzäer, welche die Vertreter der zahlenmäßig geringen feudalen Oberschicht waren. Neben jener Feudal- und Geldaristokratie standen die sogenannten Pharisäer, die aus kleinerem, nicht zuletzt städtischem Bürgertum bestanden. Diese große soziale Schicht enthielt viele unterschiedliche Elemente der jüdischen Gesellschaft, welche aus den untersten Schichten in das Bürgertum aufstiegen, oder aus den Reihen der Aristokratie wegen wirtschaftlichen Missstandes in finanzielle Not absanken. Ganz unten aber stand die breite Schicht der Zeloten, in der sich die Armen und Ärmsten, alle Recht- und Besitzlosen gruppierten, welche am schlimmsten dran waren. Die Landbevölkerung wurde durch die außerordentliche Steuerlast ausgesogen. Je niedriger der soziale Stand war, desto größer war der Druck. Denn die Bevölkerung wurde zum einen von den Römern und zum anderen von der einheimischen Herrenschicht gnadenlos ausgebeutet. Jener Nährboden der akuten Verzweiflung war wieder einmal hochschwanger für geistige und politische Bewegungen. Die Verzweiflung der Bevölkerung, nicht zuletzt der untersten Schichten, führte zu Empörungen und Aufständen, die aus oben erwähnten Gründen teilweise von den geistigen Führern der Mittelschicht (Pharisäer) geführt wurden. All diese politischen Aufstände wurden aber von den Römern ohne Zögern jedes Mal auf brutalste Weise niedergeschlagen. Trotz der Härte der Römerherrschaft versuchten die einen auf dem politischen, die anderen auf dem religiösen Wege die Bevölkerung aus der akuten wirtschaftlichen und sozialen Knechtschaft herauszuführen, wobei auch bisweilen falsche Messiasse auftraten (der Messias-Gedanke war ohnehin im jüdischen Glauben verwurzelt) Mitten in jener Verzweiflung erschien endlich der Menschensohn. Wie bereits gesagt, vor Jesus versuchten viele andere auch, vor allem auf dem religiösen Wege die Bevölkerung in Freiheit zu führen, aber ihre Botschaften waren nicht stark genug, um bei den Armen und Sklaven Gehör zu finden. Als Jesus aus Nazareth auf die geschichtliche Bühne trat, hatte schon Johannes der Täufer, der auch jene Ungerechtigkeiten anprangerte, ihm den Weg einigermaßen bereitet: „Ich taufe euch mit Wasser, weil ihr euer Leben ändern wollt. Aber der, der nach mir kommt, ist viel mächtiger als ich. Ich bin nicht einmal gut genug, ihm die Schuhe nachzutragen. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit dem Feuer des Gerichtes taufen. Er hat die Worfschaufel in seiner Hand, um die Spreu vom Weizen zu scheiden. Er wird seinen Weizen in die Scheune bringen, aber die Spreu wird er in einem Feuer verbrennen, das niemals ausgeht.“ (Mat. 3, 11-12) Jesus wollte die zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit und die daraus entstandenen Schlechtigkeiten auf dem religiösen Wege in friedlicher Weise überwinden. Gewiss erkannte er, dass alle Schlechtigkeiten und Grausamkeiten ihre Wurzeln in der Selbstsucht und Begierde hatten. Auf der anderen Seite muss er in Erwägung gezogen haben, dass gegen die römische Übermacht zu den Waffen zu greifen sehr viel Blutvergießen mit sich bringen würde, und deshalb auch sinn- und hoffnungslos war. Um das verzweifelte Volk von der Knechtschaft der skrupellosen Herrenschichten zu retten, versuchte er, diese zuerst von ihrer inneren Knechtschaft zu befreien. Er muss erkannt haben, dass Hass und Neid gegenüber den Herren und Reichen in einem Sinne nur das Begehren der gleichen Privilegien und Macht bedeutete, das heißt, dass man die gleichen Privilegien selber hätte besitzen wollen. Dies bedeutete, dass man die gleichen Schlechtigkeiten und Grausamkeiten ebenfalls selbst begehen würde, wenn man dieselben Möglichkeiten besäße. Denn er sah das größte Übel gerade in den irdischen Besitztümern, und er wollte alles Übel, nämlich Begierde, Hass und Neid im Menschen abtöten, weil er glaubte, dass diese Leidenschaften die Menschen erblindeten. Natürlich wäre es nicht nur ein Widerspruch, sondern auch eine Illusion gewesen, zu versuchen, die Gerechtigkeit durch das gleiche Übel zu erreichen. Soviel wir sehen, wie Buddha als geborener Hindu sich gegen den erstarrten Vedismus bzw. Hinduismus stellte, so stellte sich auch Jesus als geborener Jude gegen die erstarrte Religion der Juden und deren Priesterschaft. Was die irdischen Reichtümer und Leidenschaften, die Tugenden und Sünden sowie den Moralkodex anbetrifft, decken sich die Gedanken von Buddha und Jesus in einigen Punkten. Obwohl Buddha auf die irdischen Reichtümer und Genüsse keinen Wert legt, verachtet er jedoch weder die Reichtümer noch verspricht er den Menschen irgendein schönes oder genussvolles Leben im Jenseits. Jesus aber verachtet die irdischen Reichtümer und Genüsse, während er den Menschen, die im Diesseits Armut und Elend erdulden, ein schönes und genussvolles Leben im Jenseits verspricht. Es sollen diesbezüglich nur ein paar Sätze aus dem Neuen Testament als Beispiel dienen: „Wohl euch, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Wohl euch, die ihr jetzt hungert; denn ihr werdet satt werden. Wohl euch, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen. Wohl euch, wenn euch die Menschen hassen und aus ihrer Gemeinschaft ausschließen, wenn sie euch beschimpfen und euren Namen verächtlich machen um des Menschensohnes willen. Freut euch und tanzt, wenn das geschieht; denn euer Lohn im Himmel wird groß sein. Ebenso haben die Väter die Propheten behandelt. Aber weh euch, die ihr reich seid; denn ihr seid bereits getröstet. Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet jammern und weinen.“ (Luk. 6, 20-25) Diese Haltung von Jesus, die in der Nachwelt von zahlreichen Gelehrten als Weltfremdheit oder Weltentsagung abgetan wurde, war in Wahrheit keine Weltfremdheit oder Weltentsagung, sondern sie war eine richtige Reaktion gegen diejenigen, welche durch ihre Habgier in jedem Bereich des Lebens sich selbst entfremdet waren und offensichtlich nur Geld und Macht anbeteten. Dies wird von Erich Fromm in folgenden Worten deutlich zum Ausdruck gebracht: Der Ruf „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“ (Mat. 10, 7) war der Kern der ältesten Predigt. Er war es, der die Massen der Leidenden und Unterdrückten zu enthusiastischer Hoffnung erregte. Man war in Aufbruchstimmung. Man glaubte, dass die Zeit nicht mehr ausreichen werde, das Christentum bei allen Heiden vor Einbruch der neuen Zeit zu verbreiten. Waren die Hoffnungen anderer Gruppen derselben Schicht der unterdrückten Masse auf die mit eigener Kraft zu vollziehende politische und soziale Umwälzung gerichtet, so war in der frühen christlichen Gemeinde der Blick ganz auf das große Ereignis, den wunderbaren Anbruch eines wunderbaren Zeitalters gewendet. Der Inhalt der urchristlichen Verkündigung ist kein wirtschaftliches oder sozialreformerisches Programm, die beglückende Verheißung einer nahen Zukunft, in der die Armen reich, die Hungernden satt wären, und die Unterdrückten zur Herrschaft gelangten. Diese Hoffnung wurde aber im ganz realen und materiellen Sinne verstanden. (Erich Fromm, Das Christusdogma, S. 38) Jesus ist wahrhaft gegen die Gewalt, da er weiß, dass die Gewalt niemals zum Frieden führen kann. Jesus ging es vor allem darum, den Menschen die Augen zu öffnen, damit sie den richtigen Weg selber sehen. Er will die Menschen allemal durch Liebe und Brüderlichkeit miteinander vereinen und in Freiheit und Frieden führen. Freilich setzt er seine Hoffnung auf den Menschen, weil er eine unermessliche, unlöschbare Liebe für ihn empfindet. Als er sagte: „Ich bin gekommen, um die Söhne mit ihren Vätern zu entzweien, die Töchter mit ihren Müttern und die Schwiegertöchter mit ihren Schwiegermüttern“ (Mat. 10, 35), beabsichtigte er bestimmt nicht, Feindseligkeiten unter Menschen zu bringen, sondern er meinte die Befreiung des Menschen von derartigen Bindungen bzw. Blutsbindungen. Der Grundsatz „Du sollst deinen Nächsten (Mitmenschen) lieben wie dich selbst!“ bildet nicht nur eine der Grundsäulen des christlichen Glaubens. Dieser bildet auch die Grundlage der christlich-humanistischen Ethik. Der Menschensohn geht aber einen Schritt weiter: Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen. (Mat. 5, 44) Euch aber, die ihr mir zuhört, sage ich: Liebet eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen, und betet für alle, die euch schlecht behandeln. (Luk. 6, 27-28) Dieser Gedanke – wie utopisch es auch sein mag – kann als der Zenit des Humanismus betrachtet werden. Es war eben diese grenzenlose Liebe, was ihn zum Helden der Liebe machte und auch von vielen Propheten unterschied. Jesus hatte niemals die Armen gegen die Reichen, die Unterdrückten gegen die Unterdrücker aufgehetzt. Im Gegenteil, er sagte, der Anteil Cesars gebühre ihm. Er hatte auch niemals behauptet, dass alle Menschen auf dieser Welt gleich seien. Dennoch konnten die Herrscher – sowohl die Römer als auch die einheimischen Herrenschichten – nicht einmal den Gedanken ertragen, dass die Armen im Jenseits ihnen gleichgestellt werden sollten. Die humanistischen Gedanken und Träume Jesu störten die oberen Schichten des jüdischen Volkes in Palästina unheimlich, weil sie große Angst vor dem Verlieren ihrer Privilegien hatten. Allen voran waren es die geistige Führung bzw. die Schriftgelehrten der Pharisäer, welche Jesus am meisten hassten, denn sie profitierten genug von den etablierten religiösen Institutionen. Es liegt auf der Hand, dass die Macht und Privilegien der Oberschichten zum größten Teil auf Religion basierten und diese die Religion für ihr eigenes wirtschaftliches und politisches Interesse missbrauchten. Angesichts dieser Tatsache lieferten die Vertreter der Sadduzäer und Pharisäer den Menschensohn aus ihren eigenen Reihen den römischen Henkern aus, denn sie wollten ihn loswerden, bevor sein Gedanke und Glaube die ganze Bevölkerung erfasste. Infolgedessen musste der Menschensohn den Kreuzestod sterben. Der Prediger der Gewaltlosigkeit wurde selbst zum Opfer der Gewalt. Im Grunde genommen wollte man nicht unbedingt seinen Körper, sondern seine humanistischen Gedanken vernichten. In den Augen derer, die an ihn felsenfest glaubten, war Jesus nicht gestorben, sondern er war auferstanden. Das war der einzige Trost, was den Anhängern Jesu Kraft gab, diesen Verlust zu verkraften. Sonst wären sie ihrer ganzen Hoffnung beraubt gewesen. Es war eben diese unerschöpfliche Hoffnung, die ihnen solch eine innere Stärke und solch einen unglaublichen Mut gab, in der römischen Kaiserzeit durch die Hölle zu gehen und alle Grausamkeiten zu überstehen und auch dem enormen Druck der paganischen Massen standhalten zu können. Sie identifizierten sich mit ihm, weil er einer aus ihren Reihen war. Ihren Helden der Liebe konnte man den Urchristen doch nicht wegnehmen. Unter diesen Umständen wurde der Menschensohn von den verzweifelten Armen, von Besitz- und Rechtlosen zu Gott erhoben. Der zu Gott erhobene Menschensohn war fraglos Gott der Armen und Unterdrückten. Jehova war hingegen nicht mehr der Gott der Armen des jüdischen Volkes; er war schon seit Langem in den Händen der oberen Schichten. Das Rätsel des Todes war wieder einmal geklärt und die Antwort auf die Frage der menschlichen Vergänglichkeit gegeben: Nach dem Tode wird der Verstorbene wieder zum Leben erweckt werden und im Paradies der Seligen ein ewiges Leben führen. Am Ende der Zeiten, das heißt bei dem Jüngsten Gericht wird Gott, Jesus Christus, ihm beistehen und ihn für seine Sittlichkeit und seinen gerechten Lebenswandel belohnen und von all seinen Sünden erlösen, solange er an ihn glaubt und als ein Mensch der Liebe, Vernunft und Gerechtigkeit lebt. Obwohl in der Botschaft Jesu Christi das bevorstehende gerechte Gottesreich verkündet wird, wird das Augenmerk jedoch insbesondere auf das Leben im Jenseits gerichtet. Der Glaube, dass das Leben im Diesseits eine vorläufige Existenz ist und hingegen das Leben nach dem Tod im Jenseits ein ewiges Leben ist, bildet in der Tat die Grundlage fast aller Religionen. (Der unerschütterliche Glaube der Urchristen an das gerechte Gottesreich, der mit seiner enormen Anziehungskraft diese Religion in alle Welt getragen hatte, hat eine große Ähnlichkeit mit dem marxistisch-kommunistischen Traum: Der Glaube, demnach im Gottesreich alle Leidenden, Unterdrückten und Hungernden alles haben und als Kinder Gottes gerecht und gleich behandelt werden, deckt sich mit dem Gleichheits- und Gerechtigkeitsgedanken des Kommunismus. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der kommunistische Glaube die ersehnte Gleichheit und Gerechtigkeit auf dieser Welt schaffen will.) Johannes der Täufer hatte ja immer wieder verkündet, dass das Gottesreich nahte und die Gerechtigkeit des Gottesreiches allen Schlechtigkeiten und Grausamkeiten ein Ende setzen würde. Jesus machte jedoch einen weiteren Schritt und sagte zu seinen Jüngern: „Das Gottesreich ist in euch.“ (Luk. 17,21) Das bedeutet, der Mensch trägt das Göttliche in sich selbst. Durch diesen Glauben stellt er die Liebe zu Menschen mit der Liebe zu Gott gleich. Die humanistischen Gedanken Jesu, vor allem, dass er keinen Unterschied zwischen Menschen machte und für alle unendliche Liebe und Mitgefühl hatte, bereiteten den Reichen und Ungerechten stets große Angst, weil seine Jünger und Anhänger nach seiner Kreuzigung seine Ideen unter der Bevölkerung tapfer und unermüdlich weiterverbreiteten. Der christliche Glaube führt uns noch einmal vor Augen, dass die Religionen in der Regel aus dem Bedarf der Gesellschaften enstanden sind. Jede neue Religion musste sich gegen die etablierte Religion stellen. Daher gerät sie mit den Traditionen, die das etablierte Herrschaftssystem trugen, unvermeidlich in Konflikt. Aber um zu überleben und sich verbreiten zu können, war sie gezwungen, viele Traditionen der alten Religion, die unter der Bevölkerung verwurzelt waren, zu übernehmen. Deshalb hielten die meisten Juden am Anfang den Glauben Christi für eine jüdische Sekte. Jesus hatte nicht gesagt, dass er den jüdischen Glauben falsch fand. Er sagte, dass die Priesterschaft und die Schriftgelehrten den jüdischen Glauben total verwässert hätten. Daher wollte er die wahre Religion wiederherstellen und dem Glauben einen humanen Charakter geben. Es ist eine Tatsache, dass die Religion ihr ursprüngliches Ziel aus den Augen verliert, sobald sie unter die Kontrolle der Herrscherklassen gekommen ist. Im dritten und vierten Jahrhundert wandelte sich die christliche Kirche in eine hierarchische Kirche einer weltlichen Organisation um. Der Glaube von der Erwartung der Wiederkehr Christi und von einem neuen Reich der Liebe und Gerechtigkeit geriet allmählich in den Hintergrund und an dessen Stelle trat der Glaube der apostolischen Botschaft von der Erlösung des Menschen von der Erbsünde durch Christus. Parallel zu dieser Veränderung entstand auch das ursprüngliche adoptianische Dogma des frühen Christentums. Nach diesem Glauben hatte Gott den Menschen Jesus als Sohn adoptiert, und so wurde ein armer, leidender Mensch zu Gott erhoben. In diesem Dogma fanden die revolutionären Hoffnungen und Träume der Unterdrückten und Rechtlosen ihren religiösen Ausdruck. Nachdem jedoch das Christentum als Staatsreligion des Römischen Reiches angenommen wurde, wurde dann das Dogma, dass Jesus und Gott wesensgleich seien bzw. die Wesensidentität hätten, und dass Gott in Gestalt Christi Fleisch geworden sei, auf dem ersten ökumenischen Konzil zu Nicäa als der verbindliche Glaubenssatz anerkannt. Aufgrund dieser Wandlung wurde der ursprünglich revolutionäre Glaube von der Erhebung des Menschen zu einem Gott, durch den göttlichen Akt der Liebe zum Menschen herabzusteigen und den Menschen von seiner Sünde zu erlösen, ersetzt. Erich Fromm bringt diese Wandlung in seinem Buch „Christusdogma“ treffend zum Ausdruck: „Zweihundertfünfzig bis dreihundert Jahre nach der Entstehung des Christentums sind die Menschen, die diesem Glauben angehören, von ganz anderer Art. Es sind nicht mehr Juden mit dem für dieses Volk wie bei keinem anderen heftigen Glauben an eine bald einsetzende messianische Zeit, sondern Griechen, Römer, Syrer, Gallier, kurz Angehörige aller Nationen des römischen Kaiserreiches. Wichtiger als diese nationale Verschiebung ist die soziale. Zwar bilden Sklaven, Handwerker und Lumpenproletarier, also die Masse der niederen Bevölkerungsschicht, auch weiterhin die Basis der Gemeinde, aber der Christusglaube ist gleichzeitig auch die Religion der vornehmen und herrschenden Klasse des römischen Weltreiches geworden.“ Wenn wir kurz die Anfänge der Weltreligionen studieren, so stellen wir fest, dass alle in ihren Anfängen friedlich und mehr oder weniger für die Glaubensfreiheit waren, denn sie brauchten zuallererst die Religionsfreiheit, um Fuß fassen und andere Menschen erreichen zu können. Sobald die Verfechter des neuen Glaubens sich stark genug, vor allem überlegen fühlten, dann änderte sich ihre friedliche Haltung. Man kann nicht einfach annehmen, dass die Herrscher bzw. Herrschergruppen den neuen Glauben aus Überzeugung übernahmen. Zweifelsohne haben sie die neue Religion mit aller Macht und Brutalität bekämpft, weil sie sich gegen die etablierte Religion und damit auch gegen das Herrschaftssystem stellte. Die Römer bekämpften den christlichen Glauben mindestens dreihundert Jahre lang mit aller Härte und Brutalität. Trotz aller Grausamkeiten hatte der christliche Glaube in vielen Teilen des Römischen Reiches Fuß gefasst und sich so weit verbreitet, dass der Kaiser Galerius sich gezwungen sah, im Jahre 313 das sogenannte Toleranzedikt zu erlassen. Als der Kaiser Konstantin der Große einsah, dass der christliche Glaube nicht mehr zu stoppen war, so erkannte er das Christentum als eine gleichberechtigte Religion neben dem Heidentum an. Denn er erkannte das Potenzial des neuen Glaubens, und daher wollte er ihn zwecks seiner militärischen Erfolge und der Festigung seiner Macht wirksam einsetzen. Er nahm angeblich den christlichen Glauben an, behielt jedoch seinen heidnischen Glauben, vor allem den Kaiserkult. Dennoch ließ er sich erst im Totenbett taufen. Ein krasseres Beispiel ist der Kaiser Theodosius der Große. Er war es, der das Christentum zur Staatsreligion erhob und alle heidnischen Kulte verbot und deren Tempel und Heiligtümer durch einen kaiserlichen Erlass zerstören ließ. Wenn man sich aber den Fries des Hadrian-Tempels in Ephesus (in Kleinasien) ansieht, so stellt man erstaunlicherweise fest, dass das Relief an der Ostseite den gleichen Kaiser und seine Familie mit berühmten heidnischen Gottheiten Athena (röm. Minerva) und Artemis (röm. Diana) zeigt. Wenn wir bedenken, dass solch eine Darstellung ohne kaiserliche Bewilligung nicht möglich gewesen wäre, dann können wir von der Wahrscheinlichkeit ausgehen, dass der Kaiser Theodosius vom christlichen Glauben nicht ganz überzeugt war und daher sich absichern wollte. Es steht fest, dass jede Religion in der Geschichte mit Herrscherschichten, mit anderen Worten mit dem jeweiligen System paktiert hat und dies heute noch entsprechend dem politischen und soziokulturellen System und dem Bewusstseinsniveau der Menschen immer noch mehr oder weniger tut. Die christliche Kirche hat aber nicht nur mit dem jeweils dominierenden System paktiert, sondern sie wurde im Mittelalter auch zum Verteidiger und Träger der Finsternis und damit auch zum Instrument unglaublicher Grausamkeiten. Allein die Hexenverbrennung würde als Beispiel genügen. Es ist schwer zu verstehen, warum sich die Muslime (viel mehr die orthodoxen Muslime) aufregen und dies als eine Verleumdung ansehen, wenn man sagt, dass der Islam sich mit Feuer und Schwert verbreitet hat. Es geschah auch im Namen des Christentums. Es ging sicherlich nicht um den reinen Glauben, sondern um die wirtschaftlichen Interessen, nämlich um die Profitgier. Die Religion wurde nur vorgeschoben. Plünderung und Beute waren wichtiger als der Glaube, und die Aussicht auf reichliche Beute zog die Menschen mehr an als der Glaube. Wenn es um die materiellen bzw. wirtschaftlichen Interessen ging, verstummten die humanistischen Moralwerte der Religionen. Wenn wir nur die christliche Geschichte des Mittelalters und den Aufstieg des Islamischen Reiches studieren, können wir diese Tatsache einfach feststellen. Eigentlich brauchen wir nicht unbedingt in die Gechichte zurückzugehen, dies geschieht heute noch im Namen gewisser Religionen, sogar auf brutalste Weise. Halten wir mal inne und fassen wir das bisher über die Religionen Gesagte kurz zusammen: Der Mensch ist das einzige Lebewesen auf der Welt, das weiß, dass es sterben muss und dem Tode nicht entkommen kann. Er braucht unbedingt einen Halt, um der Angst vor dem Tod zu entkommen. Der unwissende, unbewusste und unreife Mensch, der vor dieser bitteren Gewissheit steht, könnte verrückt werden und könnte das Leben nicht verkraften, wenn er keine Hoffnung auf ein weiteres Leben nach dem Tode hätte. Sonst wären für ihn all die Strapazen und Leiden des Lebens umsonst. Die Vergänglichkeit des Menschen wird also die Quelle der Religion, weil er eine Hoffnung auf ein weiteres, sogar ein besseres Leben hat. Trotz allem ist nur der Tod gewiss, das erhoffte weitere Leben ist aber ungewiss. Wie die Gewissheit des Todes zur Quelle der Religion wurde, so wurde die Ungewissheit der Umstände im Jenseits zur Quelle der Diversität der Religionen. Das heißt die Verschiedenheit der Religionen liegt ohne Zweifel in der Ungewissheit der Regeln und der Umstände des erwarteten Jenseits. Denn jede Religion beschreibt die Wege ins Jenseits, die Gesetze und die Art und Weise der weiteren Existenz dort unterschiedlich. In seinem Überlebenskampf machte der Mensch viele Erfahrungen: Er sah, dass das Wasser bei der strengen Kälte zu Eis gefriert und danach wieder zu Wasser wird, wenn die Kälte vorbei ist. So kam er zum Schluss, dass dies nicht von einer geheimnisvollen Kraft, sondern durch die von der Sonne verursachten Temperaturunterschiede zustande kommt. Er hat verstanden, dass auf den Feldern ohne Wasser oder Feuchtigkeit kein Gras und Getreide wachsen kann, in der Hitze und Dürre auch die Pflanzen und Bäume verdorren und Obstbäume keine Früchte geben. Hingegen aber, dass genug Gras, Getreide und Früchte wachsen, wenn es genug geregnet hat. Auf diesem Wege hat er irgendwann begriffen, dass das Wasser beim Meeresspiegel immer bei hundert Grad Celcius kocht; in der Wärme, unter der starken Sonneneinstrahlung verdampfen und verdunsten die Flüsse und Meere. Anhand dieser empirischen Erfahrungen kam der Mensch zu dem Schluss, dass die Naturphänomene wie Erdbeben, Wind, Regen, Donner und Blitz nicht von irgendwelchen Göttern verursacht werden. Diese Erfahrungen, denen wiederum andere Beobachtungen und Erfahrungen vorausgingen, versetzten den Menschen in Begeisterung und sie wurden zur Basis weiterer Beobachtungen und Erfahrungen. Aufgrund seiner empirischen Erfahrungen und Kenntnisse machte der Mensch einen großen geistigen Sprung und begann die Natur und die Dinge darin, mit anderen Augen zu betrachten. Aus diesem Bewusstsein wurde die Philosophie geboren. Obgleich die Philosophie das Kind der Religion war, doch machte sie sich selbstständig und behauptete, dass das Universum nicht durch den Willen eines Gottes, sondern aus dem Zusammenwirken von gewissen Urstoffen und Kräften entstanden sei. So begann auch der ewige Streit zwischen der Mutter (Religion) und dem Kind, nämlich der Philosophie. Je ungehorsamer und rebellischer das Kind wurde, umso agressiver wurde die Mutter. Angesichts dieses Konfliktes wurden unzählige Denker und Philosophen der Gottlosigkeit bezichtigt, und viele wurden verurteilt und verdammt. Die Theologie hingegen versuchte ständig die Existenz Gottes zu beweisen, zu rechtfertigen. Es kam zu einem Punkt, wo die Philosophie und Wissenschaft es endlich verstanden, dass die ganze Auseinandersetzung mit der Religion keinen Sinn machte. So mussten sie die Religion in ihrem Bereich akzeptieren. So konnte sie (Religion) mit ihren Dogmen weitermachen und behaupten, z. B. in wie vielen Tagen der Vatergott die Welt erschuf, ob die Engel männlich oder weiblich seien oder überhaupt ein Geschlecht hätten. Trotzdem musste sie im Laufe der Jahrhunderte die Realität akzeptieren, dass die Welt keine Scheibe, sondern eine Kugel ist, dass nicht die Sonne sich um die Erde, sondern die Erde sich um die Sonne wie auch um ihre eigene Achse dreht. Das von der Wissenschaft angebotene Friedensabkommen reichte aber der Religion nicht, weil sie ihre Macht stets in Gefahr sah. Sie griff die Wissenschaft weiter an, aber konnte nicht mehr viel anrichten. Ihre Waffe, die Freidenkenden hin und wieder als Ketzer zu verurteilen, war auch allmählich veraltet. Das Zeitalter der Finsternis neigte sich allmählich dem Ende zu und eine Epoche des Lichtes brach an. Die Schreckensherrschaft im Namen Jesu wie Hexenverbrennung, ewige Verdammnis in der Hölle, das Geschäft mit dem Sündenerlass, das Exkommunizieren der Freidenkenden war schon vorbei, obwohl sie in der Unwissenheit der Bevölkerung noch immer ihre wichtigste Stütze sah und dies weiterhin missbrauchte. Die Wissenschaft hatte aber hingegen die wachsende Vernunft und das damit verbundene Bewusstsein, das mit der kapitalistischen Entwicklung Hand in Hand ging, auf ihrer Seite. Die sozioökonomische Entwicklung, die sich mit der Eigendynamik des Kapitalismus Jahr für Jahr immer mehr beschleunigte, brauchte immer mehr Arbeitskraft, sodass auch die Frauen in Manufakturen und modernen Fabriken eingesetzt werden mussten. Diese Entwicklung sprengte das traditionelle Familien-Klischee, und die jahrtausendelang andauernde patriarchalische Denkweise musste sich ändern. Angesichts dieser rasanten wirtschaftlichen und soziokulturellen Entwicklung war es unvermeidlich, die Grenzen des Glaubensbereiches, mit anderen Worten, den Zuständigkeitsbereich der Kirche von Neuem zu bestimmen. Demzufolge setzte sich das laizistische Prinzip durch, welches die größte Errungenschaft der Menschheit ist. Und auch die Grundlage der Freiheit und des Friedens. So wurde die sakrale Macht von der weltlichen Macht getrennt, mit anderen Worten, die Kirche wurde vom Staat getrennt. So konnten die Menschen in den säkularen Ländern – damit sind christlich-westliche Länder gemeint – endlich miteinander und nebeneinander in Frieden leben, unabhängig von ihrem Glauben. In der islamischen Welt aber dachte die Religion überhaupt nicht daran, sich von der weltlichen Macht zu trennen; andersrum wollten die Herrscher auch nicht auf die Unterstützung der Religion verzichten. Daher konnten in einigen Ländern die Menschen, die nicht freiwillig zum Beten gingen, durch die religiöse Institution, freilich mithilfe der Machthaber, mit Gewalt, d. h. mit Schlagstöcken in die Moscheen getrieben werden. Dies wird in gewissen Ländern in einer Art und Weise noch heute ausgeübt. Zweifelsohne hatten Menschen durch die Säkularität endlich ihre Religions- und Gewissensfreiheit, und damit auch die Meinungsfreiheit, welche für die Demokratie und für ein friedliches Zusammenleben unverzichtbar ist. Im letzten Jahrhundert ist der neoliberale Kapitalismus und dadurch auch die Profitsucht in vielen Ländern der Welt, nicht zuletzt in den westlichen Industrieländern so weit gekommen, dass er seine eigenen Götter erschaffen hat. Im Verlauf dieser enormen materiellen, vor allem der technischen Entwicklung ist der Mensch in eine Epoche reingeschlittert, wo er angefangen hat, die Macht und Kraft der Maschine (Kybernetik inbegriffen) anzubeten, ohne dass er dies gemerkt hat. Wie er sich am Anfang seiner Geschichte gegenüber den Naturphänomenen und -kräften hilflos gefühlt hatte, so fühlte er sich nun den Maschinen gegenüber ohnmächtig. Der Mensch betete wieder die Götter an, die er mit eigenen Händen schuf, wie er in der polytheistischen Epoche getan hatte. So bildete sich das moderne Pantheon des Maschinen- und Kybernetik-Zeitalters, auf dessen Spitze das Geld als Obergott seinen unverrückbaren Platz einnahm. Für jeden Bereich des Lebens hat er seine Hilfsgötter geschaffen, die ständig die Menschen manipulieren müssen, damit sie immer mehr konsumieren und an nichts anderes als den Konsum denken, sodass der Pofit immer größer wird. Diese Götter sorgen dafür, dass der Mensch nur zu einem Arbeits- und Konsumautomaten reduziert wird, und auch niemals aufwacht und sich dessen bewusst wird. Nun, der Neo-Polytheismus, den der größte Teil der Weltbevölkerung gegenwärtig erlebt, zeigt leider nicht die gleiche Toleranz, die er einst innehatte. Nicht nur in den westlichen Ländern, sondern auch in allen Metropolen der Welt, deren Märkte mit den modernen Produktionen der Zeit ständig überfüllt sind, sind die althergebrachten Religionen und Götter schon längst nur Scheinsache geworden, weil in denen auch das Geld als höchster Gott angebetet wird. Der Gott des Geldes und seine Hilfsgötter kennen außer dem Profit keine anderen Werte. Es gilt solche Werte – wenn noch welche vorhanden sind – dem Obergott, nämlich dem Profit zu opfern. In der Beziehung waren die damaligen Götter sehr bescheiden; man musste nicht für den sakralen Zweck Tausende von Menschen opfern. Denn die Götter, denen Menschenopfer zustanden, waren im Jahr mit ein paar Opfern zufrieden. Aber der Gott des Profits ist so gierig, dass für ihn Jahr für Jahr Tausende, Zehntausende, Hunderttausende Menschen geopfert werden müssen. Die Schlachtfelder sind die Altäre dieser profanen Opferkulthandlungen. Der Gott des Profits ist so gierig, dass seine Knechte die Menschen so viel wie möglich ausbeuten müssen, um seinen Hunger stillen zu können. Dieser Gott ist so blutrünstig, dass seine hochrangigen, mächtigen Knechte (gleichgültig, ob sie gewählt oder nicht gewählt sind) für ihn immer neue Schlachtfelder eröffnen müssen, damit er genug Blut bekommt. Für diese Opferriten zu Ehren des Geldes müssen auch immer mehr Ritualgeräte, das heißt Waffen produziert werden, weil der Obergott davon auch im großen Maße profitiert. Infolge dieser Entwicklung haben die Herrscherschichten der westlichen Welt, etwa vor dreißig Jahren, mit einer wundersamen Inspiration die Wichtigkeit der Religion, besser gesagt, das religiöse Bedürfnis von gewissen Völkern wiederentdeckt. Nicht aus dem Grunde, weil sie Respekt vor herkömmlichen Religionen haben, sondern deshalb, weil sie zu dem Entschluss gekommen sind, die Religion in den Dienst des Profits zu stellen. Demzufolge hat man begonnen, von einer islamischen Renaissance zu reden, wohlwissend, dass der Islam nirgendwo in der islamischen Welt seine Macht eingebüßt hatte. Wohlwissend, dass eine Wiedergeburt einer monotheistischen Religion auch die vorhandene magere Toleranz noch mehr schwächen würde. Mit dem sogenannten „moderaten Islam“ hat man nicht nur die Religion zur Basis der Macht erhoben, sondern man hat auch den Laizismus endlich dem wirtschaftlichen Interesse, d. h. dem Gott des Profits geopfert, ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie viele Jahrhunderte die westliche Welt für den Laizismus und damit verbundenen Rechte und Werte gekämpft hatte, wobei es offensichtlich ist, was die Fanatiker gewisser Religionen von der Renaissance verstehen. Sie ziehen ganz offen in den Kampf gegen die laizistischen Prinzipien und damit auch gegen die Meinungs- und Gewissensfreiheit, kurz gesagt gegen die Menschenrechte. Sie gönnen den Frauen nicht einmal die geringsten Rechte, die sie in einigen Ländern unter Umständen erlangten. Sie würden die Andersgläubigen, vor allem die Atheisten einsperren oder entmündigen, was auch in einigen Ländern gegenwärtig unter verschiedenen Umständen geschieht. Die Gründung der Sekten wird oft als eine geistige Wiedergeburt gewertet. Keiner will wissen, dass diese Entwicklung ein unvermeidliches Resultat der Leistungs- und Konsumgesellschaft ist, wo der Mensch nur als Maschine angesehen wird und daher ständig unter Druck steht, immer mehr zu leisten, immer mehr zu produzieren und zu konsumieren. Es wird versucht, aller Welt weiszumachen, dass so viele Menschen von einem bewussten religiösen Bedürfnis heraus zu den Sekten laufen. Meiner Ansicht nach bekommen die religiösen Sekten zum größten Teil aus zwei Gründen Zulauf: Zum Ersten: Der Mensch zählt nichts mehr als ein Objekt und es ist auch nicht erwünscht, dass er eine Identität und Souveränität besitzt und dementsprechend handelt. Er wird nur als eine Nummer angesehen. Das Wichtigste ist, dass er jedes Jahr, jeden Monat, jede Woche, jeden Tag immer mehr leistet und immer mehr konsumiert. Um die Leistung erhöhen zu können, wird er oft vor unüberwindbare Aufgaben gestellt, immer wieder mit neueren und komplizierteren Instrumenten und Programmen konfrontiert, denen gegenüber er sich ohnmächtig fühlt. Er hält diesen Tag für Tag wachsenden Druck nicht mehr aus. Er will keine Nummer mehr sein; er will aus der Bedeutungslosigkeit, in der er nur ein Objekt ist, herauskommen. Er will als Mensch, als Person anerkannt, geliebt und geschätzt werden. Diese Möglichkeit sieht er nur in einer Gruppe, in einer Gemeinschaft, in der er akzeptiert wird und der er sich zugehörig fühlt. Diese Gemeinschaften sind oft die Sekten, die aber nicht unbedingt aus einem reinem religiösen Bedarf heraus enstanden sind Viele von denen werden von Scharlatanen gegründet, die sich auf Kosten der arglosen Menschen bereichern wollen; einige andere werden von perversen Personen gegründet, die anhand der Sekte ihre Perversitäten befriedigen wollen. Auf der anderen Seite sind die religiösen Institutionen wie Moschee, Tempel, Kirche und deren Priesterschaft nicht mehr in der Lage, den Menschen eine humanistische Orientierung zu geben, weil sie selbst in den Krallen des Zeitgeistes zappeln, weil sie selbst keine Überzeugung haben, weil sie selbst scheinheilig sind. Sie spielen ihre Rollen entsprechend den Regeln des Profitgottes. Sie versuchen ganz bewusst immer den Eindruck zu erwecken, dass sie ihren Gott anbeten, während sie unbewusst den Obergott des globalen Systems verehren. Die römisch-katholische Kirche beharrt seit Jahrhunderten auf Zölibat; sie stellt sich noch immer gegen die Geburtenkontrolle, nämlich gegen die Antibabypille und Kondome, um das noch nicht existierende, noch nicht entstandene Leben zu retten, während deren Oberhaupt, nämlich der Papst, dem Oberbefehlshaber einer Armee, der Zehntausende, Hunderttausende Menschen auf dem Alter des Profitgottes schlachten lässt und Millionen von Menschen in Elend stürzt, eine Sonderaudienz gewährt und ihn segnet. Auch zu vielen anderen Diktatoren, die ihre Bevölkerung brutal unterdrücken, pflegt er gute Beziehungen und segnet sie, anstatt als Gottesmann sie an den Pranger zu stellen. Im Lichte dieser Tatsachen versteht es sich von selbst, warum die meisten Sekten in den USA und in europäischen Konsum- und Leistungsgesellschaften entstehen. In den letzten paar Jahrzehnten entstanden in den westlichen super-kapitalistischen Industrieländern, vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika Hunderte von Sekten, und sie werden immer mehr. Solange sie keine politischen Ansprüche stellen, sind sie willkommen. Die Perversitäten werden sogar im Namen der Religionsfreiheit geduldet, zumindest weggesehen – es gibt oft genug Berichte darüber. Denn die Angehörigen dieser Sekten sind nur mit sich selbst beschäftigt, die Politik und Ungerechtigkeiten im System interessieren sie nicht. Kurz gesagt, sie sind für das System ein Vorteil. Die Priester der römisch-katholischen Kirche führen so ein bequemes, konfortables Leben, wovon viele Menschen in jeweiligen Ländern nicht einmal träumen können. Die Bischöfe und Kardinäle führen ein Leben in Prunk und Pracht, als würden sie den christlichen Glauben, genauer gesagt, Jesus Christus verhöhnen. Dies tun sie sogar in einer Zeit, wo ein Viertel der Weltbevölkerung sich nur mit trockenem Brot ernähren muss und ständig unter Hunger leidet, wo mehrere Millionen von Menschen jedes Jahr verhungern. Bei den anderen Konfessionen geht es auch ähnlich zu. Die Priester, vor allem die Patriarchen versuchen, ihre Kirchen mit Gold und Silber zu füllen, ihre Kaftane mit Silber, Gold und Edelsteinen schmücken zu lassen, während Millionen und Abermillionen in ihren eigenen Ländern hungern und im Elend leben müssen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass in ehemaligen Ostblockländern gewisse Politiker, die einst die Kirchgänger beschatten und abstempeln ließen, heute bei Feierlichkeiten in der Kirche Schlange stehen, um dem Patriarchen die Hand zu küssen. So wie im Mittelalter versuchen sie auch heute, die Religion zur Stütze ihrer Macht zu machen. Das alltägliche Leben in der islamischen Welt sieht noch schlimmer aus. Fast in allen muslimischen Gesellschaften werden viele Frauen und Mädchen regelrecht abgeschlachtet –in gewissen Ländern sogar öffentlich durch die Steinigung getötet –, wenn sie Ehebruch begangen haben oder zu einer Person gegen den Willen der Familie eine Beziehung haben. Wenn dem so ist, was kann man denn heute von Religionen erwarten? Jedenfalls nichts Gutes, nichts Humanes. Am Ende dieses Diskurses dürften wir in der Lage sein, die Eigenschaften der großen Weltreligionen voneinander zu unterscheiden, vor allem was die Missionierung anbelangt: Das Judentum ist nur für die Hebräer bzw. Israeliten, daher kann man nicht von einer Missionierung reden. Der Hinduismus ist aussließlich nur für Hindus. Das heißt um dieser Religion anzugehören, muss man im Hinduismus geboren sein. Das bedeutet, von einer Missionierung kann keine Rede sein. Was jedoch die anderen drei Weltreligionen anbetrifft, die einen universalen Charakter haben, ging die Missionierung beim Buddhismus mehr oder minder friedlich vonstatten. Obwohl das Frühchristentum in den ersten 4­–5 Jahrhunderten auf Missionierung gesetzt hatte – es hatte ja damals keine andere Möglichkeit –, hatte es im Mittelalter, vor allem in der Kolonialzeit eher auf Feuer und Schwert gesetzt. Der Islam aber hat für die Verbreitung besonders auf Feuer und Schwert gesetzt. Im nächsten Kapitel wird uns die Quintessenz des Koran vor Augen führen, warum sich der Islam mit Feuer und Schwert verbreitet hat und noch heute diesen Weg geht. Ich hoffe aber zumindest, dass die oben angeführten Erörterungen und Erkenntnisse uns helfen würden, den Propheten und den Koran besser verstehen zu können. Anmerkung. Bevor ich mit dem Kern des Buches, d. h. mit dem „der Prophet und sein Buch“ beginne, möchte ich zwei Punkte klarstellen:

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