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Heinrich von Kleist. Geschichten und Anekdoten
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Über Geschichten und Anekdoten
Отрывок из книги
Heinrich von Kleist
Zuvorderst erhielt sie abends, in ihrem Hotel, da sie beim Spiel sass, vor den Augen mehrerer, zu einem Souper eingeladenen Gäste einen Brief: sie erbricht und überliest ihn, und indem sie sich zur Signora Franzeska wendet: „Signora,“ spricht sie, „Graf Scharfeneck, der junge Deutsche, der Sie vor zwei Jahren in Rom gesehen, hält aus Venedig, wo er den Winter zubringt, um Ihre Hand an. — Da!“ setzt sie hinzu, indem sie wieder zu den Karten greift, „lesen Sie selbst: es ist ein edler und würdiger Kavalier, vor dessen Antrag Sie sich nicht zu schämen brauchen.“ Signora Franzeska steht errötend auf; sie empfängt den Brief, überfliegt ihn, und, indem sie die Hand der Prinzessin küsst: ,,Gnädigste,“ spricht sie: „da der Graf in diesem Schreiben erklärt, dass er Italien zu seinem Vaterlande machen kann, so nehme ich ihn, von Ihrer Hand, als meinen Gatten an!“
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Sechs Wochen darauf erhalten die Prinzessin und die Gräfin in einem schwarz versiegelten Briefe die Nachricht, dass der Graf Scharfeneck in dem Hafen von Venedig ertrunken sei. Es heisst, dass er nach einem scharfen Ritt die Unbesonnenheit begangen, sich zu baden; dass ihn der Schlag auf der Stelle gerührt und sein Körper noch bis diesen Augenblick im Meere nicht gefunden sei. —
Alles, was zu dem Hause der Prinzessin gehört, versammelt sich auf diese schreckliche Post zur Teilnahme und Kondolation; die Prinzessin zeigt den unseligen Brief, die Gräfin, die ohne Bewusstsein in ihren Armen liegt, jammert und ist untröstlich —; hat jedoch nach einigen Tagen Kraft genug, nach Venedig abzureisen, um die ihr dort zugefallene Erbschaft in Besitz zu nehmen. — Kurz, nach Verfluss von ungefähr neun Monaten (denn so lange dauerte der Prozess) kehrt sie zurück; und zeigt einen allerliebsten kleinen Grafen Scharfeneck, mit welchem sie der Himmel daselbst gesegnet hatte. Ein Deutscher, der eine grosse genealogische Kenntnis seines Vaterlandes hatte, entdeckte das Geheimnis, das dieser Intrige zum Grunde lag, und schickte dem jungen Grafen, in einer zierlichen Handzeichnung, sein Wappen zu, welches die Ecke einer Bank darstellte, unter welcher ein Kind lag. Die Dame hielt sich gleichwohl unter dem Namen einer Gräfin Scharfeneck noch mehrere Jahre in Neapel auf; bis der Vicomte von P... im Jahr 1793 zum zweitenmale nach Italien kam und sich auf Veranlassung der Prinzessin entschloss, sie zu heiraten. —
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