Ein planloses Leben – Teil 1
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Heinz Suessenbach. Ein planloses Leben – Teil 1
Impressum
3 Reichenbach. Und da bin ich am 9. Dezember 1939 und probiere meinen ersten Atemzug. Jemand hat mal geäußert, daß man bei Geburt nackig, nass und hungrig ankommt und obendrein noch auf den Arsch gehauen wird, und danach geht das Leben bergab. Ich bin das dritte Kind von Gertrud und Wilhelm Süssenbach. Meine Schwestern Renate und Annelies sind mir mit 3 bzw. 9 Jahren vorausgeeilt; Mädels sind eben immer schneller. Unsere Adresse lautet Reichenbach, Eulengebirge, Schlesien. Vater ist Schmied und meine Mutter ist Hausfrau. Daß meine Mutter nicht lesen und schreiben kann, wird mir erst im dritten Schuljahr klar. Als sie selber im dritten Schuljahr war, fing der Erste Weltkrieg an, und ihre Mutter starb. Sie hat noch drei Geschwister, von denen sie die Älteste ist. Ihr Vater heiratet schnell ein junges Mädel von 22 Jahren und marschiert in den Krieg für Kaiser und Vaterland. Die Welt hat seitdem nichts dazugelernt, und mit den gleichen hohlen Parolen ziehen junge Soldaten heute noch zu Schlachten für ähnliche Lügen. Der Dank des Vaterlandes ist euch gewiss; Gloria, Victoria, Juchheirassa, und wenn ihr das glaubt, seid ihr nicht schlau. Amen. Wie gesagt: Mutter ist die Älteste und bleibt die Hausmagd. An Schule ist nicht zu denken, denn die war 5 km entfernt; monatelang liegt hoher Schnee, und feste Schuhe sind zu teuer. Die Kriegswinter waren immer eisig und lang. Mein Großvater kommt zurück vom Krieg und produziert noch 4 Kinder, also besteht für unsere Muttl keine Hoffnung, in die Schule zu gehen. Ich hab das meinem Opa nie verziehen. Wie gesagt, als ich dahinterkomme, daß meine Muttl kaum lesen und schreiben kann, nutze ich das schamlos aus. Wenn ich Drohbriefe und Mahnungen von der Schule bringen muß, zeige ich die Muttl nur in der letzten Minute, bevor ich zur Schule muß, und sie unterschrieb hastig. Vatl ist Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, der NSDAP, und lernt Muttl bei einer Parteikundgebung im Lande kennen. Er ist als Organisator behilflich bei solchen Versammlungen. Sie treffen sich, und Vatl verknallt sich in das liebe, ruhige, warmherzige Mädel. Wir haben denselben Geschmack, Vatl und ich. Als ich endlich auftauchte, liegt meterhoher Schnee in Reichenbach. Vatl ist sehr erleichtert, denn jetzt hat er einen Namensträger und ist nun bereit, dem Führer zu helfen. Bis dahin ist es seine Angst, daß der Krieg ohne ihn zu Ende geht. So hat’s uns Muttel später immer erzählt. Deutschland mußte ja der Welt beweisen, was die nordische Rasse alles machen kann – und mußte sich außerdem rächen für die Schmach von Versailles. Die Franzosen waren da echt wahnsinnig gewesen, und gelehrte Leute wußten damals schon, daß darin die Wurzeln für den nächsten Krieg wuchsen. Das Malheur war natürlich die Einladung für Hitler – seine Zeit! Wenn die enorme Rüstung beginnt, fragt kaum einer, wo die Finanzen herkommen. Billionen von Reichsmark. Aber das kannst du, lieber Leser, selber erkunden, denn heute ist das ja einfach herauszufinden im Netz. Die Leute, die von Kriegen Geld machen, sind heute noch da, und es sind oft noch dieselben Firmen oder Banken, und deswegen wird’s immer Krieg auf Erden geben. Wir, das Volk, sind ja so blöde, daß wir immer wieder auf Lügen reinfallen. Aber nicht, daß der Leser denkt, daß ich damals davon was geahnt hatte; nein, ich war der Dümmste von allen, aber eins ist mir klar geworden: Leute wollen ja veralbert werden, das sieht man bei jeder Wahl in den sogenannten westlichen, demokratischen Ländern. Ich bin 10 Monate alt, als Vatl in den Krieg zieht. Er will zu den Panzern, und da mußte er erst in Breslau zu Pferd gedrillt werden, darüber muß ich heute noch lachen. Ich habe noch Bilder, wo er als Husar oder Ulan reitet. Was Pferdereiten mit Panzern zu tun hat, hat uns gewundert. Alle diese Informationen haben mir die Mädels oft geschildert. Als Vater dann endlich zu den Panzern kommt, wird er erst mal irgendwie nach Afrika geschickt für ’ne Weile. Dann geht’s nach Russland. Ja, wir Deutschen müssen ja den armen Russen zeigen, wie man Land bearbeitet, denn von modernem Ackerbau und Viehzucht hatten die Russen nicht viel Ahnung. Die armen Kerle waren sehr primitiv und hatten unter den Kommunisten schwer gelitten, und wir Deutschen müssen das alles in Ordnung bringen. Ja, wie weise waren doch meine Mädels! Als Vatl von Afrika kommt auf dem Weg nach Russland, verbringt er zwei Wochen mit uns, und die Mädels haben mir diese wunderbare Zeit oft in allen Farben geschildert, wie herrlich das war. Mir hat er ein Dreirad gebaut – er konnte ja alles fabrizieren mit seinen Händen –, ein schönes Dreirad mit Gummireifen von ’nem kleinen Flugzeug. Und er hat sich auch riesig gefreut, wie groß wir geworden sind. Aber das Dreirad kann ich erst meistern, wenn ich beinahe 3 Jahre bin. Dann der große Abschied – und zu Weihnachten bin ich wieder da. Dieses traurige Versprechen wurde ja millionenfach wiederholt an allen Seiten der Front. Es kam aber anders. Ich habe aber das Dreirad und seine Tabakpfeife ohne Tabak und sein Käppi. Meine Mädels haben mir das alles immer wieder erzählt. Wir hatten alle ein Bankbuch, und Muttl hat’s mir oft gezeigt. Wir hatten jeder 10.000 Reichsmark auf dem Konto. Vatl und Muttl waren eiserne Sparer
Mein treues Dreirad
Meine geliebte Pfeife
4 Unser Heim. Unser Haus stand in der Schweidnitzer Strasse 34 in einem grossen Hof. Auf einer Seite stand die prächtige Villa vom Herr Major; ein zweistöckiger Bau mit einer großen, breiten Treppe, und dahinter war ein wunderbarer Park mit einem trockenen Springbrunnen, worin aber trotzdem manchmal Frösche waren. Die Frau Major sah ich meistens nur von Weitem. Sie schwebte immer mit schönen, langen Kleidern herum. Auf unserer Seite waren fünf Häuser, also unseres und dann noch vier hintereinander. Im Letzten wohnte der Schweinebauer gleich neben dem Tor zum Schweinefeld. Die anderen Familien waren die Kornetzkis, Zeunerts, Kilians und Hofs und deren Kinder; die Männer waren ja im Krieg. Unter den ganzen Kindern waren nur zwei Jungs, ein älterer und ich, und neun Mädels im Alter von 6 bis 13 Jahren. Der ältere Junge ist aber tödlich verunglückt. Am Ende des Hofs stand immer ein Jauchentank mit großen Stahlrädern, und wie der Junge da reingefallen ist, weiß keiner. Ob er reingeguckt hat in den Jauchentank und ist ohnmächtig geworden von dem Gestank? Da gab’s Zeter und Mordio von den Frauen. Dann kam die Feuerwehr. Mann, die sahen klasse aus. Sie hatten solche dunklen Anzüge und glänzende Messinghelme und ein riesengroßes, rotes Auto, und die holten den Knaben raus. Dann wurde uns aber feste eingehämmert, niemals zu dem Jauchenwagen zu gehen. Und so war ich nun der einzige Mann im Hof. Meine etwas klareren Erinnerungen beginnen, als Annelies schon ins Gymnasium geht. Renate ist in der Grundschule. Annelies gehörte zum BDM, dem Bund Deutscher Mädel. Mann, sie sah so hübsch aus: lange schwarze Haare, die sie oft in Zöpfe geflochten hat, weiße Bluse, schwarzer Rock und einen Schlips aus geflochtenen Leder. Ich habe immer meinen Kopf gegen den Eisenzaun gedrückt, wenn die beiden zur Schule gingen und fühlte mich dann so einsam und verlassen, denn die anderen Mädels waren nicht scharf auf meine Gesellschaft. Vielleicht war ich ihnen zu langsam oder zu deppert. Wenn meine Mädels nach Hause kamen, durfte ich meistens mitspielen, ob’s den anderen gepaßt hat oder nicht. Leider glaube ich, daß ich vielleicht bissel gepetzt habe, wenn ich auf die Schippe genommen wurde. Ich war ein Muttersöhnchen. Aber eins konnte ich, was die Weibleins nicht konnten: Direkt vor unserem Haus stand ein Lindenbaum. Ich weiß nicht genau, ob’s ein Lindenbaum war, aber jedenfalls in drei Meter Höhe hat der sich gegabelt – ein Riesenstamm ging nach rechts und der andere nach links. Und in der Mulde, da hab ich gern gesessen und mir die Welt angeguckt. Die Mädls kamen da nie hoch. An unser Haus kann ich mich nur spärlich erinnern, und manchmal vermute ich, daß meine Erinnerungen sich mit den Schilderungen meiner Mädels vermischen. Ins Wohnzimmer zu gehen wurde uns kaum erlaubt, obwohl ich weiß, daß da ein großes, rötliches Sofa stand mit zwei Polstersesseln und ein großes Radio, auf dem eine braune Holzfigur stand. Es war Jesus, der Schäfer, der ein kleines Schaf auf dem Arm trug, und in der anderen Hand hielt er einen großen Stab. Ich konnte gerade so da hochreichen, denn wenn man Jesus einen kleinen Stups gab, dann nickte er ganz freundlich für ’ne Weile. In Mutters Schlafzimmer war ein großes Bett und ein Schrank, und über dem Bett hing ein Bild von Jesus, wieder mit einem Lamm im Arm. Die Mädels sagten mir oft, daß Muttls Schlafzimmer und unsere Wohnstube das heilige Sanktum im Haus waren, wo wir kaum reindurften. Meine nächste, feste Erinnerung ist, wo ich mich auf mein Dreirad setzte und in die Stadt bis zum Ring radelte. Am Ring war ein Eiscafe, eine Eisdiele, da bin ich reingegangen, hab mein Dreirad unter der Theke geparkt und habe höflich nach einer Eiscreme gefragt, die ich auch bekam. Das Leben war doch so wunderbar, wenn man etwas unternahm. Ich fühlte mich so erwachsen und fragte flugs nach ’ner zweiten Portion, die ich auch bekam, und die schmeckte noch besser als die erste. Und während ich an die dritte dachte, kam Muttl rein: Also, aus der dritten Eiscreme wurde nichts. Es folgte eine laute Predigt. Die Eisfrau hatte Muttl angerufen. Wir hatten kein Telefon, aber die Frau Major hatte eins. Ja, und das war der erste und letzte Ausflug, den ich allein unternommen habe, denn das wurde mir streng untersagt für die Zukunft. Ich durfte nicht mehr allein aus dem eisernen Tor raus. Wenn man bei uns aus dem Küchenfenster rausgeguckt hat – wir hatten keinen Hinterhof –, da war gleich eine Landstrasse und darüber war ein großes, umzäuntes Gelände. Große Baracken standen in der Mitte, und auf den Feldern waren oft viele Leute in blauen Schlosseranzügen. Die Mädl’s sagten, daß das tschechische, polnische und russische Kriegsgefangene sind, die dort trainiert und ausgebildet wurden. Uns wurde befohlen, nicht groß rüberzugucken, aber wir haben das oft vom Fenster aus getan. Diese Mannschaften zogen oft in Arbeitskolonnen an uns vorbei, um in der Stadt nach dem Rechten zu schauen. Wenn die Leute was verkehrt gemacht hatten, haben sie oft Prügel gekriegt mit der Peitsche, und ich habe auch einmal gesehen, wie ein Mann auf dem Boden lag und da noch getreten wurde. Ich hab mich dann bei Muttl beschwert, und sie bat mich, da nicht mehr hinzuschauen, sondern die Gardinen zuzulassen. Einmal hörte Muttl, dass die Leute, wenn sie unsere Abfalltonnen leerten, nach was Essbarem suchten. Da wurde mit den anderen Frauen diskutiert, und von da an ließ man eingewickelte Essensreste oben in den Trommeln. Eines Tages gingen wir zu Fuß in die Stadt, aber Annelies blieb daheim. Als wir zurückkehrten, fanden wir mein großes Schwesterlein unheimlich aufgeregt und verheult vor, und Frau Zeunert saß bei ihr und hat sie an sich gehalten. Unter Tränen und Schluchzen stammelte sie, daß sie beim Haarekämmen im Spiegel sah, wie eine Hand hinter ihr zum Türspalt reinkam, worauf sie sich mit aller Gewalt gegen die Tür warf. Die Hand ließ etwas fallen und versuchte sich zu entziehen, was ihr nach ’ner Weile auch gelang. Der Gegenstand war ’ne Art Spielzeug; eine runde Holzplatte, worauf vier Küken standen, und wenn man einen Faden zupfte, fingen die Küken an zu picken. Das muß einer von den armen Kerlen nebenan gewesen sein, der bestimmt das Ding tauschen wollte für was Essbares. Nun haben die Frauen geheult und beschlossen, dann mehr Esszeug in den Trommeln zu lassen, bis dann eines Tages ein Offizier kam und Mutter unheimlich laut verwarnte. Wenn das noch einmal vorkäme, würde sie eingesperrt werden. Aber da hat Muttl ihre Geduld verloren und hat dem Mann ordentlich ihre Meinung gegeben von wegen „Bestrafen“. Und ob er sich nicht schäme, die Leute nebenan verhungern zu lassen und warum er nicht wie unser Vatl an der Front kämpft. Die gute Frau Major kam hinzu und hat die Sache beschwichtigt. Sie hatte des Mannes Auto und den Fahrer vor unserem Haus gesehen und schon gedacht, daß unserem Vatl was zugestoßen war. Schliesslich machte sich der Offizier von dannen, aber die Frau Major sagte dann zu Muttl: „Frau Suessenbach, das dürfen Sie nicht wieder tun, so gut Sie es auch meinen, denn diese Leute, die nehmen keine Rücksicht, und letzten Endes werden Sie noch als Feind des Vaterlandes hingestellt. Das sind eben keine Männer wie Ihr Mann und mein Mann, sondern das sind Feiglinge.” Traurige Zeiten, wenn Frauen die verhassten Mitteilungen bekamen, daß das Kommando der Wehrmacht bedauert, daß ihr Mann gefallen oder vermisst ist. Im Hof war Frau Kilian die Erste, die solch ein Telegramm erhielt, und da gab es Tränen und Trauer und noch mehr Tränen. Das „vermisst“ verstand ich nicht, denn ich wußte, was Mist war; da hatte ja der Schweinebauer einen Riesenhaufen davon. Ich dachte, daß ein Soldat vielleicht in ’ne Mistgrube gefallen war, und warum das tragisch ist, kapierte ich nicht. Ich glaubte, daß ich sogar aus ’ner Mistgrube rausklettern konnte. Das war aber so die Zeit, wo ich meine Mädels nicht nach allem fragte, denn da gab es zu oft Gelächter. Wir hörten, daß die Front immer näher kam. Die Front? Da hatte ich auch wieder keine Ahnung, wie das war mit der Front. Ich wußte, daß es Krieg gab mit Schießerei und Verwundung und Sterben, aber wie kann das alles auf uns zukommen, näher kommen? Ich war aber bereit für die Front. Wenn das Ding zu uns nach Reichenbach kommt, dann zeige ich meinen Mädels, wie man am Lindenbaum hochklettert und es sich dann in der großen Gabelung bequem macht, wie ich es so oft schon getan hatte. Na, und dann können wir das Frontding von da oben betrachten. Dann kamen die ersten Militär- und Flüchtlingskolonnen an unserem Hof vorbeigezogen. Wir haben da stundenlang am Zaun gesessen und geguckt und gestaunt. Truppen marschierten; manche lagen auf Lastautos oder Pferdewagen; manche kamen auf Motorrädern, und dann wieder mehr Marschkolonnen, aber die sahen müde aus. Manche waren auch verbunden. Die Frauen wußten, daß es nicht sehr gut aussah mit dem Krieg, obwohl Goebbels von früh bis abends – wurde mir gesagt – gepredigt hat, wie sicher wir waren, denn der Führer hatte einen Meisterplan, die zweite Front – und das bedeutet das siegreiche Ende. Was der geheime Plan und die geheime Waffe waren, darüber wurde viel gemunkelt. Das Radio wurde heimlich die Goebbelsschnauze genannt, denn der hatte eben eine endlos große Klappe. Endlich erzählte ich meinen Mädls von meinem Rettungsplan auf dem Baum. Sie guckten sich zwar an, lachten aber nicht, und darüber war ich ganz schön stolz. Die Roten Horden konnte ich mir nicht vorstellen. Warum sich rot anmalen? Aber wie gesagt, ich hatte meinen Plan, und das gefiel mir recht. Wenn immer ich Schuberts „Am Brunnen vor dem Tore“ höre, sehe ich ihn immer noch vor mir, unseren treuen Baum im Hofe. Wer weiß, ob er noch steht. Eines Tages sind wir alle zum Ring gelaufen zu ’ner großen Militärparade. Das war klasse, mit lauter Blaskapelle und Parademarsch. Dann kam eine kleine Gruppe vorbei, wo ein Soldat nicht mithalten konnte. Er war hinterhergehumpelt und fiel immer weiter zurück, und die Soldaten in der letzten Reihe, die haben sich umgedreht nach ihm, haben ihm zugewunken, aber der kam nicht mit, und das hat mich so traurig gestimmt, daß ich anfing zu heulen. Muttl hat mich an sich gedrückt und getröstet, daß am Ende seine Kameraden schon auf ihn warten werden. Da stand eine Bühne, worauf ein Offizier in schwarzer Uniform predigte, daß der Krieg bald zu Ende ist, denn die zweite Front ist beinahe fertig, und daraufhin wurde geklatscht und gejubelt. Aber plötzlich wurde ich weggerissen von meinen Mädels, und wir rannten wie die Hasen, so daß mir bange wurde. Hinterher erfuhr ich, dass drei junge Soldaten erhängt wurden, weil sie Deserteure waren, Feiglinge
Ja, da kamen meine Mäedels nicht hoch, denn das war eben Männersache. Ich verstand das überhaupt nicht, aber Renate hat mir so was immer bissel deutlicher erklärt als die anderen. Ich konnte nicht glauben, daß Deutsche ihre eigenen Soldaten töten können, weil die keine Lust mehr hatten zu kämpfen. Dann kamen die ersten Bomben. Kaum heulten die Sirenen, rannten wir in den Keller und saßen still. Die Frauen beteten. Aber auf einmal fing’s an, lautlos in meinen Ohren zu drücken, aber wie. Junge, Junge, das war gruselig. Am Ende hörte ich gar nichts mehr. Immer nur Wellen von Druck in den Ohren, und den fühlte ich, obwohl Muttel mich in ihrem Schoß vergrub. Endlich sind wir alle die Treppe raufgestiegen, und im Hof war die Luft richtig neblig und gelb und hatte sauren Geschmack. Gegenüber hat’s einen Direkttreffer gegeben. Es war eine dreistöckige Villa, die als Lazarett diente. Die erlitt einen Volltreffer mitten ins Dach. Die Frauen wurden zu Hilfe befohlen, aber Renate und ich mussten im Haus in der Küche bleiben. Draussen gab’s Geschrei und Befehle und lauter Stimmengewirr. Als Muttl mit Annelies zurückkam – mein Gott, die sahen aus. Muttl war grau und alt. Ihre Haare hingen in Strähnen, und ihre Lippen waren weiß und so zusammengepresst. Renate hat mir dann zugeflüstert, dass es viele Tote und Verwundete gegeben hat, und viele Verwundete waren auf unserem Hof aufgebahrt. Als wir am nächsten Tag raus durften, hatte man die Toten schon weggeschafft, und die Frauen weinten über sie. Die armen Kerle waren an der Front verwundet, wurden dann Gott sei Dank in die Heimat transportiert und dankten dem Lieben Gott dafür, und dann wurden sie doch noch getötet. Ich dachte, daß Gott ein böser Kerl war, aber Renate sagte sofort „pssssst!“ Wir durften im Hof zwischen den Bahren der Verwundeten umherwandern und haben mit manchen gesprochen. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite standen viele stolze Villen, die reichen Juden gehörten. Diese Juden waren alle reich, wurde uns immer erzählt, aber die Juden, die ich gesehen hatte, sahen nie reich aus, eher sehr verarmt und zottelig. Sie wanderten umher in schwarzen Mänteln, Hüten und langen Haaren und rochen immer nach Zwiebeln. Ihre Kinder taten uns immer leid, denn die sahen zerlumpt aus und hatten große, hübsche, fragende, dunkle und traurige Augen. Diese Juden gingen von Tür zu Tür und wollten Sachen tauschen – keipeln. „Haben Sie was zu keipeln?” Muttl wollte die Mädls von der Schule zurückhalten, aber das war streng verboten. Sie mussten zur Schule gehen, „denn der Krieg wäre bald zu Ende!“ Außerdem war in der Schule ein großer Keller, also keine Ausrede. Manche Esswaren sind schon ’ne ganze Weile rationiert. Jeder Erwachsene bekam 200 g Brot am Tag, 200 g Kartoffeln, 10 g Zucker, 5 g Malzkaffee (also Ersatzkaffee), 2 g Salz und 25 g Fleisch. Das waren die täglichen Rationen für Erwachsene. Die Kindermarken hatten andere Farben. Wieso ich das alles weiß? Die Mädels hatten mir es immer wieder eingetrichtert und aufgeschrieben, dabei musste ich Zahlen lernen und auch, wie man addiert. Ich konnte addieren, bevor ich zur Schule kam, aber buchstabieren und lesen konnte ich nicht richtig. Es gab auch rationsfreie Kost, z. B. verschiedene Arten von Rüben und Kartoffelmehl. Zuckerrüben waren sehr begehrt, denn da bekam man einen ganzen Berg. Die Rüben musste man schälen, in Stücke schneiden und dann in der Waschküche in dem großen Kessel kochen. Dabei durfte ich rühren, so wie ich das auch beim Wäschekochen durfte. Wie aus diesem Rübenbrei aber Sirup gemacht wurde, das weiß ich nicht, aber daß der prima schmeckte, weiß ich genau. Nach ’ner Weile wurde einem der Sirup-Geschmack aber zuwider. Uns im Hof ging’s wirklich nicht schlecht, denn der Schweinebauer hat uns oft Schweinefleisch gegeben, und für jedes übrige Pfund Schweinefleisch konnte man Butter, Brot und Mehl eintauschen. Also uns ging’s wirklich gut. Dann begannen die Nachtbombardierungen. Es war so wundervoll für mich
5 Wir sind die Front. Die Kolonnen der zurückziehenden Armee waren endlos. Unser ganzer Hof war nun gerammelt voll mit Soldaten und Fahrzeugen. Das war wahnsinnig interessant – wunderbar. Ans Spielen war überhaupt nicht mehr zu denken, wo es doch so viel zu bewundern gab. Die Soldaten lagen, saßen, aßen, scherzten mit uns oder wuschen sich. Da parkten Laster, Pferdewagen, Motorräder und sogar Fahrräder, und ich durfte oft auf Fahrzeugen sitzen. Mann, das war doch wirklich herrlich, und die Männer waren so lustig und haben sogar ihr Essen mit uns geteilt, und die Mädels haben sie immer geneckt. Ich durfte sogar Gewehre tragen und oft damit marschieren – es war zum Jauchzen schön. Natürlich hatte ich immer Vatls Käppi auf und die Pfeife in der Hand gehabt, und manchmal haben die Soldaten mir sogar Feuer angeboten, aber die wussten, dass da kein Tabak drin war. Den Frauen haben sie zugeflüstert, daß der Krieg nicht gut aussah, aber das sollte nicht zu laut geflüstert werden. Sie rieten den Frauen, nur das Nötigste zu packen und gen Westen zu flüchten. Goebbels brüllte weiter im Radio, daß an Flucht überhaupt nicht zu denken sei, denn wer flüchtet, ist ein Vaterlandsverräter und wird auf der Stelle erschossen, denn unser Sieg ist vollkommen sicher. In jeder Stadt in Deutschland wird der Volkssturm gebildet, wo alte Männer und Knaben bereit sind, den Endsieg zu erringen. Frau Major hat uns erklärt, warum wir nicht zum Volkssturm brauchten; die zweite Zone, d. h. die letzte, war bei uns schon vorbei und liegt nun zwischen uns und der Oder. Keine von unseren Frauen verstand, was das überhaupt bedeutete, und was mir Renate zuflüsterte, verstand ich gleich gar nicht. Aber da die Frau Major es geflüstert hat, fühlten wir uns informiert. Trotz Goebbels’ endlosen Drohens sahen wir viele Flüchtlinge zwischen den vorbeiziehenden Militärkolonnen mit Handwagen oder Pferdewagen, und sie sahen alle arm und müde aus. Wir erfuhren, dass diese Flüchtlinge aus Gebieten kamen, wo der Feind schon ist. Renate sagte mir, dass wir nicht nur gegen die Russen, sondern auch gegen den Feind kämpfen müssen, aber wer dieser Feind war, wusste sie auch nicht. Manchmal haben unsere Frauen Flüchtlinge eingeladen, so daß die sich richtig waschen konnten, und sie gaben ihnen auch zu essen. Die Leute sprachen ein komisches Deutsch und erzählten uns von Plünderern, Raub, Vergewaltigung und Mord, von den Polen und Tschechen ausgeführt. Aber immer wieder wurde geseufzt von der größten Gefahr – der roten Horde. Diese Berichte haben unsere Frauen restlos beunruhigt, und das Flüstern hörte nicht mehr auf. Muttl wollte sofort packen und abhauen, aber die Frau Major mahnte, daß es besser sei, noch ’ne Weile zu warten. „Ich muss euch unbedingt erst eine amtliche Bescheinigung besorgen und hernach auch den richtigen Moment zur Abreise vorschlagen“, beschwor uns die liebe Frau. Die Frauen hatten nur drei Leiterwagen, und so wurde beschlossen, daß es ratsamer sei, einen Pferdewagen mit Pferd zu besorgen für unser gemeinsames Gepäck. Schade – der Schweinebauer hatte keine Pferde. Die Soldaten rieten immer wieder: Mensch, Frauen, packt und haut ab westwärts zur Oder! Es ist viel viel besser, von den Alliierten gefangen zu werden als von den Russen! Manchmal waren es nun sogar Kanonen und Panzer, die vorbeizogen. Mann, das war ein Krawall; die Panzer klapperten, rumpelten, quietschten und polterten. Wenn die Frauen die Soldaten fragten, wie’s denn aussieht mit dem endgültigen Sieg, meinten sie, daß der Traum vorbei sei. „Aber sagt das ja nicht laut, denn die SS-Bluthunde sind überall und erschießen jeden, der ein einziges Wort äußert von wegen Niederlage oder Krieg verlieren!“ Wir mussten aber noch bleiben, obwohl Reichenbach ja im Mittelpunkt der „Zone“ lag, wie es geflüstert wurde. Zu der Zeit war ich 5 Jahre alt und hörte manches Flüstern, aber viel bedeutete es mir oft nicht. Immer wieder fragte die Mutter die Truppen, was die Chancen waren für unseren Vatl, und als sie zugeben mußte, daß sie von ihm seit zwei Jahren nichts gehört hatte, sehe ich heute noch den verlegenen Ausdruck der Soldaten. Muttl hat das auch mitgekriegt, obwohl die Soldaten immer versucht haben, tröstend zu sein. Meine Schwestern waren auch am zweifeln über Vatls Schicksal, aber ich sollte das ja nicht mitkriegen. Jeden Abend im Bett betete Muttl immer laut für Vatl und für uns alle und unsere Oma, alle Onkels, Tanten und deren Kinder. Die meisten davon kannte ich gar nicht, aber am Ende der Gebete hat sie immer dem lieben Gott gedankt, weil er uns alle immer beschützt. Das verwirrte mich ein bissel, weil ich doch wusste, dass sie Angst und Zweifel hatte. Eines Tages nahm mich Muttl auf eine Eisenbahnfahrt mit, das wurde ganz schnell geplant. Wir mussten zur Oma, Vatls Muttl in Oppeln. Muttl wollte wissen, ob Oma mitmacht, wenn wir auf die Flucht gehen. Daß wir flüchten werden, stand nun fest, aber wann, das hing von der Frau Major ab. Bei der Oma, kann ich mich erinnern, waren ein paar Frauen, und wir saßen im Wohnzimmer um den Tisch herum. Oma sah immer streng aus mit schneeweißsem Haar, und wenn sie mich gedrückt hat, was sie oft tat, war es immer ein festes Drücken. Das Wohnzimmer war halb dunkel, ein richtig düsterer Winternachmittag, aber woran ich mich genau erinnere, ist der feine Duft von Kaffee und Kuchen. Plötzlich klingelte es, und es war ein Polizist, der leise mit der Oma sprach. Als sie wieder zurückkam – oh mein Gott, sie sah furchtbar aus, vollkommen erschüttert, und sie stotterte. Natürlich wurde ich wieder abgeführt, wie immer, wenn’s spannend wurde. Durch die Wand konnte ich aber das Heulen und Seufzen der Frauen vernehmen. Ich glaube, erst auf der Heimfahrt im Zug hat Muttl mir die Tragödie erklärt. Oma hatte ja 6 Kinder; unser Vatl und sein Bruder, der Onkel Otto und vier Schwestern, meine Tanten. Meine einzige Erinnerung an Onkel Otto ist, wo er in Uniform in unserer Stube mich auf seinem Knie hatte und ganz zärtlich mit mir sprach. Seine Verlobte war Tante Wally. Sie hatten sich, kurz bevor er zum Militär musste, verlobt. Bei seinem ersten Heimurlaub, bevor er nach Russland ging, sind die beiden spazieren gegangen im Wald und nicht mehr zurückgekehrt
Onkel Otto und Vatl
6 Auf der Landstraße nach Mittelsteine. Meine Erinnerungen aus diesen Zeiten verwundern mich manchmal. Ich spürte kaum Angst, denn ich war ja immer mit meinen Mädels. Ich spielte kaum ’ne praktische Rolle in dem Drama; war mehr ein unbedeutender Mitspieler und leider oft ein Handicap. Wir waren oft inmitten von Kolonnen und wurden auch oft überholt. Andere Flüchtlinge sahen meistens ärmlicher und müder aus. Zweimal wurden wir von den motorisierten „Bluthunden“ angehalten. Die trugen Ledermäntel und Helm und ’ne Kette mit einem Schild auf der Brust und fragten nach unseren Papieren. Die guckten uns unfreundlich an, und der im Seitenwagen hielt auch ein Gewehr. Man hatte sofort das Gefühl, daß wir irgendwie Feinde waren. Das Gerumpel – das Donnern in der Ferne – hat uns praktisch dauernd begleitet, denn nach ner Weile hat man das gar nicht mehr wahrgenommen. Wenn wir von Militärfahrzeugen überholt wurden, winkten die uns oft freundlich zu. Einmal rief einer, ob jemand unser Pferd gestohlen hat, und Frau Kornetzki rief zurück, dass wir es gefressen haben. Später erfuhren wir, daß wir eigentlich Glück hatten, denn Flüchtlinge waren auf der Hauptstrasse gar nicht erlaubt. Die Leute, die wir überholen konnten, sahen traurig aus, und wer weiß, wie lange die schon auf der Tour waren. Die Gesichter der Kinder, die bedrücken mich heute noch, vor allem, wenn sie uns anbettelten. Einmal fragten uns zwei Frauen, ob wir nicht ihren gelähmten Vater mit seinem Rollstuhl an unseren Wagen dranhängen könnten. Mit schwerem Herzen haben unsere Frauen zugesagt, und als sie dabei waren, den armen Greis hinten anzubinden, hielt ein Militärlaster an. Nach kurzer Debatte haben die den armen Kerl mitsamt Rollstuhl hinten reingehoben, obwohl da Soldaten saßen und sagten, daß sie den Greis in Mittelsteine abladen werden beim Bürgermeister. Seine Angehörigen haben laut geweint vor Freude und konnten sich nicht genug bedanken. Unter ihnen waren zwei Mädel, ungefähr 10 Jahre alt, die sehr müde aussahen, und die haben die Soldaten auch noch hinten reingepackt und machten sich dann aber flugs auf die Weiterfahrt. Irgendwie hat uns diese Unterbrechung gut getan, und weiter ging’s mit Schieben und Ziehen und Pusten. Das Wetter war zwar kühl und nach und nach kam eine nach der anderen unserer Hüllen ab und wurde auf den Wagen geklemmt. Plötzlich hielt ein Jeep an. Zwei Offiziere und eine uniformierte Frau kamen raus und haben die Frauen was gefragt, und dann nahmen sie einen Strick, den sie an unsere Deichsel und an ihr Fahrzeug knoteten. Uns rieten alle, auf unser Gefährt zu klettern. Drei Kinder sollten auch hinten in den Jeep, wo wir zwischen Soldaten gequetscht wurden. Wie haben wir uns da gefreut. Ich hörte Muttl sagen, daß der liebe Gott uns, wie immer, diese braven Leute geschickt hat. Die Soldaten sagten, daß unter den ganzen Kolonnen wir die einzigen sind, die ’nen Pferdewagen ohne Pferd schoben. Mann, waren wir glücklich. Wirklich: Da war der liebe Gott dabei. Ich weiß nicht, wie weit wir gefahren sind, aber so weit kann’s gar nicht gewesen sein, denn es ging ja alles ziemlich langsam vorwärts ob des Verkehrs. Auf einmal war die Fahrt zu Ende. Plötzlich wurden wir ganz schnell wieder abgebunden, und unsere Retter haben sich ganz kurz verabschiedet, und wir standen wieder allein da. Die Mädels meinten, daß Befehle übers Radio gerufen waren. Und weiter ging’s zu Fuß. Mir hat das Marschieren eigentlich gefallen, denn schnell ging es ja nicht voran, und man sah da so viel Zeug im Graben liegen, und ich konnte es auch kurz anfassen. Gewehre, Stahlhelme, Stiefel, Fahrzeuge und hier und da ’ne Panzerfaust. Einmal hab ich mit Freuden ’ne Panzerfaust aufgehoben und sie triumphierend den anderen vorgeführt, aber die Frauen wurden fuchtig und bestanden darauf, daß Muttl mir den Hintern versohlen sollte. Muttl befahl mir, nichts mehr anzufassen, ohne Ausnahme. Das unheimliche Brüllen der Kühe hat bestimmt auch keiner vergessen. Die rasten wie sinnlos auf den Feldern herum. Sie schrien vor Schmerzen, weil ihre Euter zum Platzen voll waren. Es waren nicht nur Menschen, die im Krieg litten. Die Uniformierten, die uns da eine Strecke lang mit dem Jeep gezogen hatten, sagten, daß wir ja weit weg von der Strasse gehen sollen, wenn wir abends Pause machten. Ja nicht in der Nähe der Strasse bleiben und kein Feuer machen, denn die Russen sind nicht weit hinter uns. Wenn wir fragten, wie weit, bekamen wir keine Antwort. Wie haben die Frauen geächzt und gestöhnt, wenn’s bergauf ging! Ich durfte nun auch an den Rädern mitschieben. Manchmal mussten wir mitten auf ’ner Erhöhung anhalten zum Luftholen. Da musste die Bremse flugs angekurbelt und ein Klotz hinter ein Rad geklemmt werden. damit der Wagen ja nicht zurückrollte. Bei solchen Manövern wurden wir oft von den Leuten hinter uns beschimpft. Beim späteren Geplauder mit meinen Mädels sagten sie, daß da keine Berge waren, aber die kleinste Erhöhung machte sich schmerzlich bemerkbar für uns. Nach ’ner Pause ging’s dann wieder los. Auf ’ner Höhe angelangt, hielten wir an. Eine Frau kletterte auf die Kutscherbank (nach ’ner Weile lernten die Frauen, daß man die Bremskurbel auch von der Strasse her anleiern konnte), und als unser Atem beruhigt war, gingen die Frauen vorn zur Deichsel. Als die Bremse bissel gelockert wurde, ging’s abwärts. Die Deichsel musste aber festgehalten werden, denn wenn ein Rad in ein Schlagloch geriet, schlenkerte die Zugstange, und das musste scharf kontrolliert werden, damit wir nicht im Strassengraben landeten. Flott gelaufen wurde, wenn’s abwärts ging, damit wir bissel Anlauf für den nächsten Hügel bekamen, und dabei wurde immer gelacht. Die Hauptangst war, daß jemand unter die Räder kam. Ich war der einzige der kleinen Kinder, der helfen durfte, und das gefiel mir sehr. Esserei hatten wir mit uns, Brot und Butter, auch Wurst, aber meistens wurde das beim Laufen gekaut. Auf einmal, aus blauem Himmel, gab’s einen Krach, und Flugzeuge donnerten über uns. Die Frauen haben sofort den Wagen gestoppt, die Bremse angezogen, und alle waren wir im Graben. Mann, das war ein Krach. Die flogen so niedrig. Man konnte es kaum glauben, daß ein Flugzeug so einen Krach macht, und dann dröhnte das „Ratatatatatata“ von Schüssen. Auf einmal hat Annelies gebrüllt. Sie hat geschrien und gekreischt, und wir wussten, daß sie verwundet war. Sie schrie immer wieder, daß sie das Gesicht eines Piloten erblicken konnte, und das wiederholte sie dauernd. Der hat mich angeguckt, angeguckt! Und trotzdem hat der auf mich geschossen! Wie kann ein Mann auf uns arme Zivilisten schießen? Und immer wieder schluchzte meine große Schwester, daß der Russe sie angeguckt hat und trotzdem auf sie schoss. Andere Leute kamen auch angerannt, um uns zu helfen. Endlich fand man, daß Annelies gar nicht verwundet war, und wir heulten alle wie verrückt vor Freude. Auch fanden die Frauen keine Schussspuren auf unserem Gepäck. Und dann war Totenstille, außer dem entfernten Grollen. Gezittert haben wir alle und uns umarmt und geheult, aber dann ging’s wieder los auf die Reise. Bis dahin hatten die Frauen oft gesungen, denn das half immer beim Schieben, aber nach dem Vorfall mit den Fliegern dauerte es lange, bis jemand wieder ein Lied anstimmte. Langsam ging die Sonne unter, und die Frauen hielten Ausschau nach einem Seitenweg. Zu nahe neben der Strasse zu übernachten, war zu riskant, obwohl andere es taten. Ich weiß gar nicht, wo wir die erste Nacht kampierten. Ich weiß nur, daß ich am Morgen wach wurde, als wir schon wieder unterwegs waren. Ich hatte gut geschlafen. Immer wieder, wenn ich mich an die Zeit erinnere, ist es mir klar, wie schwer es doch für die Frauen war. Heute ist es mir sonnenklar, daß ich leider keine Hilfe bei den Strapazen war. Auf kaputte Autos musste ich ja klettern und jubeln. Einmal kam ich mit einem Stahlhelm angerannt, bin gestolpert und in den Bach gefallen, und das eiskalte Wasser hat mir die Luft weggenommen. Muttl musste mich natürlich rausziehen, und Annelies erzählte mir hinterher, daß die Frau Hof meinte, es wäre besser, mich ersaufen zu lassen. Dann kam wieder ein Motorrad mit den „Bluthunden“; diese aber kamen uns entgegen und guckten uns an, sind aber langsam vorbeigefahren. Die Frauen haben natürlich freundlich gewunken und gedacht, daß die uns vielleicht ein bissel abschleppen mit dem Motorrad. Kurz danach, wir waren gerade an einem Hügel hochgekommen, wurde Rast gemacht. Ich lief durch eine kleine Öffnung zum Feld, und da sah ich ihn liegen! Er lag auf dem Rücken und war bestimmt auch kaputt. Er hatte ein Plakat auf dem Gesicht – scheinbar als Schatten, und ich sagte ihm, wer ich bin. Ich habe aber leise gesprochen. Dann hob ich ganz sachte das Plakat ein bissel und bin so erschrocken. Das war das erste Mal, daß ich richtig Angst gekriegt habe, denn der Soldat hatte ein rotes Loch direkt zwischen den Augen. Muttl kam angerannt und dann die Frauen, und dann gab’s Geschrei: Diese schamlosen Schweine, diese furchtbaren Feiglinge! Auf dem Plakat stand (das wusste ich damals aber nicht), daß er ein Feigling sei, der sein Vaterland verraten hat. Ich musste ein ganzes Stück weggehen und konnte nur von Weitem zugucken, wie die Frauen unter Tränen ein kleines Grab gruben. Es war eine kleine Schaufel mit einem langen Stiel, und die Frauen wechselten sich dauernd ab, als sie fieberhaft gruben. Annelies berichtete mir später, daß es kein tiefes Grab war, und sie mussten den armen Kerl mit Reisig bedecken und ein Kreuz drauflegen. Sie sahen so verbissen aus, als es weiterging. Sie beklagten, daß irgendwo in der Heimat jemand auf Nachricht von Sohn, Geliebten oder Bruder wartete. Das vergisst man oft mit dem Krieg: Wenn ein Soldat stirbt, wie viele Leute da betroffen werden und leiden oder vergeblich hoffen. Dann stelle man sich vor, wie viele millionenmal das passiert ist, wenn ganze Nationen leiden. Während ich das schreibe, sind wieder australische Soldaten am Sterben in Afghanistan oder Irak. Genau derselbe Blödsinn, dieselben Lügen von schamlosen, feigen Politikern, die da krähen, daß wir das so machen müssen, d. h. den Amerikanern gehorsam hinterhermarschieren. Wie treffend Pete Seegers Lied doch ist, das Marlene Dietrich sang: Where have all the flowers gone …? When will they ever learn, when will they ever learn? Wir lernen es nie! Es gibt so viele intelligente Menschen auf Erden, aber Menschenmassen sind zu oft dümmer als Schafe. Der andere Verkehr ist immer weniger geworden, wir waren beinah allein auf der Strasse. Bedeutet das, daß die Russen ziemlich dicht hinter uns sind? Paarmal, wenn’s bergauf ging und Soldaten fuhren vorbei, haben die angehalten und mitgeschoben und ermunterten uns, daß wir es gut schaffen werden, aber dann fuhren sie schnell wieder weiter. Manchmal klang es, als wenn das Gedonnere von Geschützen näherkam. Ich weiß nicht mehr, wie es in der ersten Nacht war, aber vor der zweiten Nacht, da fiel es den Frauen ein, daß sie überhaupt kein Licht hatten, keine Taschenlampen, keine Öllampe. Ich weiß gar nicht, ob wir überhaupt Streichhölzer gehabt haben, und die Frauen waren total aufgeregt darüber, bis eine anfing zu lachen über unsere Dummheit, und dann lachten alle mit, und ich fand das komisch. Nun folgten rege Diskussionen, was nun zu tun sei. Frau Zeunert sagte lachend, daß unser lieber Gott es so gewollt hatte, damit wir kein Licht von uns geben für den Fall, daß die Russen kommen. Sobald das Wort „Russen“ aufkam, ging die Debatte wieder los, wie man sich zu verhalten habe, wenn die rote Horde uns schnappt. Das Wort Vergewaltigung kam immer wieder vor, und dann wurde von Mord und Qualen gemurmelt, wie wir es von anderen Flüchtlingen gehört hatten. Renate hatte mal versucht, mir Vergewaltigung zu erklären, aber ich verstand es nicht, und irgendwie kam es mir so vor, als wenn sie es auch nicht so richtig verstand. Immer wieder wurde gebeten, dass wir es zu Mittelsteine schaffen und auch alle zusammen auf einen Zug kommen. Eine Frau meinte, das Züge aber auch beschossen wurden. Frau Kilian schlug vor, ob wir nicht doch paar Gewehre vom Strassengraben mitnehmen sollten, aber sie wurde ausgelacht. Mir tat die Frau leid, denn ihr Vorschlag war doch praktisch. Frau Hof fügte aber hinzu, daß es vielleicht doch besser wäre, bewaffnet zu sein: Dann würden wir von den Russen erschossen, was doch besser wäre als Vergewaltigung von diesen Unmenschen. Keiner antwortete. Manchmal kamen mir Bedenken, daß wir vielleicht doch lieber hätten zu Hause bleiben sollen auf meinem Lindenbaum. Flüchtlinge erzählten, daß die Russen unheimliche Angst hatten vor Pocken und anderen Krankheiten, und deshalb sollten Frauen sich gräßlich bemalen, das würde die Russen abschrecken. Plötzlich sahen wir ein Licht zwischen den Bäumen und hielten darauf zu. Es war ein Bauernhof. Daß der Bauer Licht angelassen hatte, erstaunte uns, wo doch alles verdunkelt bleiben sollte. Der Mann und seine Frau waren sehr freundlich. Seine Mutter saß in einem Rollstuhl. Die guten Leute haben es uns ganz komfortabel gemacht in der Scheune. Der Bauer erzählte uns, daß wir großes Glück gehabt hatten, denn sein Außenlicht war nur aus Versehen kurz angemacht worden. Das Stroh – ach, das weiß ich noch genau – war absolute klasse. Es roch himmlisch, und sofort trugen mich die Englein fort. Mann, was haben wir gefuttert beim Frühstück, und einige Mädel haben laut weinend gebettelt, daß wir hierbleiben sollten. Der gute Bauer bot uns sogar eine Kuh an, die wir einspannen könnten, aber das liebe Tier war nicht zu überreden, sich einspannen zu lassen, und so zogen wir wieder los im alten Stil. Bis zur Strasse half uns der gute Mann noch, und dann ging’s weiter. Manchmal sagten die Frauen auch: „Stellt euch mal vor, was wir jetzt durchmachen, das haben die anderen Leute, wo unsere Wehrmacht eingezogen ist, bestimmt auch erlitten, egal ob das nun in Polen, Russland, Ungarn oder in der Tschechei war. Und diese armen Menschen haben genau so Angst gehabt vor unseren Soldaten.“ Das war uns vorher nie in den Sinn gekommen. Man dachte immer, daß Soldaten nur gegen Soldaten kämpfen, aber daß die Bevölkerung dauernd dazwischen war, hatten wir kaum bedacht. Was oft Stress verursachte waren die ‘Mutti-ich-muss-mal-Pausen’, wenn die erklangen kurz nachdem wir eben losfuhren. Da wurde gestöhnt. Ich war ganz stolz, dass ich mein ‘Geschäftchen’ alleine ausführen konnte. Muttl hatte mir sorgfältig gezeigt wie man Klopapier sorgsam faltet und hantiert.Händewaschen wurde mit nassen Grass erledigt wenn kein Bach da war. Am ersten Tag hatten wir oft paar Lieder gesungen, aber dieses Mal, als eine Frau das Schlesierlied anhub, kam sie nicht weit, weil die Stimmen versagten. Immer wieder das Grollen der fernen Geschütze, aber es schien nicht näherzukommen, Gott sei Dank. Flieger haben wir auch oft gehört, aber die waren viel höher, und man wusste nicht, welche es waren, unsere oder feindliche. Ich weiß nicht, wie weit wir von Mittelsteine waren, als auf einmal wieder ein Jeep anhielt mit drei Offizieren und einem Fahrer. Die Offiziere sprangen raus und sprachen mit den Frauen, und ich ging zum Fahrer, der ganz freundlich war, und so erzählte ich ihm gleich, daß Vatl bei den Panzern kämpft in Russland und ob er ihn vielleicht kenne, aber da hat er laut gelacht; versicherte mir aber, daß unsere Panzer sehr tapfer kämpfen im Feindesland. Ich zeigte ihm Vatls Käppi, welches ich in meiner Hosentasche hatte, weil ich schwitzte. Da hat der noch mehr gelacht und sagte, daß ich bald groß genug bin mitzukämpfen. Darauf erklärte ich dem guten Mann, daß Muttl das nie erlauben würde, weil ich ja nun der Mann für meine Mädels bin, und das hat er auch eingesehen. Inzwischen hatte einer von den Offizieren, der Jüngste von ihnen, den Befehl gegeben, unseren Wagen hinter den Jeep zu binden. Später erfuhr ich, daß die anderen zwei davon nicht begeistert waren, sie gehorchten aber. Einer war offenbar ganz mürrisch darüber. Und wieder konnten vier von uns Kindern mit im Jeep hocken. Manche Mädels hatten Angst davor und wollten mit Mutter bleiben. Der junge Offizier sprach Hochdeutsch und sagte uns, daß seine Familie oben in Preußen ist und sich vielleicht in derselben Lage befindet wie wir, und er hofft, dass denen auch jemand zu Hilfe kommt. Renate erzählte mir später, daß eine Frau ihnen Angst machte, indem sie es für möglich hielt, daß wir in den Wald gefahren wurden, vielleicht zum Erschießen, und daß deshalb die anderen zwei Offiziere nicht begeistert waren. Schließlich trugen alle drei Offiziere das SS-Zeichen am Kragen. Kein Wunder, daß die Frauen, auf unserem Wagen sitzend, nicht gerade erleichtert aussahen. Das hat mir Muttl viel später erzählt, und sie hielt das damals schon für übernervösen Unsinn. Sie gab aber zu, daß sie doch immer bissel ängstlich in Fahrtrichtung geguckt hat. Wir Kinder haben aber jubelnd hinten im Jeep gehockt. Was für ein Gefühl, andere Leute mit lautem Hupen zu überholen. An Gegenverkehr kann ich mich dabei gar nicht mehr erinnern. Wir Kinder haben geschrien vor Freude, als wir scheinbar am Ziel waren, obwohl von einer großen Stadt nichts zu sehen war. Unsere lieben Retter haben uns sofort abgebunden und wollten schnell losziehen, aber die Frauen umarmten und drückten sie. Dem jungen Offizier kamen die Tränen, und schon sprangen sie in ihr Fahrzeug und drehten um, was sehr langsam ging, denn der Platz wimmelte von Menschen und Fahrzeugen, und weg waren sie. Die Frauen haben lange gewunken und geweint. Wir waren da! Eine Frau meinte, daß das gar keine SS-Männer gewesen wären, denn die hatten doch normalfarbige Uniformen an, nicht die schwarzen der SS, aber darauf wusste keiner zu antworten. Meine Mädels meinten, daß die Jeep-Fahrt 11 km war, und ob wir das vor Sonnenuntergang geschafft hätten, war sehr fraglich. Die Frauen sind sofort losgerannt, und wir Kinder mussten auf ernsten Befehl hin bei unserem „Geschoss“ verharren und ja nicht einen Meter weggehen. Da war ein Mann, der, durch die Massen marschierend, lauter Befehle brüllte. Er trug ein rotes Armband und rief oft „Heil Hitler“. Es war der Schulmeister. Wir waren nämlich vor einem großen roten Gebäude, die Regionalschule. Aber warum eine große Schule in einer freien Gegend? Von der Stadt habe ich, glaube ich, nichts gesehen. Jetzt merkten wir Kinder auf einmal, wie müde wir alle waren, und nach einer Weile lagen wir auf unseren Gepäck, und ich war wohl der Erste, der einschlief. Muttl schüttelte mich wach und hob mich runter, denn wir mussten in die Schule gehen. Mich umarmend sagte sie, daß wir jetzt zum dritten Stockwerk steigen müssen, denn da haben wir einen Platz bekommen. Renate und ich mussten auch bissel Gepäck tragen, und Annelies blieb bei unserem Wagen auf Wache. Beim Treppensteigen weinten manche der Mädels vor Müdigkeit. Endlich kamen wir in einen großen Raum, wo schon allerhand Leute auf drei Reihen von Stroh saßen oder lagen. Muttel führte uns in eine Ecke, wo wir unser Gepäck unter dem letzten Fenster hinlegten. Renate und ich sollten uns niederlassen, und Muttl ging wieder runter zu Annelies wegen des Rests unserer Habseligkeiten. Muttl und Annelies waren total fertig, als endlich alles Gepäck in der Ecke gestapelt war. Dann lagen wir alle darauf und aalten uns, und auf einmal weinte Muttl. Sie war total fertig. Wir müssen alle geschlafen haben, denn ich träumte von der Landstrasse, als plötzlich Befehle über einen Lautsprecher kamen, daß alle Erwachsenen runterkommen müssen. Wir waren bestimmt nicht die Einzigen, die eingenickt waren, denn es gab ein lautes Stöhnen und Strecken. Renate und ich mussten beim Gepäck bleiben, und es tat uns so leid, Muttl und Annelies lostaumeln zu sehen. Es stellte sich heraus, daß der Schulkeller ein Waffenarsenal war, und alles sollte herausgetragen und ins Feld geschmissen werden. Es wurden zwei lange Schlangen gebildet, durch die dann Waffen und Munition von Hand zu Hand rausgefördert wurden bis weit ins Feld hinein. Wir konnten das alles von unserem Fenster aus sehen. Der Schulmeister rannte hin und her und gab laufend Anweisungen. Sogar wir Kinder verstanden diese mühsame Arbeit nicht, denn man konnte doch die Haufen von Waffen sowieso klar sehen. Später erzählte uns Annelies, was andere Flüchtlinge während dieser Arbeit alles berichteten. Grausamkeiten von Polen und Tschechen an deutschen Zivilisten, als die Wehrmacht weg war. Da wurden Frauen, Kindern und Greisen Augen ausgestochen und Kehlen durchgeschnitten. Mann, was fühlten wir uns da immer glücklich, und wir hatten das alles dem lieben Gott zu verdanken. Wenn Renate fragte, warum die armen Leute nicht gebetet haben zum lieben Gott, hatte Muttle keine Antwort. Ich dachte, dass der liebe Gott die Leute vielleicht nicht verstehen konnte, weil die eben doch ein komisches Deutsch sprachen. Die Sonne ging schon unter am hellroten Horizont als Muttl und Annelies endlich hochkamen. Annelies sagte, dass ihr alle Knochen wehtaten, und beide ließen sich schwer seufzend niederfallen. Meine große Schwester stöhnte, daß sie nicht mehr weiterkonnte, komme da, was wolle, und dann weinte sie. Mensch, das tat mir so leid. In solchen Situationen fühlte ich mich immer so nutzlos. Ich hatte Hunger, aber wie immer sagte Renate leise, daß ich das nicht laut sagen sollte, denn das täte Muttl so weh. Wir hatten ja noch Proviant in zwei Beuteln, aber wir mussten abwarten. Obwohl nun fast alle Familien müde auf ihrem Platz lagen, gingen doch lauter Gespräche hin und her durch den Saal, und die liegenden Frauen sprachen laut zur Decke hoch. Es war wirklich interessant zuzuhören, bis auf einmal eine Frau laut fragte, ob jemand Kanonendonner gehört hat den ganzen Tag. Totenstille! Eine Frau hoffte, daß die Russen vielleicht an Mittelsteine vorbei sind auf dem Weg nach Berlin oder sonst wohin. Oder war der Krieg vielleicht doch schon zu Ende? Plötzlich rochen wir Essen! Meine Renate war die Erste, die das erschnupperte. Und wieder krachte der Lautsprecher: Es gibt genug Essen und die Leute sollen etagenweise runterkommen, d. h. die Landsleute vom dritten Stock sollten zuerst runterkommen usw. Annelies ließ sich nicht überreden aufzustehen, sie drehte sich um und schlief weiter. Jeder hatte sein kleines Töpfel oder eine Pfanne oder was auch immer wir hatten und sind dann mit eifriger Erwartung runtergegangen. Da gab’s ein arges Gedränge, wenn Leute von den unteren Stockwerken reindrängeln wollten vor Hunger. Das tat einem so leid, aber immer wieder sagte der Lautsprecher, daß ja garantiert genug Essen für jedermann da war. Im Hof standen zwei Kessel Gulaschkanonen mit Suppe, wo sogar Fleisch drin war. Mann, haben wir uns gefreut, und jeder bekam eine Kelle voll. Man durfte nicht für eine andere Person mitnehmen, d. h. jeder musste sein sein eigenes Gefäß haben. An einer langen Tafel standen zwei Fässer mit heißen Kartoffeln, und jeder bekam eine. Herrlich. Wieder oben angelangt, kippten wir das alles in unseren großen Topf, woraus wir löffelten. Aber erst mussten wir warten, bis Muttl Annelies geweckt hat, und die musste erst zum Abort, und dann ging’s Löffeln los. Muttl hatte einen runden Laib Brot aus einem Sack und bröckelte den in den Topf, und dann ging’s los. Immer wieder ermahnte uns Muttl, ja schön langsam zu essen, denn das sättigte mehr, aber dem Rat zu folgen war überhaupt nicht leicht. Mann, hat das geschmeckt, und ich bilde mir ein, daß ich das heute noch schnuppern kann. Jetzt konnte ich mich auch mit anderen Kindern unterhalten, und die hatten Geschichten zu erzählen, was denen passiert war auf ihrer Flucht. Da musste ich natürlich auch mithalten und hab erzählt, daß mein Vatl mit seinem Panzer schon in Moskau war und daß der Krieg bald zu Ende ist. Hab auch gleich mein Käppi aufgesetzt, damit ich bissel ernst genommen wurde, aber doch merkte ich, daß ich meinen Zuschauern nicht groß imponierte. Schade, daß ich denen nicht das Bild zeigen konnte, wo mein Vatl an ’nem Strassenschild steht, auf dem stand: 100 km bis Moskau, denn das war ja verpackt. Vom offenen Fenster hörten wir eine Zugpfeife, und wie haben wir uns da wahnsinnig gefreut, daß wir vielleicht morgen schon losdampfen konnten nach Dresden, Frankfurt oder Bayern, denn diese klassischen Namen hatten wir schon dauernd von Leuten gehört. Die Frauen haben oft über den Schulmeister gespottet mit seiner emsigen Waffenzerstreuung aus dem Keller und seinem „Heil Hitler“. Nun gingen wir gemeinsam zur Toilette auf unserem Flur, wo eine ganze Reihe Klos und Waschbecken waren, und da haben wir uns so herrlich geschrubbt. Aber man musste sich beeilen, denn es warteten viele darauf, auch dranzukommen. Zurück in unserer Ecke, war ich bestimmt wieder der Erste, der ins Traumland schwebte. Wie oft haben mir später meine Mädels erzählt, daß ich mich zu jeder Tages- und Nachtzeit hinlegen und schlafen konnte. Ich hörte aber noch eine Frau sagen, daß wir Gott danken sollen, daß der vernarrte Schulmeister uns nicht bewaffnet hat, um uns gegen die Russen zu verteidigen
16 Vatl lebt. Nun kamen Renate und ich oft zur gleichen Zeit nach Hause. Sie hatte immer den Schlüssel, bis uns bissel später Fleischers drei neue verschafften, dann hatten wir jeder einen. Fleischers hatten Beziehungen zu allem, und sie nannten sich geschickte und herzliche „Schieber“. An diesem Tag lag eine kleine Karte bei unserer Stubentür. Post wurde damals immer hochgebracht und in den Türschlitz gesteckt. Die Postfrauen müssen ganz schön fit gewesen sein, und eine Dicke sah man nie; überhaupt sah man keine wohlbeleibten Personen damals. Übrigens wohnte unsere Postfrau über uns im vierten Stockwerk mit ihrer Tochter; deren Vater auch im Krieg gefallen war. Mein Schwesterlein guckte die Karte an, schrie auf, und sofort kamen ihr die Tränen. Sie schnappte mich, umarmte mich und wirbelte mich herum, bis wir beide umfielen. Heinzelmann, Heinzelmann, die Nachricht ist vom Vatl!, schreit sie außer Atem. Sie schluchzt und kann kaum sprechen. Es war eine Karte von einem Kriegsgefangenenlager in Russland, von wo sie den Weg zu uns gefunden hat durchs Rote Kreuz in der Schweiz und über unsere Tante Emmy und Onkel Emil Kluge in Chemnitz. Tante Emmy war Vatls Schwester. Renate umklammerte und küsste mich, und immer wieder stammelte sie heulend, daß wir unseren Vatl wiederhaben
Vatls erste Karte aus der Gefangenschaft
21 Die Martinschule
22 Die Humboldt-Schule
26 Ein neues Leben. Ich bin den ganzen Heimweg von der Schule durch den Schnee gerannt. Auf der letzten Treppe roch ich schon Tabakrauch, und ich wollte gerade klopfen, da ging die Tür auf und da stand mein Vatl. Er ging auf die Knie und umarmte mich fest und schluchzte. So verharrten wir eine Weile. In der Wohnstube saßen meine Mädels. Vatl musste in der Mitte sitzen, ich auf seinem Schoß, und er flüsterte leise ein paarmal: danke, lieber Herrgott … Ich sagte ihm, daß ich seine Pfeife immer noch hatte und auch das Käppi. Vatl roch wie ein Mann. Er war mager, aber sah sehnig aus, nicht dürre wie manch andere von den Heimkehrern, wie uns Annelies beschrieben hatte. Ich danke dir, lieber Gott, daß wir wieder eine ganze Familie sind, sagte er leise. Er wiederholte, daß es jetzt bergauf gehen wird mit der Familie Süssenbach, denn er wird sofort auf Arbeitsuche gehen, und Muttl muss wieder die liebe Hausfrau sein, wie sich das gehört. Wir waren uns alle bewusst, daß ein Wunder uns durch den Krieg gebracht hat. Vatl hatte einen Rucksack und einen selbstgebauten, khaki-grünen Holzkoffer mitgebracht. Der Koffer war voll mit Zigarettenschachteln und ganzen Paketen Würfelzucker. Auf unsere Fragen, wie er das alles gesammelt hat, zwinkerte er mit einem Auge und lachte. Dann setzte er mir eine richtige russische Pudelmütze auf, die noch den hellen Fleck hatte an der Stirnklappe, wo der rote Stern gewesen war. Und während die Mädels eifrig kochten, mussten sie berichten, wie wir durchgekommen sind beim Umsturz. Ich glaube, wir alle fühlten uns wie im Traum, und ich brauchte am nächsten Tag nicht zur Schule zu gehen. Mann, war das eine feierliche, lustige Stimmung, und auch beim Essen ging es rege weiter mit Erzählungen. Punkt 9 Uhr abends klopfte Frau Rehork wie gewöhnlich mit ihrer Krücke an ihre Tür hinter unserem Sofa. Das tat sie immer um diese Zeit. Vatl stand auf, und Muttl bat ihn, ruhig zu bleiben, aber er lachte, goss Schnaps in ein Glas und ging nach nebenan. Wir konnten bissl Gemurmel hören, und lachend kehrte unser Vater zurück. Wir hatten doch die arme Seele paarmal aufgeklärt über Vatls Kommen, aber das hat bei ihr nicht gezündet. Vatl lachte, daß sie den Schnaps gerne nahm, und danach würde sie wohl gut schlafen. Zwei von unseren Betten wurden zusammengeschoben, und ich schlief mit Renate. Am nächsten Morgen war ich der Letzte, der aufstand, und hier war meine fröhliche Familie im Wohnzimmer und sie gratulierten mir zum 10. Geburtstag. Und dann gab mir Vatl ein Bündel, und als ich es auspackte, war’s eine Dampfmaschine! Eine richtige Dampfmaschine, und mir kamen die Tränen. Mensch, das Ding war eine Pracht, und Vatl hatte die selber gebaut. Er erzählte, daß er einmal eine gebaut hatte für einen Kommandanten im Lager, und später musste er immer mehr zusammenbasteln für andere Offiziere. Er hatte die letzten zwei Jahre in einer Werkstatt im Lager geschafft, wo sie meistens die Jeeps instandhalten mussten. Ach, war die Maschine herrlich. Da war ein Kessel unter dem man Feuer machen konnte mit Alkohol und wenn genug Hitze erzeugt war, wurde das Schwungrad angetrieben und mir zitterten die Hände als Vatl mir den Vorgang erklärte. Ich sehe immer noch die kleinen blitzenden Messingrohre und Hähne. Wir probierten es gleich aus mit Schnaps und ich konnte nicht glauben, dass das meine Maschine war. Vatl sagte, dass er kleine Maschinen besorgen wird, die von der Schwungscheibe mit Treibriemen angetrieben werden. Ich war sprachlos, wunschlos glücklich. Muttl hatte uns ja immer erzählt daß Vatl alles fabrizieren konnte, aber das hier war unglaublich. Am Nachmittag kam Gerhard, und der brachte mir einen gebrauchten Stabilbaukasten, aber ich konnte nicht mehr sprechen vor Aufregung. Die zwei Männer umarmten sich. Was für eine Stimmung. Von den Unterhaltungen hörte ich nicht viel, bis ich Annelies jodeln hörte. Die zwei Männer waren zusammen spazieren gegangen, und danach sagte Vatl, daß nun die Hochzeit geplant werden muss. Allerdings muss erst eine Wohnung für das Paar gefunden werden, und das kann ’ne Weile dauern. Gerhard hat nie geraucht in unserer Wohnung, aber jetzt qualmten sie beide, und Muttl machte beide Fenster weit auf, obwohl es ordentlich schneite. Muttl drohte ihnen ob der Quarzerei und Vatl stand stramm und sagte: Zu Befehl Frau Süssenbach! Das Rauchen wird sofort eingestellt, wenn sie aufhören zu arbeiten, und lachend umarmte er sie. Das Leben konnte nie schöner werden. Ich finde es schwer, meine Gefühle zu beschreiben mit Vatls Heimkehr. Alles, aber auch alles änderte sich jetzt. Obwohl in Muttls Gebeten seine Heimkehr immer Realität war – als es Wirklichkeit wurde, fühlten wir uns wie neugeboren. Jedem, der mich anschaute, erzählte ich von dem Wunder aber bald musste ich es einschränken in der Schule, weil ich wusste, dass viele meiner Klassenkameraden noch von dem Wunder träumten oder aufgeben mussten. Ich konnte Vatl ewig angucken; beim Rasieren, beim Waschen, beim Pfeiferauchen. Manchmal schnappte er mich und rieb sein Gesicht an meins, und das kratzte ganz schön, obwohl er keinen Bart hatte. Nach dem Wochenende kam Vatl mit mir zur Humboldtschule. Ich hatte gemischte Gefühle. Als wir den Schulhof betraten, sagte Vatl, ich sollte normal weitermachen, denn er würde sich schon zurechtfinden. Unsere Hauptlehrerin war jetzt Frau Hofmann, eine große, stolze Dame. Sie lachte selten, war aber nicht unfreundlich, man musste sie eben ernst nehmen. Als sie in die Klasse kam an dem Morgen, erschrak ich, denn Vatl kam mit ihr, und sie sagte, daß wir heute einen Besucher haben während Vatl nach hinten ging. Flüsternd kam herum, dass das bestimmt unser neuer Russischlehrer sein wird, denn Jaschonek war weg (er kam aber nach zwei Wochen wieder). Ich war bissel aufgeregt über solchen Unsinn; mein Vatl ein Russe? Ja, er hatte hohe Stiefel an und seine Jacke war ’ne Khaki-grüne Steppjacke und obendrein hatte er seine Pudelmütze unterm Arm. Frau Hofmann lehrte uns Deutsch (Literatur und Grammatik), Mathe und Gegenwartskunde. Die anderen Hauptfächer waren Russisch, Physik, Chemie und Geschichte, und Hauptfächer waren alles Doppelstunden mit einer 10-Minuten-Zwischenpause. Nach der Kurzpause kehrte Frau Hofmann alleine zurück, aber in der Zwischenzeit hatte ich meine Klasse aufgeklärt, wer unser Besuch war. Als ich heimkam, lieferte Vatl mir eine Zusammenfassung. Er hatte sich auch mit den anderen Lehrern unterhalten, und ihr Urteil über mich war identisch: begabt, sehr leicht ablenkbar, guter Mitarbeiter, Kaspertalent. Ich danke Gott, dass es zu den Zeiten keine Psychologen gab in den Schulen (psycho-councillors), denn die hätten mich psychisch analysiert und behandelt bis ich total verrückt war. Vatl war ein praktischer Erzieher. Am Abend setzte er sich zu mir ans Bett und erzählte, was ihm geholfen hat, die Gefangenschaft zu überleben. Er musste durchkommen, um seine Familie zu beschützen, zu versorgen und mich als erfolgreichen Ingenieur zu sehen. Er dankte mir, daß ich meinen Mann gestanden habe für meine Mädels, was aber nun seine Rolle war. Meine war es nun, zu lernen, eifrig zu studieren und das Herumalbern anderen zu überlassen. Ich musste ihm mein Versprechen geben, mich danach zu richten. Er erwähnte auch, daß er sehr beeindruckt war von meinen Lehrern, vor allem Frau Hofmann. Ich bewunderte sie auch, denn wenn wir ‘Superschlauen’, dachten wir stellten verzwickte Fragen, antwortete sie immer gelassen und unparteiisch und das war nicht immer einfach. Das politische curriculum muss ja bedrückend gewesen sein für intelligente Lehrer aber wir hatten Glück, denn unsere waren keine ‘Genossen’, die ihre Fahne in den Wind hingen sondern waren waschechte Tutoren. Dass war keine leichte Forderung, wenn sie uns ‘politisches Heu’ vorlegen mussten. Natürlich bestand unser ‘Wissen’ nur vom Hören-Sagen und beim Schlangestehen. Schon als 10-Jährige konnten Viele von uns die endlosen hohlen Losungen und Phrasen der Ideologie durchschauen wo wir unsere Existenz ewig unseren Roten Rettern zu verdanken hatten, denn ohne deren selbstlose Unterstützung wären wir Hilfloses Futter für den faschistischen Westen. Wir mussten alle jeden Früh in Klassenformation beim Fahnenappell im Hof stehen und unsere Nationalhymne singen während ein Pionier die Fahne hochzog. Woran muss dass unsere Lehrer erinnert haben? Es gab gefeiert Festtage wo überzeugte Leute Fahnen und Wimpel, sogar Parolen aus ihren Fenstern hingen. Wir liefen in Klassengruppe zur Stadt, wo wir beim Hauptbahnhof eingereiht wurden und dann zum Karl-Marx-Platz marschierten, wo auf der Riesentribühne unsere Genossen Führer eifrig winkten, umjubelt von den Massen. Wir 3 besser ‘Informierten’ verstanden es vorsichtig zur Seite zu schleichen auf dem Weg dahin, denn unsere Anwesenheit war ja vorher auf der Liste schon notiert worden. Dieses Manöver war möglich, weil Rudi, Lotsche und ich keine Pionieruniform hatten. Ich ‘verstauchte’ mir den Knöchel und meine treuen Kameraden halfen mir zur Seite wo wir uns sehr dünne machten. Die meisten sind deshalb Pionier geworden, weil sie Hemd, Hose und blaues Halstuch bekamen, und das war praktische Ware, denn Kleidung war immer noch nur gegen Marken erhältlich, also knapp. Natürlich gab es auch „Überzeugte“, aber in unserer Klasse war nur einer, und der arme Kerl hatte da keine Wahl, denn sein Vater war bei der Polizei und musste daher damals in der Partei sein; also trauten wir ihm nicht. Der arme Peter Gey. Er war ein harmloser Kerl und wusste, daß wir ihm nicht trauten. Wenn wir Frau Hofmann fragten, ob denn alle deutschen Soldaten Mörder waren, sagte sie, daß sie keinerlei Kriegserfahrung hatte. In wissenschaftlichen Themen wurden uns nur immer die enormen Errungenschaften der sowjetischen Wissenschaftler gelehrt. Der Biologe Mitschurin z. B. war eine Weltsensation, der unbeschreibliche Erfolge mit Pflanzenkreuzungen hatte und wir flüsterten den Spruch: „Mitschurin hat festgestell, dass Marmelade Fett enthält, drum gibt es auf die Fettdekade nur noch Marmelade“. Wie schon erwähnt, musste man alle Hauptfächer erfolgreich bestehen, sonst blieb man sitzen und musste das Jahr wiederholen. Von der fünften Klasse an war Russisch auch ein Hauptfach. Unser Russischlehrer war ein Russe, ein Bär, breit wie ein Schrank. Seine schwarzen Brusthaare quollen aus seinem Kragen heraus. Da er mit Vatl gesprochen hatte, wusste ich, daß er mich „rannehmen“ durfte. Körperliche Strafen waren zwar verboten, aber wenn Jaschonek mich spielend am Hemd schnappte und an sich zog, so daß meine Füsse baumelten, reichte das, um mich zu überzeugen. Einmal fasste er mich unter meine Arme und hob mich auf den Klassenschrank wo Lösche schon hockte. Lösche war länger als ich und musste sich deshalb noch mehr ducken unter der Zimmerdecke. Da mussten wir den Rest der Lektion verweilen zum Gaudi der Klasse, vor allem der Mädel. In dieser unbequemen Haltung musste ich ‘Haus’ auf Russisch deklinieren: Dom, Doma, Domu, Dom, Domom, Domje. Im Russischen sind’s 6 Fälle also zu: nominativ, genetiv, dativ, akkusativ, kommen instrumental und prepostitional dazu. Und dass ist für singulare Gegenstände, dazu kommt dann das Plural. Nicht einfach, schon gar nicht in gebückter Haltung auf nem Schrank, wenn die Klasse laut lacht. Lösche war, glaube ich noch schlimmer dran, denn der musste das Russische Lied: Tschiroka Stranamoja Rodnaja singen und weil ich mein Lachen nicht verbeissen konnte, musste ich zur Strafe mitsingen. Vatl hatte mir mitgeteilt, dass Jaschonek eigentlich ein Weissrusse war und wie er überlebt hat und davon gekommen ist, war ein Rätsel. Noch grösser war das Rätsel warum er dass Vatl anvertraut hat und ich sollte das Niemanden jemals sagen. Vatl konnte mir mit der russischen Aussprache helfen, und lesen konnte er es fließend. Inzwischen hatte Vatl bei der Autoreparatur-Firma Kensing in Schkeuditz angefangen. In Sibirien hatte ein Kommandant nach einem Autospezialisten gefragt. Bei den Russen waren ja alle Deutschen Spezialisten auf allen Gebieten. Von Beruf war Vatl Schmied, und beim Panzertraining hatte er ja auch basische Motoren-Mechanik erlernt. Als Jeepspezialist und Fahrer waren drei Jahre seiner Gefangenschaft durchaus leichter zu ertragen. Er lebte praktisch in dem Fahrzeug, für dessen Instandhaltung er verantwortlich war. Er musste Offiziere meilenweit durch die Schneewüste fahren, und angekommen, schlief er im Fahrzeug Er hatte warme Kleidung und wurde auch mit Essen und Wodka versorgt. Einmal erzählte er Gerhard wie unglaublich offen die Offiziere mit ihm über den Krieg gesprochen haben. Er war verblüfft als sie ihm mitteilten wie sie gefeiert hatten als Hitler kopfüber gen Moskau stürmte, sich dann aber auf Stalingrad konzentrierte. Sie wussten damals schon, dass sie den Krieg zweifelsohne gewinnen werden. Ein Offizier erzählte Vatl einmal, dass seine zwei Brüder in Deutschland in Gefangenschaft gewesen waren und von da aus angeblich zurück nach Russland transportiert wurden; hatte aber nie wieder etwas von ihnen gehört. Die Historie hat uns ja nun bewiesen was ‘Väterchen Stalin’ mit seinen Soldaten machte, die jemals in Feindeshand in Gefangenschaft geraten waren. Firma Kensing war eine emsige Werkstatt, wo man alles Mögliche unternahm, um alte Laster und Zugmaschinen am Laufen zu halten oder zum Laufen zu bringen. Obwohl die Genossen alle Betriebe übernehmen wollten, wussten sie, dass dann der ganze Verkehr stillstehen würde. Alle Autoschlosser mussten damals multi-talentiert sein die alten, treuen Fahrzeuge instand zu setzen. Fahrzeugbesitzer schätzten diesen Aufwand und da sie viel Gut transportierten, konnten sie einige ‘Kostbarkeiten’ abgeben die mehr Wert waren als Geld. Leider kam Vatl selten im Hellen nach Hause, aber oft brachte er Geschenke wie Sauerkraut, Butter, Wurst, Kartoffeln, sogar Seidenstrümpfe und einmal sogar eine Lederhose für mich mit – und ich jubelte. Die war zwar bissel groß für mich, aber wen kümmerte das? Hatte ich doch immer andere Jungs beneidet in ihren „Ledernen“. Sie trugen die auch oft im Winter mit langen Strümpfen. Lederhosen waren doch unzerstörbar, und je älter sie waren, desto prächtiger waren sie. Meine hatte schon ein paar Glanzstellen, und wenn einmal die ganze Hose glänzte, würde sie noch kostbarer sein. Vatl schaute sich auch meine Schularbeiten genau an, und es war kein Wunder, daß sich meine Zensuren besserten. An einem Samstag folgte mir eine Mutter mit ihrem Sohn, mit dem ich eine Auseinandersetzung gehabt hatte: Das war keine Seltenheit. Muttl hat bei solchen Fällen mir oft den Hintern vor Mutter und Kind versohlt. Leider war dieses Mal Vatl zeitig heimgekommen. Ich war im Schlafzimmer, und Vatl ging an die Tür und hörte sich die Klage an und entbot der Frau ein „Auf Wiedersehen“. Als ich freudig rauskam, bekam ich eine ordentliche Tracht auf den Hintern. Mein Trick bei so was war, laut zu brüllen, bis sich die Nachbarn beschwerten und es Muttl peinlich wurde. Hier hielt Vatl kurz inne und erklärte mir, dass er solange weitermacht bis ich still bin. Nach ’ner kurzen Weile gab ich auf. Ich musste ins Bett und Vatl setzte sich daneben. Er mahnte mich, nie jemanden zu verhauen, der kleiner war als ich und nur, wenn eine Auseinandersetzung unvermeidlich war. Der Grund, weil Vatl an dem Tag früher heimgekommen war: es war eine kleine Feier geplant. Gerhard hatte sein Grammophon mitgebracht und bei lieber Musik lag ich da und tat mir selber sehr leid. Bei den lustigen Tönen: Lustig ist das Zigeunerleben, Tanz mit der Dorle, walz mit der Dorle, Im Grunewald ist Holzauktion, Lilli Marlen, Waldeslust. Der Zug nach Kötschenbroda usw. erkannte ich, dass ich irgendwie mein Betragen verbessern muss. Meine treue Renate kam paarmal reingeschlichen mit Schleckereien und natürlich bissel Schnaps, den sie selber aber verabscheute – ich auch, aber ich war ja ein Mann und musste es geniessen. Vatl kam auch rein und bat mich bitte meine Selbstbeherrschung zu stärken. Auch musste ich nun mit dem Ringen aufhören, denn ich bin zu oft des nachts aus dem Bette gefallen. Bevor Vatl heimkam, bin ich auch manchmal im Schlafe herumgewandert und dass war ’ne Nervensache für Annelies und Gerhard. Sie sassen auf dem Sofa und ich kam rein, machte ’ne Runde um den Tisch und wanderte wieder zurück ins Bett. Muttl hatte solche Angst, denn wenn ich mondsüchtig wäre, könnte es passieren, so sagten die Leute, dass ich aus dem Fenster klettere. Vatle erklärte mir, dass meine Nerven zu gespannt sind. Ich biss auch meine Zähne laut zusammen und schlug meine Ellenbogen dauernd an meine Hüfte. Aus war’s mit dem Ringen in der Thonberger Turnhalle. Wenn ich mit Annelies zurückdenke an diese Zeiten, da lachen wir immer wieder. Was muss Vatl gedacht haben als ich, sein Stammhalter, mit dicker Brille, Zähne und Ellenbogen-klappend vor ihm stand und nachts regelmässig aus dem Bett fiel. Hatte er da manchmal gewünscht er wäre in Russland geblieben? Vatl nahm mich mit zum Stadtparkrennen. Ich war schon zweimal dort gewesen mit Rudi, und das letzte Mal haben wir sogar am Strassenrand übernachtet, und da waren wir nicht die Einzigen. Das war alles unheimlich spannend. Die Motorräder bei uns an der Nase vorbeidonnern zu hören, war unbeschreiblich, und der Auspuffgeruch vollendete das Lustgefühl. Vatl hatte mir schon einiges erklärt, wie Motoren funktionierten und wie man diese zum Rennsport frisieren konnte, und das vertiefte natürlich meine Liebe zu dem Sport
28 Das 6. Schuljahr. In der zweiten Hälfte des sechsten Schuljahrs in der Schönbachschule machte sich der Druck des Lernens deutlich stärker bemerkbar. Herr Pasch war ein jüngerer, sympathischer Lehrer, aber er war gründlich. Nun musste ich meine Hausaufgaben gewissenhafter erledigen, denn wir wussten, daß wir uns nun dem Sprungbrett für die Oberschule näherten, die 7. und 8. Klassen. Bisher hatte ich meine Schulaufgaben oft husch-husch gemacht oder sogar in der Schule von anderen kopiert, manchmal musste ich das in der Pause auf dem Abort schaffen. Auch zählten nun die Zensuren der Mittelprüfungen zu den Jahresendzensuren. Einmal versprach uns Herr Pasch, daß wir uns in den großen Ferien für zwei Wochen in der Sächsischen Schweiz tummeln werden mit täglichen Gewaltwanderungen. Unsere Eltern hatten dafür zu sorgen, daß wir stabiles Schuhwerk hatten. Vorm Wandern hatten wir keine Bedenken, denn sind wir nicht täglich gelaufen, und oft im Dauerlauf? Aufregend für mich war, dass ich nun ab und zu auf unserem Platz mit den ‘Kanonen’ mitspielen durfte. Leider wurde ich es gewahr, dass ich kein Balltalent hatte, trotz der vielen Stunden wo ich als Ballholer diese Kunst studiert hatte. Mann, was hab ich da geschwitzt. Zwei Mann knobelten und der Gewinner hatte die erste Wahl für einen Spieler und dann war der andere dran bis jeder seine Mannschaft hatte. Ich war beinah immer der Letzte und manchmal musste ich ins Tor, welches zwischen zwei Bäumen war. Bei Lotsche, wie bei den meisten anderen, sah das alles so einfach aus, so dass ich manchmal verzweifelte aber bald erkannte ich, dass, wenn ich zu eifrig wurde, ich noch mehr Mist machte. Wie oft hat mir Lotsche auf unserm Marsch zur Schule die Finesse des Spiels erklärt und es machte auch alles Sinn aber in der Praxis drehte ich oft durch, zu oft. Süsser, bevor Du den Ball bekommst, must Du schon wissen, wer Dein Mitläufer ist der sich freigespielt hat, so dass Du ihm die ‘Nülle’ zuspielen kannst. Mein Stil war, wenn ich den Ball mal bekam: Kopf runter und wie ein besessener Bulle losrennen in Richtung des Gegners’ Tor und dadurch zu oft den Ball abgenommen bekam. Auch versuchte mein Kumpel mir beizubringen wie man den Ball schiesst; nie mit der Schuhspitze, denn da hat man nicht genug Wucht dahinter sondern mit dem seitlichen Spann. Ein aufmerksamer Zuschauer hätte dass alleine mitgekriegt aber nicht ich. Ich hatte mich oft gewundert wie manche der Kanonen ‘Bomben’ loslassen konnten – barfuss! Natürlich, als ich dass nun mit Herz und Seele versuchte, riss es mir die Sohle vom Schuh, denn ich ackerte oft. Meine Chancen mitspielen zu dürfen verdoppelten sich als Vatl mir einen alten, richtigen Lederfussball von der Arbeit brachte, den er von einem Kunden bekommen hatte. Der hatte eine Blase mit ’nem kleinen Schlauch den man aufpumpen musste und dann den Schlauch in die Öffnung quetschte. Danach wurde die Öffnung mit ’nem Lederschnürsenkel verschlossen. Ganz rund war der Ball dann nicht und wenn man beim Köpfen Pech hatte und traf die grobe Naht, dann blieb man für ’ne Weile getroffen und hatte ein Merkmal an der Stirne. Auf jeden Fall war der Ball mehr populär als die Plastikbälle. Unsere Schulleiterin war jetzt die Frau Buschmann, die uns Gegenwartskunde lehrte. Sie war wie die Frau Hofmann in der Humboldtschule eine stolze, aufrechte Person, die unsere „verzwickten“ Fragen mit Gelassenheit beantwortete. indem sie sagte: Nun, wie Du siehst Süssenbach, laut unserem Textbuch sind unsere Volkswahlen die Gerechtesten der Welt, ausser der Sowjetunion, die uns ja bei weitem voraus ist, und ihre Augen fragten mich ob ich mich schlau fühle mit solchen dummen Fragen. Jeden Monat ging die ganze Klasse ins Theater, in die Oper oder ins Schauspielhaus, und wie man sich da zu benehmen hatte, lehrte uns Herr Breitbart. Während Anzug und Schlips angebracht waren, mussten für die meisten von uns Ausnahmen erlaubt werden, aber einen Schlips musste man sich besorgen, auch wenn man ein kariertes Hemd trug. Das Lächerliche war, daß die „Genossen“ aber mit Hemdkragen über der Jacke reinkamen – ihr Wahrzeichen als Proletarier. Auch Benehmen in solchen Stätten wurde uns gelehrt, z. B.: Wenn man durch die Zuschauerreihen geht, wendet man sich den Leuten zu und zeigt ihnen nicht den Po. Wenn ich hier in Australien mal zu einer Vorstellung gehe, beobachte ich immer, daß die Leute diese Sitte nicht kennen. Einmal waren Rudi, Klaus und ich in einer Operette, ich weiß nicht, ob es „Der Zigeunerbaron“ war oder vielleicht „Der Bettelstudent“. Künstler vom Westen waren dabei immer ein Magnet fürs Publikum. In einer Szene argumentierten zwei Männer über die Ausgeh-Garderobe, und der eine sagte zu seinem Kumpanen: Mensch, es ist doch egal, jedenfalls steht fest, daß man zu einem Anzug eine Krawatte trägt, Junge! Und darauf brach das Publikum in einen riesigen Beifall aus, und Rudi und Klaus (wir saßen auf dem Balkon) klatschten ganz heftig mit. Ich klatschte zwar begeistert mit, hatte aber keine Ahnung worüber, bis Heppel (Rudi) runter zu den Bonzen zeigte, die immer in den ersten Reihen vorne saßen und nicht klatschten. Dann fiel der Groschen, und ich klatschte noch als Letzter, und alle Augen guckten zu mir hoch. Jaschonek, unser russischer Bär, hatte mich gerne auf dem Kieker, aber ich war vorsichtig, und außerdem fand ich Russisch nicht allzu schwer. Im Grassi-Museum war es damals Brauch, einem Künstler des Monats zu huldigen, und manchmal führte uns Herr Totenhöfer, unser treuer Musiklehrer, hin. Wenn es zum Beispiel der „Borodin-Monat“ war, dann waren Bilder und Szenen aus dem Leben des Meisters ringsum illustriert, während immer eines seiner Werke im Hintergrund ertönte. Als es Beethovens Monat war, veränderte sich meine Liebe zur Musik. Als wir eintraten, spielte seine Neunte im Hintergrund. Da es Vormittag war, waren nicht viele Leute drinnen. Ich weiß nicht, warum ich mich in eine Ecke setzte und den ergreifenden Tönen der choralen Endung zuhörte. Ich hatte das natürlich schon gehört im Radio, und bestimmt nicht nur einmal, denn es war ja auch eine beliebte Hymne der Genossen: Seid umschlungen Millionen. Aber irgendwie ergriffen mich die Töne dieses Mal ganz anders. Allgemein glaubten wir Jungs ja, daß Musik etwas für weiche Charaktere war; etwas, das wir aber erdulden mussten. Die intelligenten Knaben in unserer Klasse hatten ja sogar ein Klavier zu Hause und wurden darin geschult. Andere, wie z. B. Lotsche, hatten zumindest ein Akkordeon, aber wir Durchschnittler hatten davon keine Ahnung. Nach der Schule an diesem Tag lief ich alleine zurück zum Grassi-Museum und der ältere Kurator dort, den ich schon am Morgen gesehen hatte erkannte mich und ich fragte ihn ob er bitte die Chorale Endung auflegen würde für mich, was er gerne tat. Danach sagte er: Jetzt spiele ich Dir mal noch was Bewegendes vom alten Meister, und es war der zweite Satz der Siebenten Sinfonie. Vielleicht war es, weil der gute Mann das für mich alleine spielte, jedenfalls war ich wie benebelt. Ich ahnte bissel was von der Gewalt der Musik, welche also nicht nur für auserkorene, geschulte Leute existiert sondern für Jeden der stille sitzt und sich ihr ergibt. Dass der gute Mann vor mir stand, Augen geschlossen und sanft dirigierte, machte diesen Moment bewegend. Ich ging noch paarmal hin in dem Monat und eimal kam Vatl mit und er war nicht wenig erstaunt, dass mich der Verwalter dort kannte und, natürlich unterhielten sich die Zwei über’n Krieg während ich in meiner Ecke sass und nicht wusste was für Beethoven-Musik im Hintergrund spielte, genoss es aber. Zu der Zeit kam ein ruhiger Junge in unsere Klasse, Holger Recht, und da er nicht mit uns lauten Jungs verwickelt wurde, gesellte ich mich zu ihm. Lotsche und ich wanderten nach Hause mit ihm. Holger wohnte ja gleich gegenüber des Messegeländes, wo feine Häuser standen (die sind auch heute noch da). Holger trug immer ’ne Baskenmütze, was ihm ein künstlerisches Aussehen gab. Eines Tages lud er mich ein, mit ihm nach Hause zu kommen. Die Wohnung war ein Traum. Solchen Wohlstand hatte ich noch nie gesehen, sogar der Korridor war prächtig. Seine Mutter passte in diese Herrlichkeit. Sie war eine bildhübsche, schwarzhaarige Erscheinung, ihre Haare fielen über ihre Schultern, und ihre Kleidung erinnerte mich an unsere Frau Major in Reichenbach. Die Rechts hatten auch eine Haushilfe und einen Mann, der mir vorkam wie ein Diener, das war aber Holgers Klavierlehrer, der da ebenfalls zu wohnen schien. Das Dienstfrauchen servierte Tee und Kekse, und wir saßen um einen großen runden Tisch. Ich war sehr vorsichtig, ja nicht zu kleckern. Es war schwarzer Tee. Der einzige Tee, den ich bis dahin kannte, war Pfefferminztee, aber ich glaube, in dieser Situation hätte ich Essig getrunken, ohne Zweifel. Die Tassen sahen so zierlich aus. Ich passte auf, daß ich nicht mehr von den köstlichen Keksen nahm als die anderen. Ich wurde von allen Seiten über mein Familienleben ausgefragt. Ich kam mir vor wie eine Persönlichkeit und hatte den Eindruck, daß die Leute nicht viel Besuch bekamen. Sie hingen an jedem meiner Worte, als wenn sie nicht genug hören konnten. Die Zeit muss verflogen sein, denn Frau Recht bat mich, zum Abendbrot zu bleiben, und dann erst merkte ich, wie spät es war. Ich musste nach Hause. Die Meinen dachten bestimmt, daß ich in der Schule Strafe sitzen musste. Sie waren sehr erstaunt über mein Erlebnis und wollten Holger unbedingt kennenlernen. Er kam am nächsten Tag gerne mit mir nach Hause und schien nicht erschrocken zu sein über unsere bescheidene Wohnung, die ihm doch sehr kärglich erscheinen musste. Und auch hier hingen die Meinen an jedem Wort, das der bescheidene Junge äußerte. Dann bat mich Holger, am nächsten Samstag bei ihm zu übernachten, und von zu Hause bekam ich einige Ratschläge, wie ich mich bei vornehmen Leuten zu verhalten hatte. Also diesen Samstag nach der Schule kamen wir genau zur Teezeit an, wonach Holger Klavierunterricht bekam für ’ne Stunde, und das fand ich hochinteressant. Das Lied, das geübt wurde, ging: „Du armes kleines Bächlein, schau ich in Deine Wellen …” Den Rest des Textes habe ich vergessen. Die Melodie aber hab ich heute noch im Kopf, und es ist so schade, daß ich das Liedchen nicht finden kann auf „YouTube“. Noch mehr schade ist es, daß ich keine Noten kenne, sonst würde ich es hier niederschreiben, und vielleicht, wenn ich dieses Buch mal drucken lasse, erkennt es vielleicht ein Leser. Mensch, das würde mich freuen. Es klingt bissel nach Schubert oder vielleicht auch Brahms oder Mendelssohn. Mein kluger Lotsche sagt allerdings, dass das bestimmt nur so ein kleines Liedchen war, wie sie in Übungsheften erschienen. Dann unterhielt uns der Musiklehrer mit seiner Kunst, und das war ein Genuss. Umgeben von feinen Teppichen, wunderschönen Bildern an den Wänden, Kronleuchtern und dann die herrliche Musik – es war ein Traum. Das Abendbrot war natürlich unbeschreiblich, aber ich war mir bewusst, nicht zu viel zu essen. Dann ging’s ins Badezimmer, und da war auch eine separate Brause. Eine Brause im Hause! Das ganze Zimmer war mit weißen Fliesen belegt, sogar an der Wand hoch. Und als wenn ich nicht genug Wunder gesehen hatte, wurde ich ins Gästezimmer geführt: Gästezimmer. Ich hatte erwartet, daß ich in Holgers Zimmer schlafe. Beim Bett blieb mir bald die Spucke weg, wirklich. Ich lag da wie ein Prinz. Dann klopfte es an der Tür, und Holger brachte mir ein Buch: „Dietrich von Bern, Heldensagen“. Weil er wusste, daß ich gerne lese. Und dann kam auch Frau Recht rein in einem wunderschönen Abendgewand, und beide setzten sich an mein Bett, und wieder musste ich erzählen. Mir schien es wirklich so, daß diese Menschen hoch interessiert waren an meiner Vergangenheit, und ich war mir bewusst, ja nicht meine Berichte zu übertreiben. Ich habe nie nach Herrn Recht gefragt, der bestimmt ein General war. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß er ein Landser war. Als sie sich verabschiedeten, gab mir Frau Recht einen Gutenachtkuss. Allein im Bett liegend, kamen mir beinahe die Tränen, so wohl war es mir zumute. Das Buch war ein Genuss, und ich muss lange gelesen haben, denn es klopfte wieder, und die liebe Frau sagte, daß ich das Buch mitnehmen kann. Der Sonntag verging auch traumhaft. Was hatte ich nicht alles zu erzählen, als ich nach Hause kam. Holger lud mich ein, mit ihm eine Gesellschaft von Bekannten zu besuchen. Es war ein Sonntag, als Holger mich abholte, und ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn er mit ’ner Kutsche und weißen Pferden vorgefahren wäre. Annelies war bei uns, und ich wurde fein angezogen und musste Renates Baskenmütze aufsetzen. Wenn Holger nicht dabei gewesen wäre, hätte ich mich aber schön gesträubt. Was muss unser Fensterpublikum gedacht haben? Ist der Süße Thomaner geworden? Es war alles so anders, doch interessant, mit Holger zusammenzusein. Ich kann heute noch seine leise Stimme hören, und wenn er was schilderte, bekam er einen fernen Ausdruck. Wir mussten umsteigen mit der Strassenbahn, und ich glaube, wir endeten in der Nähe vom Stadtpark irgendwo, jedenfalls ein feines Viertel. Holger klingelte an einem Tor, und es ging automatisch auf. Der Raum war voller freundlicher Leute. Die Hausfrau stellte mich vor, und alle nickten mir freundlich zu. Es war eine religiöse Versammlung, die mit Glaubensgenossen im Westen in Verbindung standen. Es wurden verschiedene Texte vom Neuen Testament gelesen, über die dann diskutiert wurde. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, daß man von der Bibel praktische Lehren entnehmen kann fürs heutige Leben. Es wurde auch ein Lied gesungen, gefolgt vom Gebet, und das erinnerte mich so an die gute Frau Wagner und Harras. Der Mann, der betete, sprach genauso mit Jesus, als wäre der in unserer Mitte. Am Ende bekam jeder ein Päckchen zum Mitnehmen, und wir verabschiedeten uns mit der Einladung, nächsten Monat ja wiederzukommen. Ich habe nie erfahren, welchen Glauben die guten Menschen hatten. Als ich mich verabschiedete von Holger bei meiner Haltestelle, bestand er darauf, daß ich sein Päckchen mitnehme. Ich konnte nicht groß protestieren, denn die Bahn fuhr bald los, also kam ich mit zwei Päckchen zu Hause an. Meine Lieben waren begeistert, als sie die Päckchen aufmachten, denn da waren liebe Sachen drin: Schokoladen, Kakao, Butter und richtiger Kaffee, eine Büchse Kondensmilch und eine Karte mit herzlichen Grüßen von den Glaubensbrüdern. Als ich die Kondensmilch probierte, schnappte ich bald über: Mensch, die schmeckte wirklich unbeschreiblich gut. An einem Sonntag sollte ich wieder zu den Rechts kommen und nahm auch das Buch mit, aber da ich es noch nicht fertig gelesen hatte, bestand Frau Recht darauf, daß ich es wieder mitnehme. Und wieder verging die Zeit zu schnell. Ich konnte einfach nicht genug lesen über Dietrichs Heldentaten mit seinem treuen Kampfgefährten Hildebrandt. In einer großen Pause sah ich, wie zwei Jungs Holger ärgerten, und natürlich gab’s Kloppe, und ich musste zu Frau Buschmann. Herr Breitbart war auch anwesend, und sein ernster Blick machte mir argen Kummer. Ich schilderte, wie es zu der Prügelei gekommen war – daß ich Holger in Schutz nehmen musste, denn der Junge war doch eine Seele von Mensch. Ich sah, daß beide Pädagogen Holgers Natur kannten, aber das wäre keine Entschuldigung für meine Kampfeslust, und ich bekam eine schriftliche Verwarnung, die ich mit heimnehmen musste. Am selben Abend besuchte uns Herr Breitbart, und er und Vatl unterhielten sich allein in der Wohnstube, während ich im Schlafzimmer wartete. Dann wurde ich ernstlich ermahnt, das Kämpfen ein für allemal aufzugeben, sonst ging’s in ein Heim mit mir. So ernst die Situation auch war – ich ahnte, daß die beiden Männer irgendwie meine Reaktion in diesem Falle verstanden. Eines Tages war Holger nicht in der Schule. Ich rannte nach Hause, schnappte das Buch und lief zu den Rechts. Ihre Tür war versiegelt mit einem gelben Band, und als ich da stand, ging die Nebentür auf, und ein Mann fragte mich, was ich wollte. Er verlangte meinen Namen und Adresse, und am selben Abend wurden wir besucht von zwei Männern mit Parteiabzeichen. Vatl war dabei, als sie mir allerhand Fragen über die Familie Recht stellten, und dann gingen sie. Rechts waren in den Westen geflohen. Aber das war nicht das Ende. Gleich vor der Gaststätte „Zum Völkerschlachtsdenkmal“ neben der Brücke ging eine Böschung runter zur Eisenbahn, und an der Böschung waren Gärten. Da hab ich manchmal mit Holger gesessen und die Züge vorbeidampfen sehen. Die Familie hatte auch einen Garten mit ’ner Laube dort. Nach ihrer Flucht fanden die Behörden unter der Laube Waffen vergraben. Ich war überzeugt, felsenfest überzeugt, daß die Rechts davon keine Ahnung hatten. Und wieder wurde ich verhört, aber ohne Folgen. Und so verschwand Holger Recht aus meinem Leben. Ich glaube, daß der gute Junge bestimmt Musiklehrer oder Dozent geworden ist. Ich vermisste ihn sehr. Übrigens hatten mir die Spitzel das feine Buch abgenommen. Das Lernen in der Schule fiel mir nicht besonders schwer, und meine Zwischenzensuren von den Tests waren befriedigend, aber mit Musik war ich bissel verstimmt, denn neben den großen Meistern mussten wir die neuen politischen Lieder verkraften, und das kam uns kindisch vor. Die Russischen Lieder, die wir lernten, gefielen mir. Da wir nun keine gemischte Klasse mehr waren, hatte ich keine Bedenken bei der Abschlussprüfung solo zu singen. Ich wählte Mendelssohn’s, „Oh Täler weit oh Höhen“ und der gute Herr Totenhöfer war sichtlich gerührt und ich bekam eine Drei, meine erste in Musik. Die Theorie der Musik begriff ich nie. Die Musiknoten, die wir verdauen mussten, waren wirklich nur einfache Melodien, aber sie begeisterten mich nicht besonders, obwohl Lotsche mir auf dem Heimweg dabei helfen wollte. Er war ja einer der Spitzenschüler in der Klasse, der auch zu Akkordeonstunden ging. Kein Wunder, daß die Weiber ihn anhimmelten; ’ne Kanone im Wissen, ein Spitzenreiter beim Turnen, gekonnter Fussballkicker und im Aussehen ein Adonis, wie mir meine Mädels bestätigten. Ich war praktisch sein Gegenteil, aber er war ein guter Kumpel. Ich hänselte ihn zu gerne, denn er wurde immer schnell rot. Bei den Abschlussprüfungen der 6. Klasse hatte ich alles Zweien ausser Musik. Sogar im Betragen bekam ich: „Nicht immer befriedigend“ aber dass galt als ’ne Zwei und in Fleiss bekam ich sogar eine Eins!!!!. Nach den Prüfungen freuten wir uns auf die acht Wochen Ferien und besonders auf das Wandern im Elbsandsteingebirge mit Herrn Pasch und seiner hübschen Frau. Mit der Eisenbahn nach Dresden, mit dem Elbdampfer nach Bad Schandau, von da mit der Kirnitzsch-Strassenbahn zum Lichtenhainer Wasserfall und von da mit Rucksack. Wanderlieder singend, stampften wir entlang des Baches zur Neumannns-Mühle, in deren Scheune wir uns einquartierten. Mit Wanderliedern war es nicht so einfach, denn obwohl es keine offizielle Liste verbotener Lieder gab, musste man vorsichtig sein, denn manche waren ja spezielle Marschlieder der Wehrmacht gewesen – und deshalb ein großes Nein bei den Genossen. (Drei Jahre später wurde Klaus Wessing, ein Klassenkamerad, eingesperrt, weil er besoffen ein verbotenes Lied sang auf seinem Heimweg von der Riebeck-Brauerei in der Mühlstrasse. Jüngere Leser werden das kaum glauben. Ich traf danach seine verwitwete Mutter und sie hatte keine Ahnung wie lange er im ‘Knast’ sein wird; armes Luder Klaus. Bier war ja auf Arbeit in der Brauerei frei erhältlich. Ich weiss nicht ob andere Nationen auch solch niedrige Geschöpfe hat, die so schnell ihre Fahne wechseln; bissel wie die Gerichte die Menschen unterm Kaiser, unter den Nazis und nun für die Kommunisten Menschen für politische ‘Sünden’ verurteilten; Pfui). Die Sonne war schon untergegangen, als wir auf den Boden der Scheune stiegen und empfangen wurden von berauschendem, herrlichem Heuduft. Ein trauriger Fall: Als Erstes mussten wir in der Früh in die Kirnitzsch steigen und uns waschen. Und was macht mein treuer Lotsche? Der springt in das eiskalte Wasser und zerschneidet sich seinen Fuß, aber wie, auf einer zerbrochenen Flasche. Er musste ins Krankenhaus nach Bad Schandau geschafft werden, wo er ganze zwei Wochen verbleiben musste. Wir holten ihn auf der Rückreise ab. Traurig sah der Kerl nicht aus, nicht, weil er so brav war, sondern bestimmt, weil die lieben Krankenschwestern den Burschen zu trösten verstanden. Unerhört. Witwe Braun war die Besitzerin des ganzen Grundstücks, und sie war sehr gastfreundlich. Am Ufer des Baches, gleich hinter der wassergetriebenen Holzmühle, war eine Waschküche, wo in einem Kessel unser Hauptmahl gekocht wurde. Auf der Wiese sitzend, schmausten wir das herrliche Gericht, und wir hätten mit keinem auf der Welt getauscht. Man sagte uns, dass die Kirnitzsch das kälteste Wasser in Deutschland hätte, und wir hielten Wetten ab, wer am längsten drinnen stehen konnte. Nachdem man nach einer Minute über den Schock hinwegkam, der sich wie Messerschnitte anfühlte, hatte man keine Gefühle mehr – also keine Heldentat. Herr Pasch hatte die täglichen Routen in dieser herrlichen Gegend geplant. Eines Morgens wurde ich leise geweckt. Die Fenster der Scheune waren zugeklappt aber einer hatte durch einen Ritz Herr und Frau Pasch waschen gesehen auf dem Wehr. Im nu mussten Allemann Schlange stehen um Frau Pasch’s ‘Pietzen’ zu sehen. Natürlich, als ich an die Reihe kam, trocknete sich unser Paar auf der Wiese ab. Es war offenbar, dass manche unserer ‘Späher’ gepranzt hatten mit was sie alles erspäht hatten. Das waren herrliche Tage: früh zeitig auf; herzliches Frühstück mit Schnitten und Fett mit Griefen, dann unsere Flaschen füllen am Bach und los ging’s. Unsere Führer erklärten uns die Historie dieser Gegend und wie das Elbsandsteingebirge entstand. Endloses Singen unserer Wanderlieder, was das Marschieren wirklich leicht machte. Ein Marschlied ging:”Wir tragen alle Lederhosen, Lederhosen sind unser Stolz, und des sonntags in aller Frühe, da besteigen wir das Oberholz“. Ein Witz, denn das Oberholz ist nur ein kleines Wäldchen am Rande von Leipzig. Frau Pasch war eine liebe Person, die zu gerne lachte, und da war ich ja in meinem Element, denn war ich nicht der Klassenkasper? Bei meinen Deutschland-Besuchen bin ich schon ein paarmal zurückgekehrt in diese herrliche Gegend, einmal sogar mit meinen Kindern, und immer wieder lacht mir das Herz dabei. Es ist komisch, wie es jetzt in meiner alten Heimat Mode ist, nur immer ins Ausland zu fliegen, wo es doch solch herrliche Gegenden in Deutschland gibt. Aber es gibt Gott sei Dank noch einige treue Wanderer. Die letzten zwei Wochen arbeiteten Heppel und ich wieder in der Markthalle, und ich sparte jetzt auf ein neues Fahrrad, denn mein altes war sehr müde geworden. Bevor ich auf die Suche ging, brachte mir Vatl eins nach Hause, das er sorgsam zusammengebaut hatte in der Werkstatt. Er hatte es grün gespritzt, und ich platzte bald vor Freude – was mein Vatl nicht alles machen konnte. Viele von unserer Platzmeute hatten schon Fahrräder und machten oft Ausflüge ins Land raus, und nun konnte ich stolz und eifrig mitradeln. Das Leben konnte nie besser werden, nein. Es waren natürlich alles Vorkriegsschmetten, denn neue waren nun zwar erhältlich, aber die waren teuer. Zwei Jungs hatten so eine Art Sportmaschinen mit schmaleren Reifen, und Bernd Slowik hatte sogar Gangschaltung, wie die Renner der Friedensfahrt. Was für eine herrliche Umgebung doch Leipzig hat, und es machte wahnsinnigen Spaß, sie kennenzulernen. Raus in die Dübener Heide, dort unseren Proviant essen und dann wieder zurück. Slowiks Maschine hatte sogar einen Kilometerzähler, und so wussten wir, daß wir rund 100 Kilometer am Tag schafften. Ersatzteile hatten wir alle im Rucksack, denn Pannen gab’s häufig. Tragödie: Gleich bei uns um die Ecke fuhr mir einer ins Vorderrad und verbog es ganz schön. Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten. Der junge Mann war sehr anständig und gab mir 10 Mark für die Reparatur, aber so einfach war das auch nicht, denn Felgen bekam man schwer – und Speichen noch schwerer. Beim Versuch, meine Felge geradezubiegen, brach sie. Wie so oft konnte ein Kunde von Vatl eine besorgen, eine Alufelge, aber ohne Speichen. Gleich bei uns in der Judith-Auerstrasse war ein Fahrradfritze, der im Keller seine Werkstatt hatte, und der gute Mann baute mir alte Speichen rein und zentrierte das Rad, und ich durfte dabei zugucken. Dass war hoch interessant, wie immer, wenn man einem Fachmann zuguckt. Ich war überglücklich vor Freude. Die Felge hab ich nie gestrichen, denn sie sah glänzend aus mit dem Aluminium- Schimmer. J. S. Bach war der Meister des Monats im Grassi-Museum, und mein lieber Museumsführer begrüßte mich herzlich, und natürlich hatte er wieder ein Prachtstück für mich: des Meisters Toccata und Fuge in D-Moll. Wieder saß ich in meiner Ecke hinter ’ner Büste des Schöpfers, und wieder lief mir ein Schauern über den Rücken. Er erklärte mir, was für ein schweres Leben Bach in Leipzig hatte, denn die blöden Stadtväter waren mit seinen Schöpfungen kaum zufrieden, und das musste der arme Mann für 28 Jahre erleiden. Das Allertraurigtse daran ist, fuhr er fort, daß die schöpferischen Werke von diesem Genius vergessen wurden, und wenn es nicht Mendelssohns braves Streben gewesen wäre, wer weiß, ob die Renaissance Bachs geschehen wäre. Er schilderte, daß eines der Nazi-Verbrechen war, Mendelssohns Musik zu verbieten. Nicht ihr grausamstes Verbrechen, aber ihr blödestes, flüsterte er. Von Vatl wusste ich ja, daß unser Museumsmeister in der NSDAP gewesen war, wie Vatl auch. Ich war ein paarmal mit meinen Mädels beim Thomanerchor, und wir lauschten bei Kantaten und Motetten, aber diese Fuge ging tief in meine Seele. Manchmal wundere ich mich, ob Studenten der Musik oder Virtuosen es genauso genießen können wie ich, ein total Unwissender. Bei den Nazis waren viele Werke der Kunst verboten damals, und Heine hatte recht, wenn er weissagte: Wo Bücher verbrannt werden, werden auch Menschen verbrannt. Welche Schande: Karl Mays Wildwestromane waren bei uns auch tabu und deshalb von uns sehr begehrt. Gleich bei uns in der Leninstrasse war ’ne kleine Bücherei, und die gute Frau Heller hatte Karl Mays Schätze. Mann, haben wir die verschlungen. Winnetou und Old Shatterhand waren unsere Vorbilder. Walter Ulbricht kam gar nicht auf die Bühne, keine Chance. Eine Story von diesen Zeiten bewegte mich sehr. Irgendwo in Amerika, wo deutsche Siedler sich niedergelassen hatten und schwer arbeiteten, vielleicht in Pennsylvania oder Oregon, trafen sie sich, wie es ihr Brauch war, Samstagabends, um den Sabbat zu heiligen. Sie standen mitten in der Prärie und sangen Hymnen des Herrn beim Sonnenuntergang. Ihr Dirigent sah plötzlich hinter den gläubigen Sängern Schatten der Indianer die Versammlung umringen, dirigierte aber ruhig weiter. Vielleicht hatten sie gerade Schuberts Ave Maria gesungen, jedenfalls: Als der Gesang zu Ende war, riet der brave, geistesgegenwärtige Mann, die Ruhe zu behalten, aber sie seien von Wilden umringt. Als sich die Gläubigen umdrehten, sahen sie die wilden Krieger, mit Tränen in ihren Augen. Solche Töne hatten diese noch nie gehört. Singen war bei denen nur Kriegsgeheul. Wo ich das gelesen habe, weiß ich nicht mehr, aber es rührte mich, und ich hoffe, daß es wahr ist – glaubhaft ist es auf jeden Fall. Musik kann so was schaffen. In meinem reifen Alter sitze ich hier jeden Abend in Perth/Hazelmere für eine halbe Stunde und höre mir die herrlichste Musik aller Welt an auf YouTube – besser kann ich keinen Tag beenden. Ja es war ein Genuss, Bücher zu borgen bei der Frau Heller, und ich war immer der erste im Bett und las ewig, was mein Mütterchen gerne sah. Leider, in der heutigen Welt, wird Musik täglich ermordet, und Lesen ist auch nicht mehr modern, denn Leute haben immer ihre Kopfhörer auf und lassen sich ihren Verstand benebeln mit primitivem Krach. Zum Lesen haben sie keine Zeit oder kein Gehirn mehr, denn sie sind ja Sträflinge der social media, was eigentlich unsocial media heißen solte. Mit ihren Smartphones brauchen sie gar keine Redekunst mehr. Bin ich nicht ein alter Jammerkauz? Ich bin so dankbar für mein Leben, denn heute möchte ich nicht mehr jung sein. Amen
30 Die Breitbart-Jahre. Immer wieder wurde es uns bewusst, wie ernst wir nun das Lernen nehmen mussten, wenn wir zur Hochschule gehen wollten. Vatl hatte mir ja mehr als einmal seinen ewigen Wunsch klargemacht, daß ich Ingenieur werden sollte, d. h. nach 4 Jahren Oberschule ging es dann auf die Uni oder Ingenieurschule. Das System verlangte von Hochschulaspiranten einen Zensurdurchschnitt von 2,2, von Arbeiter- und Bauern-Kindern und von Schülern der Intelligenz oder Geschäftsunternehmern einen Durchschnitt von 1.9. Ich habe damals immer unsere Intelligenten in der Klasse gehänselt, daß dieses System einwandfrei war, denn sie waren ja schließlich Bourgeoisie mit Klavier zu Hause und was nicht alles – sie waren also immer besser dran als wir Armen. Die fixen Jungs entgegneten, daß ich ja ohne Abschluss sofort in die Partei eintreten kann und im Nu vielleicht Ministerpräsident werde. So was Freches. Aber wir waren ein guter Haufen, und die Jungs hatten wirklich eine einwandfreie Einstellung zum Lernen und machten immer ihre Schularbeiten gewissenhaft zu Hause. Wenn bei Zwischentests diese Jungs mal ’ne Note Zwei bekamen, waren sie traurig und haben sich geschämt – ich dagegen habe gejubelt über ’ne Zwei. Bei jedem meiner Besuche im guten alten Leipzig dieser Tage organisiert Lotsche immer gewissenhaft ein Klassentreffen, und es ist verdammt traurig, daß der Sensenmann immer einen oder sogar zwei von meinen Kameraden geerntet hat seit dem letzten Mal. Und immer, wie es so Brauch ist bei solchen Treffen, wiederholen wir alte Erinnerungen. Langweilig wird es nie, und die Lobreden auf unseren Meisterlehrer Breitbart nehmen kein Ende. Er war eben ein Prachtexemplar der Lehrkunde, nicht nur des vorgeschriebenen Carriculums sondern auch in praktischer Lebensweisheit. Er war Offizier bei den Gebirgsjägern gewesen, und Disziplin und Selbstbeherrschung sah man ihm von Weitem an. Er sprach uns zwar mit Du an, aber mit unseren Familiennamen. Wenn ich mal danebentrat, kam er zu mir, steckte seine Daumen hinter seine Hosenträger und wippte mit seinen Füßen auf und ab: Herr Klassenkasper Süssenbach, versuch mal zu lernen, wann Kaspern angebracht ist und wann es deppert ist, denn das ist das Geheimnis des Humors, verstanden? Man stand ja auf, wenn man angesprochen wurde von Lehrern, und ich bedankte mich für jede Rüge. Seine grauen Augen sahen einen dabei gutmütig an, auch wenn sein Gesicht ernst war. Was für eine feine Berufung es ist, Lehrer zu sein für einen intelligenten und mitfühlenden Menschen. Was mich bissel ärgert ist, dass ich mich kaum an andere unserer Pädagogen erinnern kann. Breitbart lehrte uns in Deutsch Grammatik und Literatur, Geschichte und Gegenwartskunde, bei letzterem bewies er immer wieder seine Ehrlichkeit und Selbstsicherheit. Fragten wir z. B. warum bei unseren Volksabstimmungen die SED immer mit über 98 % gewann, antwortete er: Meine Herren, es ist doch eine Ehre seine Stimme abzugeben ohne sich Kummer zu machen wie sie verrechnet wird. Wissen strahlte aus ihm heraus, egal in welchem Fach, und er liebte es, uns auf Wanderschaften durch unser Leipzig zu führen. Dann erst merkte ich, wie reich unsere liebe Stadt an Geschichte ist. Kein Wunder, daß Meister Goethe es liebte, weil es seine Bürger bildete. Und da würden ihm viele große Meister, die in Leipzig weilten, bestimmt zustimmen, z. B. Nietzsche, Schumann, Telemann, Wagner, Gellert, Weber, Mendelssohn und der Gigant Luther., der hier Eck, den Laffen des Papstes, eine theologische Prügel verabreichte. Und war hier nicht des Papstes Katholische Horde, geführt von Wallenstein, geschlagen worden in Lützen in der 30-jährigen Schlächterei? Und dann die Völkerschlacht, wo Napoleon von den Alliierten versohlt wurde. Du, lieber Leser wirst mir vielleicht vorwerfen, dass ich bissel parteiisch bin in Bezug auf meine Stadt, so füge ich lieber flugs hinzu, dass ich von ihrer Weisheit nicht all zu viel mitgekriegt habe aber das lassen wir mal in den Sternen stehen. Und als der lieben Stadt der Titel „Heldenstadt“ zugesprochen wurde, war ich leider am anderen Ende der Welt und sah mir das mutige Schauspiel am Bildschirm in Australien an. Also, ich habe gar nichts zum Ruhme der Stadt beigetragen. Breitbart synchronisierte unseren Literaturstoff mit unseren Theatern so, z. B. als wir Goethes ‘Faust’ lernten, gingen wir mit ihm in’s Schauspielhaus wo es aufgeführt wurde, das gleiche geschah mit Lessing’s Egmont oder Nathan der Weise. Seine Methode war, Wissen oder Können aus uns herauszulocken (eliciting method). Heute ist Auswendiglernen verpönt, aber ich freue mich heute noch, daß ich Fausts Eingangmonolog noch im Kopf habe und vom Ausgangsmonolog auch das Wichtigste behielt: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss.“ Wie fein harmoniert das mit dem Spruch an der Uhr am Kroch-Hochhaus: „Omniae Vincit Labor“, Arbeit gewinnt immer und dazu kommt Gerhard’s Eintrag in Annelieses Poesie Album, „Arbeit adelt mehr als ein goldener Ring am Finger“ und wie hat der gute Mann das immer wieder bewiesen in seinem Leben. Und am Gohliser Schlösschen vorbeiwandernd standen wir vor dem kleinen Häuschen, wo der arme Schiller angeblich die ‘Ode an die Freude’ gedichtet hat, die Meister Beethoven dann vertonte in seiner Neunten. Das schöpferische Meisterwerk ist wohl dass ergreifendste und auch übergreifendste Werk unserer Welt
31 Oswaldstrasse 15. Unsere nächste Sensation war der Umzug übern Platz in die Oswaldstrasse. Obwohl wir es der guten Frau Rehork immer wieder erklärt hatten, als der Tag kam, wandelte die arme Frau einher wie im Tran, total verwirrt. Vielleicht war es ein Schock für sie, denn wir hatten ein sehr liebes Verhältnis zu ihr, hielten ihr Zimmer sauber, holten auch für sie ein, servierten ihr auch Essen – und wir versprachen ihr, das auch weiterhin zu tun. Ob die arme Frau das registrierte? Übrigens kam ihr Sohn mal auf Besuch von Berlin, und das war ein feiner Mann – ich glaube, er war Architekt. Er dankte uns sehr für die Betreuung seiner Mutter. Unter uns wohnten die Desbanks, mit denen wir nichts zu tun hatten
34 Die 8. Klasse (Das Sprungbrett in die Welt) Über das Kapitel Sex wussten wir alles. Wir wussten, daß bei jeder Nummer ein Kind produziert wird, aber das konnte kontrolliert werden mit Frommsern. Die Erfahrenen teilten uns mit, daß man die aus Luftballons sehr vorsichtig selber herstellen muss. Es gab immer Reportagen von Zeugen, die ihre Eltern beim Poppen belauscht haben und die berichteten, daß Frauen das Spiel überhaupt nicht genossen, bezeugt von ihrem Wehgeschrei dabei. Frauen werden aber von der Natur gezwungen, Kinder zu gebären, und so erleiden sie ihr Los eben brav. Mit all diesem Wissen war ich ja nun praktisch ein Mann, und es wurde mir klar, daß ich diese Weisheiten nicht mehr mit meinen Mädels teilen konnte. Heiraten war für Männer die aus Versehen in die Liebe fielen (fell in love, wie man es im Englischen richtig erfasst). Also, Planen tut man so was gar nicht und so musste man ständig auf der Hut sein, nicht ‘zu fallen’, zu stolpern. Lotsche wollte Wissenschaftler werden, und ich wollte, wenn ich es mir leisten konnte, mir ein Motorrad kaufen, es frisieren und Rennfahrer werden. Aber das behielt ich auch für mich. Inzwischen war die Firma Kensing nach Reudnitz gezogen in den historischen „Kuchengarten“ gegenüber der „Grünen Schänke“. Dort hatten sie mehr Platz, und im Hof standen immer Fahrzeuge aller Art, wo ich zu gerne verweilte, weil Vatl begann, mir das Fahren zu lehren. Ich war im Himmel. Ich durfte Traktoren und Laster aller Art im Kreise herumfahren, aber nur im ersten Gang und rückwärts. Vatl stand dabei immer im Hof und passte auf. Gerhard hatte nun eine Rudge mit Seitenwagen gekauft (wie Onkel Emil in Chemnitz) und das war ’ne Sensation; bei uns war nun ohne Zweifel der Reichtum ausgebrochen. Die Maschine kostete 1500 Mark obwohl der Taxpreis 550 Mark war. Wie das funktionierte verstand ich nie. Wir waren so stolz, wenn er zu uns kam mit dem gewaltigen Geschoss; Annelies und die Kinder im Seitenwagen, unsere ganze Nachbarschaft hing an den Fenstern. Renate war nun im zweiten Lehrjahr als Buchbinder wo sie 84 Mark in der Woche verdiente und sie sparte eisern, obwohl sie darauf bestand etwas zu unserem Haushalt beizutragen. Ich sah Muttl zu wie sie Kasse hielt. Raus kam die Krokodilhauttasche und der Inhalt wurde auf dem Tisch ausgebreitet und, Zunge am linken Mundwinkel raus, zählte sie wiederholt unseren Reichtum. Vatl und ich haben da gerne lachend zugeschaut was Muttl immer durcheinander brachte und sie musste wieder von vorne anfangen. Im 8. Schuljahr hatten wir Konfirmanden-Unterricht – aber nicht in der Schule. Übern Platz in der Mühlgasse war Pfarrer Reicherts evangelisch-lutherisches Pfarramt, wo wir einmal die Woche nachmittags nach der Schule im Evangelium des Neuen Testaments geschult wurden. Die Partei hat das nicht verboten, obwohl sie die staatliche Jugendweihe vorzog nach der Lehre des Marxismus. Wir bereiteten uns auf unsere Konfirmation vor, und da musste gelernt werden. Bei weitem der grösste Teil von uns war evangelisch, Dank unserem braven Martin Luther und später dem Sieg bei der Schlacht bei Lützen. Ich weiss nicht was die Katholiken lehrten. Jesu’ Aussagen waren einwandfrei aber Zwiespalt begann nur, wenn ‘Weise’ diese Weissagungen verschiedentlich übersetzten bzw. interpretierten – daher die vielen Sekten. Schule, Einkaufen mit Schlangestehen, Schularbeiten und Fussball – Langeweile kannten wir nicht. An Waschtagen ging’s auch rund her. Ich heizte den Kessel in der Waschküche im Hof, worin erst mal weiße Wäsche gekocht wurde, die ich mit einem langen Holzknüppel rührte. Die fischte ich dann raus und hob sie in die große Zinkbadewanne zum Spülen, und dann kam die bunte Wäsche in den Kessel. Natürlich geschah das alles unter Muttls oder Renates Aufsicht. Im Hof wurden Leinen kreuz und quer gespannt und dann die Wäsche daran geklammert, nachdem man sie mit den Händen ausgewrungen hatte. Das hat mir Spaß gemacht, denn da konnte ich als Angeber meine Kraft zeigen. Größere Sachen mussten aber zu zweit gewrungen werden. Wenn es warm war, trocknete die Wäsche auf der Leine, aber wenn es kalt war oder gar fröstelte, trocknete sie wenig und wurde sogar steif. Dann musste alles oben auf den Boden geschleppt werden. Danach schleppte man die getrocknete Wäsche in Körben zur Rolle in der Kröbelstrasse (oder war es die Viktoriastrasse?), die man vorher buchen musste. Die Rolle war ein Koloss, ’ne Risenkiste, gefüllt mit grossen Steinen, die sich ächzend hin und her schleppte. Wenn sie am Ende kippte, musste man die Holzrollen, umwickelt mit Sachen, schnell unter das erhobene Ende der Kiste legen und auf ihrer Rückreise rollte das tonnenschwere Ungetüm über sie. Inzwischen präparierten wir die nächsten zwei Rollen. Grosse Warnschilder ermahnten uns, dass Leute Hände oder gar Arme verloren haben durch Unachtsamkeit. Von Bettwäsche oder was immer gerollt wurde, mussten vorher alle Knöpfe entfernt werden sonst wurden sie zermahlen. Ich konnte nie verstehen warum Bettlaken gerollt sein mussten, denn man lag doch bloss drauf oder drunter. Alle übrige Wäsche wurde mit ’nem Bügeleisen geplättet, welches auf dem Ofen erhitzt wurde bis wir dann ein elektrisches hatten. Bei Annelieses Waschtagen haben wir auch geholfen, und da war ich stolz, wenn sie mich lobte ob meiner Kraft. Ich wiederhole, daß es bei diesem aktiven Lebensstil kaum fette Leute gab
Die Wäscherolle – ein gefährliches Ungetüm. Wenn wir vorm 17. Juni über den Staat gewitzelt hatten, hassten wir ihn nun, und für die Erwachsenen muss es viel bedrückender gewesen sein, immer wieder die abgedroschenen, primitiven Phrasen und Lügen zu hören. Wir wussten zwar, daß die Stasi überall lauerte, aber wie unglaublich verbreitet sie war, erfuhren wir erst viel, viel später. Für unsere Lehrer musste es schwer gewesen sein, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber sie schafften es mit Würde. Eine Ausnahme gab es. Er hieß Wetzler, war wohl so 25 Jahre alt, trug immer FDJ-Uniform, rauchte und hatte unangenehmen Körpergeruch. Natürlich lehrte er uns Gegenwartskunde. Wenn sich die Genossen lächerlich machen wollten, hätten sie keinen besseren Kandidaten finden können. Wie musste sich Breitbart fühlen, dieser Karikatur das Fach Gegenwartskunde zu überlassen? Wir wurden mit Kamerad angesprochen, und der Kerl führte auch beim Fahnenappell morgens an. Ah, danke, lieber Gott, denn seine Aufführung war nicht lange, und weg war er. Er hatte sich mit einer Schülerin viel zu tief „unterhalten“, und Herr Breitbart übernahm wieder Gegenwartskunde, ohne mit der Wimper zu zucken. Ein Witzbold, nicht ich, hatte ganz klein an die Tafel geschrieben, dass Genosse Wetzler einer Schülerin die sozialistische Rumba gelehrt hatte und Breitbart wischte es weg ohne Kommentar. Eines Abends bat mich mein Vater, zum „Ochsenkopf“ zu gehen für einen Krug Bier. Das war eine kleine Kneipe gleich bei uns an der Ecke OswaldStötteritzer- Strasse. Es lag tiefer Schnee, und beim Kohlenmann Drehse lag Max, einer seiner Kohlenmänner, in einem Schneehaufen und sang. Auf dem Rückweg fragte ich ihn, ob ich ihm aufhelfen sollte, und er wünschte mich zur Hölle. Am nächsten Tag hörten wir, daß der arme Kerl tot war. Es hatte tüchtig geschneit die Nacht. An der nächsten Ecke war ‘Die Schiefe Ecke’, noch eine Kneipe, gleich an der Haltestelle von der Strassenbahn 4. Oft eilten die Fahrer, Kurbel unterm Arm, in die Kneipe wo im Winter immer warmes Bier in Reihen auf der Theke stand. Im Winter hatte der Wirt das Bier gewärmt mit ’nem Tauchsieder. Der Schaffner, mit dickem Mantel und Pelzstiefeln, trank auf die Schnelle zwei Schoppen und eilte wieder zu seiner Bahn, bimmelte und los ging’s nach Stötteritz. Wenn ich dass in Australien hier erzähle, höre ich immer wieder die übliche Leier: Kein Wunder, dass ihr Krauts Kriege verliert; warmes Bier zu trinken ist doch geistesschwächend. Ich trinke Bier sehr selten, aber an den australischen Brauch, eiskaltes Bier zu trinken ob Sommer oder Winter, ist mir nach 57 Jahren hier immer noch absurd. Im Winter wurde unser Schulhof ein Eisfeld wo wir Eishockey spielten. Die Glücklichen hatten solide Schuhe und konnten die Schlittschuhe richtig an ihre Schuhsohlen schrauben. Wir Sterblichen mussten das mit Schnüren machen. Wie üblich bei Spielen, wo Geschicklichkeit nötig war, war ich kein Star und stand meistens im Tor und brach mir einmal das Handgelenk. Der einzige Berg, ausser dem ziemlich entfernt liegenden Scherbelberg, war die Böschung beim guten, alten Völkerschlachtdenkmal und da haben wir uns lustig getummelt; hatten regelrechte Abschussbahnen angelegt. Natürlich wurden wir pitschnass dabei und wenn wir heimkehrten mit unseren Schlitten, lernten wir bald, dass man eiskalte Füsse nicht direkt an den Berliner Kachelofen hielt, denn wenn die auftauen zwirnte das ganz schön; man musste die ‘Kneppertsschen’ langsam erwärmen. Ich war der Mädel’s Stiefelauszieher: eins ihrer Beine zwischen meinen, mit dem anderen Bein stemmten sie gegen meinen Hintern und nach bissel Erfahrung schafften wir das ohne dass ich gegen ’ne Wand prallte mit dem befreiten Stibbel. Wir hatten einen Stiefelknecht aber der zerkratzte oder entfernte die Absätze. Im Frühjahr 1954 brauchte uns niemand zu erinnern, dass nun der Endspurt des Studierens nötig war um die erforderlichen Zensuren für die Oberschule zu erhalten. Unsere Klassenelite hatte dass ja immer getan. Und da wir brave Protestanten waren, die ja konfirmiert werden wollten, mussten wir obendrein auch dem Evangelium Zeit opfern. Unsere Konfirmation fand statt in der Evangelischen Kirche in der Theodor-Neubauer-Strasse in Thonberg. Unsere Familien waren anwesend, und nervös trugen wir unsere Danksprüche laut vor. Meiner war aus der Offenbarung 2, 10: Sei getreu bis an den Tod, so will ich Dir die Krone des Lebens geben. Ich hatte natürlich bissel zu tief Luft geholt, und meine Stimme überschlug sich in ein Jodeln beim ersten Wort. Am Ende überreichte uns der gute Pfarrer Reichert unseren Konfirmationsschein, und dann ging’s nach Hause zur Feier. Der Staat gab den Ungläubigen zur Jugendweihe einen Tag der Unterhaltung mit einer Stadtrundfahrt, einem Beutel mit kommunistischen Schriften und Süssigkeiten und ein Festmahl. Parteigenossen hatten kaum eine Wahl für ihre Kinder, die mussten dabei sein. Das Traditionsgeschenk zur Konfirmation war ein Anzug, unser erster – und eine Ruhla Armbanduhr, im Volksmund Stoppuhr genannt, weil die nicht allzulange lief. Es gab auch teurere Uhren von Glashütte, die auch exportiert wurden, aber wir Aktiven wollten Armbanduhren sowieso nur zu Festlichkeiten ummachen und taten das auch, wenn die Ruhla den Geist aufgegeben hatte. Während unserer Feier mussten natürlich Fotos geknipst werden mit unseren Box-Kameras, und wie lustig haben wir dann weitergefeiert. Lotsche kam rüber mit seinem Akkordeon, und wir sangen aus voller Kehle. Ich schlich runter vor die Haustür und stand still, genoss den Moment, während ich meinen guten alten Platz überschaute. Die Tür ging auf hinter mir, und Vatl sah mich an und wir umarmten uns. Ein tiefer Moment für uns beide, den wir nie vergessen wollten. Wie üblich war ich der Erste im Bett, und ich lag da für eine ganze Weile, starrte an die Decke, und mein Herz lief über. 4 Monate bis zur Abschlussprüfung, dann noch mal 4 Jahre auf der Oberschule büffeln. Und dann auf die Ingenieurschule für mindestens 3 Jahre. Junge, Junge, ich hoffe, du hilfst mir, lieber Gott
Lotsche, Rudi und ich, die drei Konfirmanten vor der Oswaldstrasse 15
Mein Konfirmationsschein
36 Meine letzte Klasse. Vatl musste wieder zur Kur ins Sanatorium. Rudi hatte sich eine Lehrstelle besorgt im Kirow-Werk und teilte mir mit, daß er nach 4 Jahren so um die 500 Mark im Monat verdienen würde. Klaus Baage arbeitete schon im letzten Jahr seiner Lehre als Schweisser und er meinte, dass sein Verdienst über 600 Mark sein könnte. Ich wurde unruhig. Ich bin lange durch die Strassen gelaufen und mit Strassenbahnen kutschiert, wo ich aus den Fenstern guckte, aber kaum was wahrnahm, und dann funkte es bei mir. Ich muss mir auch eine Lehrstelle suchen. Wenn’s bei Vatl gesundheitlich mal schiefgeht, wollte ich kein Student sein, denn ich musste für Muttl sorgen, und als Erstes würde ich darauf bestehen, daß sie aufhört zu arbeiten. Man sah ihr doch an, wie kaputt sie war, wenn sie heimkam. Vatl hatte sie ja dauernd angefleht, mit der Arbeit aufzuhören
8. Klasse: Lothar immer der Hübsche hinten in der. Mitte und ich armes Mnnlein neben ihm und unser. Prachtlehrer Breitbart mit seinen Sprösslingen. Er wusste aber auch, traurigerweise, warum sie nicht hörte. Uns ging es doch nun wirklich gut, und nötig hatte sie es nicht, aber vergebens – Vatls Gesundheit war eben fraglich. Einmal setzte sich ein junger Kerl neben mich in der Strassenbahn. Er hatte seinen Arm in einer Schlinge nach einem Arbeitsunfall. Im Gespräch erfuhr ich, daß er schon ausgelernt hatte als Dreher, und er teilte mir mit, daß sein Bruder eine Stahlbauschlosser- Lehrstelle bei Stahlbau und Verzinkerei bekommen hat, und die hatten noch Lehrstellen frei. Er erklärte mir, wo das ist, und im Stillen sagte ich: Danke, lieber Gott, das war das Zeichen, das ich brauchte. Daraufhin bin ich bei der Wollkämmerei in Lindenau ausgestiegen, um das Riesengebäude herumgelaufen, unter der Eisenbahnbrücke durch und dann links die lange Strasse hinter der Wollkämmerei hoch, an deren Ende die Fabrik stand. Ich glaube, die Firma hieß früher Krohmann & Frosch. Der Kaderleiter unterhielt sich mit mir und war mit meiner Entscheidung zufrieden. Er meinte, daß ich nach meinem Lehrabschluss immer noch eine Ingenieurschule besuchen könnte. Ich wollte sofort alles unterschreiben, aber ich musste nach Hause rasen und mein Abschlusszeugnis holen. Als ich außer Puste zurückkam, stellte der Kaderleiter mir einen anderen Mann vor, Herr Weissmann, der ein VVN-Abzeichen trug. Ich musste ein paar Papiere unterschreiben, aber dazu brauchte ich auch Vatls Unterschrift. Eigentlich schade, denn ich wollte Vatl mit dem Abschluss meines Lehrvertrags überraschen. Als ich mich verabschiedete, wollte Herr Weissmann privat mit mir sprechen. Unser Staat biete kurze, aber konzentrierte Lehrgänge an, die den erfolgreichen Teilnehmern die Mittlere Reife gewährten, womit ich dann zur Ingenieurschule würde gehen können. Derselbe Kurs wurde auch Leuten mit Abitur geboten. In meinem Falle müsste ich im zweiten Lehrjahr einen Abend in der Woche zur Abendschule gehen für Technisches Zeichnen, Projektion und Entwurf (Design). Auf meine Frage, warum ich dieses phantastische Angebot erhalten sollte, meinte er, daß mein Entschluss, eine Hochschul-Ausbildung zu umgehen, ihm imponiere. Aber, fügte er hinzu, dasselbe Angebot haben wir auch anderen gemacht, im Ganzen sind das 32 Mann, und das ist die erste Thälmann-Brigade. Der Staat erwartet dafür aber Teilnahme der Aspiranten an unserer sozialistischen Ideologie. Da wurde es mir mulmig, und vielleicht hatte er das wahrgenommen. Was von mir erwartet wurde war, daß ich der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische-Freundschaft beitrete und auch in die FDJ eintrete. Nun hatte er bestimmt gemerkt, daß ich meinen Mut verlor, denn er fügte hinzu, daß ich anstelle der FDJ in die GST eintreten könne (Gesellschaft für Sport und Technik), wo uns Theorie und Praktisches über Motorräder gelehrt würde. Da glaubte ich aber wirklich, daß alles nur ein Traum war. Später erfuhr ich, daß diese Organisation auch das Ziel hatte, uns für motorisierte Einheiten der Armee vorzubereiten. Aber im Moment wäre ich beinahe übergeschnappt vor Freude. Natürlich mussten wir Mitglieder der Sozialversicherung und des FDGB werden. Als ich ihn über seine Zeit im KZ fragte, erfuhr ich, daß er seine Familie verloren hatte, kurz bevor die Russen bzw. die Amerikaner die grausamen Lager öffneten. In seinem Gesicht zeigte sich kein Vorwurf, und er fügte hinzu, daß es ein Kinderspiel sei, Menschenmassen zu verblöden. Er schaute mich eine ganze Weile an. Muttl war total sprachlos, als ich ihr meinen Entschluss ganz sachte beibrachte. Sie war doch so erfreut über meine erfolgreichen Abschlusszensuren – und nun das. Ich umarmte sie feste und malte ihr meine Chancen in hellsten Farben aus, und sie war platt, sprachlos. Nun musste ich per Eisenbahn zu Vatl nach Bad Elster nahe der tschechischen Grenze, um seinen Segen und seine Unterschrift zu erhalten. In seiner Station war die Gelbsucht ausgebrochen, und so mussten wir uns unterhalten, indem ich auf der Wiese stand, und mein armer Vatl lehnte sich über den Balkon im ersten Stock. Ich sah den Schmerz in seinem Gesicht über meinen Entschluss. Sein Kummer war, daß ich in Versuchung käme, auf das Weiterstudieren zu verzichten. Die Formulare musste ich einer Krankenschwester übergeben, die sie meinem Vatl zur Unterschrift vorlegte. Es war ein verdammt schwerer Abschied, aber sobald die Gelbsucht vorbei war, käme er nach Hause. Uns beiden kamen die Tränen
Mein Abschlusszeugnis
37 Stahlbau-Schlosserlehrling. Wir waren 32 stramme Jungs in der „Ernst-Thälmann-Brigade“ und sahen schmuck aus in den blauen Schlosseranzügen, von denen wir zwei erhielten. Alles war jetzt neu, und wir zitterten vor Erwartung. Unser Meister war Herr Berninger, wohl in seinen 50er-Jahren, rotes Haar mit einem ewigen, unergründlichen Lächeln. Er hatte zwei Helfer, die sich abwechselten, Herr Dienelt und Herr Zimmermann. Berninger hatte messerscharfen Humor und wenn ich bissel rumalberte, meinte er, daß er lustige Knappen liebte, solange sie nichts gegen einen netten Stoß in die Rippen hatten. Das Programm war: Montag, Dienstag und Mittwoch in die nahegelegene Betriebsberufsschule und Donnerstag, Freitag, Samstag in die Lehranstalt für die praktische Ausbildung. Samstags wurde bissel eher Feierabend gemacht, denn sogar Bettler machen eher Feierabend sonnabends, warum nicht halbstarke Schlosser?, grinste Berninger. Um 5 Uhr aufstehen, waschen, anziehen, Mehlsuppe löffeln und mit scharfem Galopp zum Ostplatz, in den O-Bus nach Lindenau., wo ich und viele andere oft im Stehen schliefen. Bei der Wollkämmerei aussteigen und wieder mit scharfem Tritt zur ‘Bude’. Arbeitszeit von 7 Uhr bis 16 Uhr, in der Berufsschule von 8 Uhr bis 16 Uhr. Berninger war ein gewandter und gründlicher Lehrmeister, der uns mit Regimentsstil drillte. Herr Zimmermann war ein ruhiger Mann, bissel gehbehindert durch eine Kriegsverletzung, der uns sehr geduldig bei der praktischen Ausbildung half. Herr Dienelt hatte einen kleinen Buckel und hielt seinen Kopf immer schief. Er roch immer sehr angenehm nach duftendem Rasierwasser. Berninger fragte uns, Hände hoch wer was gegen körperliche Ermahnungen hat! Keine Hand hob sich. Im Raum waren drei Reihen von Werkbänken und eine lief an den Fenstern entlang in der mein Platz war. Jeder hatte seinen Arbeitsplatz mit Schraubstock, einen Quadratmeter Fläche auf der Werkbank, unter der jeder seine große Schublade voller Werkzeuge hatte. Neben der Schublade hatte jeder seinen Hocker, und wenn Berninger mit seinem Hammer auf eine Platte auf seinem Pult knallte, mussten wir innehalten und am Schraubstock stramm stehen, Augen nach vorn, Ohren steif. Nach einer Anrede werkelten wir weiter. Wenn es eine längere Ansprache gab, kam der Befehl: setzen. Wir holten blitzschnell unsere Hocker hervor. Feilen, das wir Schruppen nannten, war der Beginn unserer bis dahin ungewohnten körperlichen Belastung. bis zu den leidvollen Blasen aber, Lappen um den Feilengriff und es musste weitergehen. Es handelte sich um einen Stahlklotz 100x100 Millimeter, 20 Millimeter dick, der autogenisch geschnitten worden war. Beide Seiten der Platte strichen wir mit Kupfervitriol worauf wir die erwünschte Grösse, 90x90 Millimeter mit Reissnadel markierten und mit einem Körner punktierten. Zeitgrenze war 3 Tage. Die flachen Seiten mussten poliert werden. alles musste genau winklig sein, das wurde mit einem Winkel geprüft, der gegen das Licht gehalten wurde. Beim Feilen muss man gleichmäßigen Druck einhalten, ja nicht schaukeln. Zimmermann und Dienelt waren geduldige Demonstrierer und halfen oft praktisch mit. Wenn man einen scharfen Stoß in die Rippen bekam, war das Berninger – aber ja nicht reagieren darauf, denn das wäre unmännlich. Der Lehrgang war intensiv und hochinteressant. In den Werkhallen der Firma waren verschiedene Abteilungen und in der ersten war die Schmiede in der wir lernten Reissnadeln, Meissel und Körner zu produzieren. Der Schmiedemeister war ein alter Herr, der die Ruhe weg hatte. Nachdem man die gewünschten Formen gehämmert hatte, wurden sie geschliffen und dann gehärtet indem man die heissen Objekte im kalten Wasser abschreckte – dadurch wurden sie glasshart; zum Gebrauch mussten sie dann zu brauchbarer Nutzhärte ‚erweicht‘ werden. Also wurden sie wieder erwärmt und dann sah man die Hitzefarben langsam nach vorne kommen zum geschliffene Ende und wenn die erwünschte Farbe, z. B. blau oder rosa vorkam, tauchte man es wieder in Wasser, Öl oder Säure. Als Schmiedeabschluss mussten wir eine Rose schmieden, d. h. die Blätter und Stiel wurden aus Blech geschnitten und dann zur rechten Form gehämmert. Die Teile wurden nun zusammengeschweisst und die fertige Rose wurde erhitzt und in ein Öl getaucht wonach die Blume glänzend Schwarz aussah. In der größten Halle stellte die Firma blecherne Deckaufbauten für Fischerei, Trawler und Schleppboote her. Da lernten wir, wie man Bleche nach Plan maß und anriss, sie in einer großen Schere ausschnitt, verschliff, entgratete, bohrte und zusammenschraubte oder kalt vernietete. In einer anderen Halle lernten wir Drehen, Hobeln, Fräsen und große Radial-Bohrmaschien zu bedienen. Wieder in einer anderen Sektion erlernten wir Autogenschneiden und Schweißen sowie Elektroschweißen. Ganz gleich, in welcher Abteilung wir schafften, jeder Arbeitstag begann und endete in unserer Lehrwerkstatt im ersten Stock mit Berninger. Von jeder Abteilung erhielten wir Zensuren, die Berninger notierte und den Lehrling des Monats mit nem Wimpel auszeichnete, den der Lehrling dann auf seiner Werkbank hatte. Ab und zu wurden wir von „hohen Genossen“ besucht, die uns immer wieder einschärften, unser Bestes zu tun, denn die Republik wartete auf uns. Berninger hatte uns erklärt, daß man vor den hohen Herrschaften keine Angst haben muss. Ihr müsst euch bei so was vorstellen, wie diese Leutchen aussehen in langen Unterhosen – nicht anders wir ihr. Keiner von uns trug lange Unterhosen, denn die waren ja nur für Muttersöhnchen und alte Männer. Er fügte aber hinzu, bei den Genossen keine Witze zu machen. Eines Tages bei unserer Endversammlung besuchten uns zwei Sportsmänner in roten Trainingsanzügen mit dem Dynamo–Leipzig- Abzeichen. Der Sprecher, Herr Arndt, war ein älterer Herr mit seinem Hilfstrainer. Daß Arndt ein alter Boxer war, sah man von Weitem. Er lud uns ein, Boxen zu lernen, denn körperliche Stählung fördert nicht nur unsere Gesundheit, sondern auch den Geist. Interessenten sollten bitte zurückbleiben, während der Rest entlassen wurde. Drei von uns blieben, und natürlich auch Berninger, der sofort Herrn Arndt sagte, daß es dem Süssenbach bestimmt gut tun würde, „ein paar vor die Kiste zu kriegen“. Natürlich benötigte ich Vatls Zusage. Wir waren schon zweimal bei öffentlichen Boxveranstaltungen gewesen, und die waren hochinteressant. Vatl machte mich immer aufmerksam auf alte Boxer unter den Zuschauern, denen viele Kämpfe das Gesicht verändert hatten. Nach langer Debatte willigte er ein – aber wenn meine Lehrleistungen litten oder wenn ich wieder aus meinem Bett falle wie damals beim Ringen, ist Ende. Dynamo Leipzig trainierte im obersten Stockwerk der Hauptfeuerwache, von wo aus man das verhasste Gebäude – „Die Runde Ecke“ – der Stasi sehen konnte. Das Riesengebäude hatte keine Nummer oder sonstige Beschilderung. und machte sich schon deshalb verdächtig. Das Training war eine ganz schöne Anstrengung, aber hochinteressant. Sauberkeit wurde geprüft, und wer Körpergeruch hatte, musste unter die Brause, bevor das Training begann. Eberhardt Weinert und ich hatten ja wie alle Lehrlinge immer in der Bude schon geduscht. Übrigens, unser dritter Mann hatte inzwischen verzichtet und mit dem Training aufgehört. Training ging von 7 bis 9 Uhr abends. Ich war mit 68 Kilos Weltergewicht. Mann, haben wir geschwitzt: 20 Minuten herumrennen, dann Schattenboxen, Sparren, an Geräten boxen und Schattenboxen. Sparren musste man mit verschieden Gewichtsgegnern. Arndt hatte auch 3 aktive Boxer, die uns Technik lehrten und das machte ordentlich Spass, denn, wenn man seine Deckung fallen liess bekam man schnell einen Treffer an den Kopf oder Bauch. Man konnte wirklich merken, wie der Körper bissel straffer wurde, ein schönes Gefühl. Um in der Öffentlichkeit zu boxen, musste man eine Lizenz erhalten, wofür man vor einem Komitee drei Runden mit verschiedenen Gegnern boxen musste. Man bekam ein rotes Büchlein, worin jedes Kampf-Resultat eingetragen wurde. Nach einem KO bekam man eine 4-wöchige Sperre (außer bei Technischem KO). Alle Kämpfe gingen in 3x3 Minuten Runden. Wenn man in einem Jahr 12 Siege „eingefahren“ hatte, wurde man Sonderklasse, d. h. man durfte 6x2 Minuten Runden boxen, dafür musste man aber ein Senior sein, also 18 Jahre alt. Einen Monat bevor die Saison begann, trainierten wir dreimal in der Woche und für den dritten Trainingstag durften wir in der DHFK trainieren; dass war berauschend. Das Gelände war streng bewacht und man bekam eine Karte mit Passbild um beim Pförtner zu passieren. Die Sporthallen waren Prachtgebäude und verschiedene Sportarten hatten ihre eigenen Hallen. Unsere Staats-Spitzensportler trainierten da immer. Sie wurden Amateure genannt aber die meisten waren sogenannte Sportlehrer oder Sportstudenten, hiess es. Als die DDR gegen Ungarn boxte, durften wir nach unserem Training an der Wand sitzen und zuschauen; unglaublich, die bekannten Kanonen wie Laszlo Papp oder unseren Ulli Nitzschke in Aktion beim Trainieren zu sehen; sensationell. Einmal musste ich nach dem Training rennen um meine Strassenbahn Nr. 15 zu erwischen und schaffte es gerade so. Ich blieb immer im dunklen Hinterteil der Bahn in ’ner Ecke stehen. Dieses Mal traf ich einen Arbeitskollegen dort. Er teilte mir erregt mit, dass er einen romantischen Abend genossen hat mit einem heissen Fräulein unten am Elsterstrand. Er war ein Facharbeiter in unserer Bude. Dann schnupperte ich was Verdächtiges und er auch und an unseren Schuhen hatten wir nichts aber mein Romeo hatte ’ne Überraschung am Kragen seines Trenchcoats, der ihm beim Liebesmanöver als Decke gedient hatte. Liebe muss was Wunderbares sein, dass das Pärchen das nicht schnuppern konnte. Während er hastig seinen Mantel zusammenrollte, musste ich ihm versprechen dieses Malheur niemandem zu erzählen. Ok, ich habe das Versprechen nun gebrochen nach ca. 59 Jahren. Ach, was muss Liebe schön sein. Meine ersten öffentlichen Kämpfe waren Rahmenkämpfe, die nicht zum Mannschaftsresultat zählten, und obwohl ich sie gewann, war Arndt nicht zufrieden, denn ich hatte mich leider nicht an seine Hinweise gehalten, ein typisches Verhalten von rohen Anfängern. Erfahrene halten sich den Gegner auf Distanz und stechen auch beim Rückzug mit der Auslegerhand zu und sammeln somit Punkte. Angreifen muss vorsichtig und geplant geschehen und immer unter guter Deckung. Als ich dann offiziell in die Mannschaft eintreten durfte, habe ich 6 Kämpfe gewonnen, wobei ich mich wirklich nur an den ersten erinnern kann. Wir boxten gegen Karl Marx Stadt und im Umkleideraum sitzend spielten die Veranstalter immer dieselbe Platte, Vaya con dios bis ich endlich dran kam. In der dritten Runde hatte mich mein Gegner am Seil und Frauen in der ersten Reihe schrieen und irgendwie hat mir das geholfen und ich gewann. Ich muss hier bemerken, dass der Sport auf jeden Fall fair gehalten wurde indem man die Paarung der Anfänger ausglich. Auf der Heimfahrt im Bus sass Löwe neben mir, der ja ein Sachsen-Star war und den sich Dynamo für diese Veranstaltung geliehen hatten. Als der mir sagte, dass ich eine gute Linke habe war ich im Himmel. Keiner meiner Lieben kam jemals zum Zuschauen; die Mädels aus Angst und Vatl um nicht wohlwollend zu erscheinen obwohl ich später erfuhr, dass er die Zeitungsausschnitte sammelte. Neben meiner Unerfahrenheit hatte ich noch einen Nachteil im Ring. Vatl war mein Friseur und wenn er meine Haare vor kämmte, schnitt er sie an meinem Kinn entlang ab. Kurzer Rubbatzschnitt, wie ihn alle Boxer trugen, erinnerte ihn zu sehr an die Russen. Es muss doch so ulkig ausgesehen haben, wenn ich im Ring meine Haare zurück schütteln musste wie ein nervöses Pony. Nun machte sich Vatl Kummer, dass die ‘Kommos’ mich vielleicht aufs Korn nahmen um beim Boxen zu bleiben und so musste ich Herrn Arndt sagen, dass ich aufhören müsse worauf der gute Mann uns zu Hause besuchte. Im Handumdrehen sprachen er und Vatl natürlich über ihre Zeit im Krieg und dann über Politik und sie verstanden sich glänzend. Aber trotzdem einigten sie sich, dass ich am Ende der Saison aufhöre zu Boxen. Und dann besuchte uns auch Berninger und das war ein Spiegelbild von Arndt’s Besuch. Wieder sprachen er und Vatl übern Krieg und spekulierten darüber wie die ganze Weltgeschichte anders geworden wäre, wenn man Hitler umgebracht hätte als er den Barbarossa Feldzug plante. Diese Frage haben sich wohl Millionen gefragt. Was mich stark verwunderte war, dass Berninger seine Meinung auch über die DDR-Politik in meiner Anwesenheit äusserte und seine Meinung war ja dieselbe wie Vatls und fast aller anderen, die ich kannte. Ich wurde nicht einmal zum Schweigen dieser Gespräche gebeten; solches Vertrauen erfreute mich. Kein Wunder, dass ich für die nächsten zwei Monate der Spitzenlehrling des Monats wurde mit dem Wimpel auf meinem Werkplatz. Normalerweise hing ich zwischen 80 – 90 Prozent aber für den Januar und Februar bekam ich 108 und 106 %; es ist nicht immer wichtig was man kann sondern wen man kennt, lieber Leser. Im zweiten Lehrjahr musste ich nun einmal die Woche zur Abendschule gehen welche Fächer waren: Technisches Zeichnen, Projektion und Entwurf, obwohl wir von denen auch etwas in der Fachschule erhielten. Apropos Fachschule. In unserer Brigade hatten wir vier Jungs mit Oberschulabitur und einer davon war Walter Zimmermann, ein Witzbold. In ’ner Pause hatten wir uns Witze erzählt und Walter sagte mir ’ne Variante vom Erlkönig, „Wer reitet so spät bei Nacht und Wind, es ist der Vater mit seinem Sohn, kurz danach bauten sie einen Sturz, das Pferd war zu kurz“. Diese Version hatte mich zum Lachkrampf gebracht, Ich war hilflos am Lachen als unser Chemielehrer reinkam und als ich nicht aufhören konnte, wollte er den Grund wissen und tränenlachend versuchte ich das Ding zu wiederholen aber es dauerte ’ne Weile, wie das so ist, wenn man nicht lachen will. Der gute Mann fand das aber Gott sei dank lustig. Er hatte ein sehr pockennarbiges Gesicht, weil eins seiner chemischen Experimente mal schiefgegangen war. Er war ein feiner Lehrer. Die Abendschule war in der Lessingschule und machte uns ordentlich Spass, denn es war alles brauchbares Wissen für unseren Beruf. Eins unser Fachbücher war W. Friedrichs Tabellenbuch für das Metallgewerbe, welches ich heute noch besitze. Einer in der Klasse hatte auch schon sein Abitur hinter sich und kam mit ’ner 125er NSU angefahren, die wir natürlich liebevoll bestaunten uns aber wunderten wie er zu diesem Westprachtstück gekommen war. War sein Vater ein Bonze? Als er mir einmal anbot mit der Maschine ums Viereck zu fahren, lehnte ich es ab, denn ich befürchtete, dass er mich vielleicht politisch engagieren wollte. Man musste ja so vorsichtig sein. In den letzten 6 Monaten unserer Lehrzeit wurden wir für unsere praktischen drei Tage der Woche nun in unsere zukünftigen Buden eingeführt. Die Fachschule mussten wir aber weiterhin besuchen. Meine Bude war in Paunsdorf direkt gegenüber dem Strassenbahnhof. Sie war früher ’ne Mannesmann Filiale gewesen. Meine Gruppe war die Engelmann Brigade, geführt von Kurt Engelmann. Der Mann hatte ein nervöses linkes Auge, das immer bissel zuckte und wenn ich ihn nervös machte, zuckte es noch mehr. Überhaupt waren da einige Beschädigte dabei. Hans und Erwin waren schon in ihren 60er Jahren und kamen mit der Eisenbahn angefahren von auswärts. Hans war total taub und Erwin hatte ein Glasauge. Ein Geselle der Handschuh genannt wurde, hatte auch ein Glasauge, das immer wässrig aussah. Karl war ein jüngerer Mann, der gerade seine Volksarmeezeit hinter sich hatte. Es war eine Riesenhalle mit zwei Hallenkränen die hoch oben auf Schienen liefen. Die Kranfahrer waren alles Frauen. Da wurden interessante Projekte angefertigt, Eisenbahn Tieflader, Brücken und auch Hallenkräne. Wir mussten grosse T-Träger und Doppel T-Träger anfertigen deren Teile aus grossen Blechen autogen geschnitten wurden. Die gebrannten Seiten mussten wir ewig schleifen mit Pressluft-Schleifmaschinen, denn alle Seiten mussten glatt sein ohne Ratzer drinn. Träger zusammenbauen hiess dass wir die Teile zusammenheften mussten mit elektrischen Schweissen. Obendrauf kamen noch Verstärkungslamellen, diese wurden von uns nur angeheftet, die Berufschweisser vervollständigten alles. Schweissen fand ich ’ne langweilige Arbeit und ich glaube, die Berufsschweisser haben da oft Nickerchen gemacht dabei. Da sie ja dauernd in dem Qualm waren bekamen sie einen Liter Vollmilch am Tag zugeteilt. Nach dem Schweissen waren die Riesenträger verbogen und die mussten wir mit grossen Autogenflammen ausrichten, was ich ja erstaulich fand. Man musste da Keile erhitzen am Aussenbogen und dann beim Abschrecken mit kalten Wasser sah man wie die Brocken sich ausrichteten. Lamellen wurden zuerst darauf geschraubt und später vernietet. Nieten mussten wir auch lernen obwohl es da Berufsnieter gab. Eine Niet-Kolonne bestand aus einer Frau, die die Niete ‘kochte’ und mit ’ner Zange dem Niet-Vorhalter zuwarf, der das glühende Ding mit ’nem Trichter auffing und es flugs ins Loch schob und seinen Halter dagegenstemmte; dann fing der Nieter an auf der anderen Seite den Nietkopf zu formen mit seinem Presslufthammer. Das musste gelernt sein. Die armen Frauen standen Sommer oder Winter vor den heissen Öfen, die mit kontrollierter Pressluft die nötige Hitze brachten. Die mussten da ganz schön aufpassen, denn wenn ein Niet zu heiss gekocht wurde, war er nutzlos und wenn zu kalt, dann füllte er das Loch nicht straff genug und der Kontrolleur wies es zurück und dann musste der Niet ausgebrannt und erneuert werden. Ein ruhiger Geselle in unserer Brigade war Heinz Lipfert. Der Junge war nur drei Jahre älter als ich und hatte schon ein Motorrad, ’ne alte 250er DKW mit der er jedes Wochenende nach Hause nach Altenburg fuhr. Er war ein ganz ruhiger Kerl und mit dem befreundete ich mich sofort, weil der auch ein Motorsportanhänger war; gehörte sogar einem Klub an, wo bekannte Renner Mitglieder waren. Einmal war ich Gegenhalter beim Nieten und ich musste in einen grossen Doppel-T- Träger reinkriechen wo mir die Nietfrau die Niete zuwarf und ich musste mit ’nem Pressluftstemmer gegenhalten. Der Krawall da drin beim Nieten war irrsinnig und alles was wir als Gehörschutz hatten, war Watte in den Ohren. So ’ne Arbeit für immer zu tun wäre Wahnsinn gewesen. Ich musste auch Schichten arbeiten; Tagschicht von 7–15.00 Uhr und Nachmittagsschicht von 15–23.00 Uhr. Unsere Lehrwerkstatt lud uns zum Tanzunterricht ein, und beinahe meine halbe Ernst-Thälmann- Brigade musste sich bei einer Tanzschule in Paunsdorf unweit des Strassenbahnhofes vorstellen. Das Gebäude war eine zweistöckige Villa, deren Besitzer bestimmt in den Westen getürmt waren. Die Tanzlehrer waren zwei junge Männer, die uns erst mal Verhaltensregeln lehrten und auch Kleidungstipps gaben: also Anzug, Schlips, saubere Schuhe und gute Manieren. Es war interessant, von meinen Lehrkumpels zu erfahren, wo sie alle ihr Praktikum machten. Wir waren aber nur 10 Mann beim Tanzen, das bedeutete, daß über 20 von unserer Brigade abgesagt hatten. Wir mussten uns den 10 Mädeln vorstellen und kurz was über unser Leben berichten, und dann mussten die Mädels dasselbe tun. Es wurde uns geraten, Partner zu wechseln, aber die Regel konnte modifiziert werden, und wir machten das auch. Unsere Kapelle war ein Grammophon, und das klappte wunderbar, denn unsere Lehrer hielten ja oft inne, um uns zu korrigieren. Es war ein tolles Vergnügen. Auf dem Bild oben links ist Eberhardt mit seiner Partnerin. Eber hatte mit mir bei Dynamo Leipzig angefangen zu boxen, hörte aber gleich wieder auf
Die Tanzklasse. Die zwei Mittelpaare unten waren unsere beiden,wackeren Tanzlehrer. Links oben sind Eberhardt und ich mit unseren „Süssen“. Wir tanzten Sonntag Nachmittag von 4 bis 7 Uhr, und die Zeit verflog rasend. Wir lernten Foxtrott, Tango, Swing, Moderner und Wiener Walzer. Rock ’n’ Roll war verboten, aber Swing war ja ziemlich ähnlich. Nach und nach hielt man sich doch langsam an dieselbe Partnerin. Meine war zuckersüß. Sie hatte meine Größe, war schlank und hatte ein Glasauge, aber das war überhaupt kein Problem für mich. Am Ende des Kurses gab es Entscheidungstänze, und meine Kleine und ich gewannen den Wiener Walzer. Wir hatten bei dem Ball auch hohe Gäste vom Rat der Stadt Leipzig, und einer von ihnen gratulierte uns zu unserer „Kunst“ und strahlte, daß wir alle wunderbare Vertreter der Kultur unserer Republik seien. Den Schluss seiner Rede werde ich nie vergessen und wir mussten uns arg das Lachen verbeissen: Wenn isch Mansche dor heidschen Juchend sähe in ihrn Bogie-Wogie Schuhen und ihren Bogie-Wogie Hosen und ihrem BogieWogie Haarschnit, dann werds mir ibl, und wir klatschten eifrig und konnten nun endlich lachen. Ich hatte mein Püppchen schon zweimal nach Hause begleitet, denn es waren nur drei Haltestellen vom Strassenbahnhof. Sie wohnte nicht weit von der Emmauskirche. Der letzte Aufwiedersehens-Kuss war ganz schön lang. Aber ich musste dem lieben Kind erklären, daß ich nicht in der Lage war, mich zu binden, und sie hat das still angenommen. Nach dem letzten Kuss bin ich beinahe kreuzbeinig zurück zur Haltestelle geschlichen. Eines Nachts als ich auf meinem Heimweg bei der Grünen Schenke umsteigen wollte, kam ein russischer Laster angerast und fuhr rückwärts direkt zum Eck-Eingang der Gaststätte. Raus sprang die Militärpolizei und stürmte rein ins Lokal und im nu schleppten sie russische Offiziere raus und warfen dieselben Einer nach dem Anderen hinten rauf, dabei immer auf die armen Kerle mit Knüppeln schlagend. Diese MP’s fragten nie nach Ursachen sondern bestraften die ihren gnadenlos. Man muss bedenken, dass es bei solchen Fällen immerhin um Offiziere handelt, denn einfache Soldaten erhielten nur Gruppenausgang, schon gar nicht abends oder nachts und darüber hinaus niemals in ein Lokal; das war völlig ausgeschlossen. Es wurde erzählt, dass, wenn es zu Streit kam, schnallten die Russen ihre Koppel ab und bildeten eine Reihe mit ihren Rücken zur Wand von wo aus sie drauflos hauten. Zu der Zeit als ich in die Engelmann-Brigade kam, hatte Nikita Chruschtschow beim 29. Partei Kongress in der UdSSR seine ‘Bombe’ losgelassen über die ungeheuren Schandtaten Väterchen Stalins. Diese Versammlung, die erste nach Stalins Tod, war gefüllt mit Abgeordneten aus dem Sozialistischen Ausland. Die Abgeordneten hielten ihren Atem an und natürlich unsere Bonzen auch; vielleicht sogar die ganze Welt. Am Ende seines Vortrags fügte old Nik noch hinzu, dass Lenin auf seinem Sterbebett flehte ja nicht Josef Vissarionovitsch Dschugashvilli (Stalin) ans Ruder zu lassen. Derselbe machte sich dann bald dran alle Zeugen davon umzubringen, der Beginn seiner Massenmörderei. Natürlich hörten wir dass alles von Westradios. Diese Sensation brachte unsere Genossen bestimmt ins Schwitzen und dazu kam dann Ende des Jahres der tapfere Aufstand in Ungarn wo die Russen gnadenlos in die Massen der Bevölkerung feuerten. Wir sassen jeden Abend bis spät an unserem Radio wie vermutlich auch unsere ganze Bevölkerung und weinten als wir hörten, wie die wackeren Magyaren nach Hilfe vom Westen riefen, die aber nicht kam. Bei Schneegestöber liefen ungarische Kinder über die österreichische Grenze mit Schildern um ihren Hals mit ihren Namen und der Bitte ihrer Eltern, die Kinder zu behüten, denn sie selber mussten weiterkämpfen gegen die brutalen Russen. Man hörte im Radio direkt Übertragungen wie eine Radiostation nach der anderen in Budapest zerstört wurde, die Sprecher bis zuletzt um Hilfe rufend. Da war der Kommunismus für mich gestorben. Die sechs Monate Praktikum verflogen wie im Traum. Nun kam unsere Lehrprüfung. Mein Projekt war, ein Hallenkranmodell anzufertigen, wie wir es in Paunsdorf hatten. Das Modell brauchte nicht motorisiert zu sein, solange man es auf Schienen entlangschieben konnte. Zeitraum war eine Woche, und ich konnte 10 Stunden am Tag daran werkeln. Das Ding zu entwerfen und zu zeichnen, dauerte schon zwei Tage. Ich konnte alle Teile verwenden, die nutzbar waren und die ich in den Hallen fand. Da habe ich aber geschwitzt, aber es machte Spaß, und ich hoffte, daß ich das fertige Produkt behalten durfte. Überall sah ich meine Kameraden auch herumflitzen in den Hallen wie kopflose Hühner, wobei wir uns Glück wünschten. Ich hatte es beinahe geschafft, aber zum Anmalen kam ich leider nicht mehr. Als Berninger sich mein Prachtstück kritisch ansah mit anderen Kollegen, sagte er grinsend: Süßer, das Ding passt, klappert und hat überall Luft – und nun mach mal was für unseren Wohlstand. Lachend schüttelte er meine Hand. Er war ein sehr guter Meister. Das Schicksal brachte meinen Schutzengel Weissmann zu unserer Bude in Paunsdorf als Kaderleiter und er begrüsste mich herzlichst. Nicht lange danach bat er mich in der Mittagspause vor der ganzen Belegschaft eine kurze Rede zu halten mit der Bitte ein Protesttelegramm nach Kairo zu senden, mit Zustimmung aller Kollegen. Die DDR machte solch Komödien laufend und Protesttelegramme gingen in alle Welt. Ich sollte die Belegschaft auffordern ihre Zustimung zu geben, dass die Engländer sofort vom Suezkanal wieder abziehen sollten, denn der Kanal war doch auf ägyptischem Boden und mit Schweiss und Blut der Ägypter gebaut worden. Dann musste ich nach Handzeichen fragen damit auf dem Telgramm steht: Die Belegschaft der Firma Stahlbau vormals Mannesmann, protestiert hiermit gegen die Besetzung des Suezkanals durch England usw. Ich stimmte dieser Meinung eigentlich zu. Wir hatten einen grossen Essraum mit Küche wo wir unser Mittagsessen bekamen, was eigentlich in allen Grossbetrieben in der DDR üblich war. Man bekam sogar ’ne Flasche Bier mit. Ich stieg aufs Podium und gab meine kurze Predigt und erbat am Ende die Zustimmung aller Anwesenden, was natürlich automatisch geschah. Dann stand plötzlich unser alter Paul, der Autogenschneider auf und schlug vor, dass wir gleich noch ein Telegramm nach Ungarn schicken sollten damit die Russen aufhören die Leute dort zu erschiessen – Totenstille. Dann hörte ich meine Stimme übern Lautsprecher, war mir aber wirklich nicht bewusst, dass ich wirklich sprach; es war sehr seltsam. Meine Stimme sagte, dass, wenn dies erlaubt wäre, ich der erste sein würde das Ding zu unterschreiben – wieder Totenstille. Als aber dann ein schallender Applaus ausbrach, wurde es mir ganz komisch zu Mute. Ich setzte mich an meinen Tisch und nach und nach verliessen die Leute den Raum und eine Frau brachte mir mein Essen aber bevor ich mich daran machte, kam eine andere Frau von der Küche und sagte mir dass Herr Weissmann mich sofort sprechen wollte. Er sass an seinem Schreibtisch, seinen Kopf in beiden Händen und stöhnte: „Warum Heinz, warum?” Sein Gesicht war so traurig als er aufschaute und das tat mir weh. Junge, was soll ich nun tun um Dir zu helfen? Die Frage war an sich selbst gerichtet. Natürlich wurde mir nun klar, dass ein Spitzel ihn sofort berichtet hatte und wer weiss wen noch. Räder waren nun bestimmt in Bewegung. Endlich bat er mich nach Hause zu gehen bis ich weiteres von ihm hörte. Ich bat ihn aber um Gottes Willen den alten Paul in Ruhe zu lassen. Paul war ein alter Witzbold. Beim Autogenschneiden hatte er immer die Schläuche um seinen grossen Körper gewickelt damit er den Brenner freier kontrollieren konnte. Das war uns eigentlich strengstens verboten, denn wenn der Acetylenschlauch bissel leckte und das Gas in die Kleidung gelang, konnte ein Funken verheerende Folgen haben und genau das war Paul einmal passiert. Ich sah ihn lodernd am Boden rollen und schaufelte Sand auf ihn. Bei dem Durcheinander hatte Paul aber nicht seine ewige Pfeife aus dem Mund verloren, obwohl er laut fluchte. Übrigens hatte unsere ganze Halle Sandboden und es machte Spass wenn ein Pressluftschlauch platzte und wir genossen einen mächtigen Sandsturm wie in der Sahara. Meine einzige Angst auf dem Heimweg war um Vatl und Muttl und sie waren sehr bedrückt als ich ihnen die Sache erklärte. Vatl stöhnte, Was werdn die Schurken Dir nun antun Sohndel? Spät am Abend kam ein Telegramm und als die Postbotin unten klingelte, dachten wir schon das Schlimmste. Mir wurde nur ausgerichtet am nächsten Tag wieder auf Arbeit zu kommen. Meine Arbeitskumpel waren sehr aufmunternd: Mensch Süsser, de Genossen genn doch garnischt machen denn wir worn ja alle dorbei und ham, dasselbe gedacht nur doss mers ehm nisch laut gesacht ham ibbern Laudschbrescher. Paul hatte Gottseidank gar nichts weiter gehört. Aber im Inneren wussten wir, dass sich was anbahnte und Vatl und Mutl befürchteten auch irgendwelche Massnahmen. Ich versuchte das ganze Ereignis herunter zu spielen. Nach drei Wochen kam wieder ein Telegramm: ich sollte am nächsten Morgen um 9 Uhr im Neuen Rathaus sein. In einem grossen Raum sassen Herrschaften und auch eine Frau, die mich intensiv studierten. Herr Weissmann war auch dabei. Als erstes wurde ich gelobt ob meiner Leistungen in der Lehre, aber dann kam die Frage ob ich meine Meinung geändert hätte über Ungarn und ich verneinte das. Nächste Frage, ob ich mit dem, was unser Staat mir geboten hat, zufrieden war und das bejahte ich. Dann stand ein 100 %-tiger Bonze auf und belehrte mich, dass ich offenbar von den Westhetzern verwirrt und verseucht worden bin, denn woher vermutete ich sonst, dass die Lage in Ungarn anders ist als wir es in unser Zeitung lasen? Ich antwortete, dass der 17. Juni laut unserer Presse von auswärtigen Provokateuren angeführt wurde doch hat man nie einen davon geschnappt. Da holte der Bonze gross Luft aber die Frau und Herr Weissmann protestierten, dass wir vom Thema abkämen. Die Frau sprach wirklich sehr fein und sie war die Einzige im Raum ohne Parteiabzeichen. Sie schlug vor, dass ich meinen 24-Monate Dienst bei der Armee absolvieren sollte und hernach könnte meine Situation nochmal diskutiert werden zwecks weiterem Studieren. Das lehnte ich auf der Stelle ab auf Grund meines Vaters bitterer Erfahrung im Krieg. Eine Uniform käme bei mir nicht in Frage aber sollte ein Feind unsere Republik angreifen würde ich sofort bei der Verteidigung dabei sein. Nun musste ich den Raum verlassen. Danach sagte man mir, dass ich meine Arbeit fortsetzen soll. Ich war mir immer bewusst, das trotzdem noch eine Wolke über mir hing aber es machte mir viel mehr Kummer, welche Angst meine lieben Eltern hatten und alles nur ob meiner grossen Klappe. Wie schön muss es doch sein immer überlegt zu reden und handeln; andere konnten es doch auch. Als ich meinen ersten, vollen Lohn erhielt, war ich überglücklich, und Kurt Engelmann meinte, daß er sehr grosszügig gewesen war mit mir – 411,65 Mark. In der Strassenbahn griff ich immer wieder in meine Jackentasche, wo meine Lohntüte war, und bei der Grünen Schenke bin ich nicht gleich umgestiegen von der 7 auf die 4, sondern lief die Breitestrasse entlang, wo ein Bäckerladen war. Da kaufte ich einen Berg Kuchen, den mir die gute Frau in zwei Beutel packte. Ich habe auf meinen Reisen in der Welt immer die wichtigsten Papiere aufbewahrt, aber das erste Lohnkuvert habe ich verloren – schade. Ich präsentierte die Kuchen und das Lohnkuvert meiner lieben Muttl, und natürlich gab’s Samstagabend eine große Feier. Da es nun schon drei Wochen her war seit der Rathaus-Vernehmung, begannen wir alle bissel zu entspannen und dachten, wenn die Genossen was ernstes vorhätten wäre schon längst was passiert. Schwager Gerhard hat über alle Backen gelacht, dass ich mit fast 16 Jahren bald genau so viel verdiente wie er. „Mensch Schunge, du werscht e Millionär wärn in unsern hibschen Schtaat, wenn de lernst deine Glappe zu halten“, grinste er. Vatl hatte einen neuen Gesellen eingestellt bei Kensings. Ralf, 24 Jahre alt, Rotkopf, ein sehr sympathischer Junge und gewissenhafter Autoschlosser. Vatl hatte ihn mal mit nach Hause gebracht, bestimmt mit der Absicht, dass ihn Renate kennenlernt, denn sie war immer noch traurig über Hans-Peter’s Tod. Tja wie dass so ist, Renate findet den Jungen auch sympathisch und Ralf kam uns öfters besuchen und eines Tages wurden wir alle zu seiner Familie eingeladen, Es waren sehr nette Leute aber Ralf’s Schwager machte kein Geheimnis daraus, dass er bei der Stasi war und das war das Ende für Vatl. Auf keinen Fall wollte er so einen in unserem Familienkreis haben. So endete Ralf’s Hoffnung. Das tat uns allen weh und es bezeugte Ralf’s guten Charakter, dass wir keine Schwierigkeiten bekamen – Renate hatte allerhand gelitten darüber. Tja, allzu diplomatisch war mein Vatl eben auch nicht, wahr? Vatl war zwar froh, dass ich nun ein Schlosser war, meinte aber, dass ich viel zu viel Zeit bei Boxen und Motorradrennen verschwendet hatte
39 Das Telegramm. Sobald ich Muttl sah, als ich heimkam, wusste ich, was los war, und sie reichte mir das Telegramm. Ich sollte mich am nächsten Morgen früh um 9 Uhr wieder im Neuen Rathaus vorstellen. Ich kam bissel spät angerannt, und Herr Weissmann wartete schon draußen auf der Treppe, und gerade als er mir was sagen wollte, kam ein Mann hinter mir her und sagte freundlich: Kommen Sie, meine Herrschaften, wir müssen uns beeilen, kommt, kommt, dalli. Dieselben ernsten Gesichter, dasselbe Palaver, was unser Staat mir nicht alles geboten hatte. Und auf einmal stand einer auf und fragte, ob ich bereit sei, in die SED einzutreten. Erst vermutete ich, daß das ein Scherz war, ein tolpatschiger Spaß. Keiner lachte. Das war die Bombe der Überraschung, aber innerhalb eines kurzen Moments wusste ich, daß es auch eine Art Begnadigung darstellte. Der Redner fügte hinzu, daß ich als Parteimitglied sofort mein Studium auf einer Ingenieurschule beginnen könnte. Ich sah Herrn Weissmanns kummervolles Gesicht. Ich habe keine Ahnung, wie lange dieser Moment dauerte, bis ich eine Idee hatte: Ich war doch noch keine 18 Jahre alt (das Mindestalter für Parteimitglieder), worauf der Genosse erwiderte, daß das erst mal nebensächlich sei. Was sie jetzt von mir erwarteten, war eine klare Antwort, der Rest kann später sortiert werden. Wieder war’s mir, als wenn Zeit und Verstand stillstanden. Ich hörte mich sagen, daß ich Zeit bräuchte, um mir das zu überlegen. Sofort stand Herr Weissman auf und erwiderte, daß das die Antwort war, die sie erwartet hatten, denn der Partei beizutreten ist ein sehr ernster Entschluss fürs ganze Leben, den man nie leicht nehmen soll. Als ich entlassen wurde, begleitete mich Herr Weissmann bis zur Treppe und war sichtlich zufrieden. Junge, das hast du gut gemacht, und nun nimm dir Zeit und bespreche es gründlich mit deinen Eltern und Freunden, sagte er. „Mich kannst du ja jederzeit auf Arbeit erwischen. Mach’s gut, Junge“ – und weg ging er. Ich fuhr nicht mit der Strassenbahn; mein Kopf war im Ausnahmezustand. Es war doch ’ne lächerliche Situation, grotesque, absurd und ich dachte, ich sollte Vatl einen Schnack machen indem ich ihm sage, dass ich in die Partei eintrete und anstelle Ingenieur zu studieren, Politiker werde aber ich hätte dass nicht mit ehrlichem Gesicht geschafft. Ich wunderte mich was die Bonzen sagen werden wenn ich das Angebot ablehne. Es wäre doch Irrsinn mich irgendwie zu bestrafen bloss weil ich ihr Angebot ablehnte aber dann wusste ich ja, dass die Leute einem das Leben schwer machen können auf ihre Art. Und wieder sahen meine armen Eltern kummervoll aus am Abend, und wieder schlaflose Nächte. Endlich meinte Vatl, daß ich früher oder später sowieso vor diese Wahl gestellt würde, und dann kann es passieren, daß ich dann als Ingenieur keinen Posten bekäme und vielleicht wieder als Schlosser arbeiten muss. Und sogar das könnten diese Kerle versauen, und ich endete schließlich irgendwann als Hilfsarbeiter. Aber dann einigten wir uns, daß Gerhard und Claus doch ein gutes Auskommen hätten, und Arbeiter zu sein ist doch wohl keine Schande, überhaupt nicht. Am nächsten Tag auf der Arbeit kam Weissmann in die Halle und bedankte sich noch mal für meine „weise Antwort“. Ich sollte mir ja Zeit nehmen mit meinem Entschluss. Am nächsten Nachmittag, als ich bei der schiefen Ecke ausstieg aus der Linie 4, drehte ich mich plötzlich um und ging zu unserer Polizeiwache in der Witzgallstrasse. Über diese Szene habe ich jahrelang nachgedacht und kann’s heute noch nicht fassen. Eine Minute vor dem Aussteigen hatte ich nicht daran gedacht. Der Wachtmeister, der mich kannte, war nicht da, und eine hübsche, blonde, vollbusige Frau in Uniform saß in seinem Stuhl, die ich um einen Visaantrag fragte. Ich wusste, daß seit dem 17. Juni Visa leichter erhältlich waren, denn Lothars Schwester Margrit hatte auch ihren Onkel in Kiel besuchen dürfen. Ich füllte ein Formular aus, während die Frau in unsere Familienkartei schaute, um sich zu vergewissern, daß kein anderes Mitglied von uns schon drüben war. Dann fragte sie mich nach meiner Firma, schaute im Buch nach der Nummer und rief an, und da packte mich kalte Angst. Als Kaderleiter würde Weissmann oder seine Sekretärin bestimmt antworten, und ich hatte doch nicht mal Urlaub beantragt. Wenn Weissmann antwortete, wäre mein planloser Plan sofort zerplatzt, und ich hätte in tiefer Tinte gesessen. Da rief mir mein Engel was vom Himmel zu, und ich bedeutete der guten Frau, die immer noch am Hörer hing, daß ich nur eine Woche in Salzgitter bleiben könnte, denn unsere Frauen im Betrieb hatten doch ihre jährliche Betriebsfeier am 15. September, und ich war doch in der Betriebskapelle. Hans hatte mich schon darauf vorbereitet, daß das eine Bombenfeier sein wird, denn unsere werktätigen Weiber feiern da drauflos, und das wird hochinteressant werden. Ich sehe das hübsche Gesicht der guten Frau heute noch. lötzlich hängt sie ab und stempelt mein Visum. In unserer Familienkartei waren sogar noch Passbilder von Vatl und mir, als wir damals zusammen auf Urlaub nach Salzgitter zu seiner Schwester gefahren waren, und wir sind ja auch brav zurückgekehrt. Ich weiß gar nicht, wie ich nach Hause gekommen bin, denn es war ja nur ein Traum, es musste ja ein Traum sein, und als ich aufwachte, war ich zu Hause, allein. Muttl war auf Spätschicht, und das passte mir, so daß ich Vatl erst mal einweihen konnte. Mein lieber Vater sah mich an, als wenn ich auf einmal zwei Nasen hatte. Dann nahm er sich eine Flasche Bier und setzte sich aufs Sofa. Nach einer Weile sagte er, daß die Polizistin bestimmt weiter versucht hat, in der Bude anzurufen, und wenn das geschah, würde die Polizei am Bahnhof auf mich warten. Worauf ich erwiderte, dass ich mit meinem Vater Krach gehabt hätte und wollte für ’ne Woche von zu Hause weg; gut wah? Vatl, der immer noch das Visum anschaute, meinte nun, daß die Frau überhaupt Mist gemacht hat, denn ich war ja noch nicht vollmündig und hätte das Visum gar nicht bekommen dürfen. Am Ende winkte er ab und meinte, daß das Ganze der Spaß wert sei. Nun musste ich zu Annelies rennen und ihnen Bescheid sagen, und die folgten mir gleich mit der Rudge. Dann fuhr ich zum Bahnhof, um meine Fahrkarte zu kaufen, und die Frau am Schalter merkte nicht, daß ich dem Visum nach noch nicht 18 Jahre alt war. Mein Kopf war, wie Berninger immer betont hatte, ne Rolle verfitzter Zwirn. Dann musste ich was einkaufen im Laden bei der Ecke Kurt-Günther Strasse und Riebeckstrasse und wer tippt da auf meine Schulter? Mein lieber Pfarrer Reichert, der mir alles Gute wünscht! Hat der Mann mit meinem Engel gesprochen? Musste ja so sein. Als Muttl endlich heimkam, erschrak sie, als unsere Bude voll war, aber wir waren dann schon in voller Stimmung und beschwichtigten mein armes Mütterlein. Ich war traurig, dass ich nicht einmal Lotsche Bescheid sagen konnte im Falle er bekäme Schwierigkeiten dadurch. Vatl entspannte endlich die ganze Lage, indem er erklärte, sollte ich im Westen sein, würde ich Muttersöhnchen sowieso nach 2-3 Wochen aus Heimweh zurückkehren. Und da lachten alle, denn so wars wirklich immer in unseren Schulferien; in der zweiten Woche verging mir immer der Appetit ein bissel, weil ich Heimweh bekam und wurde immer gehänselt darüber von meinen Klassenkameraden. Die Spitze war der Urlaub des Jahres zuvor, denn als wir mit der Klasse aus dem Vogtland zurückkehrten luden mich Lotsche und Waldemar zu ’ner Radtour nach Bansin an der Ostsee ein. Ich hatte natürlich zwei Reifenpannen unterwegs und in Berlin, mitten in ’nem Kreisverkehr brach mein Hinterrad zusammen und ich musste die Speichen erneuern, das Rad zentrieren und alles wieder einpacken. Waldemar konnte seinen Ärger schlecht verbergen aber mein armes Rad war ja ganz schön beladen mit meinem Gewicht und Rucksack. Als wir endlich an die See kamen, regnete es fast ununterbrochen. Freilich gingen wir trotzdem rein in die ‘Brühe’ aber die war hundekalt. Volleyballspielen im Regen war auch kein Genuss und so, nach einer Woche lud ich mein treues Gefährt auf die Bahn und reiste heimwärts. Zuhause trug ich meine Maschine in den Keller, sah in der Küche auf dem Ofen einen Topf Griess, den ich kalt auslöffelte und dann ging ich ins Bett und schlief seelig ein. Als Muttl heimkam und den leeren Topf sah wusste sie sofort, dass ihr Sohndel heimgekehrt war. Als Vatl diese Episode wiederholte, lachten alle und Gerhard sagte zu Muttl: Na da lasse ma immer ä Topp Mählsuppe offn Ofn, Schwiescherrmutter. Es war bald Mitternacht als Partheys und Horns sich verabschiedeten, aber Vatl und Muttl sassen den Rest der Nacht mit mir auf dem Sofa
41 Oberhausen. Wie wir aufs Schlegelheim gekommen waren, weiss ich nicht mehr. Dorthin sind wir erst als wir in Oberhausen landeten und das war ’ne kleine Krafttour vom Bahnhof mit unseren Koffern; ein Taxi zu nehmen kam uns nicht in den Sinn. Das Heim machte einen sehr ordentlichen Eindruck und Herr und Frau Läntsch auch. Er sah sehr erhaben und gebildet aus und seine Frau war zwar eine stattliche Brunhilde aber eine liebe Person. Das Schlegelheim hatte nur Parterre und eine erste Etage. Wieder zwei Doppelstockbetten und unser vierter Stubengenosse war Roland Linke, auch aus Leipzig. Er war der Stubenälteste, Rotkopf und ein geborener Komiker, ohne es zu wissen. Er war Maurer und hatte einen leidenschaftlichen Komplex ob seiner dürren Figur
42 Goodbye Unschuld. Sie hiess Fräulein L. und arbeitete mit noch zwei Mädeln in der Küche und als Serviererin im Schlegelheim. Unser Essen holten wir an der Theke ab aber die Mädels luden auf unsere Teller was wir wählten. Fräulein Luft war ein süsses, bescheidenes, kleines Mädel und trug eine Brille. Sie sah mich immer freundlich an und leise planten wir ein Rendezvous bissel weg vom Heim, denn es wäre wohl nicht erlaubt gewesen, sich mit Angestellten im Heim zu befreunden. Wir gingen ins Kino beim Bahnhof und hielten Hände. Auf dem Heimweg wurden wir immer langsamer je näher wir zur Schlegelstrasse kamen und dann schlug das niedliche Mädel vor, durch die Schlippe zu gehen, die parallel zur Schlegelstrasse lief und wo auch Sitzbänke waren. Von unserer Bank konnte ich über’m Zaun unser Fenster sehen und ich wusste, dass meine Meute auf jeden Fall auf meine Heimkehr wartete. Das liebe Kind flüsterte mir ins Ohr, dass sie sich so ängstigt, dass ich mich beim Boxen verletzen könnte. Es kam zum Küssen und umarmen und in meiner unteren Bauchgegend gab’s ordentlichen Druck und dann spielten unsere Hände und Lippen wohl das älteste Spiel der Natur. aber ich hörte Vatls Warnung laut und klar und er hatte so Recht wie er diese wundervollen Gefühle beschrieb und so blieb es Gott-sei-Dank bei Händekunst. Gott, das Mädel war so unbeschreiblich süss. Als sich unsere Gemüter endlich beruhigten, machten wir uns sehr langsam auf den Heimweg. Nach 8 Uhr wurde ja die Tür des Heims geschlossen und beim Klingeln machte der Nachtwächter auf und deshalb liess ich das liebe Kind, das übrigens 3 Jahre älter war als ich, zuerst reingehen und ich bin noch für ne halbe Stunde ums Viereck gewandert, dabei versuchend mein Gehirn zu beruhigen. Nach ’ner Weile wusste ich, dass wir das nicht noch einmal geniessen durften, denn es war zu riskant. Meine Zimmergenossen drangen auf mich ein Bericht zu erstatten, vor allem Emmes. Ich gestand, dass es sehr wundervoll und romantisch war aber dass meine Angst gesiegt hat. Da wurde Emmes energisch:”Mensch Du Brühhahn, Du must doch ä Mehlsuppenklaps ham. Bist Du denn dodal bekloppt Schunge? Mensch es wees doch jedes Kind dass ma bloss im rischtschen Moment den Kasper rauszieht bevor der niesst und da gann doch ibberhaupt nischt passiern. Schunge, Schunge – Schkatschpieln gannste nisch, Fussballschpieln ooch nisch, Relischon bestimmt de eens aber Mittags 13 Kleesse. Also Isch gennde verrückt wern“. Es dauerte ’ne Weile bevor ich einschlief. Beim Frühstück konnte ich nur ‘Guten Morgen Fräulein Luft’ flüstern und das war’s. Ich war total durcheinander und am Ende schrieb ich ihr einen Brief in dem ich mitteilte, dass ich sie sehr gern hatte aber weiter sollten wir nicht verkehren, denn es wäre unverantwortlich in unserer Situation sich fürs Leben zusammenzuschliessen; viel zu jung und viel zu arm. Mann, war es hart das liebe Kind hernach anzusehen mit dem scheuen, fragenden Blick. Nach zwei schmerzenden Wochen war sie nicht mehr da und ich fühlte mich als Verräter ihres Vertrauens. Am Ende tröstete ich mich, dass es so besser war als zu lügen. Das liebe Kind wird nun ’ne alte Dame sein und ich hoffe so sehr, dass sie ein glückliches Leben hatte. Meine Zimmergenossen wussten natürlich wie’s in mir zuging und das Thema wurde nicht mehr erläutert. Mein erster Kampf für ‘Ringfrei’ war gegen die Mannschaft von Post Essen. Maschke, der ja eifrig die Boxerzeitung studierte, meinte, dass mein Gegner mich verwackeln wird und so musste natürlich das halbe Schlegelheim zugucken kommen. Damals standen sich die Mannschaften im Ring gegenüber und stellten sich vor und mein Gegner war einen Kopf grösser als ich und ich hörte Emmis rufen: Ach Du Lieber Gott, mei armer Süsser und die Zuschauer lachten herzlich. Sie lachten wieder als mir Herr Linke die Bandagen umband (damals wurde das im Ring getan, so dass der Schiedsrichter das beobachten konnte) und mein Gegner über die Seile in den Ring stieg, anstatt wie wir alle, zwischen den Seilen. Und wie mein guter alter Trainer Arndt in Leipzig, sagte Herr Linke leise, Heinz, immer schön zurückgehen und mit der Linken kontern für zwei Runden und dann sehen wir wie wir’s in der dritten schaukeln und wann du loshauen kannst. Der Kampf war überhaupt kein Kampf, denn der arme Junge wurde schon nach ein paar nicht allzu schweren Schlägen ausgezählt, was ich überhaupt nicht fassen konnte. Wir schlugen Post Essen – 14 : 8. dann BC Essen – 17 : 1. I Köln unentschieden – 8 : 8. Amsterdam schlugen wir – 15 : 3. Walsum schlugen wir – 12 : 2. Leverkusen schlugen wir – 10 : 8. Gegen Leverkusen ging ich aber k.o. schon in der ersten Runde und das war wohl die beste Lehre, die ich jemals erhielt, denn ich hörte einfach nicht auf meine Trainer. In meinen 5 Kämpfen musste ich nur einmal bis zur dritten Runde boxen und das war in Köln und als mein Gegner endlich in die Knie ging, kostete es meine ganzen Reserven mich in meine Ecke zu schleppen, so dass der Ringrichter zählen konnte. Ich war total fertig. Mein Onkel Fred in Bad Düren sah meinen Namen in der Zeitung und schrieb an Vatl, dass da rein zufällig einer mit meinem Namen für Oberhausen boxt und so musste ich mich bei Vatl entschuldigen und versprach ihm am Ende der Saison aufzuhören. Gegen Amsterdam musste ich ein spezielles Training machen, denn mein Gegner war ein Neger und laut Linke waren die schwer am Kopf k.o. zu kriegen und so musste ich beim Sparren immer nach Körpertreffern zielen
Zeitungsartikel (Essen)
Gegen Walsum. Als die Holländer ankamen war ihr Mittelgewichtler ein Neger, ihr Schwergewichtler war weiss. ‘Ringfrei’ hatte feine Boxer: Die vier Kahlert Brüder, Gerhard Torkler, Klöckner, Pietrek, Markmann und Peukert u. a. Zu meinem letzten Kampf gegen Leverkusen hatte ich eine Freundin eingeladen. Brigitte, die ich durch Maschke’s Verlobte kennenlernte. Sie wollte lieber im dem nächsten Lokal warten, aber ich bestand, dass sie am Ring sass mit den anderen Frauen. Ich versprach ihr, dass mein Kampf eine Sekundensache sein wird; ich hatte Recht mit der Zeit aber nicht mit dem Ergebnis. Herr Linke war sehr verständnisvoll mit dem Boxen aufzuhören, da ich meinem Vatl dieses Versprechen gegeben hatte – und so endete meine Zeit mit ‘Ringfrei Oberhausen’. Es war eine sehr schöne Zeit. Hatte ich was gelernt dabei?
43 Zum heiligen Nürburgring. Im July 58 nahmen Heinz und ich eine Woche Urlaub, stiegen lustig auf unsere treue Vespa und ‘flogen’ in Richtung Eifelberge. Mensch, waren wir aufgeregt. Kaum zu glauben. Vor einem Jahr hätten wir nicht gewagt, davon zu träumen. Ich umschlang meinen guten, treuen, braven und finanziellen Kamerad Heinzelmann und brüllte lauter Unsinn in seine Ohren: „Genosse Lipfert, wir rasen zur Grünen Hölle wo die Geister von Caracciola, Rosemeyer, Nuvolari, Castelotti, Lautenschlager …” Heinz schrie zurück: Walter Ulbricht! Wasss? Walter Ulbricht! Ich: „Was fährtn der? Heinz: mit dor Hand Ibbern Arsch, ha ha ha, und aus Übermut bedeckte ich seine Augen und dann piepte es hinter uns – Polizei. Ich erklärte ihnen meine Blödheit und, nein – wir sind kein ‘verliebtes Paar’ und ich entschuldigte mich und lachend winkten sie uns weiter. In einem ‘Bett und Frühstück’- Häuschen luden wir ab und auf ging’s zur Strecke und mir war’s bissel traurig auf einmal als ich an Vatl dachte; Mensch, was wäre das für ein Spass, wenn er hier dabei sein könnte. Die Strecke war noch nicht geschlossen, und so drehten wir mit vollem Mut eine Runde mit vielen anderen Fans. und wir glaubten wir schnappen über, als ‘Asse’ an uns vorbeizischten, natürlich auf normalen Maschinen, aber wir erkannten sie alle an ihren Helmen. Hier waren unsere MZ – Asse und Australier, Engländer und Italiener; wir waren im Himmel. Geoff Duke brummte auf einer BMW vorüber und ich schrie Heinz ins Ohr, dass das alles viel, viel besser war als Sex und ich konnte an seiner Backenschwellung sehen, dass er grinste. Wir fuhren ums Fahrerlager herum, parkten unsere treue Maschine und sahen wo man den Zaun bissel hochheben konnte – und drunter waren wir. Es war eine grosse Wiese wo die Rennfahrer ihre Autos und Hänger parkten. Willy Scheidhauer (Ducati) wollte gerade sein Maschinchen aus seinem Bus schleppen und wir halfen ihm zu gerne. Wir kamen ins Gespräch und er riet uns unsere Mäntel, Kappen und Brillen in den Bus zu schmeissen damit wir nicht wie Zuschauer aussahen, denn Kontrolleure liefen im Lager herum. Dann kam sein Helfer mit zwei Tassen Kaffee und der nahm seine Armbinde ab und gab sie Heinz. Als ich alleine weiter ging, riet mir Scheidhauer mein Hemd auch auszuziehen und im Turnhemd zu wandern, damit ich gelassen wie ein Helfer aussah. Diesen Mann hatte ich immer noch an der Wand hängen in meiner Kammer zu Hause wo er mit Karacho in einer Kurve liegt mit seiner rot-weiss gestreiften Maschine – und hier lerne ich ihn persönlich kennen. Ich hatte wirklich Angst, dass alles nur ein Traum war. Wir schnatterten bis spät in die Nacht. Früh im Morgengrauen schossen wir leise los ohne Frühstuck, holten uns nur einen Sack Brötchen, und weiter ging’s zurück ins Paradies. Obwohl Heinz eine Armbinde hatte, kroch er mit mir wieder durch den Zaun und mein Kumpel gesellte sich wieder zu seinen Freunden und ich ging mit Turnhemd stolz einher bis ich einen Fahrer an seiner ‘Matchless’ fummeln sah. Von der Startnummer wusste ich (ich hatte mein Programm in der Hintertasche), dass es der Argentinier Gerardo Düring war. Ich kniete mich neben ihn und hielt das Auspuffrohr für ihn, das er mit ’ner Klemme zu befestigen versuchte. Der kleine Halter war vom Auspuff abgebrochen und ich schlug vor, dass ich das Ding anschweissen könnte
John Surtees mit Begleiterin an den MV- Augusta-Boxen – und ich zwinge mich, ganz gelassen auszusehen
Gerardo mit seinem „gewandten“ Helfer
50 Wir kommen herum. So schön es auch war bei Henry und Dorotka, es wurde eng für uns. Ihre Kinder mussten an einem kleinen Nebentisch essen und unsere Koffer, manche mit Kleidung, konnten wir nur in der Garage lagern und ausserdem wurde die kleine Elizabeth schon 13 und brauchte wirklich ihr eigenes Zimmer anstatt mit Alexander zu teilen und jeder sah das auch ein. Emmis zog zu seinem Boss Bob und Heinz und ich fanden ein Quartier in Mile End mit ’ner deutschen Familie. Der Mann war Bäcker und musste verrückte Stunden arbeiten. Da war noch ein Untermieter, ein Australier und uns kam’s vor, dass der Bengel ein Techtel-mechtel mit der Hausfrau hatte. Sie hatten nur einen Sohn, 18 Jahre alt, der bei der Bahn arbeitete und auf den waren die Eltern sehr stolz. Er kam nur aller 4 Wochen für 4 Tage heim und seine Eltern waren so stolz, dass er sein Deutsch vollkommen verlernt hatte. Wir mussten lachen über solchen Blödsinn und als wir Sohnemann das erste Mal sahen, antwortete er uns nur auf Englisch und wir gingen darauf überhaupt nicht ein. Den Abend bauten wir, Heinz und ich, an unseren Motorrädern herum und Herr Sohn kam zugucken und fragte uns nach ’ner Weile, natürlich auf Englisch, ob wir ihn mal ums Viereck fahren lassen würden und ich sagte ihm auf Deutsch, dass er seine armen Eltern verarschen kann aber bitte beleidige uns nicht mit solchem Quatsch und auf einmal besann er sich auf sein Deutsch – ein Mirakel! Diese Erfahrung habe ich oft gemacht hier und das scheint nur bei uns Deutschen zu passieren. Sie ‘vergessen’ angeblich ihre Muttersprache sehr schnell? Normalerweise hört man sofort, wenn ein Deutscher Englisch spricht und wenn’s damit noch hapert ist’s doch Blödsinn zu behaupten, dass man seine Muttersprache vergessen hat. Von anderen Nationalitäten hört man dass nicht. Ok, der Deutsche gibt sich sehr Mühe Englisch zu meistern in Oz, dafür sind wir bekannt, aber wenn mich jemand auf Deutsch anspricht antworte ich doch nicht auf Englisch, es sei denn man ist in Gesellschaft. Ich glaube wir Deutschen haben bissel ’ne Faszination mit Englisch und als ich ein Transistor-Radio kaufte, lag ich am Anfang oft im Bett und hörte die Nachrichten oder sonst was an, berauscht von der Sprache und Heinz lachte mich aus. Als Mr Stevens erfuhr, dass ich das Radio auf Teilzahlung erstanden hatte, bekam ich eine Lektion ob der Dummheit solche Sachen auf Ratenzahlung zu kaufen wo man doch mehr bezahlt dafür und ich musste ihm beschämt Recht geben. Mein Motorrad war ja ’ne Ausnahme gab er zu, denn das brauchte ich ja als Transport zur Arbeit. Er war wie ein Vater zu uns. Zurück zum Englischlernen: Andere Nationalitäten gehen oft zum anderen Extrem indem sie zufrieden sind wenn sie ihre 25 Wörter Englisch im Geist haben und dann, wie unser guter Kajütenlehrer Otto richtig bemerkte, sie immer ein Hindernis bleiben in der Gesellschaft und diese Leute nennt der Australier „wogs“, also unpopuläre Bewohner. Natürlich waren wir am Anfang alle wogs aber das nahm man in Kauf und spornte uns an uns zu bewähren. Eines Abends kam ich erst Mitternacht heim und da huschte unsere gute Hausfrau sehr spärlich bekleidet durchs Wohnzimmer zu ihrem Schlafzimmer. Da die Arme von der Richtung des anderen Untermieters kam, gab es kaum Zweifel und so dachten wir es war Zeit unsere Adresse zu wechseln. Unsere nächste Adresse war in Marino Rocks, damals das Ende der Welt. Heinz hatte einen Kollegen auf Arbeit der finanziell allerhand zu kauen hatte und bot uns an bei ihm einzuziehen, denn es würde ihm helfen. Heinz nahm ihn auf seinem Sozius zur Arbeit mit damit der Mann Benzinkosten sparen konnte. Uns machte das nichts aus, denn das Motorradfahren war für uns ja ein Vergnügen. Kinder hatten sie keine und die Leute waren sehr froh als wir einzogen. Eines Abends sprang des Mannes kleines Auto nicht an und er und Heinz waren da am herumfummeln als ich im Dunkeln heimkam. Offensichtlich war die Batterie schwach und ich schlug vor das Ding mit meinem Maschinchen anzuschleppen. Gesagt getan schnürte ich ein Seil an die Kiste und schleppte es an. Der arme Kerl drehte wohl durch als sein Wagen ansprang, denn er fuhr an mir vorbei und zerrte mich hinter sich her wobei ich natürlich im Strassengraben landete. Unser Gebrüll brachte ihn zur Vernunft und der Arme zitterte vor Angst als ich mir mein armes Rädchen anschaute. Glücklicherweise kein Schaden an mir oder meiner Gefährtin. Da ich bei Brookers um 6 Uhr anfangen musste, schoss ich an diesen Tag beim Morgengrauen los und, siehe da, mir Depper ging der Benzin aus in der Nähe vom Lufthafen. Ich musste mein armes Gefährt für paar Kilometer schieben bis zur ersten Tankstelle, die aber noch nicht auf hatte. Ich sass, triefend nass von Schweiss auf meiner Lieben und musste warten bis 6 Uhr. Da sah ich hinter mir über der Strasse ein Eishäuschen. Die Dinger hatte ich schon oft gesehen. Kleine, weisse Holzhütten über denen stand mit grosser Schrift SELF SERVICE und von den Buchstaben ICE hingen Eiszapfen. Schlau wie ich war ging ich über die Strasse und steckte 2 Schilling in den Schlitz und dann fing das ganze Häuschen an zu rütteln und ich sah unten eine Rutsche, die aber ziemlich gross schien für ’ne Eiscreme. In der gebückten Stellung klatschte mir plötzlich der nasse Sack, der eine Öffnung verdeckte, ins Gesicht und ein Rieseneisklotz knallte ans Ende der Rutsche. Dann ging mir ein Licht auf und ich fühlte mich nicht allzu intelligent. Dann hörte ich hinter mir eine Stimme, die bestimmt fragte ob ich dass Ding anbeten wollte oder was. Ein ute (Pritschenauto) stand hinter mir und der Fahrer wartete mit einer Kiste. Ich war so verdattert, dass ich wer weiss was stammelte und an ihm vorbeiging zurück zum meiner BSA. Als der Mann endlich losfuhr, hielt er bei mir und guckte mich an, offenbar an meiner Intelligenz zweifelnd. Seinen Kumpeln berichtete er bestimmt später, dass die wogs einen Klaps haben. Als ich Skeet diese story erzählte, dachte ich er erstickt vor Lachen und jeder in Brookers bekam die story zu hören. Richard und Cliff staunten immer wie oft ich Strafe zahlen musste wegen zu schnellen Fahrens. Damals musste die Polizei ’ne dreiviertel Meile hinter einem herfahren um die Geschwindigkeit amtlich festzustellen. Die Brüder meinten, dass man doch immer nach hinten aufpassen muss beim Motorradfahren, denn dafür hatte man doch Augen und Rückspiegel. Einmal hielt mich ein ‘Copper’ an und fragte mich wozu meine Rückspiegel da waren? Er wäre mir ’ne ganze Weile mit seiner Triumph gefolgt. Ich sagte ihm, dass ich laut gesungen hatte und er wollte wissen welchen song? Es war Johnny O’Keefe’s Save the last dance for me. Der copper sagte mir ich sollte ihm ’ne Probe geben, was ich auch tat und er lachte sich bald tot. Er liess mich aber los und meinte, dass es ’ne gute Angewohnheit wäre ab und zu in die Rückspiegel zu gucken auch beim Singen und er zog ab. Ich hatte mir aber wirklich angewöhnt Liedertexte zu lernen, denn das machte Spass und die boys auf Arbeit halfen mir immer dabei. Morgens kam immer ein Mädel mit ’nem Bauchladen durch die Werkstatt und nahm Bestellungen auf, die sie dann zu Mittag ablieferte. Auf dem Bauchladen hatte sie lauter Süssigkeiten und Kaugummi. Wir sassen immer auf Holzkisten zu Mittag und auch unser Tisch war ’ne Riesenkiste. Jeden Tag assen meine Kollegen immer pies oder pasties und ich dachte das waren Kuchen. Ich brachte natürlich meine Bemmen von zu Hause mit. Einmal war eine pastie übrig und Skeet forderte mich auf sie zu zu probieren, was ich auch tat. Als ich bemerkte, dass das Ding überhaupt nicht süss war, rannte ich zur Abfalltonne und spuckte sie aus. Die boys guckten sich an und fingen an zu lachen und ich glaubte, dass Skeet wieder einen Ulk gemacht hat und dass das Ding verschimmelt war, bis mir Nick die Sache erklärte. Nun fragten mich die Jungs ob ich nicht gesehen hatte, dass sie jeden Tag immer Tomatensosse auf ihre pasties gegossen hatten und das macht man doch kaum auf Süssigkeiten und ich war sprachlos. Aber wenn die Jungs sich über mich amüsierten, setzte sich der gute alte Birdy immer energisch für mich ein. An den Ozzie- Humor gewöhnte man sich entweder schnell oder man leidet darunter. In der Hochsaison bei Brookers liess Skeet drei seiner alten Brüder mithelfen. Sie waren sechs Brüder in der Familie gewesen; Skeet war der jüngste mit seinen 57 Jahren und Trevor der älteste nun mit 66 Jahren. Trevor sass auch immer mit uns zu Mittag und hatte ’ne seltsame Angewohnheit, denn nach dem Essen, beim Pokerspiel nahm er immer seine Zähne raus und leckte die sauber; manchmal nahm er auch ’nen Zahnstocher dazu. Dann erzählt uns Skeet wie Trevor seine Zähne verloren hatte. Die Sechs waren in ihrer Jugend alle Ozzie-Rules footballers. Sie arbeiteten zusammen im Port und in der Mittagspause wurde gerannt. Das Programm hiess ‘folge dem Führer’ und alle mussten dem Führer hinterherrennen, steigen, klettern, rennen, schwimmen. Fitness war bei ihnen immer das erste Gebot. An dem Tag war Skeet der Führer und los gings im Dauerlauf durch ganz Port Adelaide und zum Schluss sprang Skeet auf ein Schiff am Quay aber über die breite Stelle am Bug wo die Lücke ca. 4 Meter war. Alle bremsten sofort, gingen ein ganzes Stück zurück für ’nen ordentlichen Anlauf und einer nach dem anderen machten ihren ‘Todessprung’ von der Wharf übers lauernde Wasser auf die Schiffskante. Trevor nahm dreimal Anlauf und bremste dreimal und natürlich hiessen seine Brüder ihn Hanswurst, Feigling, Muttersöhnchen usw. bis er endlich aus Verzweiflung nochmal Anlauf nahm. Skeet meinte, es war ihnen klar, dass der riesenlange Anlauf alleine Trevor’s Reserven überforderten, jedenfalls, der arme Teufel sprang und in der Luft schon stand auf seinem Gesicht, dass er einen bedeutenden Fehler gemacht hatte. Er landete mit Händen und Gesicht gerade so an der Schiffskante und es war klar, dass hier Schaden entstand. Bevor sie dem armen Kerl helfen konnten liess er los und fiel in die Brühe und da mussten sie schnell sein, denn im Port gab’s Haie weil nur paar Meter weiter am Hafen entlang ein Schlachthof war. Zum Glück hatten Seemänner dem Schauspiel mit Spannung von der Kommandobrücke zugeschaut und warfen ein Tau über Bord für Trevor. Trevor verlor allerhand Zähne bei diesen Spass. Während dieser Schilderung sass Trevor da und nannte Skeet einen kompletten Bastard. Beim Gewerkschaftsbüro in der city hatte man meinen Facharbeiterbrief übersetzt und von dem Tag an erhielt ich vollen Lohn. Einmal bei einer Treibriemenreparatur rutschte mir der Daumen in die laufende Rolle und zerquetschte mir den Daumen und ich musste zu unserer Sanitätsschwester Myra gehen und das Ding täglich verbinden lassen. Wir unterhielten uns immer gut. Sie war bestimmt paar Jahre älter als ich und am Ende fragte ich sie ob sie mit mir ins Kino gehen würde, was sie bejahte. Ich freute mich sehr und erzählte das Skeet. Am Nachmittag als ich durch die Werkhalle kam sah ich ein Krankenauto bei ihrer Station stehen und dachte ein Unfall wäre geschehen und der Patient musste ins Krankenhaus geschafft werden. Später kam Skeet zu mir und berichtete, dass Myra einen Nervenzusammenbruch erlitten hat. Eine Frau sah Myra in der Damentoilette ’ne Wand mit Kot beschmieren. Ich glaubte natürlich, dass das wieder ein Skeetwitz war aber leider war es wahr. Später klopfte er mir auf die Schulter und lachte über meine Erfolge bei Ozzie- Frauen (das z in Englisch ist ein weiches summendes s). Aber er fügte ernstlich hinzu, dass ich eigentlich Glück gehabt hätte, denn wenn es nach unseren Kinobesuch passiert wäre, was hätten dann die Leute gedacht? Was tut ihr wogs unseren Weibern an? Am Zahltag prüfte Birdy ob ich vollen Lohn bekommen hatte und studierte meinen Lohnstreifen und Skeet lachte ihn aus. Birdy war mein ewiger Beschützer aber wirklich die ganze Mannschaft war sehr in Ordnung. Emmes hatte sich, bei seinem Boss wohnend, in dessen junge Tochter verliebt und natürlich lachten wir ihn aus, denn das Mädel ging doch noch zur Schule. Wir warnten ihn, dass die Sonne ihn erwischt hatte. Inzwischen zogen wir wieder um; dieses Mal nach Blair Athol zu einer Witwe Matthews und sie hatte auch einen Liebhaber als Untermieter. Was mich sehr an unserer Wirtin störte war, dass sie immer ’ne Zigarette im Mund hatte, auch beim Kochen. Als ich einmal Asche auf der Butter fand, kündigten wir wieder. Dann schlug Mr Stevens vor in seine Wohnung hinter Junction Motors zu ziehen. Hinter dem Laden war eine komplette 2-Zimmer Wohnung, die leer stand, denn die Familie wohnte ja ein Stück weg in Woodville. Es wäre gut für ihn wenn wir da wohnten, weil es eventuelle Diebe abschreckte. Das war ’ne Klasse-Idee, denn ich war ja sowieso fast jeden Abend bei den Jungs in der Werkstatt. Inzwischen hatte ich noch eine 500 BSA gekauft, die ich frisierte um beim Moto Cross mitzumachen – besser ging’s wirklich nicht. Wir hatten auch einen Fernseher (PYE) gekauft damit Heinzelmann mehr Englisch lernen konnte, denn auf seiner Arbeit sprach der Bengel kaum Englisch, weil da paar Deutsche mit ihm arbeiteten und ich gab ihm immer Pfeffer deswegen. Manchmal guckte ich auch bissel Fernsehen aber viel Freizeit hatte ich nicht. Und dann brach wieder der Wohlstand aus, denn der Junge hatte sich einen VW Käfer gekauft für 150 Pfund, Hurraah. Unsere Lieben zu Hause schüttelten nur ihre Köpfe über unser Leben hier und machten sich viel Kummer, weil sich unsere Adressen dauernd änderten. Wurden wir überall rausgeschmissen? Abends an unseren Maschinen zu basteln machte den Brüdern und mir viel Spass und meinem Englischlernen half das sehr, denn ich sprach Englisch von früh bis abends und immer wieder meckerte ich Heinzelmann an weil er am liebsten vor dem Fernseher sass, obwohl er in keiner Weise faul war; die hiesige Sprache bissel zu erweitern interessierte ihn aber leider wenig. Man hört oft, dass Englisch ’ne einfache Sprache für Deutsche sei und das mag sein aber ich bin da in manche Fallen getreten wo Wörter in beiden Sprachen gleich geschrieben werden aber ganz andere Bedeutung haben z. B. Gift. Dann gibt es Wörter, die genau gleich klingen aber total anderen Sinn haben, z. B. „Fahrt“ und wenn die Engländer hören, wenn wir uns einander ‘Gute Fahrt’ wünschen, finden sie dass höchst amüsant. Und dann die Kluft zwischen Schrift und Aussprache im Englischen ist oft bizarr, z. B. in trough, through, bought oder bough. Da gibt’s keine sensible Erklärung. Übung macht den Meister und durch Fehler lernt man am Schnellsten. Wenn z. B. bei einer Gesellschaft Philosophie diskutiert wird und man Immanuel Kant erwähnen will und spricht Kant aus wie im Deutschen, kann’s passieren, dass die Gespräche plötzlich innehalten. Ich kam in die Phase wo ich bissel selbstsicherer wurde und dadurch oft auf die Nase fiel. Ich hatte gelernt, dass der Übergang von Verb zu Hauptwort oft ein Kinderspiel ist, z. B. occupy – occupation; dominate – domination; titillate – tittilation; filter – filration, kein Problem. Dann die Ernüchterung: Zu Weihnachten luden uns die Stevens zum Mittagessen ein und es spielt keine Rolle, dass es draussen eine Affenhitze ist, ‘Christmas Dinner’ muss ein heisses Mahl sein, gefolgt von heissem Pudding und damals gab’s keine Luftkühling im Haus. Als wir zum Ende des feinen Mahls kamen formulierte ich, schlau wie ich war, meine Danksagung zurecht. The Stevens’ waren unser host und da musste ihre Güte doch hostility sein. Als ich ihnen beim Abschied für ihre hostility (Feindlichkeit) dankte, lachte die ganze Familie Tränen. Bis Mr Stevens sie zur Ruhe befahl und mich, immer noch lachend, fragte was ich ausdrücken wollte. Da erfuhr ich, dass was ein host (Gastgeber) anbietet nicht hostility ist sondern hospitality (Gastfreundschaft) ist. Mein Geist verfitzte sich; was kann denn Gastfreundschaft mit Hospital zu tun haben? Auf der Heimfahrt gratulierte mir Heinz zu meiner Meisterschaft der Englischen Sprache und ich zog ihm die Haare lang. Oft stolperte ich auch wenn ich Wörter vom Duden lernte und die dann sofort auf Arbeit anbringen wollte. Das Wort ‘immediately’ gefiel mir und am nächsten Tag wurde Barry Ball, unser Elektriker, über’n Lautsprecher sofort zur Gurkenabteilung gerufen wegen einem Stromfehler. Ich wusste, dass Barry im Heizhaus war wo ein Riesenofen Dampf erzeugte, denn mit Dampf mussten alle Geräte und Maschinen gereinigt werden. Im Heizhaus war kein Lautsprecher und so sockte ich flugs dahin und riet Barry ‘immediately’zur Gurkenabteilung zu marschieren, aber so wie ich das Wort aussprach hatte der keine Ahnung was ich meinte und so gab er mir ein Stück Kreide und bat mich es auf den Boden zu schreiben und dann lachte der Bengel hilflos Tränen. Barry’s Hochzeit war nahe und Skeet hatte, auch im Heizhaus, heimlich eine Riesenpuppe angefertigt; ein Riesending, welches in der Werkstatt am Hals aufgehängt wurde. An der Brust hing ein Schild wo ‘Barry’ draufstand. Das Ganze stellte dar, dass Barry’s freie Leben nun bald tot war. Wir alle, auch Barry, mussten uns um das Ding herumstellen und es wurde fotografiert. Dann befahl mir Skeet schnell Mrs Brand zu holen um sie mit auf dem Bild zu haben. Los raste ich wie der Wind die gute Dame zu holen und zaudernd gab sie mir ihre Hand und ich führte sie flugs zur Werkstatt. Als wir da ankamen waren meine Kumpanen weg und Mrs Brand zischte mir zu, HEINZ! Und ich, in Panik, schaute fieberhaft herum wo die Banditen hin waren. Und dann noch ein ernstes, lautes HEINZ! von der armen Dame und sie stampfte energisch davon. Ich war so aufgeregt und dann hörte ich gedrosseltes Keuchen, ersticktes Lachen und hier waren die Schurken in der Grube der Autowerkstatt und hielten sich gegenseitig vor Lachen und dann endlich sah ich was die Kerle mit der Figur, die am Galgen hing, gemacht hatten. Ein halber Meter langer, 6 Zentimeter dicker, roter Schlauch mit ’ner grossen Tomate vorne dran, hing dem Ding aus dem Hosenstall heraus. Skeet war unschlagbarer Meister des Unfugs. Samstags machten wir bei Brookers 3 Uhr nachmittags Feierabend und Heinz und ich gingen einkaufen in Port Adelaide. Skeet kam nie auf Arbeit samstags, denn er ging zum Pferderennen was er, wie die meisten ‘Ozzies’, leidenschaftlich liebte; nicht des Sports wegen, überhaupt nicht, sondern wegen Wetten. Montag morgen zeigte er mir immer eine dicke Rolle Pfundnoten, die er angeblich gewonnen hatte. Dann tippte er sich an die Nase und flüsterte, dass ‘the Missus’ davon nichts wissen darf. Einmal lernten wir Frank (Franz) Kouba kennen als er in den Laden kam bei Junction Motors und seine wöchentlichen 5 Schilling bezahlte, denn er hatte dort ein Motorrad, ’ne Tiger 100 auf Raten gekauft. Franz war ‘Beutegermane’ aus Böhmen wie er uns lachend erzählte. Er und Genia hatten 6 Kinder und sie würden sich riesig freuen wenn wir sie besuchen würden, denn Franzl war ein leidenschaftlicher Skatspieler. Genia war eine Polin und die Familie war ein lustiger Haufen. Sie lebten in Taperoo gleich bei der Bahnlinie. Franz’s Eltern, die wir Opa und Oma nannten waren auch liebe Leute und wohnten unweit davon in der Fletcher Road, Largs Bay. Natürlich musste Emmes mit dabei sein wenn’s ums Skaten ging und so wurde das eine Tradition samstags Nachmittag und wir nahmen immer einen Berg Fisch und Chips für die ganze Familie und paar Flaschen Bier und hatten unheimlich viel Spass. Aber dann bestanden Richard und Cliff darauf, dass ich mit ihnen Samstag Abend Tanzen ging im Norwood Rathaus und so verliess ich meine Skatbrüder um 6 Uhr und dann musste Opa der dritte Mann sein
52 Motorrad-Klaps. Endlich hatten Günter Zagel und Manfred Kuhnke genug Mut zusammengerafft und waren auch eingetrudelt im Lande. Manne, der inzwischen die Frau seines Lebens gefunden hatte, gesellte sich zu Emmes’ Maurerkolonne und Zagel fand auch sofort Arbeit beim Häuserbau. Da die Stevens einen älteren Bekannten hatten der gerne in die Wohnung hinter Junction Motors wollte, zogen Heinz und ich mit Günter zu Opa und Oma in der Fletcher Road, Largs Bay und die alten Leute waren sehr erfreut darüber, denn wir Drei zahlten Ihnen ja insgesamt 13 Pfund die Woche für Vollkost. Franz war seelig mit Günter’s Ankunft, denn nun konnten sie jeden Samstag bis spät einen kloppen weil ich ja zur Tanzarena in Norwood muste und Opa fielen die Augen zu nach 9 Uhr. Inzwischen war Emmes ein begeisteter Karnickelschiesser geworden, welche Kunst ihn Bob, sein Maurerboss, gelehrt hatte. Und weil Bob uns riet, dass Kängeruh- und Karnickeljagd interressant und nützlich sind, denn es wimmelt von den Dingern, schafften wir uns alle ne Knarre an. Landbesitzer (station-owners) waren dankbar, wenn man half die ‘Plage’ zu verringern. Emmes und Heinz hatten .22 Kaliber Gewehre, Günter ne 303.25 und ich kaufte eine .303 (7,7 mm.) rifle. Meine war eigentlich spotbillig, denn die gabs haufenweise von Ex-Armee Lagern Wir fanden es erstaunlich wie einfach es war Gewehre aller Art zu kaufen und die Schiesslizenz zu bekommen; diese kostete 10 Schilling pro Jahr und man bekam sie von der Polizei. Als wir unsere bei der örtlichen Polizeiwache abholten, fragte ich unseren Sergeant warum solche Waffen und Lizenzen so ohne Weiteres erhältlich waren. Der meinte lachend, dass sie der Bevölkerung raten ihre Schiesskunst beizubehalten im Falle die Deutschen fangen wieder einen Krieg an, ha ha ha. Bei diesen Witzen war meine Antwort, dass wir vielleicht beim dritten Mal mehr Glück haben werden (third time lucky). Oft fügte ich hinzu, dass es alles anders gelaufen wäre, wenn Adolf auf mich gewartet hätte. Ozzies machten zu gerne Witze über uns aber es war nie bösartig. Im Handumdrehen hatte Günter sich nun ’ne Arbeit in Woomera verschaft. Das war die Raketenstation in der Südaustralischen Wüste und seine glühende Beschreibung der Verhältnisse dort machte uns unruhig, vor allem war der Verdienst toll. Emmes meinte, wir sollten vorsichtig sein, denn Zagel vermisste uns, weiter gar nischt. Ich antwortete Emmes, dass er nicht mitreden konnte weil er sich ja total verknall hatte in Bob’s junge Tochter und deshalb hilflos verankert war. Heinz war der Nächste der ‘Busch ging’ – in die Wüste, aber ich hatte nun beim Geländerennen begonnen mit den Brüdern mit meiner ‘frisierten’ BSA wobei mir die Bengel stark geholfen hatten. Natürlich hatte ich den Spass nicht übertrieben, denn es war ein teures Hobby wenn man es ernst nahm. Meine Resultate waren natürlich dementsprechend als wir durchs Gelände flitzten auf den Strecken in Victor Harbour, One Tree Hill, Port Noarlange, Murray Bridge etc. Mein ‘Flitzen’ war mässig aber es machte Spass, viel Spass. Wieder wusste ich, dass ich das nicht gross geplant hatte sondern einfach mit reinrutschte. Kameradschaft war, glaube ich, der Hauptgrund. Um Rennfahrer zu sein musste man offizielles Mitglied eines registrierten Motorradklubs sein und unser war der Atujaraklub in Adelaide wo wir einmal im Monat an Sitzungen teilnehmen mussten. Dadurch lernten sich alle Fahrer kennen und die Atmosphere war wunderbar. Dick und Cliff hatten einen Haufen Freunde, die uns oft besuchten wenn wir an unsern Maschinchen herumbastelten. Die Meisten von ihnen hatten girlfriends, rauchten und tranken auch gerne ein Bierchen wir aber waren brave Abstinenzler sonst hätte sich Mr Stevens energisch eingeschaltet. Oft gab es zwischen den Brüdern aber heftige Auseinandersetzungen, manchmal sehr heftige und ich wurde meistens der Schiedsrichter, der am Ende lauter brüllen konnte als sie, jedoch beim Fluchen oft durcheinander kam und da mussten sie lachen. Das Fluchen in Oz ist ne gelernte Kunst und für mich war es schwierig, dass auszuschalten wenn normale Leute anwesend waren und das ging vielen Neu-Ozzies so. Da ich ja keinen Bruder hatte, nahm ich an, dass es eben so sein muss zwischen Brüdern, das Streiten. Während ich mit diesen Zeilen schwitze sind wir Dreie immer noch die besten Freunde hier in Perth, 50 Jahre später. Bei Brookers hatte ich ein liebes Mädel kennengelern, Franzis, eine Jugoslawin. Sie war bissel älter als ich und wir sind paarmal ausgegangen. Sie wohnte in Untermiete mit einer freundlichen jugoslawischen Familie mit denen wir einmal zum Jugoslawischen Klub in Hindmarsch gingen. Es wurde getanzt und getrunken und gesungen, eine genussvolle Atmosphäre aber ich lernte dabei, dass zwischen Jugoslawen und Serben eine Kluft war. Franzis erklärte mir, dass sie Serben sofort erkennen könnte und ihre Freunde bestätigten das. Hier sind die Leutchen feste am Feiern und doch hielten sie sich auseinander, was ich sehr primitive fand. Natürlich verliebten wir uns und „the boys“ lachten mich aus und warnten. Am Ende musste ich natürlich meine ‘Stärke’ beweisen und so trennten wir uns, Franzis und ich und nicht lange danach zog das Mädel nach Melbourne. Rita und ich schrieben uns regelmässig, natürlich in Englisch und wir freuten uns, dass wir damit gut zurecht kamen. Da Rita einen freien Flug bekam von Qantas kam sie mich einmal besuchen für vier Tage und wir waren plötzlich sehr verliebt. Das Verhältnis unter Kontrolle zu halten war verdammt schwer und wieder, wäre ich ohne Dick und Cliff gewesen, wäre es bestimmt anders, vollkommen anderss gelaufen; glaube kaum, dass ich genug Mut und Vernunft gemustert hätte solo zu bleiben. Beim Abschied kamen uns beiden die Tränen. Rita war ein sehr, sehr liebes Mädel. Ein Kunde von Stevens war Siggy Senkiewicz, ein Pole, dem eine Transportgesellschaft gehörte. er kam oft mit seiner Australischen Frau Sandra zu uns in die Werkstatt. Siggy hatte auch eine Rennmaschine, eine 500-er Norton mit der er aber nur einmal im Jahr raste und zwar in Port Pirie wo jedes Ostern die Australische Speedway Meisterschaft stattfand. Es war ein 1-Meilen Sandkurs und Rennfahrer vom ganzen Land trafen sich da beim speedcarnival. Siggy bot mir an seine 500er Matchless dort auszuprobieren und wie konnte ich da nein sagen? Freitag war Training, Samstag die Meisterschaft, Sonntag war frei und Montag war die Meisterschaft für die Geländefahrer (scrambles) nebenan. Ich war im ‘achten’ (noch höher wie der Siebente) Himmel. Bei so einer langen Strecke war die Gefahr verhältnismässig gering, denn die Kurven sind da so gross. In 12 Jahren gabs da nur einen Todesfall wo ein Sanitäter auf die Strecke gerannt war um einem gestürzten Fahrer zu helfen und wurde von einem anderen angefahren. Wir landeten an der Strecke Donnerstag Abend und bauten unser Zelt auf. Mr Stevens hatte uns seinen Rover mit Hänger geliehen für unseren Maschinentransport. Heinz war mitgekommen, denn er hatte Urlaub genommen von Woomera. Die Atmosphere war unbeschreiblich erregend. Hier waren die Verrückten und ihre Familien von allen Oz-Staaten und bauten ihre Zelte auf, grillten, fachsimpelten über technische Weisheiten, arbeiteten an ihren Geschossen und schoben sie an, so dass es laufend donnerte im Lager. Das Theater ging bis spät in die Nacht denn am Morgen begannen die Qualifizierungen. Siggy versicherte mir, dass ich and der ‘Matchy’ nichts zu tun hatte; sie wartete bangend auf mich. Früh morgens um 2 Uhr dachten wir das Ende der Welt war gekommen als ein HRD Seitenwagengespann losdonnerte wovon wir nur von der Zeltwand getrennt waren. Der Fahrer war erst spät von Queensland angekommen und wollte das Ding ausprobieren. Hier standen wir alle in unseren Unterhosen und lachten uns krank. Mensch wie herrlich wäre es doch wenn meine Lieben zuhause das sehen könten, dabei sein könnten. Diese Gedanken ernüchterten mich immer wieder. Das Einzige was ich Siggy bat nach dem ersten Traininglauf war die Übersetzung an der Matchless zu erhöhen, d. h. ein kleineres Zahnrad ins Hinterrad zu schrauben. Es gab Kategorien für Strassenrennmaschinen, spezielle speedway bikes und Seitenwagen. Wie bei allen Speedwayrennen dürfen Maschinen keine Bremsen haben. Die Speziellen haben auch keine Gangschaltung. Die Fahrtechnik bei diesem 1-Meilenkurs ist nicht sehr anspruchvoll. Die Strecke ist 25 Meter breit, die Kurven gross und neben der Strecke hatte man noch einen 10 Meter Grasstreifen vorm Zaun hinter dem die Zuschauer sassen. Also man brauchte beim Rennen nie Gas wegzunehmen
53 Woomera, die Raketenstation. Skeet war sehr verständlich als ich ihm von meiner Woomera-Absicht erzählte. Also: neuer Job in Woomera als Werkzeugschlosser. Die Hochsaison war ja vorbei bei Brookers und bei der Nächsten wäre ich vielleicht wieder zurück meinte er. Aber erst musste ich gründlich untersucht werden bevor ich in die Wüste erlaubt wurde. Der Doktor fand, dass meine Mandeln etwas geschwollen waren und dass es besser wäre, die raus zu operieren
55 Rowley Park Speedway. Anfang Oktober war es Zeit in Woomera zu kündigen, denn ich musste mir ne Speedwaymaschine kaufen und mich für die Speedway Saison, die im November begann, vorbereiten. Die Saison lief für immer drei Monate. The boys und ich erkundigten uns und wir fanden eine JAP die Rolf von der Borch, der schon drei Saisons hinter sich hatte, verkaufte. Skeet nahm mich sofort wieder auf und meinte, dass mein Oz-speak sich allerhand verbessert hatte und wenn ich einen normalgeformten Kopf hätte, könnte ich manchmal als ein Ozzie angenommen werden und Birdy Ball protestierte ich sollte Skeet immer ignorieren. Wenn wir einen Haarschnitt brauchten gingen wir sonntags zu Birdy und manchmal war auch Skeet dabei und natürlich wurde das immer ’ne Komödie. Ich sah Bilder von Birdy in Uniform vom ersten Weltkrieg und Skeet meinte, dass der Kleine damals den Krauts die Kehle durchgeschnitten hätte wenn er die Chance gehabt hätte wie er sie jetzt hat und Birdy riet Skeet to shut up. Der Rest unserer Werkstatt nahmen mich auch gerne wieder auf und ich fühlte mich wieder zu Hause. Nächsten Morgen kam ich mit meinen Lederhosen auf Arbeit und machte Parademarsch. Skeet sprang in sein Auto, raste heim und kam mit seiner Kamera wieder. Ich hatte ja inzwischen meine Overalls an und Skeet zog seine aus und wollte in meine Lederhosen. Seine Beine kamen rein aber wir konnten unmöglich vorne zukriegen ob seines Kugelbauchs und so schnürten wir einen Strick herum und mussten Bilder knipsen. Dann befahl er mir meine Ledernen wieder anzuziehen und ich musste durch die ganze Fabrik marschieren Skeet hinter mir her mit der Kamera. Die Frauen haben sich gegenseitig gehalten vor Lachen bis ich dann mitkriegte, dass der Clown hinter mir Faxen machte indem er seinen Kamm als Schnurrbart hielt um wie Adolf auszusehen und obendrein versuchte Parademarsch zu machen; seine Beine waren aber viel zu kurz. Zurück zur Werkstatt befahl er Birdy meine Hosen anzuziehen, der sich aber verzweifelt sträubte. Skeet rang mit ihm am Boden bis er des armen Kerlchens Hosen runter hatte und dann resignierte der Arme ausser Atem und liess sich meine Lederne anziehen. Uns kamen die Tränen vor Lachen, denn der arme Greis hatte sehr dünne, weisse Beinchen. Skeet meinte, die sahen aus als wenn Birdy zwei weisse Schnürsenkel aus dem Hintern hingen. Inzwischen hatten Dick und Cliff allerhand Erfolge gehabt beim Scrambling (Moto Cross). Cliff’s zweiter Vorname war Harry nach seinem Onkel, Mr. Stevens’ Bruder, der bei einem Vorkriegsrennen auf der Isle of Man TT tödlich verunglückte. Mr Stevens winkte mir ihm in die Küche zu folgen für ne Tasse Tee und dann bekam ich wieder eine ernste Predigt. Er war der Älteste von fünf Brüdern gewesen und musste seinem Vater, ein strenger Jude, im Motorradgschäft helfen wobei der Vater ihm lehrte das Leben ernst zu führen und so musste er die Motorradrennerei aufgeben. Alle Brüder blieben aber Motorradfanatiker. Er zeigte mir paar seiner alten Rennfotos. Dann kam die Moral: er machte sich Kummer über meinen planlosen Lebensstil und nun wo ich zum Speedway wollte, was wäre meine Lage wenn ich verletzt werde? (Im Ganzen gab es in Rowley Park 9 Todesfälle). Hatte ich finanzielle Reserven? Ein gebrochenes Bein oder Arm könnte mich blank machen. Ich musste ihm zwei Versprechen geben: 1. Ich musste ihm meinen wöchentlichen Lohn geben, wovon er mir nur das gab was ich unbedingt zum Leben brauchte. 2. dass wir jetzt Beide zur Bank gehen um mir ein Konto zu öffnen. Sofort kam mir Herr Weissman der Jude in den Sinn und der liebe alte Herr Beck. Diese Männer hatten einen starken Einfluss auf mich gehabt. Mr Stevens meinte, dass er seine Jungs ihren Sport folgen liess aber er bestand drauf, dass sie sein Geschäft ernst nahmen und dass sie sparten was er überprüfte. Neben Junction Motors hatte er in anderen Häusern investiert; führte eine Schiessbude in Semaphore während der Kleinmesse dort und hatte auch ne Menge Billiardtische in verschiedenen Hotels in der Stadt, die mit Münzen betrieben wurden. Ja, er wolle, dass seine Jungs ihr Leben geniessen aber ihre Pflicht musste immer zuerst kommen. Ich dachte an meinen Vatl und wie der sich freuen würde über meinen Seelsorger hier. Mr. Stevens verbot aber rauhes Fluchen in seiner Gegenwart und das war nicht einfach einzuhalten, denn Fluchen in Oz ist vollkommen natürlich unter Männern. Man musste es aber in Gegenwart von Frauen unterlassen. Drei Samstage bevor die Rennsaison in Rowley Park begann war Samstagnachmittag Training. Speedway geschah normallerweise immer abends bei Beleuchtung aber das Training bei Tageslicht. Manchmal kam es mir vor, dass ich wiederum in diesen Sport ohne ernste Planung gerutscht bin. Sofort merkte ich, dass speedway ne sonderbare Kunst ist. Normalerweise vermeidet man mit nem Motorrad ins Rutschen zu kommen aber hier musste man praktisch immer seitwärts rutschen, denn die Geraden waren sehr kurz. Wenn man nicht mit Vollgas in die Kurven ging und die Karre nicht niederdrückte, dann war man zu langsam und die Wand hatte eine magische Anziehunskraft. Wenn man da rankam, gewann die immer. Es war eine 1 Meter hohe Wand aus Eisenbahnschwellen und darüber war noch ein 1 Meter hohes Eisenrohrgitter. sie musste solide sein,, denn die Seitenwagen waren schwere Maschinen und die speed cars wogen bedeutend mehr und trotzdem gab es Fälle wo die Karren über diese Wand flogen. Australier fingen normalerweise schon als Kinder an Seitwärtsrutschen (sliding) zu üben mit Fahräder; the skids wurde dieser Sport genannt. Ich Pinsel hatte paar Runden in Vatls Hof mit allerlei Fahrzeugen im ersten Gang und mit Gerhard’s Rudge geleiert; Vespa-erfahrung und kaum zwei Jährchen mit der BSA auf der Strasse; nicht gerade eine gründliche Ausbildung für speedway racing und das machte sich sofort bemerkbar. Beim Moto-Cross hatte ich nie den killer instinct, denn solange noch paar Fahrer hinter mir waren, war ich’s zufrieden; nicht gerade die nötige Einstellung eines Rennfahrers. Heinzelmann hatte auch aufgehört in Woomera, denn er wollte ja dabei sein als mein Helfer. Beim letzten Samstagtraining kam Jack Young zugucken. Das war Australiens einziger Doppelweltmeister (1951 & 52) damals und hatte sich letztes Jahr zur Ruhe gesetzt. er war ein unheimlich sympatischer Kerl. Hier war er, in kurzer Hose und Schlappen mit ner Flasche Bier in der Hand und witzelte mit uns. Er war in der Pub um die Ecke gewesen, hörte unsere Motoren und kam mal zugucken. Unser örtlicher Meister war Jack Scott, der in England für Southhampton ritt. Im Englischen fährt man nicht Motorrad sondern man reitet es. Jack Scott lud Youngy ein ne Runde zu drehen auf seiner Maschine und nach bissel Zögern willigte der lachend ein. Einer lieh ihm Stiefeln und ein anderer einen Sturzhelm und wir schoben ihn an. Mir blieb die Spucke weg als ich beobachtete. Da gabs kein Schlenkern. Mit voller Pulle, vollkommen seitwärts sah es aus als wenn er an einer Leine befestigt herumgeschwungen wurde. So sah ein Meister aus. Als er in die Pits gerollt kam kippte plötzlich der Motor in den Dreck. Bei speedway bikes ist der Motor Teil des Rahmens und da sich zwei Bolzen losvibriert hatten, sackte das Ding ab. Wäre das ’ne Minute eher passiert hätte es verdammt böse Folgen haben können. Youngy lachte Scotty an und sagte er könne sich die Karre an’n Arsch stecken. Ich habe solches Malheur beim Rennen gesehen, wenn ein Motor zerfällt, z. B. wenn eine Pleuelstange bricht und des Motors Gehäuse auseinander platzt; dann spreizt sich der Rahmen und verankert sich in der Bahn und dann segelt der Reiter, nicht gerade lustig, durch die Luft. Mir ist das mal am Start passiert; immer ein teurer Krach
Rowley Park Programm. Mein erster Abend
Manchmal bin ich tatsächlich nicht gestürzt
57 Holdens Autofabrik, Woodville. Mir war’s zu peinlich, wieder zu Brookers zu gehen, denn es würde aussehen, als ob ich die Firma wirklich nur aus Bequemlichkeit nutzte, aber Mr. Stevens dachte, ich war ein Spinner. Ich fand eine Arbeit bei Holdens als Schlosser in der Abteilung für Betriebserhaltung, also nicht direkt in der Autoproduktion. In unserer Werkstatt arbeiteten wir in Paaren, d. h. immer ein Schlosser und ein Schweisser. Wir waren 5 Paare, und Jimmy war unser Vormann. Er war 60 Jahre alt und ein geborener Junggeselle, der noch bei seiner Mutter lebte. Er kaute immer Streichhölzer. Die Paare waren Conrad, ein Ukrainer, und sein Schweisser Harry. Con nahm das Leben sehr ernst und wurde deshalb immer gehänselt. Harry war sein komplettes Gegenteil und immer auf Schabernack bedacht. Trevor war ein geborener Clown, und sein Schweisser war Archy Blair, der mich so an Paul, unser Autogenschneider in Paunsdorf, erinnerte, denn seine Lederschürze nahm er nur ab, wenn er auf den Abort ging. Doby war der erste Surfie den ich kennenlernte und für ihn war das Leben Sex, Surfing und Sex. Sein Schweisser war Bert, der ruhigste Mann in unserer Abteilung. George Fairfax stotterte unheimlich; ein trockener Witzbold und sein Schweisser war Laurie Cook, einer der spritzigsten Ozzies im Lande. Freddy Billinger war mein Schweisser und ein Komiker, der nie lachen wollte. Zu meiner Einweihung teilte er mir klar mit, dass ich nur ein ‘bloody Hun’ bin dem man nie trauen könnte und dass ich einen Quadratkopf habe und bestimmt hier bin als Nazi-Agent. Ich gab ihm sofort Recht und flüsterte, dass ich tatsächlich unter Auftrag von Berlin hier war. Mit einem Namen wie Billinger wäre er deppert seine Deutsche Herkunft zu verleugnen und dass er mit dabei sein muss bei unserer Planung für’n dritten Weltkrieg. Freddy verbiss sich das Lächeln und meinte, dass ich gefährlich sei, denn Deutsche mit Humor – dass gibt es überhaupt nicht. Freddy hatte es nicht leicht. Als seine Frau in den Wechseljahren litt hatte man sie, wie das damals so üblich war, paarmal elektrisch geschockt und ihre Mentalität dabei total verpfuscht. Zweimal wachte er auf mitten in der Nacht und fand seine Frau mit ’nem langen Küchenmesser über ihn stehen. Australier hassen es Schmerzen zu offenbaren; sie verkleiden die mit Galgenhumor. Einmal lachte Freddy als das Thema Sex, wie so oft, aufkam. Seine letzte ‘Nummer’ hatte er vor Jahren genossen. Er hatte zwei hübsche Töchter und einen Sohn. Freddy war in guter Kondition, denn er trank nie und war auch kein Raucher. In seiner Jugend war er ein talentierter Fussballer und spielte sogar für die Oz Nationalmannschaft gegen China und Russland. Was mich freute war, dass er oft zum Speedway ging und von meinem Talent überhaupt nicht überzeugt war, denn er meinte, dass ich langsamer war als der Grader, der die Strecke zwischen Rennen glättete. Ja ich war wieder in einer lustigen Brigade, einem Zirkus gelandet. Obwohl ich nicht mehr by Brookers war, lud mich Skeet trotzdem zur Weihnachtsfeier ein. Ich entschloss mich, mir mal eine ordentlich moderne Sommergarnitur zu besorgen und Dick & Cliff meinten, ich wäre ein Homo geworden. Ich kaufte eine leichte schwarz-weiss gestreifte Jacke, ne silberne, perlmuttschimmernde Hose, krokodillederne Schuhe und ’ne Fliege anstatt Schlips. Der Verkäufer hat sich im Stillen bestimmt einen Ast gelacht und Freddy auch als ich ihm stolz diese sexy Uniform beschrieb. Er meinte, der Einzige, der das vielleicht gerne sehen würde, wäre ein Blinder. Keiner fiel um vor Lachen, als ich zu der Weihnachtsparty kam, denn die hatten alle schon einen hinter der Binde. Die Tagestemperatur war 48 Grad, und da brauchte man nicht viel Alkohol zu schlucken, um benebelt zu sein. Weihnachtsfeiern sind naürlich bissel anders als im Vaterland und meine ersten Drei verbrachten wir, wie die meisten Ozzies, am Strand. Skeet war natürlich der Weihnachtsmann und zum Jubel aller verhaute er mir den Hintern, weil ich Brookers verraten hatte indem ich zu so ner langweiligen Bude wie Holdens gegangen war. Die Hitze muss mich doch beschädigt haben, denn ich trug diese Garnitur auch zu einem Stelldichein zwei Tage später. Ich hatte Carolyne beim Tanz kennengelernt, und wir wollten zusammen ins Autokino gehen. Kurz vor ihrem Haus war ein Kolonialwarenladen (Deli), wo ich einen Blumenstrauß kaufte für sie
Die Weihnachtsfeier 1961 bei Brookers. Skeet lachte Tränen über meinen Auftritt – und mit Recht. Als ich an ihre Tür klopfte, sah ich ab und zu einen Kopf im Korridor erscheinen. Letzterer ging, wie üblich, durchs ganze Haus, und ich glaubte, ich hörte auch unterdrücktes Lachen, bis endlich ihr Bruder zur Tür kam und sagte, daß es seiner Schwester nicht gut ginge. Ich steckte den Strauß ins Gebüsch vorm Haus und fuhr wieder los. Langsam schaltete sich mein Geist ein auf der Heimfahrt, und ich musste einsehen, daß ich ’ne blöde Witzfigur darstellte. Der Australier hasst es, sich fein anzuziehen, und nach über drei Jahren hatte ich das doch kapiert. Also warum ins Drive-in gehen in Schale? Muss das Wetter gewesen sein. Dann hatte ich noch das Pech, dass Cliff mich sah als ich in unsere Wohnung schleichen wollte und der hat mich nastürlich geschnappt und Dick hergerufen. Die Beiden mussten sich gegenseitig halten vor Schluchzen. Ich hatte immer mehr als genug Briefmaterial für meine Lieben zu Hause aber alles erfuhren sie doch nicht. Was auf meinem Gewissen lastete war das Speedways Geheimnis aber, Dank Mr Stevens’ hatte ich wenigstens eine Lebensversicherung, so dass meine zu Hause 5000 Pfund bekämen sollte ich mal Pech haben. Auf Arbeit musste ich alle Teile markieren, die Fred ausschnitt. Dann schliff ich diese und hielt sie für ihn, während er sie heftete. Während der Knabe dann schweisste, sang ich ihm immer Lieder vor oder erzählte Witze oder probierte neue Worte an ihm aus. Daß er das Lachen immer unterdrückte, wusste ich. Aber ich wusste sofort, wenn er’s tat, denn dann drückte er die Schweisshaube direkt an sein Gesicht und sein Kopf hielt nicht stille. Manchmal fragte ich ihn ob er lachte oder weinte wobei er nach ner Weile antwortete, dass es auf keinen Fall Lachen ist. Ich lernte immer die Texte von neuen Schlagern, die ich ihm dann vorführte und um seine Missgunst darüber zu zeigen steckte der Pinsel sich nun immer Lappen in die Ohren. George der Stotterer hatte ’ne wunderbare Singstimme und sang gerne Al Jonson Lieder für Cookie, wenn der am Schweissen war. Ich merkte, dass er beim Singen nie stotterte aber beim Sprechen war es mitunter traurig, denn er warf seinen Kopf ruckartig zurück paarmal bis er das gesuchte Wort raushatte. Natürlich gewöhnte man sich dran und lachhaft war das nicht. Dann hatte ich die Idee: Georgy-boy, warum singst Du nicht was Du sagen willst? Come on, give it a go!” Und so kam’s, dass George sich angewöhnte seine Gespräche zu singen zu Melodien von Rigoletto oder Figaro oder aus dem Film The Sound of Music. Unser armer Vormann Jimmy; wenn der diesem Zirkus zuschaute, kaute er manchmal drei oder vier Streichhölzer auf einmal. Einmal hatte ein Funkem beim Schweissen Fred’s Lappen, der aus seinem Ohr hing, angebrannt und als das Ding entflammte, rannte ich rüber zu den anderen und wir warteten wie lange es dauerte bis Fred aufwachte hinter seiner Haube. Als das geschah war er allerhand beschäftigt das Ding auszutreten und betitelte mich mit undruckbaren Namen. Unsere Abteilung war umringt von 1,8 Meter-hohen fahrbaren Schirmen damit Vorbeigehende sich nicht die Augen verblitzten. Oft hingen da Zuschauer drüber um unsere Schau zu sehen und Jimmy zuckte nur seine Schultern und kaute bissel schneller. Laurie Cook belehrte mich gleich am Anfang, wie wir ihr Land und ihren Lebensstil zerstörten. Dabei meinte er Con und mich. Con winkte sofort ab und wies mit seinem Zeigefinger an die Stirn, denn er kannte diese Litanei. Laurie: Ihr kommt hier in unser Paradies, welches wir uns stolz erbauten, und versaut alles, aber auch alles. Ein Ozzie kauft sich ein Haus, das er über dreißig Jahre abzahlt. Er schickt nie seine Frau auf Arbeit und arbeitet samstags nicht, denn Samstag geht man zum Pferderennen oder Fußball. Und dann kommt ihr an und wollt das, was wir sehr gemütlich in 30-40 Jahren schaffen, in 10 Jahren ergattern. Natürlich habt ihr keinen Ehrgeiz, und so schickt ihr sogar eure armen Weiber auf Arbeit, und die total Verrückten unter euch haben mitunter sogar 2 Jobs. Na, ist das Wahnsinn oder was? Und was ist das Resultat von dieser Schande? Ich sag’s dir: Eure Ehen gehen laufend auseinander, eine Mode, die wir nie kannten in unserem Paradies. Und dann tat er, als wenn er ausspuckte. Als ich ihm ohne Weiteres beistimmte, war er sprachlos, denn Laurie argumentierte für sein Leben gerne und Con schüttelte von der Ferne nur sein weises Haupt. Der arme Con; er nahm sich all diese Beschuldigungen zu Herzen und wenn man das tut, hält der Australier nie inne sondern zieht einen immer wieder auf aber nie und nimmer beabsichtigt er Dich dabei persönlich zu beleidigen. Und nun fuhr Laurie fort: Komm, ich zeig Dir mal an den Förderketten wo diese Arschlöcher wie Roboter arbeiten und mit geschlossenen Augen ihre mechanischen Griffe tun und warum? Weil diese wogs noch einen anderen job haben irgendwo. Und als ich ihm wieder zustimmte musste er vor Aufregung gleich noch eine Zigarette anzünden obwohl die andere erst halb verqualmt war. Dann erwiderte ich, dass er vollkommen Recht hatte aber das alles bezog sich auf wogs wogegen ich ein stolzes Exampel der Meisterrasse bin und daher ein vorbildliches Prachtexemplar sein werde, wenn ich die Ozzie Staatsbürgerschaft bekomme. Freddy guckte Laurie an und zuckte seine Achseln und dann kam Jimmy und fragte ob es nicht ’ne gute Idee wäre ab und zu mal bissel was für Holdens zu tun? Johnny Moriarty war ein Aborigine, der im Nebenabteil als Schlosser arbeitete und oft mit mir draußen im Hof saß zu Mittag und mir half, die neuen Wörter auf meiner Liste richtig auszusprechen und anzuwenden. Der Junge spielte auch leidenschaftlich Fußball – und sogar für die südaustralische Landesmannschaft. Er ist heute eine bekannte Persönlichkeit, der sein Glück geschmiedet hat in der Textilindustrie mit Aborigine-Entwürfen und Mustern. Doby, unser sexy Reiter der Wellen las immer das Mad Magazine eines der humorvollsten Werke der Amis und ich wurde ein eifriger Leser davon. Freddy meinte, dass Doby auf jeden Fall ein Kräuterraucher war. Wenn ich Freddy sehr witzige Auszüge von dem Magazin vorlas oder zeigte, durfte er natürlich kein Zeichen der Zustimmung zeigen sondern presste seine Lippen zusammen und meinte lakonisch, dass wir Luftköpfe ja über alles Geistlose lachten. Wenn Doby mir früh das Zwei-Finger-V-Zeichen gab, dann hatte er den Abend vorher Glück gehabt beim Romanzen. In einem Mad Magazine war ein Leserbrief gedruckt wo ein Leser den Redakteur kritisierte indem er meinte, dass die ganzen Leserbriefe von dem Redakteur selber geschrieben seien, auch dieser. Ich lachte Tränen darüber und als Fred nicht lachte, nahm ich ihn am Kragen und schüttelte ihn bis er etwas lächeln musste und wieder schüttelte old Jimmy traurig sein weises Haupt. Immer wieder wurde ich von der Polizei erwischt, weil ich zu schnell gefahren war mit meiner BMW, die ich vor einer Weile gekauft hatte. Die Schupos wunderten sich immer wieder, daß ich sie nicht im Rückspiegel sah, und einer verstellte den sogar wieder für mich, damit ich bessere Rücksicht hatte. Nach 9 Geldstrafen in einem Jahr musste ich endlich vors Gericht in Port Adelaide, und das war wieder eine neue Erfahrung. Emmes freute sich als ich die BMW nach ihm nannte Der Saal war voll mit uns Sündern, und wir mussten andere Fälle vor uns anhören. Der alte Richter saß auf seinem Pult und erteilte seine Urteile. Ein Fall war zwei Halbstarke die, nachdem die Polizei sie gestellt hatte, die Polizisten unverschämt beschimpften; offenbar waren sie dabei besoffen und der Richter hatte der Polizisten Bericht vor sich, wollte aber jeden Fluch von den Jungs selber hören. Er bestand drauf, dass sie ihm jedes Flegelwort zugaben. Mir gegenüber sass ein junge, sehr schwangere Frau und unsere Blicke trafen sich mitunter, denn wir wussten nicht wohin wir sonst gucken sollten. Ich fand dieses Theater total blöde, primitiv und ich war froh als ich da raus kam. Der Richter fragte mich, ob ich einverstanden war, mal drei Monate ohne Führerschein auszukommen, was ich natürlich annahm. Ich fuhr dann eben mit dem Käfer zur Arbeit, was Mr. Stevens unverantwortlich fand, aber es klappte, und meine Fahrtumsicht hatte sich tatsächlich verbessert. Das Leben war herrlich, alles machte Spass: das Sparen, Arbeiten, Englisch lernen, abends an unseren Maschinchen basteln, tanzen. Sonntags, wenn’s heiss war und wir an unseren Motoren herummurksten, gab einer das Kommando, und wir fuhren los bis runter nach Glenelg am Strand entlang, wo wir die Motorräder parkten auf dem Landesteg (pier), bis zu dessen Ende rannten, hinein in die See hechteten und um die Wette zurück zum Strand schwammen. Das wurde alles wiederholt bei jeder Station in nördlicher Richtung, West Beach, Grange, Semaphore, Largs Bay und endlich im Outer Harbour. Auf dem Heimweg holten wir uns jeder eine Portion Fish & Chips, und dann ging’s zurück zum Schuppen bei Junction Motors. Manchmal hatten wir auch zwei Soziuspiloten, Jeff Brand und Billy Ames. Beide hatten ihren Vater verloren im Krieg. Billy ging auf Abendschule, wo er Architektur studierte. Heutzutage ist er ein bekannter Architekt hier in Perth. Geoff Brand war ein wilder Knabe. Ich hatte mir einen Seitenwagen gebaut für die BMW.; es war eigentlich nur ne Pritsche wie beim Strassenrennen und Jeff konnte das Ding nicht fahren, das ging Heinz auch so. Heinz war ein vernünftiger Solofahrer aber mit dem Seitenwagen kam er nicht zurecht und wir haben da manchmal Tränen gelacht als er es immer wieder versuchte. An diesen Sonntagnachmittag im Schuppen bat mich Dick, Jeff abzuholen, weil er Hilfe brauchte. Es waren nur drei Kilometer zu Jeffs Wohnung, und los fuhr ich. Jeff wartete schon draußsen vorm Haus mit seiner Mutter. Seine Mutter, eine Witwe, arbeitete an 2 Stellen als Reinemachefrau, und ich wechselte ein paar Worte mit ihr. Indessen hatte sich Jeff auf mein Maschinchen geschwungen. Ich wollte ihn nicht runterjagen vor seiner Mutter, und so hockte ich in der Pritsche, und los ging’s. Es war okay, aber als wir um die erste Kurve wollten, verlor der Pinsel die Kontrolle und wir zielten auf einen Beton-Telegrafenpfosten zu. Ich riss Jeff zu mir rüber, und beim Krachen segelten wir beide durch einen Zaun. Natürlich hatten wir keine Helme auf. Hätte ich Jeff nicht rübergezogen, wäre er gegen den Mast geflattert, und das hätte Feierabend sein können für ihn. Die Leute kamen aus dem Haus gerannt, denn der Strom war ausgefallen in der ganzen Gegend. Bei Dick und Cliff im Schuppen ging auch das Licht aus und eine Vorbeifahrender hielt an und sagte ihnen, dass es um die Ecke einen Motorradunfall gegeben hat und die wussten sofort Bescheid und kamen zu uns gerast. Wir hatten keine Verwundungen, aber meiner armen, süßen BMW hatte es den rechten Zylinder abgerissen. Jeff wurde danach Schlosser bei der Australischen Luftwaffe (RAAF), und wir hofften, daß sie ihn dort um Gottes willen nicht an Motoren basteln lassen. Der ist da bis zur Rente geblieben. Wie schon erwähnt, ich hatte immer genug Material für meine Briefe nach Hause aber leider konnte ich die interessantesten Sachen nicht schreiben aber die nicht-so-interessanten waren auch ok. Lothar arbeitet nun bei „Robotron“ in Leipzig, einer Computerfirma, die Hardware und Software entwickelte. Da diese Rechnerbude einer strengen Geheimhaltung unterlag, wurde auch seine Privatpost streng kontrolliert, also damit auch unser Briefwechsel. Was für eine lächerlich Gesellschaft. Einige seiner Kollegen durften sogar dienstlich ins westliche Ausland, aber mein armer Lothar durfte nur in Sozialistischen Ländern Lehrgänge halten. Immer wieder wusste ich, dass ich in diesem Scheisssytem garantiert im Knast gelandet wäre. Jede Nachricht von zu Hause liess mich mein Glück immer wieder aufs Neue schätzen
59 Wo ist mein Verstand? Beim Start: Das Hinterrad spinnt (wie ich) Vor mir hinter der Wand stehen Uschi und Renate
Als sich die 63/64-Rennsaison in Rowley Park näherte, bat Irene inniglich, den blöden Sport aufzugeben. Nun, da ich ein Haus hatte, könnten wir doch von unserer gemeinsamen, frohen Zukunft träumen, aber ich musste ja den starken Mann spielen, und so brachen wir ab, und das tat immer wieder weh. Allerdings beim Tanz tat es noch mehr weh, sie in den Armen anderer zu sehen, und so geschah es doch noch mitunter, daß ich sie nach Hause fahren durfte. Das letzte Training, bevor die Saison begann, war Freitagabend unter Licht., wobei wir unsere Handicaps bekamen, d. h. je schneller die Fahrer desto weiter hinter wurden sie gesetzt. Ich war nun bei 80 Yards aber, z.B. Ivan Mauger war noch 90 Yards hinter mir. Es waren immer 7 Mann bei jedem Lauf und an diesem Abend ging dauernd das Rote Licht an, wenn einer von uns gestürzt war. Nach vier Re-starts mussten wir wieder ins Fahrerlager zum Tanken, denn die kleinen Tanks fassten ja nur 2 Liter. Der Starter mahnte uns nun bissel vernünftig zu sein. Jack Young, der auch mit dabei war, denn man hatte ihn überredet wieder mitzumachen, meckerte hinter seiner Maske, dass er heim musste, denn Pat, seine Frau, würde sauer sein wenn er zu spät zum Abendbrot käme. Da mussten wir alle lachen; bei solcher Spannung ans Abendbrotessen zu denken fanden wir verdammt ‘cool’. Natürlich fiel ich diesmal auf die Nase, und das war mir verdammt peinlich. Grant Thomas’ Motor blockierte genau vor mir, und ich musste beim Ausweichen in Richtung Wand, wo ich mich ein paarmal an der Wand entlang überschlug mit meinem Maschinchen, aber ohne Schaden oder Verletzung. Das Ding wurde gefilmt und man zeigte es im Fernsehen jede Woche als Reklame für Rowley Park. Heinz half mir den Lenker auszurichten und ich war beim Re-start dabei und endlich hatten wir’s geschafft unsere 4 Runden zu reiten. Bei der Eröffnung am Freitagabend klappte es auch wunderbar beim ersten Rennen, aber beim zweiten nicht so wunderbar, denn ich knallte an die Wand aus der Dunlop-Kurve kommend und war tot – well, für eine Weile. Ich lag mit dem Gesicht im Dreck, und es war Totenstille. Ich konnte nicht atmen und fühlte einen Druck in mir aufwallen. Dann fing die Musik an zu spielen. Ich glaubte, ich war am Explodieren. Ich hörte Leute schreien, und Dick brüllte dauernd, daß meine Brille noch ganz war. Und plötzlich, endlich, hörte ich in mir einen lauten Bums und noch einen, und die wurden langsam schneller. Ich hörte einen Sanitäter sagen, daß man mir die Lederjacke nicht ausziehen konnte, da ein Armknochen rausguckte. Heinz, Dick und Cliff sassen an meinem Bett im Hospital und sahen ernst aus. Ich gurgelte laufend Blut und dann kam ’ne Schwester und sagte, dass meine Frau und Kinder unterwegs seien zu mir und das machte mir Kummer. Hatte ich einen schweren Dachschaden erlitten? Hinterher stellte sich raus, dass sie mich mit Len Talbot, einem Wagenrenner, verwechselt hatte. Len lag in nem anderen Zimmer mit Kopfwunden. Konrad Lang, ein deutscher Wagenrenner, war tödlich verunglückt, als sein Wagen sich überschlug und auf Len landete. Beim Seitenwagenrennen hatte es auch gescheppert und ein Beifahrer verlor seine Hand. Es war ein wilder Auftakt für die Saison. Paar Rippen hatten eine Lunge durchstochen, mein rechter Arm war gebrochen an ein paar Stellen, die rechte Schulter war auch lädiert. Ich hatte ein kleines Loch im Bauch und eine Gehirnerschütterung. Mein Helm war auch im Eimer. Ansonsten ging’s mir gut. Nächsten Abend hatte ich ’ne ganze Menge Besucher. Irene kam mit Mutter, Ivan Mauger mit seiner Frau Raelene und meine Jungs und wir alle unterhielten uns gut. Irene’s Mutter bat Ivan mir doch ins Gewissen zu reden und mit dem blöden Sport aufzuhören und Ivan’s Realene meinte, dass sie das schon seit Jahren bei Ivan versuchte und alle lachten. Ivan wurde 6 mal Speedway Weltmeister und 3 mal Langstrecken-Weltnmeister. Irgendwie war der bissel geschickter als ich! Sehr viel!! Ivan und ich liessen unsere Motoren immer von Jock Grierson frisieren und an einem Abend bevor die Saison begann, sagte ich zu Ivan ob er wirklich sein Leben mit Speedway verbringen wollte. Er war damals 23 Jahre alt; hatte drei Kinder und keinen Beruf. Ich sehe Ivan’s Gesicht immer noch vor mir als er mir antwortete, Horch mal Fritz, Du bist ein lustiger Geselle, aber vielleicht solltest Du lernen Dich bissel um Dein eigenes Leben zu kümmern, und wir lachten. Natürlich kamen Irene und ich wieder zusammen, und obwohl mein rechter Arm vom Handgelenk bis zur Schulter in Gips war, war es eine herrliche Zeit. Mensch, Liebe ist doch unfabsbar schön. Sie glaubte, daß ich nun endlich vernünftig sei und wir nun unsere Zukunft ausmalen werden. Mein Plan aber war, es nach England zu machen und da mal richtig vernünftig von vorn anzufangen, den Sport zu erlernen. Dort gab’s so viele Strecken, wo man jeden Tag fahren konnte, und da die meisten Kurse dort kürzer sind, muss man die Kunst des „sliding“ begreifen. Und wenn das nicht hilft, dann mache ich Schluß und werde ein vernünftiger Mann. Als ich ihr das erklärte, nahm sie mich in ihre Arme und … Der Gips musste dreimal gewechselt werden, denn obwohl ich ihn noch so gründlich in Plaste einwickelte am Strand, im Wasser kam da immer Feuchtigkeit rein und dann juckte das Ding unheimlich oder er weichte auf. Ich erschrak als ich meinen dünnen Arm sah als sie den Gips das erste Mal abnahmen; lauter Kratzer wo ich immer versucht hatte mit Stricknadeln zu kratzen, wenn’s juckte Wir gingen oft zum Strand, ins Autokino und zum Tanzen. Wie froh war ich über Mr Stevens’ Rat, eine Privatversicherung anzunehmen, sonst wäre ich arg dran gewesen. Leute sagen oft, daß man sich nicht bewusst ist, wie schön die goldenen Jahre der Jugend sind, bis man älter wird. Ich widerspreche dem, denn wir wussten, daß wir wirklich in goldenen Zeiten lebten – wenn nur nicht so oft die Trauer in mir wohnte über das Los der Meinen zu Hause. Schwesterchen Renate hatte nun ihren dritten Jungen, Jens, und sie hatten doch so auf ein Mädel gehofft. Freddy Billinger kam und sagte mir, daß Holdens mir anbieten doch zur Arbeit zu kommen mit dem vergipsten Arm, denn noch weniger als zuvor könnte ich doch gar nicht machen. Es war ein grosszügiges Angebot aber Heinz und ich hatten geplant nach dem Norden in Westaustralien zu fahren und zu versuchen bei dem Amerikanischen Projekt im Nor-west Cape zu arbeiten. Wir kauften zwei Unfallbusse und bauten einen daraus. Wir arbeiteten im Hof bei Junction Motors daran und hatten immer ’ne Menge Zuschauer. Manche nannten unsere Bombe Fritzmobil oder Rommelwagen. Ich konnte tagsüber allerhand herummuddeln als vergipster Krüppel und wenn Heinzelmann von der Arbeit kam, gings weiter und es machte uns und unseren Zuschauern Spass. Mann, freute ich mich auf den Tag als der Gips abkam aber mein dünnes Ärmchen machte mir Kummer und ich hielt mich nun eifrig ran mit Stärkungsübungen. Irene war unter allerhand Stress zu Hause, denn ihre Mutter riet ihr stark mich Kasper zu vergessen und das konnte ich absolut verstehen. Ihre Mutter hatte mich schon lange aufgegeben, denn sie war ein Cricket-fan und für mich war das damals ein Witz und kein Sport. Die Regeln konnte ich einfach nicht begreifen. Der Schiedsrichter stand da mit weissem Mantel und Hut und sah aus wie ein Eiskremeverkäufer und das Spiel wurde ab und zu unterbrochen für Teepausen!!! Ich sagte ihr, dass dieser Sport viel zu aufregend und gefährlich wäre für mich und sie lachte nicht
62 Wieder daheim. Es war eine fröhliche Heimfahrt, und sogar Heinzelmann machte manchmal Töne, die sich wie Mitsingen anhörten. aber es machte ihn nervös, wenn ich manchmal mitten im Gesang innehielt und seine Tönchen auf der Stelle starben. Obwohl die Sehnsucht uns nach Adelaide zog, übernachteten wir leichtsinnig zweimal in Motels unterwegs, denn wir waren ja REICH und konnten es uns erlauben. Obwohl wir von einem Motel in der Nullarbor wussten, dass in der Leitung nur Salzwasser war, versuchten wir uns unter der Dusche einzuseifen aber erfolglos. Mann spülte sich am Ende Gesicht und strategische Körperteile mit frischem Wasser ab, was in Krügen im Kühlschrank stand. Der grösste Teil der Nullarbourstrecke war damals noch rauhe Dreckstrasse aber unser treues Gefährt fiel nicht auseinander. Es gab ein freudiges Wiedersehen in Largs Bay aber sobald ich mich fein gemacht hatte, fuhr ich zu meiner Liebsten. Freilich hatte ich drauf bestanden, dass sie weiter zum Tanzen ging während meiner Abwesenheit und die Boys hatten sie ja dort auch gesehen aber scheinbar war kein anderer Dauerfreier auf die Bühne gekommen. Wir fuhren runter zum Strand und parkten da bis spät – wir hatten doch so viel zu erzählen. Ich hatte aber das Gefühl, daß mein Mädel sich mit meinem Englandplan abgefunden hatte, denn sie erwähnte das Thema nicht. Die Stevens’ waren happy, uns wiederzusehen, und Mr. Stevens war zufrieden mit meinem Sparkonto, riet mir aber ’ne neue ‘Eso’ (Jawa) zu kaufen anstatt mit meiner alten JAP herumzukämpfen. Ivan Mauger wurde mit ’ner Esso gesponsert und das war die erste in Südaustralien. Diese Tschechischen Maschinen kosteten 360 Pfund aber ich war der Meinung, dass ich erst mal das Können haben musste mein treues Maschinchen mit voller Pulle zu reiten bevor ich an sowas dachte. Im Rückblick war das keine vernünftige Theorie. Ich durfte auch wieder in meinem „Zirkus“ bei Holdens anfangen und fühlte mich wieder richtig daheim. Freddy fragte, ob ich bissel erwachsener geworden wäre in der Affenhitze im Westen und ich überzeugte ihn auf der Stelle indem ich ‘El Passo’ sang und er sofort nach Putzlappen suchte für seine Ohren. Dieses Mal begann die Saison viel friedlicher. Unser Jack Scott, der die englische Saison wieder für Southampton geritten war, brachte Jimmy Gooch mit, welcher Kapitän für Oxford war. Jimmy und seine Frau Everyl wurden meine guten Freunde, und wir waren ein lustiger Haufen und genossen manche fröhlichen Partys in unserem Haus. Und unsere Untermieter waren überglücklich, denn Jimmy war ein Speedway–Ass, aber er sagte mir, daß es ihn 14 harte Jahre gekostet hatte, bis er Weltklasse war, und das imponierte mir sehr. Er hatte sich schon 2-mal für das Wembley-Finale qualifiziert. Er stimmte mir bei nach England zu machen und dort ganz von vorne anzufangen das Reiten zu lernen als novice (Lehrling, Anfänger). Dave Wills war ausser sich Jimmy kennen zu lernen, denn vom Speedway Magazin her kannte er ja alle seine Einzelheiten. Mit Irene gab es immer wieder Spannungen und ich wusste, dass das meine Schuld war. Während einer Pause lernte ich ein sehr nettes Mädel kennen, Pat. Ihre Familie waren Speedwayfans aber sie fürchtete den Sport. Sie war nicht nur sehr hübsch sondern auch sehr begabt. Sie war auch poetisch veranlagtund ich hörte ihr zu gerne zu wenn sie mir auf Anhieb Proben Ihrer Gedichte zitierte. Das Problem war, dass Pat eine Jungfrau war und das musste ich ernst nehmen. Als ich sie zum Tanzen nahm sah ich, dass Irene auch einen Freund hatte und während wir uns einander vorstellten, tat mir das Herz verdammt weh. Ich glaubte, dass Frauen ihre Gefühle viel besser kontrollierten. Ich musste mit der lieben Pat aber bald Schluss machen, denn die Sache wurde zu ernst.Jimmy gewann die Australische Meisterschaft, die diesmal in Rowley Park stattfand aber ich hatte keine Chance ins Finale zu kommen. Im grossen Ganzen war ich aber mit dieser Saison zufrieden aber ab und zu flüsterte mein Gewissen mir zu ob ich nicht doch ein Esel sei. Am Ende der Saison überredete mich Pedro diesmal zu Ostern in Port Pirie nicht nur mit der JAP zu registrieren sondern auch in der Kategorie der Strassenmaschinen. Dick hatte mir seine frisierte 350er BSA verkauft und da die Dinger Pedro’s grosse Leidenschaft waren, überliess ich ihm mein Maschinchen und er machte sich sofort dran. Ich lachte zwar mit meinem Gewicht auf ’ner 350er zu hocken aber in der Strassenkategorie gab’s nur die 500er und die unbegrenzte Kategorie. Ich sah Pedro manchmal zu wenn er in unserer Garage ‘zauberte’ und es machte ihm Spass, sein Können zu beweisen. Er lachte, aber dass ich mir ja nicht einbilden soll, dass ich seine 350er schlagen könne in Port Pirie. Dave und ich waren natürlich in der Speedwayklasse dabei mit unseren JAP’s. Natürlich konnte ich viele Teile bei Holdens produzieren, denn ‘Heimarbeiten’ zu machen auf Arbeit war grosse Mode und Freddy war unheimlich geschickt. Er war wohl der erste, der in Australien eine Solarwasserheizung zusammenbastelte und hatte die meisten Teile dafür bei Holdens angefertigt. Wie gesagt, obwohl diese Fremdarbeiten unter den Facharbeitern in der Bude sehr Mode waren, musste man es heimlich tun ohne Wissen des Vormann’s oder vom Pförtner beim Ausgangstor erwischt zu werden. Freddy’s Universal-Talent schrieb ich natürlich seiner Deutschen Herkunft zu was er aber sehr energisch ablehnte. Fremde Teile beim Pförtner vorbei zu schleichen geschah indem ich z. B. eine schriftliche Erlaubnis von Jimmy bekam paar meiner Werkzeuge heim zu nehmen und während der Pförtner den Zettel und meine Werkzeugkiste studierte, konnte Freddy, der hinter mir lief, ungehindert vorbeischlenkern mit seinen ‘Waren’. Freddy erzählte mir, dass er damals für das Solarsystem allerhand Meter dünne Kupferrohre rausschmuggeln musste. Das tat er, indem ein Kumpel ihm im Abort die Rohre um den Wanst wickelte und er dann seine Overalls drüberzog. Als ich einmal der ‘Schützer’ war für Freddy, murmelte der Pförtner meinen Zettel studierend, „Für wen lenkst Du mich ab Kerl?” Und er grinste. Freddy zeigte mir mal seine Grossvater-Standuhr in seiner Wohnung, die er praktisch bei Holdens fabriziert hatte. Einmal sagte Laurie Cook, Mensch ich komme mir richtig blöde vor, denn ich habe schon lange keine Fremdarbeit gemacht, weil ich alles habe was ich brauche. Ich muss mal bissel überlegen. Die Mode wurde stark eingeschränkt als einer der Direktoren von Holdens Samstag beim Pferderennen mit seinem Fernglas zuguckte und beim Schweifen mit dem Glas sah, wie von der Bude ein Go-Kart über’n Zaun in den Seitenweg geleitet wurde. Die Cheltenham Pferderennstrecke war direkt neben Holdens in Woodville. Als der ‘Fabrikant’ abends sein Produkt abholen wollte, warteten die Coppers auf ihn und die Fremdproduktion hatte dadurch schwer gelitten. Freddy meinte, dass Holden Autos billiger sein könnten ohne die ‘Fremdproduktion’. Die Entschuldigung der ‘Fremd-Produzenten’ war, dass Holdens ja schliesslich ne Yankee Firma war. Jeden Abend waren wir in unserer Garage und unsere Untermieter genossen köstliche Unterhaltung, so dass sie kaum Fernsehen guckten. Pedro hatte allerhand Erfolg gehabt beim Strassenrennen mit seiner 350er BSA, die er nun für die Sandbahn in Port Pirie umänderte. Wir hänselten Dave Wills dauernd warum er nie ein Girlfriend hatte aber wir wussten ja, dass Dave’s Leben Speedway war und nichts anderes existierte für ihn. Renate wollte ihn mit einer Arbeitskollegin bekannt machen aber Dave, stark errötend, wehrte energisch ab, denn dann müsste er ja noch ein Hemd und eine neue Hose kaufen; auf keinen Fall. Dick und ich gingen noch fleissig zum Tanz und manchmal kam es, dassich mit Irene heimfuhr, denn sie war manchmal mit ihrem kleinen Ford Prefect Auto da. Plötzlich flüsterte mir meine Liebe ins Ohr, dass sie mitkommen würde nach Port Pirie, wenn’s mir Recht wäre. Ich dachte ich verhörte mich. Mein liebstes Kind – mit nach Port Pirie, wo wir im Hotel wären für drei Nächte???? Mann, wie liebte ich das Mädel.Wie immer war der Port Pirie Speedkarnival das Erlebnis des Jahres und dieses Mal konnten wir’s uns leisten im Hotel zu übernachten aber trotzdem hielten wir uns bis abends im Fahrerlager auf. Wir mussten naürlich Irene’s Mutter versprechen, getrennte Zimmer zu buchen, was wir natürlich taten; Heinz und ich ein Zimmer und meine Herzallerliebste hatte ihr Einzelzimmer. Es sei mir aber erlaubt sie zu besuchen, meinte mein bestes, süssestes, herzallerliebstes sweetheart. Das Leben war zu schön. Beim Training liefen unsere Maschinchen wunderbar und in der Strassenklasse lief mir Pedro bissel davon und winkte mir frech zu. In der Speedwayklasse hing ich mit David für 5 Runden zusammen und das machte Spass aber 2 Kerle waren noch vor uns. In der Strassenklasse ging Pedro’s Geschoss sauer und er war den Tränen nahe, weil es passierte als er vor dem ganzen Feld lag. Ich endete als Dritter und versprach ihm meine Karre für’s letzte Rennen des Tage wo alle Nicht-Plazierten des Tages teilnahmen (butchers’ picnic) und das erfreute meinen armen Kumpel sehr
Meine liebe – von Pedro frisierte – 350er BSA
Meine JAP mit Verkleidung für Port Pirie
Port-Pirie-Programme 1965. Für die unbegrenzte Klasse erhöhten wir die Übersetzung etwas und ich schraubte eine kleinere Hauptdüse in den Vergaser. Laurie Jamieson, ein alter Fahrer, riet dagegen: Ja, Dein Maschienchen läuft zwar bissel ‘rich’ aber in Port Pirie ist das nötig, denn gleich dort am Hafen ist die Schwefelfabrik und es ist ratsam die Mischung lieber bissel ‘rich’ zu halten ob des Säuregehalts in der Luft hier. Na dass klang mir bissel zu wissenschaftlich. Da unsere Maschinen alle auf hohe Kompression gezüchtet waren, liefen die nicht mit Benzin sondern mit Methanol. Ein Weiser hätte die grössere Düse drin gelassen, die zwar die Geschwindigkeit bissel verlangsamt aber den Motor etwas kühler hält. Und so, in der unbegrenzten Klasse lag ich nach der dritten Runde vorn und jubelte unter meiner Maske. Heinz und Pedro hupften wie die Verrückten beim Start und Ziel aber in der letzten Runde hörte mein Rädchen auf – Loch im Kolben – und Pedro konnte seine Tränen nicht zurückhalten und old Laurie schüttelte nur seinen Kopf, sagte aber kein Wort
Dritter von rechts mit heller Verkleidung: die „Hoffnung“ aus Leipzig. Ich sass auf meiner Werkzeugkiste im Fahrerlager und war sauer. Heinz gab mir ’ne Zigarette und vielleicht hat mich das Ding benebelt, denn ich sagte ihm plötzlich, dass wir zu Weihnachten heimmachen und von da gehe ich nach England wo ich ein neue Eso kaufe und probiere mich mal vernünftig in den Sport zu schmeissen. Er war bissel sprachlos aber ich hatte mich festgefahren. Ich schlug Heinz vor, daß wir drei Monate bei unseren Familien in der Heimat bleiben, und dann kommt er zurück und ich versuche, meinen Plan in England zu erfüllen. Mein kluger Heinzelmann machte mir klar, daß für diesen Plan bei mir rund 500 Pfund fehlten. Ohne zu denken erwiderte ich, daß ich zwei Jobs machen würde für die nächsten 6 Monate, und mein treuer Gefährte griff sich – wie so oft – an den Kopf. Als ich Irene meinen Plan erklärte, griff sie sich auch an ihren Kopf. Ich konnte es ihr nicht verdenken, daß sie an meinem Verstand zweifelte, denn das taten andere auch, sogar meine eigene leise Stimme im Gewissen. David machte nach England und schrieb brav und regelmäßig, was mich wirklich sehr erstaunte und erfreute. Er hatte Arbeit gefunden in einer Transportgesellschaft, wo er praktisch freie Wahl hatte, Tage freizunehmen, denn der Besitzer war ein ehemaliger Speedway-Reiter. Man konnte es seinen Zeilen entnehmen, wie zufrieden er war, und der Arbeitgeber würde mir auch einen Job geben, strahlte David, allerdings für weniger Geld, weil ihr „Bastards London gebombt habt“. David klang überglücklich, denn er konnte in London jeden Abend zum Speedway gehen., weil es da 6 Klubs gab. Jeden Sonntag ritt er in Rye House was ’ne sehr bekannte Trainingsstrecke war und er hoffte sehr von West Ham aufgenommen zu werden. Die Speedway Fans in England nennen sich Unterstützer (supporters) ihrer Klubs, nicht Zuschauer, teilte er mir begeistert mit. Dann kam sein Brief, worin er versuchte, seine Gefühle auszudrücken, als „The Hammers“ ihn in ihre Mannschaft aufnahmen. Ich konnte mir sein breites Grinsen vorstellen. Neville Slee von Rowley Park wohnte jetz mit ihm und versuchte auch in einen Klub zu kommen. Ich konnte mir vorstellen wie die Bengel strahlten
63 Zwei Arbeitsstellen. Du bist nicht nur halb, sondern total verrückt, meinte Freddy und schüttelte den Kopf, als ich ihm mitteilte, daß ich noch eine Stelle angenommen hatte mit John Shearer and Sons, nicht weit von Holdens in Kilkenny. Der Job war als First Class Machinist in ständiger Nachtschicht. Der Betrieb war nur zwei Kilometer entfernt von Holdens. Freddy fürchtete, daß mir die Belastung den letzten Rest Verstand rauben würde. Ich besänftigte ihn, indem ich ihn erinnerte, daß ich ja an Wochenenden Schlaf nachholen konnte. Allerdings musste ich die Samstagschicht bei Holdens beibehalten, sonst wäre old Jimmy sauer geworden. Keine Seele ausser Freddy bei Holdens sollte von meinem Plan wissen. Natürlich musste ich beim Norwood Tanz weiter mithalten. Und so musste ich früh zwei Mittagsbrote packen und Heinz schüttelte nur seinem Kopf. By Holdens wurde 4.30 Uhr Feierabend gemacht, und ich lief zu Shearers, wo ich um 5.30 Uhr begann. Es war mir klar, daß die Jungs in meinem „Zirkus“ bei Holdens bald merkten, was los war, aber es waren Kameraden. Mir fielen oft die Äuglein zu, während Freddy schweisste, und manchmal machte ich auch ein Nickerchen auf der Toilette. bloss da schliefen mir die Beine ein. Mittags legte ich mich lang und war weg. Irene war mit meinem Manöver überhaupt nicht einverstanden und es kam wieder zu ’ner Lücke zwischen uns. Mir tat’s immer weh sie mit anderen tanzen zu sehen aber konnte es ihr auf keinen Fall übelnehmen. Dann lernte ich Norma kennen, die nur ein paar Häuser weg von uns in der Fletcher Road mit ihren Eltern wohnte. Machmal gab’s da ein schnelles, leises Stelldichein früh um 4 Uhr auf meinem Heimweg, und natürlich sind wir einmal eingeschlafen dabei. Mit Schrecken sahen wir, daß die Sonne lachte. Norma machte sanft ihre Tür auf, und ich tapste im Korridor zur Haustür, als sich die Türklinke zum Schlafzimmer ihrer Eltern bewegte. Ich ging zurück und drückte mich hinter einen Vorsprung. Ich hielt meinen Atem an. Norma’s Vater war ein schwerer Pfeifenraucher, der aber im Haus nicht rauchen durfte und sein erster Gang früh war zur Hintertür um draussen im Garten zu paffen. Gott sei dank detonierte er als erstes früh einen typischen Raucherhusten wobei er sich genau bei mir tief keuchend beugte. Dieser Husten musste ihm sein Augenlicht genommen haben und wackelnd und keuchend torkelte er weiter. Wie ein Geist schwebte ich zur Haustür und verschwand. Lieber Gott ich danke Dir für Muttl’s Beten. Heinz hatte sich schon Kummer gemacht, denn Frühstück und unsere Bemmen hatte er schon fertig. Freddy konnte sich das Lachen nicht verbeißen, als ich ihm von meinem Glück erzählte. Er fragte, was ich Normas Vater gesagte hätte, wenn der mich gesehen hätte. Das fragte ich mich oft auch. Was hab ich doch für ein langweiliges Leben, seufzte Freddy, denn so was sah man ja nicht mal im Kino. Die 6 Mann, alles ewige Nachtschichtler bei Shearers, waren ein gemütlicher Haufen. Waldemar, ein lustiger Bayer, war mein Vormann und kannte mich vom Speedway. Er und ein alter Dreher waren die Einzigen, die keine zweite Arbeitsstelle hatten. Natürlich sollte der alte Dreher davon nichts wissen. Waldemar lehrte mir die Sattelrevolver-Drehbank zu begreifen. Shearers erzeugten Agrarmaschinen, wofür wir massenweise Teile drehten. Waldemar wusste was die durchschnittliche Produktion aller Teile war, denn man sollte nicht zu viel herstellen und so hatten wir allerhand Gelegenheit uns zu unterhalten. Der alte Australier hinter mir war der einzige, der schön langsam und ruhig die ganze Schicht arbeitete. Die anderen vier Mann waren zwei Polen, ein Ungar und ein Jugoslawe und ich dachte an Cookie’s Mahnung, wie verhungert und gierig wir Neu-Ozzie Ungeziefer waren. In der Nebenhalle war ein Riesenofen, wo Teile erhitzt wurden fürs folgende Härten. Der Ofen lief nur bei der Tagschicht mit voller Hitze, nachts wurde er abgestellt, war aber immer noch heiß genug, um Essen warmzuhalten. Und so brachte ich wie die anderen auch zur Abwechslung Büchsen mit. Allerdings hatte ich nicht mitgekriegt, daß man ein Loch oder zwei in die Büchsen stach, und so gab es an einem Abend einen mächtigen Donnerschlag., und ich sah den armen alten Ossie, sich seinen Kopf haltend bei meiner Drehbank vorbeirennen. Meine Büchse Pilze waren explodiert und wir mussten die Ofenkammer saubermachen. Um 10 Uhr abends war Pause und ich legte mich lang sobald ich gegessen hatte und die anderen Doppeltschichtler auch. Dienstag- und Freitagabend kam meine Norma vorbei nach ihrem Tennistraining, und wir küssten uns durch den Drahtzaun, denn der ganze Hof wurde nachts verschlossen. Dann kam das Telegramm von Neville Slee, David war tödlich verunglückt in West Ham. Später erfuhr ich, daß er in der letzten Runde stürzte, und der Junge hinter ihm konnte ihn nicht vermeiden. Normalerweise ist es beim Rennen nicht allzu schwer, seine Maschine niederzulegen, wenn man sowieso halb am Liegen ist, aber auf den Geraden ist das schwerer, bedeutend schwerer. Neville war an seiner Seite, als er starb.Heinz hatte das Telegramm auf mein Bett gelegt und ich ging in die Küche und setzte mich hin
64 Die Schiffreise. Am späten Nachmittag gingen wir an Bord. Heinz kam mit mir zur Kabine runter und bemerkte, daß das Loch noch primitiver war als auf der Herreise. aber ich belehrte ihn, dass ich sehr weise und sparsam war worauf mein treuer aber frecher Kumpane fragte warum ich da nicht hierbleibe? Ich erwiderte, dass seine Mutter traurig sein würde zu hören wie frech sich ihr Sohnemann gegen seinen treuesten Kumpel benimmt und er grinste. Als wir an Deck gingen, waren wir überrascht, wie viele bekannte Gesichter unter den Massen am Kai standen und jubelten und winkten. Dann sah ich Irene den Steg hinaufkommen mit ihrer Mutter, und ich konnte es nicht glauben: Fuhr das Mädel gar mit als Überraschung? Mir blieb das Herz stehen und Mr Stevens rief Irene zu noch mal zu versuchen mir bissel Verstand einzureden. Ich bekam einen unbeschreiblichen Kuss, und sie flüsterte, daß ich ein großer Knallkopf war. Dann drehte sie sich schnell um und ihre Mutter sah mich nur ernst an, wünschte mir Bon Voyage und lief ihrer Tochter nach. Nun kam die ganze Meute hoch und ich stellte sie alle einander vor. Freddy sagte zu Mr Steven, dass Holdens nun viel produktiver schaffen wird und ihre Autos vielleicht billiger werden. Ich war so gerührt als mich Freddy’s Frau umarmte. Und dann sah ich die gute Norma kommen und mir kamen die Tränen; verdammt nochmal, wollte ich sie wirklich alle verlassen? Franz war auch da und richtete mir Opa und Omas beste Grüsse aus. Als Cliff und Dick mir Good Luck wünschten, vermissten wir plötzlich, ohne es zu sagen, Dave und uns kamen die Tränen als Clifford murmelte: „That poor bastard“. Bei solchen Momenten labert man natürlich oft Quatsch und die Boys sagten zu Norma, die sie ja vom Tanz kannten, dass ich nach drei Monaten in Deutschland Heimweh nach hier bekäme und zurückkomme um sie zu heiraten, denn Einer von uns muss ja den Anfang machen und warum nicht der Dümmste? Und Mrs Stevens nannte sie silly buggers. Norma umarmte mich und flüsterte, dass sie sich ein Haus kaufen wird in Kürze – und dann bräuchten wir nicht mehr so leise sein beim Lieben. Ich schämte mich meiner Tränen, aber ich konnte nichts dagegen tun. Renate, Jimmy und Uschi waren die letzten, die mir Hals und Beinbruch wünschten und ihr Weinen gab mir den Rest. Endlich kam das Signal, dass Besucher von Bord wies und Heinzelmann mahnte mich schön artig zu sein und dass wir uns in Frankfurt beim Bahnhof treffen werden. Dann wurde wie immer –zig Rollen Klopapier hin und hergeschmissen und gehalten und endlich zog unser Kahn sehr langsam ab und Dick rief, dass ich ja höflich zur Gestapo sein sollte und Cliff verbesserte ihn, dass sein dummer Bruder die Stasi meinte. Hinter der ganzen Masse sah ich meine liebe Irene stehen und winken und mir verschwammen die Augen aber ich winkte und winkte. Mir ging es durch den Sinn, daß ich eigentlich meine Heimat hier verlasse, und ich stand lange, lange am Heck, bis die Küste dünner wurde und es dunkelte. Freilich freute ich mich auf zu Hause, aber ich wusste, daß dieses südliche Ende der Welt mein dauerndes Zuhause bleiben wird. Wir waren 4 Mann in der Kabine. Einer war ein alter Kiwi (Neuseeländer), der sich als ewiger Weltenbummler vorstellte, weil er nicht wusste, was er mit seinem ganzen Geld machen sollte,und ich erwiderte, daß er ganz einfach uns drei Armen eine Million geben könnte, denn wir waren arm und deshalb auch in dieser Kajüte. Der Kerl war ein Quatschkopf. Beim Abendbrot guckte ich vergebens nach dem treuen Antonio aber es war ’ne andere Besatzung. Am Nebentisch sass ein älteres Paar mit ihrer Tochter und baby, die mir freundlich zunickten. Zwei Abende später tanzte ich mit Joan und unterhielt mich fein mit ihr. Ihre Eltern begleiteten sie bis Fremantle und sie segelte zu ihrem Mann, ein Doktor in London. Der arme Kerl hatte seinen Baby-Sohn noch gar nicht gesehen, denn er musste eher fortfliegen. Ich sah dem Treiben in Fremantle zu als Passagiere aus und einstiegen und bemerkte zufällig wie Joan, während sie ihren Eltern unten zuwinkte, sorgfältig ihren Ehering abnahm; eigenartig. Wir tanzten oft zusammen und als sie mich zu ihrer Einzelkabine einlud, musste ich sehr höflich absagen, was sie offensichtlich verärgerte. Zwei Tage später hatte sie einen Freier, ein freundlicher und gutaussehender Ozzie, der sich bei mir entschuldigte, dass Joan mich abgeschoben hatte und ich lachte. Man lernt eben nie aus aber Joan war wirklich eine niedliche Person. Und nun machte ich mich an mein Fitnessprogramm: Um 6 Uhr aufstehen, auf den Decks herumrennen und vor allem Liegestützen machen, denn mein rechter Arm war noch bissel schwach, und die Besatzung auf der Kommandobrücke rief mir Aufmunterungen zu. Zuschauer beim Trainieren spornen einen an. Dann runter zum Brausen und bei alldem kamen mir immer wieder die alten Freunde von der ersten Reise in den Sinn. Eines morgens als ich aufwachte sah ich unser Waschbecken voll mit Ausbruch und die beiden Kumpel sagten mir, dass unser reicher Weltenbummler gekotzt hatte in der Nacht.Ich zog ihn aus seiner Koje und befahl ihm den Mist sofort zu reinigen aber er meinte, dass das des Stewarts Job war und so nahm ich seinen Kopf und tunkte ihn in den Mist und warnte ihn, wenn das Becken nicht sauber ist wenn ich zurückkam, halte ich ihn solange darin bis er das Zeug auffrisst. Es war sauber als ich zurückkam. Allerdings ermahnte ich die anderen Beiden, dass sie hätten sofort Krach machen sollen anstatt bei dem Mief zu schlafen. Nach dem Frühstück Volleyball, Schwimmen und im Liegestuhl aalen – was für ein Urlaub. Und diesmal ging ich fast jeden Abend tanzen. Die italienische Kapelle war erstklassig. Immer wieder sah ich Rita und ihr Mütterlein vor mir; war das wirklich schon 5 Jahre her und bin ich dabei schlauer geworden? Bei Wellengang im Indischen Ozean ratterte unsere ganze Kabine, denn wir müssen direkt bei der Antriebswelle gelegen haben.Wenn sich das Heck aus dem Meer hob ging die Drehzahl auf ’ne Million Umdrehungen und wenn es wieder runtersank erwürgte das arme Ding bald aber man gewöhnte sich dran und schliesslich war das eine der billigsten Kajüten; ich wollte ja sparsam sein. Und dann lernte ich Franzis kennen. Sie war bildhübsch und ständig von Fans umgeben. Sie legte sich in den Liegestuhl neben mich. Meine Gedanken waren wieder bei der lieben Rita.Franzis sagte, dasssie wieder zurück nach Hamburg zu ihrer Grossmutter ging, da es ihr in Australien nicht gefallen hatte.Na, da habe ich sie aber ausgelacht. Franzis war sich ihrer Schönheit sehr bewusst. und Gott-sei-Dank ihrer Dummheit unbewusst sonst wäre sie ein trauriges Geschöpf gewesen. Als ich ihr erzählte wie herrlich ich Australien fand und schon vermisste, wurde sie ganz ruhig. Manchmal forderte sie mich zum Tanzen auf, aber ich wusste, daß es sie irritierte, daß ich ihr nicht den Hof machte. Vor Colombo fragte mich Franzis, ob wir nicht eine Nacht dort in einem Hotel schlafen sollten – und bevor sich mein Gehirn einschaltete, sagte ich zu. Der Weltenbummler in unser Kajüte erklärte mir, daß er gute Kontakte hatte in Ceylon und dort immer billige Edelsteine kaufte, die er in England mit Verdienst verscheuerte und somit seine ewigen Reisen bezahlte. Franzis und ich gingen mit ihm zu seinem Händler, und ich kaufte 12 Rubine und zwei blaue Saphire. für ’ne Kette und Ohrringe für Muttel und den Schwestern kaufte ich zwei Ringe mit ’nem Edelstein drin. Der Händler lud uns in jenem Hotel zum Essen ein, in dem wir abgestiegen waren. Mensch, war die Speise scharf, da starb einem die Zunge ab. Nach unserem gemeinsamen Bad fiel es Franzis ein, daß sie ihre Tage hatte und mir fiel ein, daß ich ein Esel war. Zurück an Bord, machte ich weiter mit Training und Faulenzen und bat Franzis, sich an ihre vielen Freier zu halten, was sie auch tat. Zwei Wochen nach Colombo bekam ich ein Telegramm von Heinz: Pedro war tödlich verunglückt in Rowley Park mit meiner Maschine. Ich fand ’ne ruhige Ecke an Deck und schaltete ab. Beide Kameraden weg. Pedro hatte geplant zu Dave und mir nach London zu kommen. Ich weiss nicht wie lange ich da sass als Fanzis sich neben mich setzte und ich bat sie mich bitte, bitte alleine zu lassen. Ich ging nicht zum Abendbrot sondern lehnte an der Reeling am Heck, starrte auf den schäumenden Strudel und wusste nicht was in meinem Kopf los war. Mir kam’s vor als wenn mein Verstand bei meinem Ego nur Beifahrer war; konnte ich das jemals ändern und als Erwachsener handeln? Memorial Plaque at Rowley Park. Nine competitors lost their lives at Rowley Park in 30 years. They were: 15-11-1957 … Brian Bennett, Sidecar. 02-01-1959 … Steve Howman, Speedcar. 23-01-1959 … Arn Sunstrom, Speedcar. 06-03-1959 … Gerry Hussey, T.Q. 09- 09-11-1962 … Kon Lang, T.Q. 17-12-1965 … Peter Stirling, Solo. 25-02-1966 … Harley Dillon, Speedcar. 03-11-1967 … Harry Denton, Solo. 23-01-1970 … Jimmy Gavros, Solo
Pedro außen neben mir. Vier Wochen später ist er. tödlich verunglückt auf meiner Maschine, die er gekauft hatte. An Unterhaltung fehlte es nie an Bord. Das Kino lief den ganzen Tag, und in den Bars spielten die Massen Karten, Scrabble, 500, Solitaire usw., während zwei Kapellen sich abwechselten in der Hauptbar. Eine 4-Mann-Band von Adelaide, die sich Johnny Broom and his Men nannte, spielte auch manchmal auf, und als wir ins Gespräch kamen, luden sie mich ein, für sie zu singen. Die meisten Texte der Lieder hatte mir Pedro beigebracht. Die Jungs hofften, wie so viele in ihrer Kunst, Glück und Ruhm in England zu finden. Wir hatten viel Spaß zusammen, wenn wir nachmittags in einer Bar loslegten mit Liedern wie The Alamo, El Passo, Save the last Dance for me, Dankeschön, You are my Sunshine, Wooden Heart, Lipstick on your Collar (das erste Lied, das ich in Ozz gehört hatte an Deck der Castel Felice bei unserer Landung in Fremantle), Riding along in my Automobile, Raw Hide“ usw. Schon in Aden merkte man, daß ein Abenteuer bevorstand. Ich glaube, wir waren das letzte Boot, das damals durch den Suezkanal kam, denn die Ägypter wurden fuchtig, und wir hörten von Schießereien. Man konnte nur auf eigene Gefahr an Land gehen. Englische Soldaten standen in 40 Metern Abstand an der Kanal–Zone, während im Hintergrund Schüsse hörbar waren. Die jungen Pommy-Soldaten rieten uns zu warten bis sie uns begleiten konnten. Wir wollten ja zumindest eine Runde durch ein Viertel machen aber danach gingen wir wieder zurück zum Hafen wo unser Kahn schon hupte. Wir hatten ja Fahrkarten für den Pendelverkehr zurück zum Boot aber unser Fährmann wollte extra Geld haben und so riefen wir die Polizei, die dem ausgekochten Kerl mit ihrem Revolver drohten. Am Schiff wurde die Leiter schon hochgezogen, musste aber wieder gesenkt werden für uns. Am Ende der Leiter stand der riesige Zahlmeister, der uns am Schlawitchen hochzog und die Zuschauer an Deck jubelten lautAm Ende des Kanals ging es mit dem Bus nach Kairo und von da mit Kamelen zu den Pyramiden. Ich Kavalier half natürlich den Frauen auf die Kamele. Als ich endlich an der Reihe war, war nur noch ein Pferd erhältlich
Zu Pferd bei den Pyramiden
65 Poggioreale Napoli. Jemand sagte, dass es beim Reisen nicht wichtig ist wie viel man sieht, sondern wie viele Freunde man findet. Ich begleitete die aufgeregten Brooms zum Bahnhof, der von Menschen wimmelte. Die Massen standen herum, als wenn sie kein Zuhause hätten. Als der Zug losdampfte, winkten wir uns zu, und ich machte mich auf den Weg zurück zum Dampfer. Da sah ich ein Mädel vom Schiff weinend mit ’nem Gepäckträger diskutieren, er war ein hässlicher Kerl. Für ihre zwei Koffer von der Taxe herzufahren mit seiner Karre verlangte er ein Pfund, was, glaube ich, 1700 Lire waren. Sie hatte aber nur 10 Schilling Bargeld übrig, der Rest war Reiseschecks. Ich hielt dem Kerl noch 10 Schilling hin aber er winkte mich mürrisch und energisch ab. Ein anderer Träger kam hinzu und versuchte auf den Burschen einzureden aber der schrie irgendwas und deutete abweisend auf mich. Dann sah ich an einem Schalter Informazione und zeigte dorthin. Ich trug ihre Koffer und der Kerl folgte fluchend. Ich bat die Frau am Schalter die Polizei anzurufen aber sie deutete zum anderen Ende des Bahnhofs wo mit Neonschrift Polizia stand. Inzwischen kamen mehr Polizisten zu uns und der Träger beschimpfte nur immer mich obwohl ich den Uniformierten unser Geld hinhielt. Ich sagte zu dem Mädel, dass wir zu der Wache gehen und los gingen wir. Inzwischen waren wir umringt von Massen von Leuten, so dass wir am Ende gar nicht mehr vorwärts kamen. Ich bat aber das Mädel weiter vor mir zu gehen bis plötzlich ein Polizist sie an Ihrer Schulter zurückzog und da haute ich ihm eine an seinen Kopf und dann wurde das Ganze ein grotesker Cartoon. Ich wurde von alles Seiten angegriffen und mich ständig drehend, schlug ich zu wie ein Besessener und jeder Schlag traf, denn sie standen wasserdicht. Mein Geist sagte mir, dass ich am Träumen bin; das konnte doch unmöglich wahr sein. Manche Gesichter versanken – waren aber bei meiner nächsten Umdrehung wieder da. An ein Gesicht erinnere ich mich heute noch. Es war ein grosser Kerl im Mittelalter, mit schneeweissem Haar, der immer wieder aufzutauchen schien. Dann wurde mit Handschellen gefummelt und jeder dieser Witzfiguren wollte der Verhafter sein und am Ende hielt ich meine Arme hin und immer noch wollte jeder seine Kumpanen übertreffen. Als nun die Schellen endlich klickten, erhielt ich den ersten Hieb den ich merkte von hinten an mein linkes Ohr und hörte plötzlich Blasmusik. Nun hatte ich aber Wut und mich umdrehend beide Fäuste nach oben, knallte ich sie nieder auf einen Schädel der sofort versank. Ich hoffte nur, dass das der Feigling war, der mich ans Ohr gehauen hatte. Aber die Blasmusik hörte nicht auf und dass machte mir bissel Kummer. Und nun endlich wogte der ganze Haufen zur Hauptwache, wo ich ja sowieso hinwollte. Trotz dieser blöden Situation musste ich laut lachen als die ganze verrückte Meute mit einmal durch die Türe wollte. Das waren keine Erwachsenen sondern Verrückte. Im Saal drin ging das Getöse weiter aber auf einmal ein Schrei – Stille – und die Masse öffnete sich und da stand er, Mussolini, wiederauferstanden oder wenn nicht, dann war’s sein Zwillingsbruder. Er kommandierte die Massen raus und ich dachte der Kerl erschiesst mich. Er schrie mich an und ich gab ihm zu verstehen, dass ich kein Wort verstand. Ich musste mich auf eine Bank setzen und herein kam ein Mann der Englisch sprach. Ich glaube er sagte mir, dass der Hauptmacker der Verteidigungsminister war, für dessen Ankunft die Massen gewartet hatten. Ich musste trotz meiner brenzligen Lage wirklich lachen. Hier kommt der aufgeblasene Generalissimo mit ’nem Sonderzug an in Napoli, vielleicht, roter Teppich und ’ne Blaskapelle und keine Massen, denn die sehen sich meine Hinrichtung an – das hat ihn natürlich bissel verstimmt. Der Dolmetscher berichtete Mussolini meine Story und der guckte mich an aber ich konnte mir dass Lachen nicht verbeissen obwohl ich wirklich versuchte ernst zu sein. Ich bat zum Englischen oder Australischen Konsulat genommen zu werden. Mussolini starrte mich an und sagte endlich was zum Dolmetscher. Er teilte mir mit, dass ich zum Konsulat gefahren werde. Ich bedankte mich bei Mussolini aber er drehte sich um. An der Tür warteten die Horden noch und ich musste mit 4 Uniformierten in nen grünen Lieferwagen steigen. Ich nahm an, dass sie mich beschützten vor der blutdürstigen Horde. Während der Fahrt lachten wir uns an, und die Uniformen alberten herum als wenn sie mit mir boxen wollten. Wir stiegen bei einem riesigen Gebäude aus, eine Art Burg, dachte ich und staunte. Dann sah ich, daß alle Fenster vergittert waren und musste wohl deppert ausgesehen haben, denn als ich mich umsah, standen die vier Genossen da und lachten. Ja, das war kein Konsulat, das war ein riesiges Gefängnis; Mussolini du kurzbeiniger Schelm, mich armen, unschuldigen Sünder so zu verarschen … Ja das war wirklich eine Burg. Ich musste meine Brieftasche abgeben und dafür einen Zettel unterschreiben. Musste mich ausziehen, bekam meinen Po beleuchtet und nachdem ich wieder bekleidet war, ging’s lange Korridore entlang, durch Gittertüren, Treppen hoch, durch noch mehr Gittertüren, an noch mehr Korridoren entlang, noch mehr Treppen hoch und endlich durch eine Stahltür in eine Zelle mit zwei Pritschen. Die Tür knallt zu hinter mir und das schallte ganz schön. Licht kommt aus einem Schacht in der Wand aber man kann den Himmel nicht sehen. Ich setze mich auf die Bank und versuche den ganzen Film zurückzudrehen. Ist das wirklich alles passiert? Ich wache gleich auf und danke dem Herrn, dass es ein Traum war. Langsam muss ich einsehen, dass es Wirklichkeit ist. Auf der Bank sind zwei Decken und ein Kopfkissen und plötzlich merke ich wie kalt es ist oder sind dass meine Nerven? Nein es ist Winter in Neapel, in Europa. Ich strecke mich aus und schlafe ein und wache auf als ich ’ne laute Schiffssirene höre und dann wird mir’s ganz ungemütlich zu Mute. Mein alles ist auf dem Dampfer. Wer in der Welt wusste wo ich bin? Diese Kasper können mich doch hier für immer behalten. Es ist stockdunkel, als die Tür aufgeht und ein Körper reingeschoben wird, die Tür knallt wieder zu. Der Besoffene gurgelt was und dann ist Ruhe. Ne Klappe geht auf in der Tür und ruft was und der Besoffene rafft sich auf und bekommt einen Blechbecher worauf er Licht anmacht; es ist eine schwache Glühbirne über der Tür. Die Stimme in der Klappe ruft mir was zu aber ich ignoriere sie und die Klappe geht zu. Mein Zellenkumpel erzählt mir was, wovon ich nichts verstehe, und dann sagt er paar deutsche Worte, aber die machen mir auch keinen Sinn. Er rollt sich eine Zigarette und bietet sie mir an, und ich nehme sie und danke ihm. Das Ding macht mich drehend und mir fällt ein, dass ich seit gestern Abend nichts gegessen hatte. Der arme Kerl sieht dürre und verloddert aus. Er stiert mich an und sagt Kamerad? Und ich nicke und dann kommen wieder paar Brocken deutsch. Es ist hell draussen als die Tür aufgeht und drei Wächter hereinkommen; einer mit Revolver in der Hand und sie winken mir mitzukommen. Hinrichtung? Ich sehe Dave und Pedro im Jenseits lachen und ich nehme mir vor keine Angst zu zeigen und gehe voran. Wieder geht es durch Gänge und Tore, Treppen runter und mehr Korridore und dann muss ich in eine andere Zelle mit anderen Insassen. Hier sieht es bissel heimischer aus, denn da sind zwei Schränke und es liegen mehr Decken auf den Pritschen.und da ist auch eine Tür zum WC. Er ist ein gemütlicher Kerl in den 40-er Jahren und spricht paar Worte Englisch. Er will wissen warum ich hier bin und ich sage ihm, dass ich ein kleines Missverständnis mit Polizisten gehabt habe. Er fragt Mord? Und ich verneine. Er gibt mir zu verstehen, dass er einen Mann erstochen hat und ich frage ihn ob es ein Gepäckträger war aber er versteht das nicht. Wir sitzen auf unseren Pritschen und sehen uns an und plötzlich verlangte er, dass wir auf und ablaufen müssen und so gehen wir mit festem Gang hin und her für ’ne ganze Weile, auf und ab und das tut einem gut. Dann öffnet er sein Schränkchen und holt eine Wurst raus, halbiert sie mit ’nem langen und scheinbar scharfen Messer und reicht mir die Hälfte mit dem Messer. Es schmeckte herrlich aber er gebietet noch einen Moment zu warten und holt Brot raus und schneidet mir ’ne dicke Scheibe ab. Kauend frag ich ihn ob er mit dem Messer den Mord ausgeführt hat und er lacht laut und schüttelt den Kopf. Mittags geht die Türklappe auf und wunderbarer Duft kommt herein und wir bekommen jeder eine Aluminiumschüssel mit Spaghetti und ein grosses Brötchen und es gefällt meinem Partner, dass ich es alles geniesse. Ich gebe ihm zu verstehen, dass ich Telegramme schreiben will und er klopft laut an die Tür und als die Klappe aufgeht, erklärt er meinen Wunsch und in Kürze bekomme ich einen Schreibblock und einen Bleistift. Der Wächter guckt mir zu als ich an das Britische und Australische Konsulat schreibe und um Besuch frage. Mein Kumpel schüttelt seinen Kopf und will mir was erklären über die Telegramme aber ich verstehe es nicht. Was ich aber verstehe ist, dass die Telegramme auf mein Konto gehen. Danach muss ich wieder mit ihm laufen für ne ganze Weile, wonach er mir eine Zigarette dreht und dann legen wir uns lang. Ich mache mir Sorgen, wie lange die mich hierbehalten werden. Was wird, wenn der arme Heinz vergebens auf mich wartet in Frankfurt? Die Meinen werden verrückt werden vor Angst, wenn ich zu Weihnachten nicht da bin – und keiner weiß, wo ich bin. Das Abendbrot ist auch wieder herzhaft und der Wächter fragt mich ob ich Zigaretten kaufen will was ich bejahe und wieder gibt er mir zu verstehen, dass die auf mein Konto gehen. Gleich kommt er zurück mit ’nem Beutel Tabak und Papier und ich muss was unterschreiben. Ich gebe es meinem Partner, denn ich kann nicht rollen und er lacht herzlich und meint, dass ich auch Zigarettenschachteln kaufen kann. Gott sei dank schlafe ich gut. Nächsten Vormittag werde ich wieder abgeholt von drei Wächtern und mein Nachbar nickt traurig und zuckt seine Schultern. In der nächsten Zelle sind drei Insassen, die mich scheinbar erwartet haben und mich freudig begrüssen indem sie Schattenboxen kaspern und dann meine Armmuskeln fühlen. Hoffentlich sind dass keine warmen Brüder. Wieder schreibe ich Telegramme und wieder zeigen die Leute ihr Unwollen darüber und ein lautes Argument bricht aus. Diesmal schreibe ich auch an das Deutsche Konsulat aber der Streit meiner Zellenbrüder geht weiter darüber. Ich erfahre, dass die Bengel Diebe sind und wenn ich es richtig verstehe, sind sie schon 4 Jahre hier oder sie haben noch 4 Jahre zu sitzen? Für die dritte Nacht werde ich wieder versetzt und wenn ich frage warum diese Umzieherei tippen sich die Wächter an Ihre Nasen als wenn dass Geheimsache wäre. In dieser Zelle sind 4 Leutchen und der älteste spricht auch wieder paar Worte Deutsch und ich erfahre, dass drei von ihnen Diebe sind aber der Ruhigste und Jüngste ist ein Mörder; er hatte einen Nebenbuhler mit einem Schraubenzieher erstochen und muss 14 Jahre brummen; derselbe guckt mich traurig an und zuckt seine Schultern. Ich wundere mich als was ich klassifiziert bin. Selbstverteidigung war meine Aktion nicht obwohl, nach ein paar Sekunden war es dann doch so; aber wer trifft denn hierzulande eine Entscheidung?? Der Alte erklärt mir, dass sie meine story in der Zeitung gelesen haben und er sucht dann unter einem Stoss von Zeitungen, findet sie aber nicht und wieder beginnt ein wilder Streit mit seinen Kumpanen. Am Ende erfahre ich, daß ich als gefährlich eingestuft wurde und deshalb von Zelle zu Zelle verschoben werde; na, das fehlte mir noch: unter Dieben und Mördern als gefährlich angesehen zu werden, ich, der sanfte, liebende, bescheidene, arme Heinz. Er erzählt weiter, dass ich angeblich wie ein Verrückter gekämpft und gebissen und gerungen habe aber die siegreiche Polizei hat sich tapfer gehalten und mich wacker übermannt. Er rollt mir noch eine Zigarette und wieder bricht ein heftiger Streit aus, weil ein anderer mir auch eine gerollt hat. Es ist wirklich interessant, wenn nicht urkomisch, dass die Bengel mitten im Frieden in einen Streit ausbrechen können über sonstwas und ebenso plötzlich wieder Frieden machen. Der andere steckt mir seine Zigarette hinter mein Ohr und ich muss lachen wie ich über Heinz gemeckert habe mit seiner Raucherei. Der junge Mörder macht bei diesem Spektakel nie mit sondern sitzt auf seinem Bett und schaut zu. Und wenn der Alte mir ein Stück Wurst aus seinem Schränkchen gibt, suchen die anderen auch hastig in ihren Kästchen nach Gaben für mich und dieses Mal gibt’s keinen Streit. Der Alte erklärt mir, dass ich berühmt sei weil ich Polizisten verwackelt habe; das macht mir Angst, denn solcher ‘Ruhm’ kann kaum ein Vorteil für mich sein. Ich erfahre, daß die Gerichte hier sehr langsam arbeiten, und man kann jahrelang in Haft sein, bevor ein Fall vor den Richter kommt. Es ist interessant, was man durch Gestikulation lernen kann. Trotz der Zankerei in der Zelle vernehme ich, daß Kameradschaft unter ihnen stark ist und ihren Heimwehschmerz erträglicher macht. Und wieder werde ich rausgerufen. Ich versuche gelassen auszusehen. Jedes Mal, wenn ich rausgerufen werde hoffe ich, daß ich freigesetzt werde. Das nächste Quartier ist Zelle 107 mit 13 Mann, und ich bin froh, daß einer etwas Englisch spricht. Allerdings sprudelt er vor Freude, sein Können zu beweisen und schnattert wie ein Wasserfall. Endlich erfahre ich, dass kein fremdsprachiges Telegramm aus dem Gefängnis geschickt wird, ich dafür aber bezahlen kann. Und so setzen wir uns hin und beginnen wir nochmal an die drei Konsulate zu schreiben und die ganze Mannschaft schaut gespannt zu. Es ist ’ne lange Zelle mit 7 Betten an beiden Wänden und an meiner Wand sind 3 vergitterte Lichtschächte. Ich erfahre, dass die Säcke, die von den Gittern hängen, Privatproviant enthalten. Das WC hat neben den drei Klos auch drei Brausen. Die Klos sind Porzellanbecken mit Löchern im Fussboden. Dienstag ist Besuchstag wo immer drei Mann weggeführt werden und mit Säckchen und verweinten Augen zurückkehren und dann geh’n die Nächsten ab. Hier sind zwei Mörder und auch die sind ganz ruhig. Einer kann nicht lesen oder schreiben und seine Kumpel geben ihm Unterricht. Wieder erfahre ich, dass die Hälfte von ihnen ihren Fall noch nicht vor Gericht hatten; Carlos, z. B. wartet schon seit 4 Jahren auf sein Verfahren. Die meisten haben grosse Familien. Carlos hatte angeblich einen Regenschirm von einem Touristen gestohlen. Das alles klingt ziemlich mies für Heinz Süssenbach der hier Enzo genannt wird. Giorgio ist mein Bettnachbar und nimmt sich meiner sehr treu an. Er spricht kein Wort Deutsch, aber redet immer leise zu mir, und ich bin mir sicher, daß ich vieles verstehe. Auch hier drehen sie mir Zigaretten (spiniellas). Giorgio erklärte mir, dass die Kinder der Insassen auf der Strasse Kippen sammeln und den Tabak in Säcke tun für Vater im Gefängnis.; das war damit meine letzte Gerollte und endlich kann ich richtige Schachteln kaufen wofür ich Zettel unterschreiben muss und es wird gejubelt als die ersten Kartons Marlboro gebracht werden, die ich natürlich für jedermann bereitlege aber die Jungs gehen da sehr bedacht ran; Giorgio hält Wacht. Er selber raucht nicht. Giorgios Bruder hat eine Autowerkstatt, und sie haben gestohlene Autos angenommen, umgebaut und verkauft. Als sie erwischt wurden, nahm der ledige Giorgio die Schuld auf sich, denn sein Bruder hatte eine Familie mit 4 Kindern
Pasquale und Giorgio. Ich hatte meinen Zellen-Kameraden ein Paket mit Zigaretten und Tabak aus Deutschland geschickt. Das haben die armen Kerle wohl nie erhalten
Die erste Seite von Giorgios Brief
Ich hatte mir Giorgios Brief in Leipzig übersetzen lassen. Meine Zellenbrüder haben mich mit Hoffnung erwartet. und auch den Zeitungsartikel aufgehoben. von dem Australiano violente, den die angstlosen. Polizisten furchtlos überwunden hatten
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