Kuckucksgeschwister
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Helfried Stockhofe. Kuckucksgeschwister
Kuckucksgeschwister
Eine Lesung vor *innen
Das Geschlechter-Interview
Märchenhafte Freundschaften
Nicht wirklich eine Schwester
Verbundene Familien
Erklärungsversuche
Neuanfangsexperimente
Veröffentlichungen:
Отрывок из книги
Eine Lesung vor *innen
Das Geschlechter-Interview
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Natürlich ging sie alleine weg. Nach dem Frühstück zog es sie an den Fluss zu einem Spaziergang. Die ersten Meter entfernte sie sich schnell vom Hotel, dann ließ sie sich Zeit und genoss die schon recht angenehme Wärme der Sonne und das frühsommerliche Gezwitscher der Vögel. Erstaunlicherweise war kaum einer unterwegs, auch keine „Eine“ … Selten, dass sie einmal über ihr inneres Gender-Engagement schmunzeln musste ... Als sie die Glocken der Stadtkirchen hörte, vermutete sie, dass sie in einem besonders frommen Landstrich gelandet war, wo sich viele Bürger an einem Sonntagmorgen in den Gottesdienst begeben – beziehungsweise sich nicht auf die Straße trauen, um nicht als unfromm angesehen zu werden. Der junge Angler, den sie am Flussufer aufschreckte und der durchaus zu einem Schwätzchen bereit war, lachte und meinte, die Leute seien müde von ihrer Samstagsarbeit und schliefen sonntags immer sehr lange. Sie wusste nicht, ob sie das ernst nehmen sollte oder ob er sich einen Scherz mit der Fremden erlaubte. Sie lächelte freundlich und wünschte ihm „Petri Heil“. Nachdem sie schon ein paar Meter entfernt war, entdeckte sie ein idyllisches Fotomotiv und ging noch einmal zum Angler zurück. Sie fragte, ob er etwas dagegen hätte, wenn er auf ihrem Foto abgebildet würde. Er grinste nur. Sie erkannte darin eine Zustimmung und lichtete den Fluss mit dem jungen Mann im Vordergrund ab. Ihrer Schwester würde sie weis machen, dass sie ein angeregtes Gespräch mit ihm geführt hätte – was die ihr sowieso nicht glauben würde. Sie schickte ihr das Foto daher mit einer glaubwürdigeren Bemerkung. Da sich der Himmel etwas zuzog und sie nicht die Wetterkapriolen in dieser Gegend kannte, drehte sie um und ging Richtung Hotel zurück. Da dachte sie, einen Mann zu bemerken, der ihr nachgegangen war und sich ebenfalls schnell umwendete und Richtung Stadtmitte zurückeilte.
Das Mittagessen - an einem Tisch allein für sich - schmeckte ihr ausgezeichnet. Die Katzentische waren voll belegt und an den größeren Tischen saßen meist Familien oder gleich ganze Freundesgruppen, die offenbar die Lokalität schätzten. Geld haben die hier, wenn die jeden Sonntag zum Essen gehen können, dachte sie sich. Von einem Tisch wurde herübergeschaut und sie vermutete, dass man sie erkannt hatte. An einem zu kurzen Rock konnte es jedenfalls nicht liegen. Die Leute nickten und sie nickte zurück. Da die Szene nicht unbeobachtet blieb, begannen zwei andere Tische zu tuscheln. Nun wurde es ihr unangenehm. Sie hätte gern ihre Ruhe gehabt, wäre gern anonym geblieben. Sie konnte sich nur schwer in Autorenkollegen hineinversetzen, die erkannt werden wollen und Autogrammwünsche keinesfalls als störend erlebten. Sie machte ein angestrengtes Gesicht und konzentrierte sich voll auf ihr Essen. Glücklicherweise wurde ihre Distanzierung verstanden. Nach dem Pharmavertreter hatte sie schon beim Hereingehen geschaut, aber ihn nicht entdeckt. Sie horchte in sich hinein und dachte wieder an ihre Schwester. „Beim Essen lernt man Leute kennen!“, meinte die. Warum wollte sie das nicht? Sie konnte nicht leugnen, dass ihr das Vorlesen ihrer Bücher gefiel – einmal abgesehen von den Szenen, in denen sie sich gefühlsmäßig zu sehr mitreißen ließ. Ihr gefiel also dieser Kontakt zu den Menschen. Aber was heißt Kontakt? Es war ja nur eine einseitige Präsentation, eine mit einer gewissen Rückmeldung zwar, doch eigentlich hatte sie alles im Griff, sie konnte bestimmen, wie weit sie etwas von sich preisgeben und wie weit sie etwas von den anderen wahrnehmen wollte. Höchstens beim Signieren musste sie mit der einen oder anderen Bemerkung oder kurzen Frage rechnen. Oder war es genau andersherum? Sie scheute weniger die Gesprächsbeiträge und Nachfragen der anderen, wenn sie mit denen zum Beispiel an einem Tisch saß, sondern ihre eigenen. Sie interessiere sich zu wenig für andere, warf man ihr gelegentlich vor, und dass das für eine Schriftstellerin doch sehr ungewöhnlich sei, denn gerade sie müsste doch Interesse an allem und jedem haben. Ach, ich kenne mich nicht einmal mit mir selbst aus, dachte sie mit einer gewissen Resignation, und es kam ihr so vor, als könnten alle im Raum ihre Gedanken hören.
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