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1. Kapitel

Am Tag seiner Einschulung hatte die Großmutter väterlicherseits, sie stammte aus Sachsen, behauptet, dass Hubert Globig es nicht weit bringen würde, da er meschugge und ein Lüderjahn sei.

Dem widersprach die Kindesmutter, deren Familie sehr reich war und aus dem Ruhrgebiet stammte, energisch und sagte immer: „Mein Hubert ist zwar nicht der Fleißigste, aber hochintelligent. Er wird es einmal zu etwas Großem bringen.“

Der Großvater mütterlicherseits, ein erfolgreicher Industriekaufmann, vertrat hinsichtlich der Entwicklung seines Enkels stets die Auffassung, je mehr Macht man dem Schicksal beimesse, desto mehr beraubt man sich der Vernunft. Immer, wenn er diese Weisheit anbrachte, erklärte er, dass er dies bei Casanova gelesen habe.

Keiner der Großeltern behielt recht.

Hubert Globig besuchte zwar das Gymnasium, war aber nie der Klassenprimus. Nach dem Abitur studierte er zwei Semester „Irgendetwas“ in Heidelberg, kehrte in seine Heimatstadt zurück und wurde Briefträger.

Seine Mutter, die von ihm so überzeugt war, verstarb alsbald. Auch der Großvater lebte nicht mehr allzu lange und hinterließ seinem Enkelsohn neben einem Dreifamilienhaus in bester Wohnlage ein ansehnliches weiteres Vermögen.

Hubert Globig war in materieller Hinsicht ausreichend abgesichert und fühlte sich nicht zuletzt deshalb als Briefträger wohl. Dabei hatte er im Hinterkopf, dass er auch als Briefträger ein Postbeamter sei und damit alle Vorteile des Beamtendaseins genoss. Wenn er sich wegen dieses Berufes auch manchmal insgeheim schämte, fühlte er sich deshalb nicht erniedrigt. Er hielt sich selbst für glücklich, weil er sich rühmen konnte, sich selbst zu genügen.

Während seiner gesamten Dienstzeit bewarb er sich nie um einen Aufstieg in der Postbeamtenlaufbahn. Man nahm ihn so, wie er war. Schließlich verstaubte seine Personalakte irgendwo im Aktenschrank.

Beim Austragen der Post führte Hubert Globig gern - zum Teil auch laute - Selbstgespräche und war dafür bei seinen Postkunden bekannt.

Musste er Auslandspost zustellen, merkte er sich den Absendeort und las zu Hause intensiv darüber, was er fand. Bei der nächsten Postzustellung konnte er sich mit dem Empfänger über den Aufgabeort der Sendung wissend unterhalten.

Im Laufe der Jahre war das Selbstgespräch für ihn die angenehmste Art der Unterhaltung geworden. Keiner widersprach ihm und das machte ihn zufrieden. Das Selbstgespräch zog er auch einer Unterhaltung mit seiner Ehefrau vor. Diese war zwar nicht ungebildet, interessierte sich aber nur für Dinge, die sie selbst betrafen. Maßstab für sie waren die Lebensweisen der Darsteller der Vorabendserien und die Discounterangebote. Sie war stolz darauf, etwas nicht zu wissen und rechtfertigte dies mit einem überheblichen, hilflosen und mitleidigen Lächeln, indem sie bemerkte, dass man solches nicht zu wissen brauche, weil man ein ausreichendes anderes Wissen habe und fühlte sich dabei als das Maß aller Dinge. Außerdem habe sie weiß Gott keine Zeit, sich mit solchen Nebensächlichkeiten zu beschäftigen.

Hubert Globig hatte sich an diese Betrachtungsweise seiner Ehefrau gewöhnt. Für ihn war diese Selbsterniedrigung Ausdruck ihres Hochmutes. Als er sie kennenlernte, träumte er von einem Zweisiedlerdasein in einem Haus am Ende der Welt. Jetzt wollte er nur noch Einsiedler sein.

Im Gegensatz zu seiner Ehefrau hatte er Angst, nicht mehr genügend Zeit zu haben, alles Neue zu erfahren, zu erfassen und zu begreifen. Diese Angst trieb ihn um.

Als Hubert Globig pensioniert wurde, verschwand er vor der offiziellen Verabschiedung und ließ sich danach nie mehr auf seiner Dienststelle sehen. Er war mit sich und der Welt zufrieden.

Er konnte sich nicht erinnern, jemals ernsthaft krank gewesen zu sein. In letzter Zeit fühlte er sich jedoch stets müde und abgespannt, obwohl er sich das nicht erklären konnte. Auf Anraten seiner Ehefrau entschloss er sich, den Hausarzt aufzusuchen.

Aus dem Lautsprecher im Wartezimmer knarrte es: „Der Nächste bitte.“

Hubert Globig erhob sich und ging zum Arzt in das Behandlungszimmer.

„Guten Tag, nehmen sie bitte Platz“, sagte der Arzt und Hubert Globig setzte sich auf den angebotenen Stuhl.

„Na, was fehlt uns denn?“

„Also, was ihnen, Herr Doktor, fehlt, weiß ich nicht. Aber mir geht es gar nicht gut. Ich fühle mich in letzter Zeit schlapp und müde und habe kaum Appetit. Ich glaube, ich habe Burn-out.“

„Warum denn das?“, fragte der Arzt und Hubert Globig antwortete, dass diese Krankheit doch heute fast jeder hätte.

„Also in ihrem Fall kann das kaum sein. Sie sind als Briefträger schon in Rente. Wer überfordert sie denn?“

„Das weiß ich ja gerade nicht und komme deshalb zu ihnen.“

„Na, machen sie mal ihren Oberkörper frei, damit ich sie abhören kann.“

Nachdem der Arzt abgehört und den Blutdruck gemessen hatte, sagte er: „Also Herr Globig, ich kann nichts feststellen. Sie müssen, wie früher, wieder viel an der frischen Luft spazieren gehen und nicht nur im Sessel sitzen und Biere trinken.“

„Das sagt meine Frau auch immer, dass mir vielleicht das kalte Bier nicht bekommen würde.“

„Dann trinken sie weniger und warmes Bier. Ich verschreibe ihnen noch ein Medikament, damit sie besser schlafen können. Und denken sie daran, viel an der frischen Luft umherlaufen, Herr Globig.“

„Gut, ich werde am Nachmittag spazieren gehen, Herr Doktor.“

„Nein, sie müssen früh morgens an die frische Luft.“

„Aber da trage ich doch schon die Zeitungen aus. Also kann ich nur am Nachmittag spazieren gehen.“

Am Abend trank Hubert Globig drei warme Biere und nahm das verschriebene Medikament.

Kurz vor Mitternacht plagten ihn fürchterliche Albträume und er schwitze stark. Er traute sich aber nicht, seine Frau zu wecken und träumte, dass er wie ein Vogel über der nächtlichen Stadt schweben könnte.

Traum:

Hubert Globig erhob sich im ehelichen Bett, stand auf und ging zur Terrassentür.

Nach dem er durch die Tür getreten war, hatte er das Gefühl, leicht über dem Boden zu schweben. Als er die Arme ausbreitete und mit diesen anfing, Flugbewegungen zu machen, erhob er sich und konnte fliegen.

Zunächst schwebte er auf das Dach des Nachbarhauses und ruhte etwas aus.

Er schaute sich um und hatte das Gefühl, die Tiere zu verstehen. Nur konnte er nicht erkennen, um welche Tiere es sich handelte.

Hubert Globig glaubte, sich zu irren und erhob sich wieder, um weiter zu schweben.

Der Blick auf die nächtliche Stadt verwirrte ihn zunächst. Alsbald fand er alles sehr interessant.

Als er in der Ferne eine alte und verfallene Fabrik sah, entschloss er sich, diese anzufliegen.

Er sah dieses Gebäude zum ersten Mal, obwohl er fast vierzig Jahre in dieser, seiner Stadt, lebte und hier auch Briefträger war.

Je näher er kam, um so staunenerregend wurde es. Das Gebäude lag in einer Art Nebel und schien mit dem Boden nicht verbunden zu sein. Alles sah recht trostlos und verfallen aus. Manchmal glaubte er, ein verfallenes Schloss zu sehen. Andererseits war es aber auch ein typisches Fabrikgebäude.

Trotzdem hatte Hubert Globig den Eindruck, dass es eine Pförtnerloge gab.

Voller Neugier klopfte er an die Tür. Ein kleines Fenster öffnete sich und ein Pförtner sagte: Ach, da bist du endlich. Karlchen erwartet dich schon. Ich bringe dich zu ihm.

Hubert Globig verstand rein gar nichts und fragte, wer Karlchen sei.

Mit dem musst du über deine Erneuerung sprechen, sagte der Pförtner.

Beide schwebten, mehr als dass sie gingen, durch die alte Fabrik. Vor einer Tür verschwand der Pförtner plötzlich.

Hubert Globig, von Natur aus neugierig, entschloss sich, durch die Tür zu gehen, um zu sehen, was ihn dahinter erwartet.

Kannst du nicht anklopfen, fragte ein kleines Männchen in einem scharlachroten Umhang.

Habe ich!

Du hast doch gar keine Finger.

Ich habe mit dem Knie gegen die Tür geklopft, antwortete Hubert Globig.

Ach so, das habe ich nicht gehört. Was willst du?

Ich soll mich hier zur Erneuerung melden.

Warum willst du denn recycelt werden?

Das weiß ich auch nicht, man hat mich aber hierhergeschickt.

Typisch für unseren Pförtner, sagte Karlchen und fragte: Na gut, woher kommst du?

Aus Deutschland.

Wenn du Globig heißt, kannst du nur aus Mitteldeutschland kommen und bist in die Religionsgemeinschaft der Protestanten hineingeboren worden.

Nein, ich bin aus dem Westen Deutschlands und Katholik.

Auch gut, warum solltest oder willst du denn recycelt werden? Welche besonderen Eigenschaften oder Verdienste hast du?

Die Frage kann ich so nicht beantworten. Der Pförtner hat mich hierhergeschickt.

Das habe ich mir gleich gedacht. Den haben wir versehentlich wiederhergestellt. Es ist aber nicht mehr zu ändern. Jetzt schickt er uns jeden, der ihm sympathisch ist. Und ich kann sehen, wie ich mit den vielen Anwärtern zurechtkomme.

Was genau prüfst du, wollte Hubert Globig wissen.

Unkladung wollte sich hier auf dem Planeten, den ihr Menschen Erde nennt, zur Ruhe setzen. Bald merkte er, dass nicht alles so lief, wie er sich das vorgestellt hatte.

Versteh ich nicht, sagte Hubert Globig.

Das glaube ich dir aufs Wort. Also, weil Unkladung mit der ganzen Entwicklung der Pflanzen und Tiere nicht zufrieden war, versuchte er zu korrigieren und schlug mit der Faust dazwischen. Das geschah schon fünfmal. Der schwerste Schlag traf die Erde vor rund 251 Millionen Jahren eurer, also der menschlichen, Zeitrechnung. Damals vernichtete er gut 96 Prozent aller Arten.

Davon habe ich schon in der Schule gehört, bemerkte Hubert Globig und sagte, dass er gelernt habe, dass es vernichtende Ereignisse auch schon vor 440 Millionen Jahren und 360 Millionen Jahren gegeben habe.

Du vergisst die Schläge Unkladungs vor 208 Millionen und 65 Millionen Jahren, lieber Hubert Globig.

Aber ich weiß, dass vor 65 Millionen Jahren die Dinosaurier ausgestorben sind.

Richtig mein Freund, sagte Karlchen und fuhr fort, dass Unkladung erneut unzufrieden sei und erneut zuschlagen wolle.

Ja, und?

Deshalb will er alles sammeln, was die Menschen richtig und gut gemacht haben und dieses Tun recyceln und archivieren.

Dann will ich nicht länger stören. Ich komme dafür mit Sicherheit nicht in Betracht und bin offenbar falsch bei dir. Würde wieder gehen, aber mein linkes Bein steckt fest und jetzt ist es auch noch abgegangen, weil ich zu sehr daran gezogen habe, sagte Hubert Globig.

Hier brauchst du keine Beine, musst nur Verdienste am Wohlergehen der Menschen haben. Aber wenn dir so viel an deinem Bein liegt und du es nicht herausziehen kannst, geh rüber ins Ossuarium, oder wie ihr in Deutschland sagt, ins Beinhaus, und hol dir ein anderes.

Hast du dich nicht um die Menschheit verdient gemacht, wollte plötzlich Karlchen wissen.

Die Frage kann ich nicht beantworten. Ich bitte um eine Hilfestellung, was Verdienste um die Menschheit sind.

Das kann man so einfach nicht erklären. Man könnte aber sagen, dass sich jemand dann darum verdient gemacht hat, wenn sich ohne ihn die Menschen noch nicht soweit - und vor allen Dingen positiv - entwickelt hätten.

Wir verwahren hier alle Ankömmlinge in speziellen Regalen, bis wir sie überprüft haben. Bei manchen dauert die Prüfung lange und bei anderen geht es schnell.

Habt ihr denn keinen Computer?

Computer? Was ist denn das?

Na, so ein automatischer Datenverarbeiter.

Ach, meinst du den binären Gleitkommarechner, den Konrad Zuse erfunden hat?

Kann sein, so genau kenne ich mich da nicht aus.

Also das Ding ist ständig weiterentwickelt worden und euer Computer ist heute mit einer Handrechenmaschine mit Holzkugeln auf Stangen vergleichbar. Wir sagen zu unserer maschinellen Verwaltungsverarbeitung Hangliku.

He? Hangliku habe ich noch nie gehört.

Glaub ich dir. Das Ding übersteigt das menschliche Vorstellungsvermögen. Euer Computer ist eine Vor-Vorstufe des Hangliku.

Aber da fällt mir ein, dass der deutsche Konrad Zuse zum Beispiel einer war, der sich um die Entwicklung der Menschheit verdient gemacht hat und sofort recycelt worden ist. Bei anderen hingegen haben wir aber auch sofort entschieden nicht zu erneuern, weil es einfach war.

Welche waren das?

Zum Beispiel Stalin und Hitler. Diese Massenmörder wurden sofort und unwiederbringlich entsorgt. Andere Politiker liegen noch ungeprüft in den Regalen. Hier in diesem Regal liegen die deutschen Politiker, die noch überprüft werden müssen; zum Beispiel Adenauer, Willi Brandt, Wilhelm Pieck oder Franz Josef Strauß. Aber sieh mal den da, den Honecker. Über den haben wir auch noch nicht entschieden, ob er recycelt wird oder nicht. Bei diesem Mann mit abgebrochener Dachdeckerlehre fällt die Entscheidung aber sicherlich leicht. Abgesehen davon, dass er völlig ungebildet war, hat er seine Kumpel verraten, um die eigene Haut zu retten. Und er war noch so blöd und ist nach geglückter Flucht aus dem Knast zurückgeflohen, weil ihn draußen die Genossen nicht unterstützt haben. Und der Mauerbau mit den vielen Opfern. Da fällt die Entscheidung sicherlich leicht. Kein, auch noch so kleiner Anschein eines Verdienstes um die Menschheit, hat sich bisher erkennen lassen.

Aber der war doch ein Regierungschef. Ich glaube er nannte sich Staatsratsvorsitzender oder so ähnlich, erwiderte Hubert Globig.

Er hatte sich aber auch noch einige andere Titel zugelegt. Außerdem scheint mit seinem Verstand etwas nicht gestimmt zu haben. Sein Derealisationserleben muss arg gestört gewesen sein. Er hatte offenbar zeitweilige oder vielleicht auch dauerhafte abnorme oder verfremdete Wahrnehmungen seiner Umwelt.

Wie muss ich das denn verstehen, wollte Hubert Globig wissen.

Uns wurde berichtet, dass er als Regierungschef der DDR behauptet haben soll, dass sein kleines Land die zehntgrößte Industrienation seiner Zeit gewesen sei. Außerdem hätte sein Volk in abgöttisch geliebt, sodass bei Demonstrationen zu irgendwelchen Anlässen die Teilnehmer ausgewählt und begrenzt werden mussten, damit nicht das ganze Volk jubelnd an seiner Tribüne vorbeimarschierte. Und sein Staat sei in wirtschaftlicher Hinsicht dem westlichen Teil Deutschland weit überlegen gewesen. Im Gegensatz zum kapitalistischen Teil Deutschlands hätte sein sozialistisches Land keinerlei Schulden gehabt. Als er einmal Franz Joseph Strauß, das war der König des deutschen Bergvolkes im Süden, besuchte, wollte er dieser verarmten Alpenregion einen Milliardenkredit gewähren. Aus diplomatischen Gründen und aus reiner Höflichkeit habe er aber zunächst einen Kredit für seine DDR angenommen, weil der Bergkönig sonst beleidigt gewesen wäre. Auf Bitten Strauß habe er auch die Selbstschussanlagen an der Grenze zur DDR abbauen lassen, damit die vielen zu erwartenden Flüchtlinge aus dem Westen in den Osten keine körperlichen Leiden erfahren müssten.

Höre einmal Karlchen. Das war ein wirklicher Patriot. Den müsst ihr unbedingt recyceln.

Geduld, Geduld, Hubert Globig. Wir prüfen zurzeit die nicht eindeutigen Fälle aus der Zeit vor eintausend Jahren eurer Zeitrechnung. Weiter sind wir noch nicht.

Seid ihr denn so überlastet?

Wir nehmen uns Zeit und prüfen gründlich. Die Menschheit wird sich erst in ein paar Jahrzehnten unserer - nicht eurer - Zeitrechnung selbst vernichtet haben, weil sie in unzulässiger Weise in das natürliche Gleichgewicht eingreift. Die Recycelten sollen Vorbilder für die Neue sein. Es eilt also nicht so.

Die Menschen werden sich selbst vernichten? Und das schon in nächster Zeit?

Ja, aber nach unserer Zeitrechnung. Nach der Zeitrechnung der jetzigen Menschen sind das aber Jahrhunderte.

Nach dieser Äußerung des kleinen Männchens namens Karlchen erwachte Hubert Globig.

Er war wie gerädert, trug aber trotzdem die Zeitungen aus, so wie jeden Tag.

Zum Schluss kaufte er beim Bäcker frische Brötchen und ging nach Hause. Seine Frau hatte wie immer wunderbar riechenden Kaffee gemacht und beide frühstückten.

Danach legte Hubert Globig sich wieder ins Bett und holte den verpassten Schlaf nach.

„Vielleicht verträgst du das Medikament nicht“, sagte seine Frau und er winkte ab.

„Bestimmt ist die Zeitungstour zu kurz. Ich werde den ärztlichen Rat befolgen und am Nachmittag einen ausgiebigen Spaziergang unternehmen. Wenn du willst, kannst du ja mitkommen.“

„Das fehlte mir noch“, antwortete seine Ehefrau und sagte, dass sie dafür keine Zeit hätte.

Diese Antwort war für sie typisch. Hätte er gesagt, dass man am Nachmittag in das neue Kaufhaus gehen könnte, hätte sie alle Zeit der Welt gehabt. Aber bei einem normalen Spaziergang bestand die Gefahr, Leute zu treffen, mit denen man sich über intelligente Dinge oder die große Weltpolitik unterhalten konnte. Bei solchen Gelegenheiten musste sie zugeben, dass sie sich für nichts, außer für die täglichen Einkäufe, interessierte und nicht bereit oder in der Lage war, etwas Neues zu hinterfragen.

Er hingegen nahm alles Neue begierig auf und versuchte es zu verstehen.

Hubert Globig dachte den ganzen Nachmittag darüber nach, an was es liegen könnte, dass er solche Albträume hatte. Der Fabrikbesuch ging ihm nicht aus dem Sinn und er überlegte, was es mit der alten Fabrik, dem Pförtner und dem kleinen Karlchen auf sich haben könnte.

„Vielleicht sollte ich lieber, so wie früher, kaltes statt warmes Bier am Abend trinken. Aber die verschriebenen Pillen werde ich weiter nehmen. Einem Doktor muss man glauben. Was sollte denn sonst werden“, sagte er sich und nahm sich vor, wie früher vier Flaschen kaltes Bier vor dem Schlafengehen zu trinken.

Vor dem Einschlafen trieb ihn seine Neugierde um und er nahm sich für den Fall, dass er erneut einen solchen Albtraum haben sollte, vor, der Sache mit der Fabrik und deren Bewohner auf den Grund zu gehen.

Kaum war er eingeschlafen, wälzte er sich im Bett von der einen Seite auf die andere. Seine Ehefrau schlief bereits tief und fest.

Dann überkam ihn wieder ein Albtraum.

Traum:

Albträumend stand er auf, ging auf die Terrasse und schwebte - so wie in der vorhergegangenen Nacht - auf das Dach des Nachbarhauses.

Tierstimmen hörte er heute nicht. Er hatte es auch eilig zu der Fabrik zu kommen.

Er suchte den Horizont nach der Fabrik ab und als er sie entdeckt hatte, schwebte er auf dem direkten Wege dorthin.

Hallo Pförtner, ich glaube, du hast mich gestern in die falsche Abteilung geschickt.

Warum denn das?

Der Typ, zu dem du mich geschickt hast, meinte, dass ich bei ihm vielleicht falsch wäre.

Mach dir keinen Kopf, Karlchen stöhnt immer über zu viel Arbeit.

Ich hatte aber den Eindruck, dass er wirklich viel zu tun hat.

Bei uns läuft das so: Ich, beziehungsweise meine Abteilung, nimmt eine grobe Vorsortierung vor. Massenmörder zum Beispiel kommen gleich in die Kellerabteilung. Offensichtlich zu Recycelnde haben sich gleich im Vorzimmer des Unkladungs zu melden.

Wer ist denn Unkladung?

Der Weltenschöpfer und Chef des ganzen Universums.

Wie nennt ihr den?

Unkladung!

Nicht Gott oder so ähnlich?

Götter gibt es nicht und hat es nie gegeben. Das sind Erfindungen der unwissenden Menschen, also Menschen-Werk und -Wahnsinn.

Verstehe ich nicht, ich glaubte immer an Gott, sagte Hubert Globig.

Das macht nichts. In letzter Zeit, so ungefähr seit fünftausend Jahren, gibt es diesen Irrglauben. Die Gottähnlichen wollen, dass an sie geglaubt wird und dass Zweifel daran Sünde sei. Unkladung ist der Boss! Sonst keiner. Das musst du dir hier merken, um nicht sofort in die Kiste der Ungebildeten zu kommen, riet der Pförtner.

Habe ich verstanden, Pförtner.

So, hier gibt es neben der Kellerabteilung, für die ich im Grunde zuständig bin, und dem Unkladung noch drei Abteilungen. Karlchen steht der Abteilung I vor und sortiert nach weiterer grober Vorprüfung die Ankömmlinge in solche, die eventuell recycelt werden können und in solche, die nicht erneut verwendbar sind, aus.

Also war ich gestern in Abt. I, oder?, fragte Hubert Globig.

Ja. Und Karlchen, der faule Sack, lässt alles langsam anlaufen. Deshalb hat er auch die meisten Rückstände. Die Fälle, die er genauer prüft, sind schon vor viertausend Jahren gestorben.

Das kenne ich. Manche Sachbearbeiter bei der Post haben riesige Rückstände.

Hubert Globig, so ist es. Und weil niemand nach unten befördert werden kann, sondern immer nur nach oben, hakt es in der Abt. I gehörig.

Verstehe ich nicht, sagte Hubert Globig fragend.

Na, Karlchen ist als Abteilungsleiter schon oben und kann deshalb nicht mehr befördert werden.

Bei euch geht es zu wie bei der Post.

Umgekehrt! Bei der Post und in eurem öffentlichen Dienst geht es so zu, wie bei uns, gab der Pförtner zur Antwort.

Gut, aber was machen denn die beiden anderen Abteilungen, wollte Hubert Globig wissen.

Wenn Karlchen entschieden hat, schickt er sie zur endgültigen Überprüfung in Abt. II, das sind die, die recycelt werden können. Die anderen verfügt er in Abt. III.

Und was passiert mit denen, die Karlchen in Abt. III verweist?

Die werden nicht erneuert, haben aber noch ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Abteilungsleiters III.

Habe ich verstanden. Aber was ist die Kellerabteilung?

Ich glaube, ihr Menschen würdet Hölle dazu sagen.

Wie ist denn deine Kellerabteilung belegt?

Die ist immer überbelegt. Aber da alles dunkel ist und die Insassen nicht miteinander kommunizieren können, ist das nicht so problematisch, wie du vielleicht denkst. Alle dumpfen nur vor sich hin. Und wenn ich meine, dass der Keller - eure Hölle - überbelegt ist, öffne ich eine Bodenklappe und alle sind weg.

Wohin gehen die denn, wollte jetzt Hubert Globig wissen.

Weil sie ohne Materie sind, schwirren sie irgendwo im Weltall herum und keiner kümmert sich mehr um sie; sie sind weg, entsorgt.

Karlchen hat anklingen lassen, dass du als Pförtner oft die Leute danach beurteilen würdest, ob sie dir sympathisch sind oder nicht.

Typisch Karlchen. Vor einiger Zeit habe ich einmal versehentlich einen Papst zu ihm und nicht sofort in den Keller geschickt. Das hält er mir immer noch vor.

Hubert Globig musste offenbar laut im Schlafe gesprochen haben und wurde von seiner Frau heftig am Arm gerüttelt, bis er wach war.

„Warum weckst du mich mitten in der Nacht?“, fragte er vorwurfsvoll seine Ehefrau.

„Du hast wirres Zeug geredet. Das hat mir Angst gemacht.“

„Ich war nur beim Pförtner und habe mich erkundigt.“

„Von welchem Pförtner schwafelst du da?“

Er schwieg und sagte nur, dass sie das ohnehin nicht verstehen könnte und versuchte, wieder einzuschlafen.

Nach dem Nachmittagsspaziergang setzte sich Hubert Globig auf dem Marktplatz in ein Straßencafé, trank eine heiße Schokolade und beobachtete die Passanten.

Als er das Café gerade wieder verlassen wollte, setzte sich sein früherer Arbeitskollege und einziger Freund Otto zu ihm. Er hatte ein Achselhemd und Badehosen an, bestellte sich ein Bier und war mit sich und der Welt zufrieden.

„Wie läufst du denn herum?“, fragte Hubert Globig mit entsetztem Unterton.

„Was hast du denn an mir auszusetzen? Ich war mit meiner Marta gerade auf Malle“, antwortete Otto.

„Und warum hast du immer noch die Badehose und das Achselhemd an?“, wollte Hubert Globig wissen.

„Weißt du Hubert, im Urlaub hat mich in Palma ein Ladenbesitzer gefragt, ob wir zu Hause in Deutschland auch in Badekleidung einkaufen würden.“

„Ja, und?“

„Ich habe ihm gesagt, dass das nicht der Fall sein würde. Er hat nur mit dem Kopf geschüttelt. Und im Flieger habe ich mir gesagt, dass wir schön braun gebrannt seien und deshalb auch zu Hause so herumlaufen könnten.“

„Und das machst du jetzt?“, fragte Hubert Globig.

„Ja, warum denn nicht. Aber Marta hat gesagt, dass ich aufpassen soll, damit man mich nicht wegfängt.“

„Recht hat deine Marta! So kann man als deutscher Urlauber doch nur im Ausland und nicht in Deutschland herumlaufen.“

Hubert Globig schämte sich wegen Otto und ließ ihn allein mit seinem Bier sitzen.

Auf dem Nachhauseweg überlegte er, wie er die Albträume verhindern könnte.

„Am Bier kann es nicht liegen“, stellte er sinnierend fest.

„Die Pillen hat der Arzt verschrieben. Der kann sich nicht irren.“

Als er abends zu Bett ging, nahm er sich vor, von etwas anderem zu träumen. Es half alles nichts.

Traum:

Ohne Umwege schwebte Hubert Globig auf die Fabrik zu.

Guten Tag Pförtner, ich muss dringend Karlchen, den Abteilungsleiter I, sprechen.

Wenn du meinst, versuch dein Glück. Ich weiß aber nichts davon, dass du hier bist, wenn Karlchen fragt. Den Weg kennst du, oder?

Ich glaub schon, dass ich die Abteilung I wiederfinde, danke.

Die erste Treppe führte ins Nichts. Auch die Tür am Ende der zweiten Treppe, die Hubert Globig erstieg, endete im Freien.

Nach dem fünften Versuch fand er endlich Karlchens Zimmer und klopfte wieder mit dem Knie an, damit der Abteilungsleiter ihn am Klopfen erkennen konnte.

Guten Tag Hubert Globig, warum klopfst du mit dem Knie an die Tür. Ich sehe, dass du wieder Hände hast.

Karlchen hatte heute einen scharlachroten Mantel an und schwebte in seinem Amtszimmer in einer Höhe von circa einem Meter. Ohne seinen Besucher zu Wort kommen zu lassen, fragte Karlchen: Hubert Globig, was soll ich mit diesem Kandidaten machen, ich bin noch nicht sicher.

Wer ist das denn?

Sag bloß, du kennst Abraham nicht?

Nicht dass ich wüsste, antwortete Hubert Globig.

Du bist doch Christ, oder?

Ja.

Und du kennst euren Stammvater nicht, fragte Karlchen vorwurfsvoll.

Also den Abraham, der im neuen Testament im Stammbaum von Jesus erwähnt wird, den kenne ich. Den du mir aber zeigst, sieht aus wie ein typischer Araber. Der Abraham aus der Bibel sieht aus wie ein typischer Europäer mit Vollbart.

Siehst du, Hubert Globig. Es gibt nur den Unkladung, den Schöpfer des Ganzen, erklärte Karlchen und fuhr fort, dass es Götter, die sich die Menschen in ihrer Unkenntnis geschaffen haben, tatsächlich nie gegeben hätte.

Das hat mir der Pförtner auch schon erklärt, antwortete Hubert Globig und Karlchen klärte ihn weiter auf: Religionen, so wie ihr Menschen sie kennt, gibt es erst seit gut viertausend Jahren. Unser Chef, der Unkladung, hat es damals schleifen lassen und alles nicht so ernst genommen und sich über diese Göttervorstellung amüsiert. Die vielen Religionskriege haben ihn aber nachdenklich gemacht. Nur vor ungefähr zweitausend Jahren eurer menschlichen Zeitrechnung ist er das erste Mal richtig böse geworden, weil einer behauptet hatte, der uneheliche Sohn des Schöpfers zu sein.

Versteh ich nicht, sagte Hubert Globig.

Er war richtig wütend, dass man ihm einen unehelichen Sohn unterschieben wollte. Wir hatten viel Mühe, ihm klar zu machen, dass nicht er, sondern ein von den Menschen erdachter Gott, der Erzeuger sein soll. Das war richtig aufregend für uns alle, erzählte Karlchen und Hubert Globig verstand, dass er von Jesus sprach.

So, und ich muss jetzt entscheiden, ob dieser hier, der Abraham, recycelt werden kann. Wie würdest du entscheiden, Hubert Globig?

Ich würde ihn positiv beurteilen. Er kann nichts dafür, was die Menschen aus ihm gemacht haben.

Das ist eine kluge Antwort. Was bist du von Beruf?

Ich war Postbeamter.

Das kann nicht sein. Subalterne Beamte und Verwaltungsangestellte denken nicht selbstständig, sondern führen nur Anordnungen aus, behauptete Karlchen.

Ich bin nicht wegen der Einordnung Abrahams gekommen, sondern wollte nur wissen, was ihr über die zu beurteilenden menschlichen Wesen archiviert. Sind es die Seelen?

Wenn ich dir diese Frage beantworten soll, müsste ich erst einmal wissen, was du unter einer Seele verstehst, sagte Karlchen.

Bevor Hubert Globig antwortete, versuchte er sich bequemer zu platzieren. Dabei löste sich sein Hinterteil ab und klebte am Stuhl fest.

Du bist kein aktiver Beamter mehr, also brauchst du diesen Körperteil auch nicht, um deinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Aber interessant ist das doch. Ich wollte schon immer einmal wissen, wie es dort drinnen aussieht, erwiderte Hubert Globig, beugte sich hinunter und schaute durch das Loch, um festzustellen, dass man die Anordnungen des Vorgesetzten nur recht undeutlich erkennen könnte.

Siehst du, so kommen die vielen Fehl- oder Nichtentscheidungen der Beamten und Verwaltungsangestellten zustande, beruhigte ihn Karlchen.

Aber zurück zu meiner Frage, was ihr archiviert.

Bevor du das Ossuarium erreichst, um dir einen neuen Hintern zu holen, musst du durch unser Archiv. Sieh dich einfach dort um.

Nachdem sich Hubert Globig einen neuen Hintern geholt hatte, sagte er zu Karlchen:

Euer Archiv ist recht bescheiden, wenn man bedenkt, dass es zurzeit sieben Milliarden Menschen gibt.

Das hast du zutreffend erkannt, Hubert Globig. Mit der Archivierung der ganzen Körper bis zu meiner Vorentscheidung hinsichtlich des Recyclings wären selbst wir hier überfordert. Wir archivieren nur Bilder der menschlichen Wesen; Bilder im Sinne von Eigenschaften.

Also nicht die Seelen?

Wenn du mir sagst, was du unter Seele verstehst, kann ich dir eventuell deine Frage beantworten.

Bevor Hubert Globig sein Schulwissen und das Gelernte aus dem Religionsunterricht erzählen konnte, klingelte schrill der Wecker. Es war Zeit zum Austragen der Zeitungen.

Auf seinem Rundgang traf er seinen Kollegen Otto, der richtig sauer war.

„Stell dir mal vor, was mir gestern auf dem Marktplatz passiert ist.“

„Du hast in Badehose und Achselhemd im Café ein Bier getrunken.“

„Du warst gerade weg, da kam eine Fußstreife der Polizei und hat gegen mich ein Ordnungsgeld verhängt.“

„Hast du so viel Bier getrunken, dass du randaliert hast?“

„Ach wo, mich hat jemand wegen meiner Bekleidung angezeigt. Die Bullen haben mir erklärt, dass es eine Belästigung der Allgemeinheit nach § 118 OWIG sei, wenn man auf dem Marktplatz in Badehose und Achselhemd ein Bier trinken würde. Auf meinen Einwand, dass ich im Urlaub auf Malle auch so auf dem Marktplatz gesessen hätte, sagten die, das würde im Urlaub gehen, aber hier in Deutschland müsse ich mich ordentlich benehmen.“

„Wie hoch ist denn das Ordnungsgeld?“

„Das haben sie nicht gesagt. Ich würde es schriftlich erfahren.“

„Mein Gott ist die Welt ungerecht. Was benimmst du dich auch zu Hause so wie im Urlaub, du Depp.“

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