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ОглавлениеHorst Henrik Neisser
Eine tödliche Familie
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Wer regiert die Welt?
Imprint
Horst Henrik Neisser
Die Weltverschwörung Bd 1
Eine tödliche Familie
Copyright 2015© Horst Henrik Neisser
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
4. überarbeitete Auflage Circel 2017
www.circel.de
Alle Rechte der Vervielfältigung und Verbreitung (auch elektronisch) vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autors wiedergegeben werden.
Dieses Buch ist reine Fiktion, obgleich reale Ortsnamen benutzt, sowie existierende Familien und Unternehmen erwähnt und realistische Geschehnisse thematisiert werden.
Teil I
Mittelmeer, 65 Seemeilen südwestlich von Nizza, Juni – Jeannette Grashuber
1
Der Hubschrauber umkreiste das Schiff in großem Abstand. Ebenso die vier bewaffneten Schnellboote. Die Menschen auf der großen, weißen Jacht durften nicht gestört werden. Außer Sichtweite wachte ein zweites, ein bewaffnetes Schiff.
Die Sonne spiegelte sich im blauen Wasser. Ein leichter Wind strich über das Deck. Die Jacht war über sechzig Meter lang und schaukelte leicht auf den Wellen.
„Es ist beinahe ein wenig zu schön hier. Es überschreitet schon die Grenze zum Kitsch“, dachte Jeannette.
Sie lag auf dem dicken Polster einer breiten Liege, halb im Schatten eines Sonnenschirms, der von einem eifrigen Bediensteten immer wieder nach dem Stand der Sonne neu ausgerichtet wurde. Im Hintergrund warteten zwei Diener, um auch wirklich jeden Wunsch umgehend zu erfüllen. Trotz der Hitze trugen sie schwarze Hosen und weißes Jackett. Alles kam Jeannette unwirklich vor, so als träumte sie und würde jeden Moment erwachen. Sollte es wahr sein, dass sie vorgestern noch in Cambridge im College über ihren Büchern gesessen war?
Bernard kraulte mit langen Zügen zum Beckenrand und stieg dann aus dem Swimmingpool. Wassertropfen perlten von seinem muskulösen, gebräunten Körper. Das lange schwarze Haar war zu einem Zopf gebunden, so konnte man sehen, dass nur eines der beiden Ohrläppchen angewachsen war. Sie fragte sich, ob er das Haar wohl färben ließ. Dieses tiefe Schwarz konnte nicht natürlich sein. Aber was machte das schon aus? Natur oder die Kunst des Friseurs: Er sah gut aus, verdammt gut, und er wusste es.
Sogleich eilte einer der Diener herbei und rieb ihn mit einem großen, weißen Badetuch trocken.
Jeannette taxierte ihn noch immer. Mindestens einen Meter neunzig, dachte sie. Damit war er größer als sie. Bei ihren Freundschaften war ihre Körpergröße bisher meist ein Problem gewesen, sie war einfach zu groß für die meisten Männer. Dabei sah sie gut aus mit ihren langen Beinen, der durchtrainierten Figur und den brünetten Haaren.
„Sag mal“, meinte sie schnippisch, als er wieder auf der Liege neben ihr lag, „übertreibst du es mit dem Service nicht ein wenig?“
Er lachte schallend und fragte: „Du glaubst, ich habe das Ganze hier inszeniert, um dir zu imponieren? Nein, wirklich nicht! An diesen Service bin ich von Kindheit an gewöhnt. Ich nehme ihn gar nicht mehr wahr.“
Dass er vor ihr angeben wollte, hatte sie in der Tat gedacht. Überhaupt wusste sie, seit sie Bernard getroffen hatte, nicht mehr was Inszenierung und was Realität war. Sie erlebte eine Welt, die sie nicht einmal aus dem Kino kannte und bislang für die Hirngespinste eines schlechten Schriftstellers gehalten hätte.
2
Angefangen hatte es auf dem Mai-Ball des Clare College in Cambridge. Dieser Ball, der entgegen seinem Namen im Juni stattfand, war ein großes Ereignis und die Karten schon lange im Voraus ausverkauft. Nicht einmal prominente Alumni durfte teilnehmen, wenn sie nicht rechtzeitig gebucht hatten. Es sollte diesmal eine Zeitreise ins achtzehnte Jahrhundert werden. Man war angehalten, sich zu verkleiden. Aber für die richtige Stimmung sorgte in erster Linie die Umgebung: der alte Hof des Colleges aus dem siebzehnten Jahrhundert und die gepflegten Gärten.
Jeannette Grashuber hatte ein Stipendium und war Gaststudentin in Cambridge. Sie kam aus Deutschland und machte mit Fleiß und Eifer ihre fehlenden Finanzmittel wett. Der Vater war Fernfahrer gewesen. Aber die Mutter hätte gern studiert, doch es war anders gekommen. Deshalb sollte ihre Tochter, wie es in solchen Geschichten so oft der Fall ist, all das nachholen, was sie versäumt hatte. Die Tochter wurde deshalb nicht Lena oder gar Vanessa genannte, sondern Jeannette. Der Name hatte in den Ohren der Eltern einen weltoffenen, einen intellektuellen Klang. Das Mädchen litt zeit seines Lebens unter dem Erwartungsdruck der Eltern. Doch bemühte es sich nach Kräften, ihn auch zu erfüllen. Sie war stets eine gute Schülerin und schrieb sich nach dem Abitur für Biologie und Physik an der Universität in Frankfurt ein. Leider erlebten die Eltern ihren Erfolg nicht mehr. Sie waren kurz zuvor bei einem Autounfall gestorben. Der Vater war um fünf Uhr morgens von einer langen Fahrt aus Griechenland zurückgekommen, und die Mutter hatte ihn vom Fuhrpark abgeholt. Wahrscheinlich war sie noch nicht ganz wach gewesen. Obgleich sie eine vorsichtige, ja ängstliche Fahrerin gewesen war, musste sie eine Kurve zu schnell genommen haben. Sie schleuderte auf die Gegenfahrbahn. Dort stieß sie mit einem entgegenkommenden Auto zusammen. Beide Eltern starben noch an der Unfallstelle.
Jeannette brauchte Wochen, bis sie mit ihrer Trauerarbeit so weit war, dass sie das Studium beginnen konnte. Doch dann siegte ihr Ehrgeiz. Sie stürzte sich in die Arbeit, und je mehr sie sich ihren Studien widmete, desto geringer wurde der Schmerz über den Verlust. Sie lud dann eine Austauschstudentin aus England ein, die bei ihr zwei Semester lang wohnte. Schließlich ermutigte sie einer ihrer Professoren, sich um das Gates-Stipendium zu bewerben - und sie gewann. Nun studierte sie in England und noch dazu am Clare College, das als das fortschrittlichste und liberalste in ganz Cambridge bekannte war. Sie konnte dort sogar ihrem Hobby, dem Cellospielen frönen. Kurz, die Studentin verlebte die glücklichste Zeit ihres Lebens.
Auf den Mai-Ball ihres Colleges hatte sie sich besonders gefreut und schon Monate zuvor das Kostüm, ein langes figurbetontes Kleid mit vielen Rüschen, ausgesucht und sich beim Kostümverleih zurücklegen lassen. Dann war es endlich so weit. Park und Hof waren mit Fackeln beleuchtet, Musik spielte, man traf sich, parlierte, betrachtete die Spektakel und flirtete. Doch leider nahm das Fest, zumindest was die Studenten betraf, den gewohnten englischen Gang: Sie ließen sich irgendwann hemmungslos mit den unterschiedlichsten Alkoholsorten volllaufen.
Jeannette beteiligte sich an dem Besäufnis schon deshalb nicht, weil sie sich die Preise für die Getränke nicht leisten konnte. Außerdem machte sie sich nicht viel aus Alkohol. So saß sie ein wenig ratlos auf der steinernen Brüstung der Clare Bridge.
Ihr war klargeworden, dass sie nicht zu dieser Gesellschaft gehörte und nie gehören würde. Dabei spielte ihre Nationalität keine Rolle. Aber hier trafen sich Familien, für die Geld etwas war, das man ganz einfach hatte. Für den Champagner, den ein einzelner Student in kurzer Zeit versoff, hätte ihr Vater eine Woche lang arbeiten müssen.
Jeannette dachte an ihren amerikanischen Freund, der sich gerade auf einer Exkursion in Grönland befand. Sie vermisste ihn.
Sie war so in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie den Typ in dem Barockkostüm gar nicht bemerkte. Erst als er ihr ein Glas Champagner in die Hand drückte, hatte sie aufgesehen.
„Cheers, schöne Unbekannte!“
Er lächelte so herzlich, dass Jeannette hell auflachte und mit ihm anstieß. Sie tauschten ihre Vornamen aus und gingen dann durch den Park spaziert. Bald hatten sie das Licht der Fackeln hinter sich gelassen. Das Mädchen wartete darauf, dass der Fremde nun seinen Arm um sie legen und sie küssen würde. Es wäre ihr nicht unangenehm gewesen, und sie hätte sich auch nicht gesträubt. Sie war über diese unverhoffte Gesellschaft froh, und er war ja auch wirklich nett. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen berichtete Bernard, dass er zwar als Student in Cambridge eingeschrieben sei und auch einen Platz am King‘s College habe, aber die Universität nur sporadisch besuche. Er habe einfach zu wenig Zeit. Doch das Diplom werde er auf jeden Fall bekommen. Anfangs habe er zwischen Cambridge und Harvard als Studienorte geschwankt, sich dann aber für Cambridge entschieden, weil sein Vater einst dort studiert hatte.
Eliteuniversitäten könne man sich doch nicht so einfach aussuchen und nach Belieben am Unterricht teilnehmen, hatte sie gerufen.
Doch Bernard hatte eine abfällige Handbewegung gemacht und sein gewinnendes Lächeln aufgesetzt.
Trotz des lauen Sommerabends, der romantischen Stimmung und dem Champagner ging der neue Bekannte mit seinen Angebereien Jeannette bald auf die Nerven. Aber sie zeigte es ihm nicht und ließ sich von ihm sogar zu einem gemeinsamen Essen am nächsten Tag überreden. Er sollte sie gegen acht Uhr am Abend abholen.
Der nächste Tag hatte ganz normal begonnen. Schon beim Frühstück hatte sie ihrer Freundin Lena alles von dem charmanten Fremden erzählt. Die war besonders neugierig, wenn es um Männer ging. Die Wohnung in der Barnabas Road, ganz in der Nähe der Bibliothek, war wegen der teuren Mieten in Cambridge klein. Die beiden Frauen schliefen zusammen in einem Zimmer. Wenn eine von ihnen Besuch mitbrachte, musste die andere die Wohnung verlassen. Daran hatten sie sich schon in Deutschland gewöhnt, als Lena Gast bei Jeannette gewesen war. Jeannette war damals und auch jetzt erheblich häufiger als Lena in einem Café gesessen und hatte gewartete.
Am späten Nachmittag hatten sie sich wieder getroffen und natürlich noch einmal Jeannettes neue Bekanntschaft besprochen. Irgendwann hatte Lena bitter gesagt: „Lass dich von dem Typ nicht gleich querlegen. Er scheint ja mit seiner Masche bisher stets Erfolg gehabt zu haben. Gerade die Typen mit Geld glauben, dass ein Abendessen, das sie bezahlen, im Bett enden muss. Auf diese Weise kommt sie der Sex billiger, als bei einer Professionellen.“
„Mach dir keine Sorgen! Aus der Verabredung wird nichts. Ich habe, vergessen Bernard unsere Adresse zu geben.“
Lena hatte die Angewohnheit, Tasse und Untertasse mit sich herumzuschleppen und beim Gespräch im Zimmer auf und ab zu gehen. Plötzlich war sie am Fenster stehen geblieben und hatte heiter gesagt: „Da unten steht eine dunkle Limousine mit Männern. Werden wir etwa überwacht?“
„So weit kommt es noch“, Jeannette hatte lachen müssen und sich verschluckte beim Trinken verschluckt.
Punkt acht Uhr hatte es an der Tür geklingelt. Die beiden Frauen hatten es sich bequem gemacht und keinen Besuch mehr erwartet. Draußen war Bernard gestanden.
„Sind wir nicht verabredet?“ hatte er verschmitzt gefragt.
„Aber ...“, Jeannette war völlig verwirrt gewesen, „wie hast du mich gefunden?“
„Das war eine leichte Übung. Wollen wir gehen?“
„Gleich, ich muss mich nur noch umziehen.“
„Das ist nicht nötig. Es ist alles vorhanden, was du brauchst.“
Jeannette war so aus der Fassung gewesen, dass sie sich ohne weitere Widerrede zum sofortigen Aufbruch hatte nötigen lassen und sich nur noch flüchtig von Lena verabschiedete.
Unten hatte eine Stretchlimousine gewartet, ein großer Lincoln mit Chauffeur. Bernhard hatte sie auf die hinteren Polster geschoben, und ein kleiner Konvoi hatte sich in Bewegung gesetzt. Voraus waren zwei schwere Wagen voll besetzt mit Männern in dunklen Anzügen gefahren, und das Auto, das vor ihrem Haus gewartet hatte, war ihnen gefolgt. Jeannette war sprachlos gewesen. Noch verwirrter war sie geworden, als die Kolonne schließlich auf dem Flughafen von Cambridge haltgemacht hatte. Sie waren dort in einen Privatjet eingestiegen.
Die Turbinen hatten gleichmäßig gesurrt, eine Stewardess Getränke servierte, die Bodyguards hatten sich auf die hinteren Sitze verdrückt. Bernard und Jeannette waren nebeneinander auf bequemen Sesseln gesessen.
„Ich habe dir doch ein Essen versprochen, wie du es noch nie erlebt hast“, hatte der Mann gesagt.
„Und die Bodyguards?“
„Die sind Routine. Sie gehören einfach zu meinem Leben und auch zu dem Leben der Menschen, die ich neu kennenlerne.“
„Dann hast du mich also den ganzen Tag überwachen lassen?“
„Natürlich.“
„Und warum habt ihr keine Leibesvisitation bei mir vorgenommen? Ich könnte doch Waffen bei mir tragen.“
„Nein, du bist sauber. Wir haben alles überprüft. Seit dem ersten Wort, das wir gewechselt haben, wirst du kontrolliert. Wo hättest du in der Zwischenzeit eine Waffe auftreiben sollen? Wir wissen alles von dir. Mit wem du zur Schule gegangen bist, mit wem du geschlafen hast. Kompliment, du bist relativ keusch gewesen. Das gefällt mir an dir. Ich könnte dir sogar die Farbe deines Höschens sagen.“
Beleidigt hatte sich Jeannette erhoben und sich auf einem der hinteren Sitze zum Schlafen niedergelegte. Bernard hatte sie gewähren lassen und war ihr nicht gefolgt.
Sie waren mitten in der Nacht auf einem Flughafen gelandet, den Jeannette nicht kannte. Der Jet war zu einem Platz weit ab vom Fluggebäude gerollt. Dort hatte bereits ein Hubschrauber gewartet. Schließlich war die Reise auf dieser Jacht geendet.
In ihrem Zimmer hatte Jeannette tatsächlich einen gefüllten Kleiderschrank vorgefunden. Kleider und Wäsche waren neu und teuer und genau in ihrer Größe.
„Ich habe dir doch gesagt, dass alles vorhanden ist“, hatte Bernhard gesagt, der sie zusammen mit einem Diener zu ihrer Kabine begleitet hatte.
3
Am nächsten Morgen war Jeannette schon früh auf den Beinen gewesen. Zuerst hatte sie ihre Unterkunft erkundet. Eine geräumige Kabine. Bett, Schreibtisch, eingebauter Schrank, Sitzecke mit bequemen Ledersesseln. Aus dem großen Kleiderangebot hatte sie eine kurze, weiße Hose und eine helle Bluse gewählt. Dann war sie hinaus auf den Gang getreten und von da ans Deck. Die Sonne war noch tief gestanden, und ein Geruch in der Luft gelegen, wie man ihn nur auf dem Meer am frühen Morgen atmen kann.
Übermütig war sie zur Reling gelaufen und hatte auf das blaue Wasser geschaut. Das Schiff hatte leichte Fahrt gemacht und war langsam durch die sich kräuselnden Wellen gezogen. Sie war in den ungewohnten Anblick vertieft gewesen und erst aus ihrer Versunkenheit geschreckt, als sie jemand leicht an der Schulter berührte.
Ein Diener im weißen Jackett hatte gefragt, ob sie Kaffee wünsche. Im Frühstückssalon sei bereits alles gerichtet.
„Oh, ich warte auf Bernard.“
„Der junge Herr pflegt aber lange zu schlafen.“
‚Redet der geschwollen’, hatte Jeannette gedacht und sagte laut: „Dann frühstücke ich eben allein.“
Sie hatte einen Bärenhunger gehabt.
4
Und nun lag sie neben ihrem geheimnisvollen Freund auf einer weichen Liege und wusste noch immer nicht, was sie von alledem halten sollte.
Um ein Gespräch zu beginnen, fragte sie: „Wer bist du nun wirklich?“
„Ein netter junger Mann, der dich auch nett findet“, feixte er.
„Du sollst dich nicht über mich lustig machen!“
„Gut, ich werde dich ein wenig einweihen. Beginnen wir mit dem Wesentlichen. Du darfst nicht fragen, wer bist du, sondern‚ wer seid ihr? Wir sind eine der Familien, die die Geschicke der Welt bestimmen.“
„Und wie heißt ihr?“
„Wir sind die Barone de Lapisvent. Unser Name leitet sich aus dem Lateinischen ab von lapis, der Stein, und venetus, blau. Das Symbol unserer Familie ist der Saphir, den du in unserem Wappen und auch sonst überall bei uns findest. Wenn irgendwo einen Saphir angebracht ist, so ist in der Regel unsere Familie mit im Spiel.“
„An Geld scheint es euch nicht zu mangeln. Wie kommt es, dass ich euch noch nie auf der Forbesliste der reichsten Leute gesehen habe?“
„Da sind doch nur Emporkömmlinge gelistet. Bill Gates oder die russischen Milliardäre sind aber nicht wirklich reich. Auch der Reichtum der Queen ist lächerlich. Über die Buffetts, die Abramovitchs oder Waltons kann ich nur schmunzeln. Du glaubst doch nicht, dass sich die echten Reichen in ihre Karten und auf ihre Konten sehen lassen, um dann in läppischen Listen aufzutauchen. Hast du jemals von dem unermesslichen Reichtum der Rothschilds etwas gelesen? Nur bei den großen und alten Bankiersfamilien kannst du tatsächlich von Reichtum sprechen. Dagegen sind Bill Gates oder der Maharadscha von Dingsbums Bettler. Unsere Familien besitzen mehr Geld als die USA oder Russland zusammen. Wir finanzieren nämlich diese Staaten. Erinnerst du dich noch an die Thurn und Taxis? Die haben auch ganze Königreiche finanziert und deren Politik bestimmt.
Zu unserem Glück gehört die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nicht uns, sondern den Fürsten- und Königshäusern, den Medienstars und den Pseudoreichen. Von den wirklich Mächtigen und Reichen erfährt niemand etwas. Hin und wieder taucht zwar ihr Name in der Presse auf, und es gibt ein paar Gerüchte. Sonst erfährt die Öffentlichkeit aber nichts.“
„Gehört ihr zum Hochadel?“
Bernhard wälzte sich auf den Bauch und gab dem Bedienten einen Wink, er wolle ein wenig Sonne tanken – also keinen Schirm.
„Im Lauf der Geschichte ging es mit uns zwar auf und ab. Aber seit dem neunzehnten Jahrhundert gehören wir wieder dazu.“
„Und du behauptest, ihr regiert die Welt?“
„Na ja, wir ziehen die Fäden im Hintergrund und sagen den Regierungen, was sie zu tun und zu lassen haben. Wir bestimmen, wann und wo Kriege geführt und wofür Steuergelder ausgegeben werden.“
‚Wieder dieser unsinnige Größenwahn’, dachte Jeannette. ‚Er kann es einfach nicht lassen.’ - „Und weshalb sollten demokratisch gewählte Regierungen auf euch hören?“ fragte sie laut.
„Ganz einfach, weil wir sie finanzieren. Und“, er senkte seine Stimme zu einem vertraulichen Flüstern, „weil heute niemand in eine führende politische Position kommt, der nicht erpressbar ist. Deshalb müssen alle nach unserer Pfeife tanzen.“
Darauf wusste Jeanette nichts zu antworten. Diese Eröffnung musste sie erst einmal verdauen. So schwieg sie, und auch Bernard schien nur noch die Sonne zu genießen. Doch nach kurzer Zeit begann er wieder: „Zwar werden jeden Tag die Zeitungen vollgeschrieben mit Artikeln zum Thema ‚Staatsverschuldung‘. Da heißt es, ‚die Staatsverschuldung wächst’ oder ‚der Schuldendienst ist unerträglich hoch’. Aber niemand fragt, woher denn das Geld kommt, das die Staaten schulden, und an wen sie die Zinsen zahlen. Wer sind die Gläubiger der vielen Länder? Für wen arbeiten die Ratingagenturen? Wer bestimmt die Höhe der Zinsen, die verschuldete Länder zahlen müssen? Kurz, wer glaubst du, sind die immer wieder zitierten internationalen Finanzmärkte?“
„Aber das Geld der Staatsverschuldung bringen doch die Bürger auf, indem sie Staatsanleihen oder Kommunalobligationen kaufen. Auch Lebensversicherungen, so habe ich gelesen, legen dort die Prämien ihrer Kunden konjunktursicher an. Und dann gibt es natürlich noch die Spekulanten, die Heuschrecken.“
Bernard stöhnte über so viel Naivität. „Dabei geht es doch nur um Peanuts. Kennst du überhaupt die Größenordnungen, über die wir reden? Dein Land war 2014 mit 3.600 Milliarden Dollar verschuldet oder die USA standen mit weit mehr als 19.000 Milliarden Dollar in der Kreide. Schau dir einfach mal die Tabelle mit den Schulden aller Länder im Internet an, dann gehen dir die Augen über. In Großbritannien und auch in den USA ist die Staatsverschuldung inzwischen auf mehr als 100 Prozent aller Einkünfte eines Jahres angestiegen. Von den EU-Pleiteländern ganz zu schweigen.
Diese enormen Summen überschreiten das Vorstellungsvermögen. Wer, glaubst du, hat so viel Geld, dass er derartige Unsummen den Staaten auf immer und ewig leihen kann? Denn Staatsschulden werden ja nicht zurückgezahlt. Da sind die Regierungen froh, wenn sie überhaupt die Zinsen aufbringen. Keine Lebensversicherungs-Gesellschaft oder gar Kleinanleger könnten auf derartige Beträge für immer verzichten! Weißt du eigentlich, dass alle Lebensversicherungen deines Landes zusammen insgesamt nicht mehr 700 Milliarden Euro angelegt haben. Sicher gibt es eine Menge Einrichtungen, die von der Verschuldung der Staaten profitieren, aber die wirklich großen Beträge kommen von uns! Wir und ein paar andere Familien sind diese ominösen ‚Internationalen Finanzmärkte‘, von denen die Medien und die Finanzfachleute raunen. Wir legen fest, wie viel Zinsen jedes Land zahlen muss und wie kreditwürdig es ist.“
„Und wo habt ihr die gigantischen Tresore, in denen eure Billionen und Fantasillionen lagern?“ fragte Jeannette spöttisch.
Doch der Mann blieb ganz ruhig: „Die gibt es natürlich nicht. Wir horten nicht irgendwo eine Menge Geldscheine wie Dagobert Duck. Im Grunde verleihen wir Geld, das wir selbst geschöpft haben, Zahlen in einem Computer. Wir wollen es auch gar nicht zurückgezahlt bekommen. Es genügt, wenn man uns auf ewig die Zinsen dafür zahlt."
„Ihr druckt also euer Geld selbst?" Jeannette Stimme wurde immer spöttischer.
„So könnte man sagen", Bernard blieb völlig ernst. „Um das zu erklären, muss ich ein wenig ausholen. Die meisten Menschen glauben, dass alle Zentralbanken in der Hand des Staates wären. Dem ist aber nicht so. Viele, so die amerikanische Federal Reserve, die berühmte FED, sind keine Institutionen des Bundes, sondern gehört einer Gruppe von Großbanken, sind also privat. Diese Banken erzeugen das Geld, geben es den Staaten und erhalten dafür aus Steuermitteln Zinsen. Voilà, und über diesen Weg schöpfen wir Geld aus dem Nichts, für das wir dann das große Geld einstreichen."
Jeannette schüttelte ungläubig und verwirrt den Kopf. „Warum willst du mich für dumm verkaufen?"
„Das tue ich doch gar nicht. Das ist nun einmal die Realität. Die amerikanische Regierung druckt die Geldscheine, wir zahlen die Druckkosten und der US Staat zahlt uns für dieses so geschaffene Geld Zinsen. Deshalb animieren wir, so gut wir können, die Staaten zum Geldausgeben. Aber tröste dich, nur ein geringer Teil des Geldes kommt auf diese Weise in den Umlauf. Wie ich schon gesagt habe, ist heutzutage das meiste Geld nur eine Ziffer auf Computerbildschirmen. Was glaubst du geschieht, wenn du zu einer Bank gehst und dir Geld für den Kauf eines Hauses leihen willst? Da geht niemand zu dem Tresor im Keller und holt von den dort gestapelten Geldscheinen die nötige Summe. Die Bank erzeugt das Geld vielmehr ganz einfach im Computer. Da sie aber von dir für dieses Geld eine wertbeständige Sicherheit hat, nämlich dein neues Haus, erhöht sich im gleichen Moment ihrer Mindestreserve. Deshalb kann sie an einen anderen Kunden das gleiche Geld noch einmal ausleihen und so weiter und so fort."
Jeannette verstand nicht, wovon er sprach und begann sich zu langweilen. Das Ganze war völlig absurd, und sie schätzte ihren Gegenüber mehr und mehr als überdrehten Sonderling ein. Sie wollte das Thema wechseln.
Aber Bernard war von seiner eigenen Rede so fasziniert, dass er fortfuhr: „Wenn du dir die ungeheuren Staatsschulden weltweit vorstellst, dann kannst du vielleicht ermessen, welche hohen Zinsen wir und die anderen großen Bankerfamilien daraus beziehen. Diese Zinsen aber sind real. Dahinter stecken die Steuern eines ganzen Volkes. Und natürlich investieren wir unser Geld auch in die Wirtschaft oder spekulieren auf Aktienmärkten und auf dem Immobiliensektor. Öl und andere Energiereserven sind ebenso in unseren Händen wie Waffenschmieden und Forschungslabors. Verstehst du nun, weshalb ich über einen Reichtum von acht oder zehn Milliarden nur müde lächele, wenn wir doch tausende Milliarden einfach so verleihen können?“
Noch immer gelangweilt und des Themas überdrüssig fragte Jeannette: „Und warum weiß man in der Öffentlichkeit nichts davon? Sind denn alle Politiker, alle Journalisten, all die Wirtschaftswissenschaftler blöd?“
„Natürlich wissen einige Leute über die tatsächlichen Verhältnisse Bescheid. Aber die reden nicht darüber. Die meisten Menschen werden mit vordergründigen Erklärungen abgespeist. Und wenn du mich fragst, so sind sie damit zufrieden. Niemand will wirklich wissen, woher das Geld kommt, das die Staaten ausgeben. Zwar möchte jeder möglichst viel Geld haben, aber die meisten Menschen betrachten es als unheimlich langweilig, sich mit dem Thema Geld näher zu beschäftigen. Sei ehrlich, du langweilst dich inzwischen doch auch und möchtest, dass ich das Thema wechsele."
Jeannette fühlte sich ertappt und sagte ein wenig zu engagiert: „Nein, nein, das ist sehr interessant, was du da erzählt."
„Gut, dann bist du eben eine Ausnahme. Aber in der Regel interessieren sich die Menschen nur dafür, dass Geld ganz einfach da ist. Es ist ihnen gleichgültig, wie teuer dafür bezahlt werden muss. Was glaubst du, wie nieder die Steuern wären, wenn die Staaten bei uns keine Schulden hätten! Wenn jedes Land das Geld nicht bei uns leihen, sondern einfach selbst schöpfen würde? Kennedy hatte dies damals vor. Er wollte die Dollars der FED, also der privaten Zentralbank durch Dollars des Staates ersetzen. Ein paar Scheine waren sogar schon gedruckt worden. Es kursiert die Theorie, dass man ihn nicht zuletzt deswegen umgebracht hat. Sein Nachfolger hat übrigens nur wenige Stunden nach Kennedys Tod dieses Vorhaben rückgängig gemacht.“
Jeannette war aufgestanden und unruhig hin und her gelaufen. Gedankenverloren nahm sie ein eisgekühltes Glas von einem Tablett, das ihr ein Diener hinhielt. Abrupt drehte sie sich um und starrte böse auf Bernard, der die Hände hinter dem Kopf verschränkt hatte und mit geschlossenen Augen vor sich hinredete.
„Dann seid ihr also eine Mafia? So etwas wie eine Camorra der Banken?“ Ihre Stimme war sarkastisch. Sie wollten diesen Angeber beleidigen. „Und wer ist euer Pate?“
„Unsinn“, antwortete er ganz ernst. „Wir begehen keine Verbrechen. Unsere Instrumente sind Geld und politischer Einfluss.“
„Und du bist der Pate und machst all die Pläne?“
„Unsinn! Ich bin nur ein Mitglied einer Bankerfamilie. Ich weiß im Grunde recht wenig. Meine Brüder und ihre Berater bestimmen die Geschicke. Ich werde erst eingeweiht, wenn alles schon gelaufen ist. Einzelheiten kenne ich nicht, nur die großen Zusammenhänge.“
Sein Eingeständnis beeindruckte Jeannette. Bisher hatte sie Bernard für einen Angeber gehalten, der sich ohne Maß und Ziel wichtigmachen wollte. Aber selbst wenn seine Story nur zu zehn Prozent stimmte, so wäre dies schon unglaublich.
Doch die Sechzigmeter-Jacht, die Schnellboote, die Hubschrauber, sie alle sprachen eine deutliche Sprache und deuteten auf seine Glaubwürdigkeit hin. Es war wie in einem Film. Was würde als nächste Action kommen? Vielleicht würden sie nun von Piraten überfallen? Oder plötzlich Fallschirmspringer am Himmel auftauchen?
‚Du hast zu viel James Bond Filme gesehen’, zwang sie sich zur Ruhe.
Doch die Sonne war warm, das Meer ruhig, der Pool sauber und der Caipirinha richtig gemixt. Der Mann auf der Liege neben ihr sah gut aus, war nett und intelligent. Es konnte ihr eigentlich nicht bessergehen. Was kümmerten sie diese Storys über Weltherrschaft und gigantischen Reichtum?
Und dennoch war da tief in ihrem Innern ein Gefühl der Angst. Dieser Bernhard hatte sie in unglaubliche Geheimnisse eingeweiht. Sie wusste nun zu viel. Würde sie je wieder dieses Schiff verlassen dürfen, ihr normales Leben führen?
Spontan fragte sie ihn, und er lachte: „Ich bin doch kein Mädchenmörder! Oder glaubst du, du bist die erste Freundin, die ich hierhergebracht habe? Keine hat den kleinen Ausflug auf mein Schiff bereut. Sicher, ich habe dir ein wenig von unserer Familie erzählt, damit du mich kennenlernst, aber doch alles wohl dosiert. Du kannst es gern weitererzählen. Es wird dir niemand glauben. Du würdest nicht einmal eine Zeile in der Klatschpresse füllen. Und wenn schon? Es hätte doch keine Wirkung. Die Wahrheit glaubt nämlich niemand! Nein, habe keine Angst! Wenn du willst, kannst du in dieser Sekunde in den Helikopter steigen und wirst zurückgebracht. Das würde ich zwar bedauern, aber nicht verhindern. Ich mag dich nämlich und habe dich sorgfältig ausgesucht.“
Jeannette hörte diese Worte mit Genugtuung, aber so richtig sicher fühlte sie sich nicht.
5
Das Mittagessen nahmen sie auf dem mit einem Sonnensegel überspannten Oberdeck ein. Zu ihrer Abkühlung waren in einiger Entfernung große Ventilatoren aufgestellt, die einen schwachen, aber angenehmen Wind erzeugten. Von oben wurde Wasser auf das Segeldach gesprüht, das sofort verdunstete, und dabei die Temperatur um einige Grad senkte. Die beiden Menschen, die dort aßen, sollten es so angenehm wie möglich haben und gleichzeitig den Blick auf das Meer genießen können.
Jeannette und Bernhard hatten sich umgezogen. Er trug einen leichten weißen Anzug und sie ein dünnes blaues Kleid, das an den Rändern weiß abgesetzt war. Auch das Essen war leicht und wurde formvollendet serviert.
Am späten Nachmittag, sie lagen wieder am Pool und unterhielten sich träge. Bernard hatte noch immer keinen Annäherungsversuch gemacht, und Jeannette wunderte sich. Warum hatte sie dieser Mann eigentlich auf das Schiff gebracht? Dabei wusste sie gar nicht, ob sie mit ihm wirklich schlafen wollte. Aber sie würde nach all dem Aufwand, den er getrieben hatte, wohl nicht ‚nein’ sagen können. Wie er wohl im Bett war? Zärtlich? Brutal? Versnobt?
Neugierig war sie schon. Bisher hatte er ihr aber noch nicht einmal die Hand gegeben, sondern jede Berührung vermieden.
Bevor sie über möglichen Sex weiter nachdenken konnte, erschien der Kapitän und versuchte durch dezentes Räuspern die Aufmerksamkeit des Schiffeigners zu erlangen. Träge wälzte sich Bernard herum und fragte: „Was gibt es?“
Der Kapitän, korrekt in weißer Uniform, überreichte schweigend einen gefalteten Zettel. Als Bernhard ihn gelesen hatte, sprang er aufgeregt auf. Er rief noch: „Entschuldige bitte! Ich muss weg. Mache dir eine schöne Zeit. Sobald es geht, komme ich zurück.“
Eine viertel Stunde später hob der Hubschrauber vom Vorderdeck ab und verschwand im blauen Himmel.
England, Cambridge, Juni – Julian Strawman
1
Nach dreißig Stunden Reise war Julian hundemüde. Zuerst waren sie mit dem Bus quer durch Grönland gefahren, dann zwanzig Stunden vom Flughafen Kangerlussuaq nach Heathrow geflogen. Zwanzig Stunden in der Holzklasse. Ihr Mentor, Mister Benedikt, war der Meinung, es schicke sich nicht für Studenten, Business Class zu fliegen. Dabei hatten sie für den Flug mit der Skandinavien-Airline gerade mal achthundert Pfund gezahlt und in der Business Class wären es vielleicht zwölfhundert gewesen. Wegen der blödsinnigen Prinzipien eines alten Hochschullehrers war nun sein Rücken steif.
Dieser Ausflug nach Grönland war ganz einfach Unsinn gewesen. Julian Strawman studierte vergleichende Sprachwissenschaft, und ihr Dozent wollte ihnen etwas ganz Außergewöhnliches vorführen, nämlich Kalaallisut, eine Eskimo-Sprache. Kalaallisut hatten sie dann ganze zwei Mal während der Reise gehört, und die grönländischen Inuit sahen sie meistens nur durch die Fenster des Busses. Sie wurden zwar von einem Vertreter der Universität von Grönland betreut, der Ilisimatusarfik in Nuuk, wo gerade Mal Hundertzwanzig Studenten studieren. Der studierte selbst noch und wollte ihnen so viel wie möglich von seinem Land zeigen, auf das er so stolz war. Aber weshalb sie sich für Eskimos interessieren wollten, das konnte er nicht begreifen.
2
Jetzt war Julian endlich wieder in Cambridge und freute sich auf seine deutsche Freundin. Noch bevor er sich schlafen legte, wollte er sie begrüßen. Er parkte den uralten Austin in der Barnabas Road. Oben in der Wohnung traf er dann eine aufgeregte Lena, die ihm erklärte, Jeannette sei seit gestern verschwunden.
Nachdem sie Julian einen starken Kaffee gekocht hatte, erzählte sie ihm von dem geheimnisvollen Fremden, von dem sie nur den Vornamen, Bernard, wusste. Sie erzählte von der dunklen Limousine auf der Straße und dem Lincoln und den Bodyguards.
Julian war verwirrt und beunruhigt. Als er dann die Toilette im Bad benutzte und die winzigen Überwachungskameras entdeckte, war es um seine Fassung gänzlich geschehen. Akribisch untersuchte er die gesamte Wohnung und kümmerte sich nicht um die hysterisch lachende und plappernde Lena. Gemeinsam fanden sie vier Kameras und acht Mikrofone. Als schließlich der Tisch voller elektronischer Geräte lag, entschied Julian, die Polizei zu holen. Lena aber war strikt dagegen. Mit der Polizei wollte sie nichts zu tun haben.
„Was hast du gegen die Polizei? Ich habe bisher keine schlechten Erfahrungen mit ihr gemacht."
Verlegen antwortete Lena: „Die haben mich mal mit Hasch erwischt, und seitdem stehe ich bei denen in den Akten."
Doch Julian gab nicht nach. Aber es dauerte lange, bis endlich ein Streifenwagen vor dem Haus hielt. Dann erschienen zwei Uniformierte und hörten sich geduldig die Story von dem geheimnisvollen Fremden an. Als Julian geendet hatte, sagte der Sergeant: „Ich bin immer wieder erstaunt, was ihr Studenten euch einfallen lasst, um uns Polizisten auf den Arm zu nehmen."
Geringschätzig wies er auf all die Elektronik auf dem Tisch: „Das ist doch alter Kram. Den würde heute niemand mehr benutzen. Wo habt ihr den aufgetrieben?"
Als aber die beiden Studenten Stein und Bein schwuren, sie hätten die Abhöranlage eben erst entdeckt, wurden die Polizisten doch ein wenig nachdenklich. Schließlich erhob sich der Sergeant und ging hinunter zum Streifenwagen, um mit der Zentrale zu telefonieren. Heiter kam er zurück.
„Ich habe euch grundlos verdächtigt, dass ihr uns einen Streich spielen wollt. Diese Wohnung wurde tatsächlich vor einiger Zeit überwacht. Damals wohnten hier Islamisten. Die führten nichts Gutes im Schild. Nach ihrer Verhaftung hat man vergessen, das elektronische Zeug wieder zu entfernen."
Sie packten die ganze Elektronik in eine Plastiktüte vom Supermarkt und verabschiedeten sich. Zurück blieben zwei ratlose Menschen.
Julian fragte verstört: „Glaubst du diese Geschichte?"
„Ja", antwortete Lena. „Warum sollte ich wohl überwacht werden? Und was könnte das Ganze mit Jeannette und ihrem Verschwinden zu tun haben?"
„Ich weiß es nicht. Aber ich werde es herausfinden.“
Unvermittelt sagte Lena: „Ich bin sicher, sie sind geflogen.“
„Und wieso bist du dir so sicher?“
„Nun ich denke mir das einfach. Es ist doch wahrscheinlich.“
Auf dem Weg zu seinem Austin dachte Julian über Lena nach. Spielte sie ein falsches Spiel? Es gab eigentlich keinen Grund für Misstrauen. Doch wie war die Überwachungsanlage in die Wohnung gekommen? Wirklich durch die Polizei? Vielleicht hatte Jeannette tatsächlich einen Mann gefunden, der ihr besser gefiel? Es passte aber nicht zu ihr, einen alten Freund sang- und klanglos zu verlassen. Nein, er wollte an ihr nicht zweifeln! Sie war in Gefahr, das spürte er tief in seinem Inneren. Trotz allem Misstrauen war es nun seine wichtigste Aufgabe Jeannette zu finden. Julian ahnte nicht, dass er es hier mit einer Macht zu tun hatte, mit der nicht zu spaßen war.
3
Julian bewohnte ein schickes Zweizimmerapartment. Als er dort endlich angelangt war, und seinen Koffer auf das Bett geworfen hatte, fuhr er den Computer hoch und rief seine Mailbox auf.
Vor seiner Abreise hatte er bei Google Mail einen Account eingerichtet, über den er mit seiner Freundin Jeannette in Verbindung bleiben wollte. Google Mail hat ebenso wie Yahoo oder GMX den Vorteil, dass man zum Lesen und Schreiben der Mail kein eigenes Computerprogramm braucht. Ein Browser genügt, und den findet man schließlich auf der ganzen Welt in jedem Internetcafé.
Jeannette hatte für den Account als Name "Sonnenaufgang" vorgeschlagen und war sehr stolz auf ihre originelle Idee gewesen.
Nun loggte sich Julian ein und hoffte auf eine Nachricht seiner Freundin. Doch da waren nur alte Mails, die er bereits kannte und schon mehrmals gelesen hatte.
4
Cambridge Airport ist ein kleiner Regionalflughafen etwa zweieinhalb Kilometer von der Innenstadt von Cambridge entfernt. Er gehört einer privaten Gesellschaft und bietet keinen regulären Flugbetrieb. Vielmehr steht er Privatfliegern zur Verfügung und unterhält eine Flugschule. Schon allein seine Existenz ist ein Zeichen für die exklusive Gesellschaft, die sich in Cambridge angesiedelt hat.
Obwohl Julian bereits drei Jahren in Cambridge studierte, hatte er den Flughafen bisher nur aus der Ferne gesehen. Wenn er verreiste, fuhr er mit dem Zug nach London und bestieg dort einen regulären Flieger. Nun stand er vor einem rostigen Zaun, einer weitläufigen, kurz geschnittenen Wiese und sah in deren Mitte eine Landebahn. Begrenzt wurde das Areal von ein paar Gebäuden, Hangars und dem Tower, vor dem er schließlich seinen Austin parkte. Es war kein Flugbetrieb. Totenstille! Nur der Wind pfiff über die weite Fläche.
Nach einigem Suchen fand er eine junge Frau, die gerade aus der Mittagspause kam. Bei ihr erkundigte sich Julian nach den Flügen am Vorabend. Aber erst eine 50 Pfundnote verhalf ihm zu einem Zugang zum Flughafencomputer. Dort stellten er und die Frau fest, dass am Abend des 19. Juni lediglich eine Falcon 900 in Richtung Nizza gestartet war.
Julians nächster Weg führte zur Verwaltung der Universität. Dort suchte er in der Liste der eingeschriebenen Studenten nach einem Kommilitonen mit dem Vornamen Bernard. Er erhielt zweiundsechzig Treffer, die er sich ausdrucken ließ. Im Zug nach London studierte er dann die Liste. Er saß dabei in einem Abteil der Ersten Klasse.
Stunden später rief er vom Flughafen Heathrow aus Lena an und teilte ihr mit, die Spur führe nach Nizza.
5
Der Flughafen von Nizza ist eine beeindruckende Konstruktion. Eine lichte und freundliche Halle wird von einem weiten Glasdach überspannt. In zwei Terminals herrscht reger Flugbetrieb. Schließlich kann man vom Aéroport Nice Côte d'Azur das ganze nordwestliche Mittelmeer erreichen. Da gibt es Hubschrauberflüge nach Cannes, St. Tropez oder Monaco. Autofähren fahren zu Städten auf Korsika. Vom Bahnhof Nice St. Augustin, der nur 500 Meter vom Terminal des Flughafens entfernt liegt, fahren Regionalzüge über Cannes nach Vintimille. SNCF-Züge verkehren im 30-Minuten-Takt zwischen Les Arcs-Drag, St. Raphael und von Marseille nach Ventimiglia. Busse fahren zu allen größeren Städten an der Riviera und in Südostfrankreich, darunter Nizza, Monaco, Cannes, Toulon, Aix-en-Provence, Fréjus, Marseille und Avignon.
Es war viel Betrieb, als Julian ankam. Leuten mit Koffern schoben sich an ihm vorbei. Kinder schrien und hilflos englisch stammelnde Reisende suchten nach einer Auskunft. Er stand inmitten des Getümmels und fragte sich, was er hier suchte. Welche der Weiterreisemöglichkeiten, die er in einem Prospekt gelesen hatte, sollte er nutzen? Er stellte sich am Auskunftsschalter an und fragte die Frau hinter dem Tresen. Doch die sah ihn an, als ob er nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. Wenn sie ihm helfen sollte, so müsse er zumindest ein Reiseziel angeben.
Langsam wurde Julian klar, dass dieser Flug nach Nizza eine blödsinnige Idee gewesen war. Wen sollte er hier fragen, ob gestern Abend eine Falcon 900 aus Cambridge angekommen war und wohin die Passagiere weitergereist seien? Er würde wohl unverrichteter Dinge zurückfliegen müssen.
Die Türen zum Vorplatz standen offen und gedankenverloren verließ Julian die große Abflughalle. Während er noch unentschlossen den abfahrenden Taxis nachsah, traten zwei Männer auf ihn zu. Sie trugen schwarze Anzüge und helle Krawatten. Wortlos nahmen sie ihn in ihre Mitte und schoben ihn mit sanfter Gewalt vor sich her. Julian war so überrascht, dass er nicht protestierte. Ein großer, schwerer Wagen fuhr vor, und bevor sich der Student versah, saß er auf dem Rücksitz eingeklemmt zwischen den Typen.
Der Flughafen lag hinter ihnen, als einer der Männer endlich sagte: „Bevor du noch weiter herumschnüffelst, frage lieber uns. Von uns bekommst du alle nötigen Auskünfte.“
„Ich suche meine Freundin Jeannette. Mit euch habe ich nichts zu schaffen. Lasst mich in Frieden!“
„Du bist ein wirklich kluger Junge", war die Antwort.
Und der zweite Mann bekräftigte: „Ist er nicht ein kluger Junge!“
Der erste fuhr fort: „Der kluge Junge hat es sogar bis nach Nizza geschafft.“
Und der zweite bekräftigte wieder: „Er ist ein kluger Junge! Er hat es bis Nizza geschafft!“
Der Fahrer des Wagens wandte sich um und meinte: „Deine Freundin ist in guten Händen. Es geht ihr blendend. Sie will nichts mehr von dir wissen. Du bist deshalb hier überflüssig und nur lästig."
„Was wisst ihr von Jeannette?“ Julian war überrascht und erschreckt.
„Ihr geht es gut, und du bist abserviert. Sie ist jetzt mit jemandem zusammen, dem du nicht das Wasser reichen kannst.“
Julian wunderte sich über sich selbst. Er blieb ganz ruhig und hatte keine Angst. Noch hatten ihm diese Männer nichts getan, aber sie waren gefährlich. An ihrer Sprache erkannte er in ihnen Landsleute aus den Südstaaten der USA.
Der Fahrer schien sich in Nizza auszukennen, denn er schlängelte sich routiniert durch den Verkehr. Die Fahrt endete schließlich in einem Parkhaus in der Rue Massenet. Von dort liefen sie zum Strand, der durch die Promenade des Anglais von der Innenstadt abgetrennt ist. Keiner der Männer sprach bis dahin ein weiteres Wort. Auch Julian schwieg und harrte der Dinge, die da noch kommen sollten.
Als das Meer endlich sichtbar wurde, blieb der Fahrer, der augenscheinlich auch der Anführer war, stehen: „Du willst wissen, wo deine Freundin ist? Ich habe dir versprochen, dass ich dir die Wahrheit sage. Sie ist da!"
Bei diesen Worten deutete er mit seinem Arm hinaus auf das Mittelmeer und grinste über seinen gelungenen Witz. Seine beiden Begleiter packen Julian am Oberarm und führten ihn zurück in die Rue Massenet. Dort betraten sie in kleines Lokal. Der Kellner erwartete sie schon und führte sie zu einem Tisch in der Nähe des Fensters. Die Männer hatten zur Überraschung von Julian einen Tisch vorbestellt. Sie hatten ihn erwartet und eine Inszenierung vorbereitet. Woher wussten sie von ihm, wann er ankommen würde, was er wollte? Lena schoss ihm durch den Kopf, aber er schob den Gedanken sogleich wieder als unsinnig beiseite. Aber dennoch blieb die Frage: Wer kontrollierte ihn und warum?
Die Männer hatten ihn bisher in Ruhe nachdenken lassen und sich inzwischen über das Wetter unterhalten. Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Sie trugen schwarze Anzüge, weiße Hemden und auffällige Krawatten, aber die Ärmel der Jacken waren abgewetzt und die Krawatten am Knoten schmutzig.
„Ihr kommt doch aus den USA“, begann er neugierig ein Gespräch. „Was macht ihr hier in Frankreich. Ihr seid doch nicht wegen mir hierher geflogen.“
„Nein sicher nicht“, lachte der Anführer. „Wir arbeiten sonst in den Staaten. Hatten aber hier in Europa einen anderen Auftrag, und weil wir in der Gegend waren, sollen wir uns dir annehmen.“
„Ja, man hat uns dir auf den Hals geschickt“, bekräftigte einer der anderen Männer.
Der Kellner brachte die Suppe und unterbrach das Gespräch. Das Essen war ausgezeichnet. Julian aß Lamm, und das Fleisch war zart und saftig. Dazu tranken sie einen kalten, weißen Wein.
Endlich wurde der Espresso aufgetragen, und der Anführer der Männer wandte sich wieder an Julian: „Du bist doch ein heller Junge?"
„Ja, er ist ein heller Junge", bestätigte einer seiner Männer.
„Und helle Jungens wissen immer, was gut für sie ist."
„Er ist ein heller Junge", sagte einer der Männer. „Er studiert sogar an einer Universität."
„Und weil du so ein heller Junge bist, und weil wir dich mögen, und weil heute dein Glückstag ist, und weil du nicht umsonst nach Nizza geflogen sein sollst, wollen wir dir ein Geschäft vorschlagen."
„Es ist ein gutes Geschäft", sagte einer der Männer.
„Dann lasst mal hören!" Julian war die Ruhe selbst. Er strahlte Coolness aus, auf die er richtig stolz war.
„Du wärest wirklich dumm, wenn du dieses Geschäft ausschlagen würdest", stellte der andere Mann fest.
„Also, worum geht es?" Julian wurde ungeduldig.
„Wir wollen, dass du deine Freundin vergisst. Sie ist ein Flittchen und hat dich verlassen."
„Da bin ich mir gar nicht so sicher. Aber, wie wollt ihr feststellen, dass ich sie tatsächlich aufgebe?"
„Wir haben uns das so gedacht. Du schreibst ihr jetzt gleich einen netten Abschiedsbrief. Und für diese Mühe zahlen wir dir zehntausend Dollar. Ist das nicht ein gutes Geschäft? Und in Cambridge suchst du dir eine neue Freundin, schließlich gibt es dort genug Mädchen, und machst dir mit dem Geld ein schönes Leben."
„Ja, du machst dir ein schönes Leben mit einer neuen Freundin", sagte einer der anderen Männer. „Ich würde das machen!"
„Ein gutes Geschäft", sagte der Dritte.
„So ein gutes Geschäft ist das auch wieder nicht", meinte Julian. "Schließlich mag ich Jeannette."
„Wir haben das Problem nun lange genug besprochen", sagte der Anführer ungeduldig. Er holte einen Schreibblock, zwei Kugelschreiber und einen dicken Briefumschlag aus der Tasche. „Hier sind die Zehntausend, und hier ist Papier für den Brief. Wenn wir dich beim Schreiben stören, warten wir draußen. Aber mach nicht zu lange! Wir haben noch zu tun."
„Ihr braucht nicht zu gehen. Ich schreibe nicht, und eure zehntausend Dollar könnt ihr euch an den Hut stecken."
Nun wurden die Augen des Anführers ganz schmal und seine Stimme gepresst: „Heißt das, du gehst nicht auf unser Geschäft ein?"
„Ja", antwortete Julian schlicht.
„Du bist doch der größte Hundsfott, den ich je getroffen habe. Du willst uns also Schwierigkeiten machen? Du glaubst, du kannst auf zehn Riesen verzichten?"
„Ja, er ist ein Hundsfott", sagte einer der Männer.
„Ein Hundsfott", sagte der Dritte, „und dumm. Sehr dumm!"
„Dabei dachten wir, du wärest ein cleveres Bürschchen. Ein heller Junge, einer der studiert!"
„Er ist aber gar nicht so clever, und ein heller Junge ist er auch nicht!"
„Hast du dir das auch wirklich gut überlegt?" ergriff der Anführer nun wieder das Wort.
„Ja", sagte Julian.
„Dann steigst du in den nächsten Flieger und kehrst brav heim nach Cambridge. Dein Flug ist bereits gebucht und bezahlt. Du bist doch ein fleißiger Student, deshalb kümmere dich ab jetzt lieber um deine Bücher. Und damit du nicht mehr auf dumme Gedanken kommst und wieder einmal sinnlos in der Gegend herumreist, muss dir leider der Geldhahn zugedreht werden. Was nun passieren wird, hast du dir selbst, deiner Sturheit und deiner penetranten Neugierde zuzuschreiben.“
Julian wurde bis zum Abflug begleitet. Er hatte nicht die geringste Möglichkeit zu entkommen.
Im Flieger dachte er darüber nach, was die Männer wohl gemeint hatten, als sie drohten, ihm den Geldhahn zuzudrehen. Er hatte schließlich kein Stipendium, sondern wurde von seinem Vater unterhalten. Der hatte eine recht gut gehende Praxis in Salt Lake City und verdiente so viel, dass sich sein Sohn ein luxuriöses Leben leisten konnte. Zwar wäre es dem Vater lieber gewesen, wenn Julian Medizin studiert hätte. Doch er war tolerant und geduldig. Diesen elterlichen Geldhahn würde man ihm wohl so rasch nicht zudrehen können.
Mittelmeer, 45 Seemeilen südwestlich von Nizza, Juni – Jeannette Grashuber
1
Nachdem Bernard abgeflogen war, lag Jeanette noch eine Weile in der Sonne und ließ sich bedienen. Sie genoss den Luxus in vollen Zügen. Aber gegen Abend wurde es ihr langweilig. Der Kapitän kam persönlich und lud sie zum Abendessen ein. Er war sehr höflich, nur manchmal vielleicht ein wenig ironisch. Stets lächelte er auf diese seltsame, ein wenig herablassende Art. Sollte ihm Jeannette sagen, dass sie keine von den Frauen war, die bisher hierher eingeladen worden waren. Frauen, die sich von all dem Glanz und dem Reichtum hatten beeindrucken lassen? Sollte sie ihm sagen, dass sie kein Betthäschen seines Chefs war? Doch sie schwieg. Stattdessen sagte sie sich, dass es ihr gleichgültig sein konnte, was der Kapitän dachte.
Später führte er sie in einen kleinen Kinosaal. Sie konnte dort unter den neuesten Hits wählen. Doch schon während des zweiten Films wurde sie so müde, dass sie einnickte. Irgendwann lag sie dann in ihrer Kabine im Bett und schlief bis weit in den Morgen.
Eine junge Frau in einem hübschen schwarzen Kleid mit weißer Schürze weckte sie. Sie wollte ihr das Haar machen. Aber Jeannette hatte eine kurz geschnittene Frisur, die nach dem Waschen von selbst wieder ihre Form fand. Deshalb lachte sie und schickte die Friseuse wieder fort. Kurz danach kam eine andere Bedienstete in der gleichen adretten Uniform und wollte ihr beim Anziehen helfen. So viele Dienerinnen waren der jungen Frau peinlich. Sie bedanke sich verlegen und verzichtete auf jede Unterstützung.
Das Frühstück war wieder üppig und von ausgesuchter Qualität, der Pool sauber und warm, das Meer ruhig, und die Sonne schien wie am Vortag. Die Leute vom Service waren aufmerksam und nett. Kurz, Jeannette langweilte sich bereits am Nachmittag. Sie suchte den Kapitän auf und fragte, wann mit der Rückkehr von Baron de Lapisvent zu rechnen sei.
Darüber habe man keine Informationen, war die Antwort.
„Dann will ich sofort nach Nizza zurückgebracht werden", verlangte die Frau entschieden.
„Dazu habe ich keine Anweisungen", der Kapitän blieb kühl.
„Bin ich etwa eine Gefangene auf dieser Jacht? Hat man mich etwa gekidnappt? Ist Ihnen klar, dass sie sich der Freiheitsberaubung schuldig machen?" Jeannette war wütend.
„Nun, als sie vorgestern Nacht zusammen mit dem Herrn Baron hier angekommen waren, hatte ich nicht den Eindruck einer Entführung. In der Zwischenzeit haben sie es sich gut gehen lassen, und man hat alle ihre Wünsche erfüllt. Behandelt man so eine Gefangene? Im Übrigen, wenn sie auf einem normalen Kreuzfahrtschiff sind, können sie dann nach Belieben zum Kapitän gehen und verlangen, dass er sie unverzüglich mit einem Hubschrauber an Land bringt? Sind Sie nicht ein wenig vermessen?"
„Dann möchte ich wenigstens telefonieren und meinen Freunden und meiner Familie mitteilen, wo ich mich aufhalte, und dass meiner Abwesenheit länger dauern wird. Leider ist das Telefon in meinem Zimmer tot, aber sie können sicherlich eine Verbindung zum Festland herstellen."
„Dafür liegt leider keine Erlaubnis des Herrn Baron vor", antwortete der Kapitän kalt.
„Aber wenigstens einen Zugang zum Internet können sie mir nicht verwehren!"
Der Kapitän sah sie von oben bis unten ruhig an, schüttelte den Kopf, drehte er sich um und ließ sie stehen. Für ihn war dieses Thema erledigt.
Jeannette kehrte wütend in ihre Kabine zurück. Sie ärgerte sich über den arroganten Skipper und hätte am liebsten die ganze Einrichtung zertrümmert. Ihr war klar, dass niemand, wirklich niemand außer diesem Bernard ihren derzeitigen Aufenthaltsort kannte.
Der Skipper verweigerte Telefonate und sogar eine Internetverbindung. Und ihr Mobiltelefon hatte sie in der Hektik des Aufbruchs bei Lena liegen gelassen.
Lena hatte sie noch am gleichen Abend zurückerwartet. Ob sie wohl die Polizei verständigte? Inzwischen musste auch die Exkursion von Julian beendet sein.
Julian! Nun erst wurde ihr bewusst, wie sehr er ihr fehlte. Er war so ganz anders als Bernard, schüchterner aber auch ernster. Auch Julian war kein armer Mann. Seine Eltern hatten genügend Geld, um ihm ein angenehmes Leben finanzieren zu können. Aber natürlich war dies alles nichts im Vergleich mit dem Reichtum und dem Luxus auf diesem Schiff. Aber sie würde auf jeden Fall Julian vorziehen.
Sicher, dieser Bernard war attraktiv und auf seine Art faszinierend. Sie würde sicher über kurz oder lang mit ihm schlafen, und es würde sicher aufregend werden. Der Sex mit Julian war intensiv, aber auch beruhigend. Der alte Freund gab ihr immer ein Gefühl von Geborgenheit, wenn sie zusammen waren. In seinen Armen einzuschlafen, war das Schönste, was sie sich vorstellen konnte.
Ob Julian wohl eifersüchtig wäre, wenn er wüsste, wo sie sich gerade aufhielt? Warum war er auch auf diese dämliche Exkursion gefahren? Warum hatte er sie nicht auf das Fest begleitet? Die Sprache der Inuits - so ein Unsinn! Als ob es nicht Wichtigeres auf dieser Welt gäbe.
An diesem Abend ließ sich das Mädchen wieder mit irgendwelchen Filmen berieseln und ging dann bald ins Bett.
Wie die Tage zuvor machte sie sich am Morgen voller Appetit über das Frühstück her, das diesmal an Deck unter dem Sonnensegel serviert wurde. Wenn sie schon auf dieser Luxusjacht gefangen war, so wollte sie den Aufenthalt wenigstens genießen.
Danach suchte sie den Kapitän noch einmal auf.
„Ich muss dringend zurück nach Cambridge", sagte sie. „Wenn sie mich schon nicht mit dem Helikopter an Land bringen lassen, so sagen Sie mir wenigstens, wann wir einen Hafen erreichen. Meine Semesterprüfungen beginnen, und ich darf sie nicht versäumen. Ich habe mich von Bernard zu einem Abendessen einladen lassen, aber nicht zu einer mehrwöchigen Schiffsreise."
Der Kapitän saß sie ernst an: „Ich habe bezüglich ihrer Person keine Anweisungen. Vorerst werden wir keinen Hafen anlaufen. Sie müssen schon warten, bis Monsieur Bernard zurückkehrt und weitere Entscheidungen trifft."
„Danke!" sagte Jeannette knapp, verließ die Kommandobrücke und kehrte zum Pool zurück.
Um sich abzureagieren, kraulte sie immer und immer wieder durch das Schwimmbecken. Schließlich war sie müde und legte sich auf eine der Liegen. Dort dachte sie über alle das nach, was ihr Bernard erzählt hatte.
2
Nach dem Mittagessen untersuchte sie, einer Eingebung folgend, sehr sorgfältig ihre Kabine. Dabei entdeckte sie unter dem Boden der untersten Schublade der Kommode einen Zettel. Als sie ihn las, wurde sie blass.
„Liebe Eltern,
ihr werdet es nicht glauben, wo ich mich zurzeit aufhalte. Ich kann es ja selber nicht glauben. So etwas hätte ich niemals für möglich gehalten. Ich weiß jetzt Dinge, die euch sprachlos machen. Ich wünschte, ihr wäret hier und könntet erleben, was ich erlebe. Macht euch keine Sorgen, eurer Tochter geht es sehr, sehr gut!
...
Langsam erschreckt mich das alles, was ich, ob ich es will oder nicht, erfahre. Ich fühle mich hier eingesperrt und würde gern das Schiff verlassen. Es ist wie ein goldener Käfig, in dem man mich gefangen hält. Was soll ich nur tun?
...
Ich habe mich eingeschlossen. Wird mir aber nichts nützen. Große Angst. Sie kommen! Gott hilf mir!
Diese Notizen mussten an verschiedenen Tagen geschrieben worden sein. Die Schrift veränderte sich. Waren die ersten Zeilen noch in schönster Jungmädchenschrift geschrieben, so waren die letzten Bemerkungen in aller Hast auf das Papier gekritzelt und kaum leserlich.
Jeannette schloss die Tür zu ihrer Kabine sorgfältig ab und dachte nach.
USA, Salt Lake City, Juni – Julian Strawman
1
Doctor Strawman hatte schlecht geschlafen, und ausgerechnet heute hatte er seinen Angel-Day. Mit diesem Scherz erinnerte er an einen Sprachgebrauch im alten Wien. Damals nannte man Leute, die bei Frauen Abtreibungen vornahmen, Engelmacher. Schließlich wurden aus den ungeborenen Kindern Engelchen.
Strawman war Frauenarzt und unterhielt eine recht gut gehende Praxis. Seine Honorare konnten sich allerdings nur vermögende Frauen leisten. Strawmans Familie konnte ein luxuriöses Leben führen, und sein Sohn irgendwelchen Unsinn auf einer Eliteuniversität in Cambridge studieren. Der Arzt war mit sich zufrieden.
Es war stets der Dienstag, an dem sich Doctor Strawman nicht mit Chlamydien und Myoma beschäftigte. An diesem Tag operierte Doctor Strawman, und das waren in erster Linie Schwangerschaftsabbrüche. Die betroffenen Patientinnen mussten sich bereits um acht Uhr morgens in der Praxis einfinden. Die ersten vier wurden dann auf die Sprechzimmer verteilt, im Intimbereich rasiert und bekamen ein Beruhigungsmittel. So vorbereitet warteten sie auf den Doktor.
Der betrat pünktlich um halb neun Uhr durch das Marmorportal die Praxis und leitete sogleich, nachdem er sich umgezogen hatte, bei der ersten Patientin die Narkose ein. Eigentlich wäre ein Narkosearzt nötig gewesen, aber Strawman wollte den Gewinn nicht teilen. Es handelte sich schließlich nur um eine kurze Betäubung. Routiniert wie immer dehnte er dann den Muttermund und setzte die Saugkürettage an. Er war bei der ersten Patientin bereits bei der Ausschabung, der Abrasio, um alle Gewebereste vollständig zu entfernen, da unterbrach ihn die Arzthelferin, die im Vorraum an der Theke die Patientinnen verwaltete und die Telefonate entgegennahm.
Auf den Stufen im Eingang liege ein Mann. Er sei ohnmächtig, teilte sie dem Arzt flüsternd mit.
Der war konzentriert bei der Arbeit und über die Störung recht ärgerlich: „Er wird betrunken sein. Rufen Sie einen Rettungswagen!“
Gleich darauf hatte er den Zwischenfall vergessen und injizierte ein Mittel, damit sich die Gebärmutter wieder zusammenzog und die Blutung gestoppt wurde. Da die Narkose nur kurz andauerte, arbeitete er gegen die Uhr. Endlich war er mit der Patientin fertig und ging, nachdem er sich neu desinfiziert hatte, mit seinen beiden Assistentinnen in das nächste Behandlungszimmer. Die Patientin auf dem Stuhl sah in mit ängstlichen Augen an, so dass er sie erst einmal beruhigen musste, bevor er rasch den Blutdruck messen und dann die Spritze mit dem Narkosemittel setzen konnte. Doch kaum war die Patientin eingeschlafen, kam die Gehilfin von der Anmeldung wieder.
Der ohnmächtige Mann sei immer noch da. Der Rettungswagen sei bisher nicht gekommen. Es bilde sich langsam eine Traube aus Passanten, die sich über die fehlende Hilfeleistung des Arztes beklagten.
„Sehen Sie nicht, dass ich arbeite“, zischte dieser. „Bitte unterbrechen Sie mich nicht mehr. Telefonieren Sie noch einmal mit der Ambulanz!“
Doctor Strawman hatte eben die Arbeit an der dritten Patientin dieses Vormittags beendet, als er schon wieder gestört wurde. Es war erneut die Gehilfin vom Empfang. Diesmal war sie sehr aufgeregt. Zwei Männer von der Polizei wollten ihn sprechen. Der Arzt gab seinen Assistentinnen den Auftrag, die operierte Patientin zu betreuen und ging unwillig nach draußen.
Im Vorraum mit den ausgesuchten Designermöbeln warteten zwei Polizisten in Zivil. Sie zeigten ihm ihre Polizeimarken und fragten ihn, ob er Inhaber der Praxis sei. Strawman bejahte verwundert und wollte wissen, um was es ginge.
Ein Mann sei auf den Stufen zu seiner Praxis gestorben. Er habe sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht, war die knappe Antwort. Dann nahm man ihn zur Vernehmung mit auf die Wache.
England, Cambridge, Juni – Julian Strawman
1
Julian Strawman kam gerade vom Essen, als sein Mobiltelefon klingelte. Es war seine Mutter, die ihn sprechen wollte. Doch bevor sie ihm etwas mitteilen konnte, überwältigte sie ein Weinkrampf. Julian kannte seine Mutter als beherrschte Frau, die so leicht nichts aus der Ruhe brachte.
„Ist Vater etwas passiert? Ist er krank?“ fragte er bestürzt.
„Nein, es geht ihm gut“, schluchzte sie. „Aber er wurde verhaftet und kam nur gegen Kaution frei.“
Dann erfuhr der Student die ganze Geschichte von der unterlassenen Hilfeleistung. Reporter hatten den sterbenden Mann auf den Stufen der Arztpraxis fotografiert. Die zwei größten Zeitungen hatten am nächsten Tag die Bilder veröffentlicht und lange Artikel über den Arzt geschrieben. In dicken Lettern stand dort, ihm sei das Töten von ungeborenem Leben wichtiger, als die Rettung von gefährdetem Leben. Sogar das Wort „Schlächter“ war verwendet worden.
„Die Praxis ist tot. Alle Patientinnen haben sich inzwischen abgemeldet. Die Arzthelferinnen haben wir abgefunden und entlassen. Vater ist völlig außer Fassung und spricht dem Whisky mehr zu, als ihm guttut.“
Endlich kam die Mutter zu ihren Anweisungen. Julian müsse sein Studium unverzüglich abbrechen. Man könne ihn nicht weiterhin großzügig unterstützen, denn die Ersparnisse hätten für die Kaution eingesetzt werden müssen, und die Familie habe nun kein Einkommen mehr. Außerdem liefen hohe Schadensersatzklagen gegen den Vater. Zwar werde sich die Familie bemühen, dem Sohn noch ein Medizinstudium auf einer kleinen Uni in den USA zu finanzieren, aber eine Eliteuniversität käme natürlich nicht mehr infrage - und schon gar kein Orchideen-Fach wie vergleichende Sprachwissenschaft.
Julian war erschüttert und ratlos. Zur Sorge um Jeannette kam nun auch noch die Sorge um die eigene Existenz. Verwirrt und wie im Traum exmatrikulierte er sich und verständigte sein College. Dann sucht er Lena auf und erzählt ihr alles.
Ihre einzige Antwort war: „Wenn du in die Staaten zurückkehrst, braucht du doch deinen Austin nicht mehr. Verkaufst du ihn mir?“
„Ich muss einen vernünftigen Preis für den Wagen erzielen. Du hast doch kein Geld?“
„Oh, das hat sich inzwischen geändert. Mir ist eben eine Lebensversicherung ausbezahlt worden.“
„Du hast eine Lebensversicherung?"
„Ich habe mich eben schon immer um meine Zukunft gesorgt. Ich kann dir für den Austin fünftausend Dollar geben."
Julian sah Lena seltsam an. Doch er hatte keine Wahl, und fünftausend waren ein guter Preis. So wurden sie handelseinig. Wenige Tage später saß er in einem Flieger in Richtung USA. Entgegen seiner Gewohnheit flog er Economy. Die Sitze waren eng und für seine Beine kein Platz. Der Vordermann klappte gleich nach dem Start seinen Sitz nach hinten, und Julian litt lange acht Stunden.
Frankreich, Languedoc, Departement Aude, ein Schloss, Juni – Familie Lapisvent
1
Auf der Europastraße E80, der L’Autoroute Des Deux Mers, gab es eine Autobahnabfahrt zu einem kleinen, abgelegenen Dorf. Nur ein paar Einheimische benutzten sie regelmäßig. Touristen sah man dort so gut wie nie. Was sollten Fremde auch in dieser abgelegenen Gegend oder gar in dem verschlafenen Nest finden? Es gab dort weder eine Sehenswürdigkeit, noch eine Tankstelle oder ein Hotel. Warum dann aber die kostspielige Ausfahrt?
Verließ man jedoch die Autobahn und folgte der Straße eine Weile, so zweigte links ein breiter staubiger Feldweg ab, der zu einem kleinen Wäldchen führte. Der Feldweg endete hinter den Bäumen vor einem mächtigen Tor in einer hohen Mauer. Der Kenner konnte in den Bäumen eine Menge Kameras und Sensoren entdecken.
Hinter dem Tor beleuchteten in der Nacht Flutlichtlampen ein Wächterhaus und die breite geteerte Straße, die dort begann und einige Kilometer durch menschenleeres Gebiet führte. Bevor man aber diese Straße erreichte, musste man noch zwei undurchdringliche Stacheldrahtzäune passieren. Auch an den Zäunen waren Sensoren befestigt, die Alarm auslösten, wenn jemand versuchte, sie zu überklettern. Zwischen den Zäunen patrouillierten Tag und Nacht scharfe Bluthunde. Dahinter folgte ein dichtes Gewirr von Bewegungsmeldern und Infrarotkameras, die kein Eindringling durchqueren konnte, ohne Alarm zu schlagen. Außerdem waren noch Tretminen vergraben.
Ein fünfter Verteidigungsring diente der Abwehr von Angriffen aus der Luft. Radarschirme tasteten den Luftraum weitflächig ab. Bei Gefahr konnten Luftabwehrraketen und Flakgeschütze ausgelöst werden. Die Erbauer dieser Anlage waren auf größte Sicherheit bedacht gewesen und hatten versucht, alle Eventualitäten einzukalkulieren.
Doch von all diesen martialischen Einrichtungen war auf der gepflegten Straße nichts zu bemerken. Sie führte durch eine idyllisch angelegte Landschaft und endete schließlich auf dem Parkplatz eines Schlosses.
Das Schloss stammte aus der Zeit Ludwig XV. und lag irgendwo im Languedoc. Es hatte keinen Namen. Die Einheimischen nannten es nur scheu „Le Château“. Seine genaue Lage war nur Eingeweihten bekannt. Man hatte seine Existenz aus allen Karten und Geschichtsbüchern entfernen lassen, und im Grundbuch stand nur ein Deckname.
Keiner der einheimischen Bauern hatte es bisher mit eigenen Augen gesehen. Das dort beschäftigte Dienstpersonal stammte nicht aus der Gegend, sondern wurde von weit hergeholt. Aber obgleich niemand etwas wusste, existierten wilde Gerüchte über das Leben im Château und seine Bewohner. Geisterbeschwörer sollten es sein. Wilde Orgien sollte man dort feiern, bei denen jeder mit jedem kopulierte. Selbst schwarze Messen, bei denen Kinder getötet wurden, sollten den Gerüchten zufolge dort abgehalten werden. Doch niemand wagte sich in die Nähe des Châteaus.
Trotz einer umfassenden Renovierung war der barocke Charakter des Gebäudes erhalten geblieben. Deshalb hatte man die große Garage eben nicht als klotzigen Bau in die Landschaft gestellt, sondern sie unter der Erde verlegt und die Lüftungsschächte in prächtigen Blumenrabatten verborgen. Die großen Springbrunnen und Wasseranlagen waren gleichzeitig Swimmingpools und passten mit ihrer Umrandung aus Marmor vorzüglich in das barocke Ensemble. In diesem Schloss fehlte es an nichts. An Luxus war nicht gespart worden. Die Ausstattung entsprach dem neuesten Stand von Technik und Innenarchitektur.
Etwas abseits, hinter Bäumen verborgen, standen Kaserne für die Wachmannschaften, Wohnhäuser für die Bediensteten und vornehme Gästehäuser mit Speiseräumen, außerdem eine große Anzahl Büros und Konferenzräume. Die direkt für das eigentliche Schloss zuständigen Bodyguards waren handverlesen und wurden so gut bezahlt wie die Direktoren kleinerer Firmen. Sie hatten ihre Quartiere nicht in den Kasernen, sondern luxuriöse Unterkünfte im obersten Stockwerk.
In vielen französischen Barockschlössern waren früher Dienergänge eingebaut gewesen, sodass das Personal ungesehen überall hingelangen konnte. Klingelte die Herrschaft, so tauchte aus einer bis dahin verborgenen Tapetentür der Diener auf. Von den Dienergängen aus wurden die Öfen in den Zimmern geschürt und zurzeit von Ludwig XIV. benutzte man sie sogar als Toiletten. Diese Dienergänge hatte man in diesem Schloss wieder reaktiviert. In ihnen bewegten sich nicht nur das Dienstpersonal, sondern auch die Wachleute. Man hatte sie zu diesem Zweck mit jeder erdenklichen Elektronik ausgestattet.
Die Zentrale des Familien-Imperiums war zwar in New York angesiedelt, mit örtlichen Dependancen in allen Hauptstädten der Welt. Dennoch war das Herz des Lapisvent-Konzerns dieses geheimnisvolle Schloss. Alle wichtigen Entscheidungen wurden hier im Languedoc gefällt. Für die leitenden Manager gab es mehrere Hubschrauberlandeplätze. Mit Helikoptern wurde ein Shuttle Dienst zum Flughafen in Carcassonne aufrechterhalten.
Neben dem Schlossgebäude, durch einen unterirdischen Gang mit ihm verbunden, lag das Krankenhaus. Man hatte es architektonisch nicht nur der feudalen Umgebung angepasst, es war auch mit den neuesten und medizinischen Geräten ausgestattet, Apparate, die sonst nur in teuren Universitätskliniken vorhanden waren. Selbstverständlich war eines der beiden Ärzteteams Tag und Nacht zusammen mit den Schwestern und Pflegern im Einsatz.
Das Personal bestand aus Spitzenkräften und war hoch bezahlt, hatten aber wenig zu tun. Hin und wieder verletzte sich jemand vom Dienstpersonal oder ein Familienmitglied hatte Grippe. Das war bisher auch schon alles gewesen. Deshalb konnten die Ärzte alle wichtigen Kongresse rund um den Erdball besuchen und eine wissenschaftliche Arbeit nach der anderen verfassen. Zwar fehlte ihnen Patientenmaterial für empirische Forschungen, doch das machten sie wett, indem sie vorhandene Studien zusammenfassten und neu auswerteten.
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Im Augenblick hatte die Klinik nur einen einzigen Patienten. Der saß in einem Rollstuhl und gab keine Regung von sich. Nach einem Apoplex war Arthur Baron de Lapisvent auf der linken Seite völlig gelähmt. Seine linke Unterlippe hing nach unten und gab ihm einen blöden Gesichtsausdruck. Er konnte weder den Arm, noch die Hand oder gar das Bein bewegen. Der Mann war unfähig zu sprechen und machte den Eindruck, als sei er geistig nicht mehr zurechnungsfähig - zumindest fanden seine nächsten Angehörigen dies, die sich um ihn versammelt hatten.
Umgeben von zwei Ärzten und drei Pflegerinnen saß hier einer der mächtigsten Männer der Welt. Nun konnte er nicht einmal mehr ohne fremde Hilfe essen und trinken. Seinen Willen konnte er schon gar nicht mehr durchsetzen. Man wusste nicht einmal, was sein Wille eigentlich war.
Die Familie Lapisvent starrte entsetzt auf den Kranken, während die Ärzte in gesetzten Worten die Ursachen und die Folgen eines Gehirnschlages erklärten. Sie demonstrierten, wo sich das Blutgerinnsel im Gehirn des Patienten befand, und welche Regionen wohl abgestorben waren. Ihre Prognose war nicht erfreulich. Wenn überhaupt jemals wieder eine Besserung eintreten würde, dann sicher nicht vor zwölf oder gar vierundzwanzig Monaten. Und selbst dies erschien ihnen nicht wahrscheinlich.
Irgendwann erhob sich Helen, seine Schwester, und erklärte, sie habe genug gesehen und gehört und brauche jetzt unbedingt einen großen Cognac. Ohne auf die anderen zu warten, verließ sie den Raum und kehrte ins Haupthaus zurück. Im Blauen Salon warteten schon die Diener in schwarzen Hosen und schwarz-weiß gestreiften Jacken mit den Getränken.
Vor einem großen Barockspiegel blieb Helen stehen und schnitt sich selbst Grimassen. In der Hand hielt sie ein großes Glas mit altem Cognac, an dem sie von Zeit zu Zeit nippte. An ihrem Finger glänzte ein Saphirring. Sie war eine schöne Frau mit dunklem Haar und einer noch immer guten Figur, obgleich sie die Vierzig bereits überschritten hatte. Lediglich an den Falten in ihrem Gesicht konnte man die Alkoholikerin erkennen. Sie weigerte sich, diese Spuren mit Botox entfernen zu lassen. Das habe sie nicht nötig, erklärte sie kategorisch: „Die jungen Typen schlafen doch nur wegen meines Geldes mit mir. Da muss ich mir mit meinem Aussehen auch nichts abbrechen.“
Langsam trafen nun auch die anderen Mitglieder der Familie ein. Das waren der jüngere Bruder Richard und Bernard das Nesthäkchen. Richard war klein und füllig und hatte eine weit fortgeschrittene Glatze. Er war so ganz das Gegenteil von Bernard, der hochgewachsen, schlank und sehr sportlich aussah. Ein Außenstehender hätte sie niemals für Brüder gehalten. Beide Männer trugen Freizeitkleidung, ganz im Gegensatz zu Sir Ludovic und Doktor Soudam. Die beiden General Manager fungierten als Chief Executives Officers des Clans oder CEOs, wie man jetzt sagte. Sie trugen korrekte dreiteilige dunkle Anzüge und unauffällige Krawatten. Ludovic war ein alter Mann, der sich stets gerade hielt und sich niemals gestattete, seine Schultern fallen zu lassen. Sein Haar war weiß, aber das Leben hatte auffällige Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Bereits bei dem Vater der Geschwister hatte er als Generalmanager gearbeitet und dessen volles Vertrauen gehabt. Er war der Einzige, der alle weitverzweigten Verbindungen und Engagements von la famille kannte. Deshalb hatte der Vater in seinem Testament angeordnet, dass seine Kinder keine weitreichende Entscheidung ohne die Zustimmung von Sir Ludovic fällen durften. Die englische Königin hatte ihn schon vor über zwanzig Jahren zum Ritter geschlagen, worauf Ludovic sehr stolz war.
Doktor Soudam war jünger als Ludovic und galt als härter und rücksichtsloser. Er war ein brillanter Jurist, der selbst bei den aussichtslosesten Fällen noch eine Lösung fand. Von seiner Erscheinung her recht unauffällig fürchteten ihn Freund und Feind. Man hielt ihn für unberechenbar und seinen Partnern ging sein ständiges Gerede auf die Nerven. Auch er war bereits vom verstorbenen Vater in seine jetzige Stellung berufen worden.
Im Verlauf ihrer langen Geschichte hatte sich in der Familie Lapisvent eine Marotte entwickelt. Man gebrauchte mit leichtem Schmunzeln lateinische Bezeichnungen für die unterschiedlichen Funktionen. So nannte man die Generalmanager: „imperator primus“ und „imperator secundus“. Aber der gesamte, weitverzweigte Konzern, hieß unter Eingeweihten nur „die Familie“, auf Französisch also „la famille“.
3
Zuerst schwiegen alle, nachdem sie im Salon Platz genommen und sich von den Dienern mit Erfrischungen hatten versorgen lassen. Der Anblick des hilflosen Arthurs hatte alle erschüttert. Helen brach das Schweigen. Mit einem Ruck trank sie ihr Glas leer und fragte: „Und, was machen wir jetzt?“
„Wir machen weiter wie bisher und warten. Was sonst?“ antwortete Sir Ludovic.
„Das sehe ich nicht so“, widersprach Richard. „La famille ist ohne Führung. Uns fehlt der Don. So lange Arthur den Don an sich bindet, mit ihm aber nichts mehr anfangen kann, ist la famille in Gefahr.“
„Heißt das, du willst ihm zu einem Abgang aus dieser Welt verhelfen?“ fragte Helen trocken.
„So zynisch dies klingen mag, zum Wohle von la famille, ja! Wenn er noch entscheiden könnte, würde er diesen Schritt wahrscheinlich selbst vollziehen.“
„Sie sind verrückt“, mischte sich Sir Ludovic streng ein. „Das kommt überhaupt nicht infrage."
„Dies ist eine Familiensache. Halten Sie sich da heraus!“, rief Richard unbeherrscht. „Der Don muss auf mich übergehen, das wissen Sie ganz genau!“
Sir Ludovic schwieg betroffen. Noch nie hatte man ihm so deutlich gesagt, dass er nicht zur natürlichen Familie gehörte und lediglich ein Angestellter war.
Helen mischte sich vermittelnd ein: „Aber Richard, so nimm dich doch zusammen. Unser Freund Ludovic hat Recht. Das, woran du denkst, kommt überhaupt nicht infrage.“
„Das ist doch Wahnsinn“, schrie Richard. „Auf das Ingenium Aeternum zu verzichten, kann unser Untergang sein. Ihr wisst, die anderen Familien warten nur auf eine Schwäche von uns.“
„Richard hat recht“, sagte auf einmal Bernard ganz ruhig. Alle sahen ihn verdutzt an, denn bisher hatte sich der jüngste Bruder aus allen Entscheidungen der Familie herausgehalten.
„Richard hat recht“, wiederholte er, „wir müssen den Don rasch von Arthur loslösen.“
„Oh, ich weiß“, sagte Helen sarkastisch. „Du willst das Zitat von Rockefeller nicht mehr hören, das dir Arthur bei jeder Begegnung an den Kopf geworfen hat: ‚Von allen Formen der Verschwendung ist jedoch Untätigkeit die verabscheuungswürdigste.‘ Wenn du mithilfst, unseren Bruder zu beseitigen, so wirst du ab jetzt diesen Satz von mir hören.“
Alle schwiegen.
„Nun gut“, sagte Richard schließlich und stemmte seine kleine, gedrungene Gestalt mit dem dicken Bauch aus dem Sessel empor. „Mit Don oder auch ohne, ich bin auf jeden Fall der Nachfolger von Arthur und damit das Familienoberhaupt. Und als Oberhaupt berufe ich eine Sitzung des InnerCircle ein. Es gilt, weitreichende Entscheidungen zu treffen. Schon seit Jahren nimmt la famille ihre Verantwortung für die Welt nicht mehr richtig wahr. Wir werden uns wieder einmischen und den uns zustehenden Platz in der Welt behaupten. Wir sind mehr als ein Bankhaus, mehr als ein Konzern. Arthur war schon lange müde und träge. Das soll sich jetzt ändern!“
„Gehst du nicht ein wenig forsch vor?“ fragte Helen mit spöttischem Unterton. „Noch lebt Arthur und ist das eigentliche Oberhaupt von la famille. Im Übrigen ist es uns doch bisher gut gegangen. Unsere Geschäfte haben sich prächtig entwickelt. Was willst du eigentlich?“
„Ich will, dass wir den uns zustehenden Einfluss auch ausüben. Wir haben schließlich einen Auftrag, wie du wissen solltest. Wir können die Geschicke der Welt nicht länger treiben lassen. Wir müssen endlich wieder Politik machen.“
„Richard hat recht“, mischte sich nun auch Bernard ein. „Wir tragen eine große Verantwortung. Und das verpflichtet.“
„Soudam, was sagen Sie dazu?“ fragte Ludovic.
Doch Doktor Soudam antwortete nicht. Er saß ganz entgegen seiner Gewohnheit mit stierem Blick in seinem Sessel. Die Debatte war inzwischen so hitzig, dass niemand darauf achtete.
„Schluss jetzt mit dem Gerede“, bestimmt Richard. „Der InnerCircle tritt zusammen, und wir werden sehen, was er beschließt. Bis dahin bleibt ihr alle hier.“
„Das geht nicht“, sagte Bernard. „Ich muss auf mein Schiff zurück. Dort wartet jemand auf mich.“
„Eine Frau!“ lachte Helen. „Eine Frau auf der Jacht! Unser Kleiner kann seine Spielchen nicht lassen. Ficke, wen du willst, aber lasse endlich diese Spielchen, die zwangsläufig für deine Gespielinnen tödlich enden müssen. Ist dir eigentlich nicht klar, dass du mit jedem Mal neue Zeugen kreierst. Irgendwann kannst du diese miesen Spiele dann nicht mehr unter der Decke halten.“
„Ach, lass mich doch in Ruhe!“ Bernard war wütend. „Jeannette ist reizend und klug und absolut sauber. Ich habe sie genau unter die Lupe nehmen lassen. Ich kann sie nicht allein auf dem Schiff lassen. Irgendwann quatscht die Besatzung und bringt sie zurück an Land. Dann haben wir keine Kontrolle mehr über sie.“
„Also, was schlägst du vor?“ fragte Richard streng.
„Wir lassen sie hierherbringen.“
„Du weißt, dass dieses Schloss der engsten Familie vorbehalten ist.“
„Aber die Situation ist ja auch außergewöhnlich.“ Bernard lächelte gewinnend. „Warum sollte man in außergewöhnlichen Situationen nicht einmal eine Ausnahme machen?“
„Nun gut!“ Richard wollte keine weiteren Konflikte und honorierte, dass Bernard ihm eben beigestanden hatte. Er brauchte Verbündete, das war deutlich.
Beim Hinausgehen sagte Helen noch sarkastisch zu Sir Ludovic: „Der will sie doch nur hierherholen, damit er sein Spiel weiterspielen kann. Richard ist zwar geltungssüchtig, aber mein kleiner Bruder ist eine miese Ratte.“
Frankreich, Languedoc, Departement Aude, ein Schloss, Juni – Jeannette Grashuber
1
Jeannette traf erst nach Mitternacht ein. Sie war erschöpft und gereizt. Man hatte sie zwar mit dem Helikopter an Land geflogen, aber dann mit einem zweimotorigen Propellerflugzeug nach Carcassonne transportiert. Es hatte gegen heftigen Gegenwind ankämpfen müssen. Das war ein anderes Reisen gewesen, als mit dem Luxus-Jet Falcon 900, mit dem sie von Cambridge nach Nizza geflogen waren. In Carcassonne war sie dann in einen kleinen zweisitzigen Hubschrauber verfrachtet worden. Als sie endlich spät in der Nacht das Ziel erreicht hatten, war ihr schlecht, und sie hatte rasende Kopfschmerzen.
Sie betrat das Schloss durch einen Nebeneingang, und das Personal brachte sie sofort in ihr Appartement. Im Schlafzimmer lagen schon die Wäsche für die Nacht und alle erdenklichen Annehmlichkeiten bereit. Müde kroch die junge Frau unter die Decke und schlief traumlos bis in den frühen Morgen. Doch bereits um sechs Uhr wachte sie auf und beschloss, die neue Umgebung zu untersuchen.
Ihre Unterkunft bestand aus zwei Zimmern und einem Bad. Es war hell und modern eingerichtet. Wie auf dem Schiff, so war auch hier der Wandschrank gut gefüllt, und alle Kleider hatten genau ihre Größe. In dem großen Schlafzimmer stand ein französisches Bett und im Wohnraum eine bequeme Ledergarnitur sowie ein Tisch mit sechs Stühlen. Alles war gediegen und vom Feinsten. Vom Fenster aus sah sie den großen Park mit den geometrisch geschnittenen Sträuchern, den Blumenbeeten und den Springbrunnen.
Nachdem Jeannette Toilette gemacht hatte, entschied sie sich für ein helles Kleid. Dann verließ sie ihre Zimmer und schlenderte den langen Gang entlang. Niemand war zu sehen, und so machte sie vergnügt ein paar Tanzschritte und besah sich in den alten Spiegeln, die den Gang säumten. Sie wusste nicht, dass jede ihrer Bewegungen von mehreren Augenpaaren genau verfolgt wurde. Eine der vielen Kameras zoomte auf ihr Gesicht. Es wurde mehrfach fotografiert und Abzüge des Bildes sogleich an alle Mitglieder der Wachmannschaft verteilt.
Plötzlich, als sei er aus dem Erdboden gewachsen, stand ein Diener in Livree vor ihr. „Mademoiselle wollen frühstücken“, fragte er beflissen und geleitete sie, ohne dass sie sich hätte weigern können, zum Lift. Zwei Stockwerke weiter unten führte er sie auf die Terrasse. Dort hatte man eine riesige Marquise ausgefahren, unter der ein üppiges Frühstücksbuffet aufgebaut war.
An einem der großen runden Tische saß ein alter, hoch aufgeschossener Mann. Um seinen blanken Kopf zog sich ein weißer Haarkreis. Der Mann war korrekt mit einem dreiteiligen Anzug und Krawatte gekleidet und erhob sich, als er Jeannette bemerkte. Sie trat zögernd auf ihn zu und reichte ihm die Hand, die er galant küsste.
„Es wäre mir eine große Freude, wenn sie mir Gesellschaft leisten würden“, sagte er freundlich und winkte einem Diener, um Jeannette zu versorgen. Nachdem dies geschehen war, schenkte der Diener dem alten Herrn Tee nach. Der schüttelte missbilligend den Kopf: „Arthur lässt den Tee noch immer in Silberkannen servieren. Welch‘ ein Barbar! Dieser vorzügliche Tee schmeckt nur aus Porzellan. Am besten dünnes, chinesisches Porzellan! Was meinen Sie, meine Liebe?“
„Oh, ich kenne mich mit Tee nicht so gut aus. Eigentlich trinke ich nur Kaffee.“
„Das ist nicht gut!“ Der Mann schüttelte kritisch den Kopf. „So viele Leute sind allergisch gegen Kaffee und wissen es nicht. So mancher chronisch Kranke wäre rasch gesund, wenn er auf dieses braune Zeug verzichten würde.“
Voller Ekel zog er die Stirn in Falten.
Jeannette wusste nicht, was sie antworten sollte und nippte stumm an ihrer Tasse.
„Was studieren Sie?“ fuhr der alte Mann fort. „Ich nehme doch an, dass Sie studieren?“
Der Alte konnte so angeregt zuhören, dass die junge Frau zu ihrer eigenen Verwunderung ohne Scheu zu erzählten begann. Sie sprach von ihren Studienfächern Physik und Biologie, dann von ihren Freunden und Freundinnen. Schon nach einer halben Stunde hatte sie dem Fremden beinahe ihr ganzes Leben erzählt und dabei das Frühstück völlig vergessen.
Sie wurden unterbrochen, als Richard Baron de Lapisvent erschien und sich zu ihnen setzte. Seine Augen waren verkniffen und das Haar trug er straff nach hinten gekämmt. Dadurch konnte man die beiden Ohren sehen, und dass das eine Ohrläppchen angewachsen war.
‚Dies scheint ein genetisches Merkmal der Familie zu sein‘, dachte sich Jeannette.
Richard schien schlecht geschlafen zu haben, denn statt eines Morgengrußes kam vom ihm nur ein Grunzen. Dann schnippte er mit den Fingern und bedeutete dem Diener, er möge endlich Kaffee einschenken.
„Noch jemand, der sich selbst vergiftet“, bemerkte der Alte spöttisch.
„Ach, lassen Sie mich doch mit Ihren dämlichen Weisheiten in Ruhe“, war die barsche Antwort. Richard zeigte sich demonstrativ unleidig.
Doch Sir Ludovic ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Darf ich Sie mit unserem Gast, Mademoiselle Jeannette Grashuber, bekannt machen. Sie studiert Biologie und Physik und kommt aus dem schönen Bayern in Deutschland.“
„Ach, Sie sind die Nutte von meinem kleinen Bruder?“ knurrte Richard. „Wegen Ihnen hat es schon Ärger gegeben.“
„Aber, aber“, vermittelte der Alte. „Ärger kann man dies nun wirklich nicht nennen. Wir freuen uns doch über eine so charmante Besucherin.“
„Ich nicht!“
Jeannette war verängstigt und verwirrt diesem Dialog gefolgt. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Doch Sir Ludovic tätschelte ihr beruhigend die Hand.
„Machen Sie sich nichts daraus“, sagte er. „Am Morgen ist er immer so. Doch nach dem Frühstück wird er ganz umgänglich. Ich bin sicher, auch der Baron wird sich über Sie als nette Bereicherung unserer kleinen Gesellschaft freuen.“
Bevor Richard wieder eine Gemeinheit sagen konnte, tauchte Helen auf. Sie war im Morgenrock, ungeschminkt und hatte seidene Pantöffelchen an. Sie steuerte direkt auf Jeannette zu und stellte sich vor sie mit in die Hüfte gestützten Armen.
„Was haben wir denn da Hübsches!“ rief sie. „Das ist zum Vernaschen doch besser als jedes Frühstück. Kleines, gehen wir gleich nach oben oder später?“
Alle lachten schallend, und die junge Frau wurde immer mehr verlegen. Sie stand auf und sagte: „Ich gehe jetzt wohl besser auf mein Zimmer.“
„Unsinn!“ rief Helen. „Ich habe für dich gestern ein gutes Wort eingelegt, deshalb musst du mir jetzt auch Gesellschaft leisten.“
Jeannette wurde klar, dass man bereits über sie geredet hatte, und dass dabei wohl geteilte Meinungen aufgetreten waren. Sie wollte verschwinden, sich ein Mauseloch suchen, in das sie sich hätte verkriechen können. Aber es gab keinen Ausweg. Diese Menschen hielten sie fest und zeigten ihr gleichzeitig ihre Verachtung. Nur dem alten Mann vertraute sie. Doch noch immer war ihr nicht klar, wer hier welche Rolle spielte, und wer das Sagen hatte.
Alle wandten sich nun ihrem Frühstück zu, und auch Jeannette kam endlich zum Essen. Schließlich tauchte Bernard auf. Er war in blendender Laune.
„Ich bin so froh, dass du da bist“, sagte er herzlich. „Ich habe mir bereits große Sorgen um dich gemacht, weil ich dich so überraschend verlassen musste. Aber jetzt ist ja alles gut, und uns stehen schöne Tage bevor.“
„Wau!“ mischte sich Helen trocken ein. „Der Kleine kann aber Süßholz raspeln. Doch dieses reizende Geschöpf wird dir nicht allein zur Verfügung stehen. Du wirst wohl teilen müssen.“
„Lass' doch diese Anzüglichkeiten“, sagte Richard streng. „Eigentlich sollte sie gar nicht hier sein, und je weniger sie von allem hier mitbekommt, desto besser für sie.“
Er sagte dies in einem Ton, der Jeannette Gänsehaut machte.
„Wo ist eigentlich Soudam?“ fragte nun Sir Ludovic. Vielleicht wollte er dem Gespräch eine andere Wendung geben, vielleicht interessierte ihn aber wirklich, wo sein Kollege blieb. „Er steht doch sonst als Erster auf, noch lange vor mir.“
Ein Diener wurde herbeizitiert und befragt. Monsieur Soudam habe schon sehr früh auf seinem Zimmer gespeist. Danach habe man nichts mehr von ihm gehört.
„Gehen Sie zu ihm!“ befahl Richard. „Für zwei Uhr habe ich eine wichtige Sitzung einberufen. Wir erwarten gegen Ein-Uhr dreißig HGBL. Soudam muss unbedingt teilnehmen. Nächste Woche tagt der InnerCircle. Dessen Entscheidungen müssen vorbereitet werden.“
Der Diener verbeugte sich und verschwand.
Bernard beuge sich zu Jeannette und flüsterte ihr ins Ohr: „Mit HGBL ist das High Governing Body Lapisvent gemeint, das Lenkungsgremium unseres Konzerns.“
Doch die Frau hörte ihm kaum zu. Sie stand zu sehr unter innerer Anspannung.
Bald darauf erschien der Diener wieder. Er war sehr aufgeregt und rief: „Monsieur Soudam ist etwas zugestoßen. Bitte kommen Sie sofort.“
Alle rannten hinter dem Diener her. Die Zimmer Soudams lagen im gleichen Flügel wie die von Jeannette. Seine Tür stand offen, und der Mann lag reglos auf dem Bett. Alle blieben stehen, als seien sie gegen eine Mauer gelaufen und wichen vorsichtig zurück.
„Holt die Ärzte und verständigt die Armati“, befahl Richard und verschwand.
2
Alle zerstreuten sich, und so schnell sie konnte eilte Jeannette auf ihr Zimmer zurück. Ihr war klar, sie musste weg aus diesem Schloss. Wo war sie hier hineingeraten? Hinter der noblen Fassade taten sich Abgründe auf. Ein Gefühl tief in ihrem Innern sagte ihr, dass es auch um ihr Leben ging.
Sie packten die wenigen Habseligkeiten, die ihre gehörten, in ihrer Handtasche und lief im Zimmer unruhig auf und ab. Nach einer Weile erschien Bernard und lächelte über das ganze Gesicht.
„Hier bekommst du doch wenigstens etwas geboten", sagte er stolz. „Du bist mitten in einen Krimi geraten und kannst die Lösung des Falles in aller Ruhe als Zuschauerin verfolgen."
„Darauf kann ich gerne verzichten", war die gereizte Entgegnung. „Ich möchte, so schnell es geht, von hier weg. Ich muss auch zurück nach Cambridge, meine Prüfungen stehen an. Bitte, gib die Anweisung, dass ich zurückgebracht werde."
„Das wird nicht so einfach sein. Man kommt nur schwer in dieses Schloss, aber man kann es auch so einfach nicht verlassen."
„Soll das heißen, dass ich deine Gefangene bin?“
„Wenn du eine Gefangene bist, so ist dein Gefängnis aber recht luxuriös. Ich kann mir eine Menge Menschen vorstellen, die sich so eine Gefangenschaft wünschen.“
„Mein Name ist Jeannette Grashuber, und ich bin nicht eine Menge Menschen. Also, wann kann ich gehen?“
„Das liegt nicht an mir, darüber entscheiden die Armati."
„Und wer oder was sind diese Armati?“
„Darüber sprechen wir am besten bei einem kleinen Spaziergang im Park.“
Obgleich der Tag noch jung war, brannte bereits die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Jeannette schwitzte, aber Bernard schien die Hitze nichts auszumachen. Überhaupt ließen ihn in die ganzen Vorkommnisse kalt. Ungerührt lief er neben ihr her und plauderte über irgendwelche nebensächlichen Dinge.
Endlich fragte Jeannette nervös: „Du wolltest mir doch erklären, wer oder was die Armati sind!"
„Die Familie hat einen eigenen Geheimdienst und ein Heer von Personenschützern. Sie sind der bewaffnete Arm von la famille, das brachium armatum familiae, also kurz die Armati. Wie alle reichen Leute sind auch wir stets in Gefahr. Deshalb haben die Armati bei la famille eine große Bedeutung und ihr weltweiter Chef hat große Macht. Aber die Armati sind nicht nur unsere Bodyguards, sie haben noch viele andere Funktionen. Den Namen Armati gebraucht eigentlich nur noch Richard. Er benutzt absichtlich die alte lateinische Bezeichnung. Alle anderen nennen den Dienst SFL – Security de famille Lapisvent, oder kurz Security. Da wir international sind, haben wir nichts mit der Polizei der einzelnen Länder, in denen wir operieren, zu tun. Für uns sind auch keine gewöhnlichen Gerichte zuständig. Was interessiert la famille das nationale Recht eines Staates? Wir sind das Gesetz dieser Welt! Das gilt übrigens auch bei so wichtigen Kleinigkeiten, wie der Verschwiegenheit des Dienstpersonals. Hast du jemals gehört, dass eines unserer Kammermädchen Intimitäten ihrer Herrschaft ausgeplaudert und an die Boulevardzeitungen verkauft hätte? Unsere Diener schweigen aber nicht, weil sie moralischer wären als die Butler der englischen Queen, sondern weil sie ganz einfach mehr Angst haben. Wenn bei uns Bedienstete plaudern, so wird nicht viel Federlesen gemacht. Der Tod des unglücklichen Soudam wird von unseren besten Leuten untersucht werden. Die Konsequenzen zieht dann die SFL. Du wirst es erleben.“
„Und was ist der InnerCircle?“
„Du bist aber neugierig", sagte Bernard spöttisch. „Du darfst das alles gar nicht wissen, aber ich sage es dir trotzdem. Der InnerCircle ist die oberste Instanz des Lapisvent Trust. In ihm sind unsere führenden Leute und auch Abgesandte der andern Geheimorganisationen vertreten.“
3
Zurück auf ihrem Zimmer verdrängte sie das eben Gehörte. Es erschien ihr einfach als zu ungeheuerlich, um noch weitere Gedanken daran zu verschwenden. Stattdessen musste sie wieder an Julian denken und griff zum Telefon. Doch auch dieser Apparat war tot. Sie war völlig von der Außenwelt abgeschnitten und hätte auch tot sein können. Julian würde sie sicher suchen. Sie wusste, wie verbissen er sein konnte, wenn er vor einem Rätsel stand. Was würde ihm Lena erzählen? Sie konnte ihm nur sagen, dass seine Freundin mit einem komischen Typ abgehauen war und seitdem nichts mehr von sich hatte hören lassen. Lena mit ihrer Fantasie würde annehmen, dass sie und Bernard die Tage und Nächte gemeinsam im Bett verbringen. Jeannette musste schmunzeln. Seit sie Bernard getroffen hatte, lebte sie wie eine Nonne.
Ihre Gedanken wurden unterbrochen von leisem Klopfen. Es kam aber nicht von der Tür. Etwas verwirrt rief Jeannette: „Ja, bitte?“
Es öffnete sich eine verborgene Tapetentür und herein trat eine junge Frau. Sie trug die gleiche Uniform, wie die Bediensteten auf der Jacht mit einer kleinen Saphirbrosche an der Brust. Ob der Gast jetzt das Haar gemacht haben möchte, fragte sie, und Jeannette verneinte. Um wie viel Uhr sie am nächsten Morgen gebraucht würde, fragte die Frau noch im Hinausgehen, und Jeannette erklärte, sie benötige keine Dienste.
Als sie endlich wieder allein war, dachte sie weiter über ihre Lage nach. Was würde Julian unternehmen, wenn sie verschwunden blieb? Sich eine neue Freundin suchen? Bei diesem Gedanken ging ihr ein Stich durchs Herz. Es war ihr klar, dass sie diesen amerikanischen Studenten liebte. Würde sie jemals die Gelegenheit erhalten und Julian alles erzählen können?
Wenn ihr jetzt ein Internetzugang zur Verfügung stünde, so könnte sie ihm schreiben und alles berichten. Aber würde er ihr auch glauben? Sie konnte es doch selbst nicht glauben, was sie in den vergangenen Tagen alles erlebt hatte.
Auf jeden Fall würde sie ihre Erlebnisse bei erster Gelegenheit als Mail in ihrem gemeinsamen Postfach hinterlegen. Dies schon als Beweis, falls ihr etwas zustoßen sollte.
Da wurde sie schon wieder in ihren Gedanken unterbrochen. Ein Mann im weißen Kittel trat durch die gleiche verborgene Tür ein. Er stellte sich als Arzt vor, der für das Wohlergehen der Gäste verantwortlich war und fragte, wie sie sich fühle? Dann erkundigte er sich nach ihrem Stuhlgang und ihrem Schlaf. Benötigte sie ein Mittel zum Schlafen oder gegen Verstopfung? Nachdem er ihren Blutdruck gemessen und Blut abgenommen hatte, verabschiedete er sich. Er würde am nächsten Tag wiederkommen.
Jeannette hatte keine Lust, nach unten zu gehen und das Mittagessen gemeinsam mit den seltsamen Bewohnern dieses Schlosses einzunehmen. Sie würde doch nur wieder deren Verachtung spüren und sich schäbig und minderwertig vorkommen. Sie fühlte sich einsam und wollte hier weg. Deshalb klingelte sie. Kurz darauf erschien eine Frau etwa Mitte dreißig. Sie hatte das Haar straff nach hinten gekämmt und trug wie in einem Film ein schwarzes, kurzes Kleid und eine weiße Schürze. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, deutete sie einen leichten Knicks an und sagte: „Ich heiße Maria und bin für Sie zuständig. Ich werde mich bemühen, jeden Ihrer Wünsche zu erfüllen. Bitte sagen Sie mir stets und ohne Hemmungen, was ich für Sie tun kann.“
Jeannette war ganz verlegen. Noch nie im Leben hatte sie eine Dienerin gehabt, und sie wollte auch nicht bedient werden. Das alles war ihr unangenehm. Deshalb antwortete sie: „Wie Sie wissen, bin ich neu hier. Ich werde Sie so wenig wie möglich belästigen.“
„Oh, Sie belästigen mich nicht. Ich bin doch dafür da, damit es Ihnen gut geht.“
„Dennoch will ich Sie so wenig wie möglich in Anspruch nehmen. Sie haben sicher noch mehr zu tun, als Wünsche von mir zu erfüllen.“
„Bitte erlauben Sie mir, dass ich Ihnen widerspreche. Ihre Wünsche sind meine vornehmste Aufgabe.“
Das Gespräch wurde immer peinlicher, und Jeannette wollte ihm eine andere Wendung geben. Deshalb fragte sie: „Können Sie mir sagen, wie dieses Schloss heißt und wem es gehört?“
„Dieses Gebäude hat eigentlich keinen Namen. Wir alle nennen es nur ‚Das Schloss’ und auch die Herrschaften halten es so. Es gehört der Familie der Barone de Lapisvent. Bewohnt wird es meistens allein von Arthur Baron de Lapisvent. Aber Monsieur Arthur ist jetzt sehr krank. Ich glaube, das Schloss ist so etwas wie ein Zentrum. Hier finden sehr häufig Treffen und Versammlungen statt.“ Und nach einer Pause fügte die Frau spitz hinzu: „Habe ich Ihre Frage zu Ihrer Zufriedenheit beantwortet?“
Dieser letzte Satz war wie eine kalte Dusche. Um dennoch Souveränität zu demonstrieren, sagte Jeannette: „Danke, das war eine sehr informative Antwort. Wie lange sind Sie hier schon hier in Diensten, Maria?“
„Seit über zehn Jahren, Mademoiselle. Haben Sie sonst noch Fragen?“
„Nein, eigentlich nicht!“
„Was kann ich dann für Sie tun? Sie haben mich gerufen.“
„Ach ja, ich wollte fragen, ob ich das Mittagessen hier auf dem Zimmer einnehmen kann?“
„Das dürfte kein Problem sein. Was wünschen Mademoiselle zu speisen?“
„Egal. Stellen Sie etwas zusammen.“
„Ganz wie Mademoiselle wünschen!“
Maria deutete wieder ein Knicks an und verschwand. Als sie wiederkam, trug sie ein großes Tablett und servierte formvollendet. Auf den Tisch legte sie weißen Damast und silbernes Besteck, dazu Kristallgläser.
Jeannette hatte noch gar keinen Hunger, aber sie ließ sich einen Teller Suppe vorsetzen und aß auch bald mit Appetit die gegrillten Krevetten mit Salat. Sogar die Eiscreme zum Nachtisch ließ sie sich schmecken. Als Wein gab es Chablis und als Tafelwasser Perrier. Maria wartete geduldig, bis der Gast gegessen hatte, schenkte hin und wieder nach und räumte dann geräuschlos ab.
Als das Zimmermädchen verschwunden war, legte sich Jeannette auf das Bett. Sie war sehr müde und schlief nach kurzer Zeit ein. Sie erwachten durch das Schlagen von Hubschrauberflügeln und eilte zum Fenster. Dort sah sie einen Hubschrauber nach dem anderen einschweben und irgendwo in der Nähe des Hauses landen.
Maria erschien, deutete wie immer einen Knicks an und sagte mit devoter Stimme: „Mademoiselle, es ist Ihnen sicherlich nicht entgangen, dass sich zurzeit im Schloss viele Gäste aufhalten. Man bittet Sie deshalb zu Ihrer eigenen Bequemlichkeit, Ihre Zimmer vorerst nicht zu verlassen.“
„Und wenn ich mich nicht daranhalte?“ fragte Jeannette schnippisch.
„Nun, es ist meine Aufgabe, in allen Dingen für Sie zu sorgen.“
„Was soll das heißen?“
„Es zählt zu meinen Obliegenheiten für Ihre Bequemlichkeit zu sorgen, und die ist nun einmal auf Ihrem Zimmer zurzeit am ehesten gegeben.“
„Soll dies eine Drohung sein?“
„Mademoiselle, niemals würde ich mir die Freiheit herausnehmen und Sie ungebührlich anreden! Ich erfülle nur meine Pflicht!“
Jeannette kam mit dieser Frau einfach nicht zurecht. Sie wusste nicht, was sie von ihr halten sollte und fand nicht den rechten Ton im Gespräch mit ihr. So wechselte sie das Thema und fragte: „Was geht da draußen vor sich?“
„Das erkläre ich Ihnen gern. Zurzeit herrscht hier Sicherheitsstufe eins. Rund um das Schloss sind Sicherheitsleute verteilt. Sie erkennen sie an der schwarzen Kleidung und der technischen Ausrüstung. Über dem Schloss stehen zwei Hubschrauber in der Luft und ganz weit oben im Himmel kreist eine Jagdmaschine. Das ganze Gelände ist weiträumig abgesperrt. Das ist aber nur ein Teil der Sicherheitsmaßnahmen. Wer sich unbefugt nähert, riskiert sein Leben. Wir übertreffen sicher noch die Gepflogenheiten des Secret Service, der den US-Präsidenten beschützt.“ Maria machte eine kleine Pause und lächelte, bevor sie fortfuhr: „Der Präsident muss sich schließlich leutselig und volksnah geben. Er will wiedergewählt werden. Die Menschen hier achteten nur auf ihre Sicherheit. Und noch etwas: der Präsident ist ersetzbar, die Familienmitglieder nicht.“
„Das Motto hier ist also ‚Lieber einmal zu viel geschossen, als einmal zu wenig’?“ fragte Jeannette sarkastisch.
„Sie können das Prinzip so bezeichnen, wenn Sie wollen. Verstehen Sie nun, weshalb ich darauf dringen muss, dass Sie Ihre Zimmer nicht verlassen?“
Das Zimmermädchen erntete nun ein ergebenes Nicken und zog sich diskret zurück.
4
Es war schon später Nachmittag, als ein Hubschrauber nach dem anderen wieder abhob. Bald darauf tauchte Bernard auf. Er hatte vor Aufregung ganz rote Ohren.
„Du wirst es nicht glauben, was wir eben im HGBL beschlossen haben“, sagte er, noch bevor er sich gesetzt hatte. „Gib mir etwas zu trinken. Das brauche ich jetzt.“
Sie schenkte ihm einen eisgekühlten Grappa ein und wartete.
„Eigentlich darf ich es dir gar nicht erzählen. Aber du hast so lange warten müssen, da muss ich dich mit Neuigkeiten ein wenig entschädigen.“
„Ich will es gar nicht hören. Viel lieber wäre es mir, du würdest mich nach Hause lassen!“
Bernard nippte an seinem Glas und sagte: „Mädchen, du hast hier die einmalige Gelegenheit hinter die Kulissen dieser Welt zu blicken. Das wirst du dir doch nicht entgehen lassen.“
„Na schön“, seufzte sie, „du willst die Neuigkeiten doch loswerden, ganz gleich, was ich jetzt sage.“
„Wenn du mich so bittest, dann weihe ich dich eben ein. Es wird eine Extravorstellung geben, und du sitzt auf dem Logenplatz.“
Sie sah ihn verständnislos an.
„Nun, wir werden eine kleine Auseinandersetzung zwischen zwei Ländern inszenieren. Ich glaube, das nennte man ‚bewaffneten Konflikt‘, und wir beide schließen eine Wette ab, wer gewinnen wird. Ich weiß nur noch nicht, worum wir beide wetten.“
Sie schwieg noch immer, und er grinste sie an. Endlich fragte sie stockend: „Meinst du damit etwa, ihr wollt einen Krieg inszenieren?“
„Krieg ist so ein unangenehmes Wort“, antwortete er noch immer leicht hin. „Da denkt man gleich an Hunger und Weltuntergang. Nein, so weit wollen wir doch gar nicht gehen. Es genügt, wenn ein paar Städte bombardiert werden, ein paar Panzer aufeinander schießen und vielleicht das eine oder andere Schiff versenkt wird. Bevor es richtig begonnen hat, wird das Gerangel auch schon vorbei sein. Du und ich, wir haben dann unseren Spaß gehabt, und la famille wird die notwendigen strategischen Ziele erreichen. Der Plan ist wirklich gut.“
Jeannette sprang auf: „Ihr wollte einen Krieg anzetteln? Gibt es nicht schon genügend Kriege?“
Doch der Mann behielt die Ruhe.
„Bitte, ich mag das Wort Krieg nicht. Das habe ich doch schon gesagt. Der bewaffnete Konflikt, über den wir nachdenken, hat wichtige Aufgaben. Richard ist gewillt, unserer Familie wieder den Platz in der Weltgeschichte zu verschaffen, der ihr gebührt! Es geht nämlich darum, wer in dieser Welt das Sagen hat.“
„Was meinst du damit?“
„Dir dürfte nicht entgangen sein, dass in beinahe allen Ländern der Erde seit einiger Zeit eine Finanz- und Wirtschaftskrise tobt. Sogar Europa droht auseinanderzubrechen. Ausgelöst wurde das Ganze durch eine Immobilienkrise in den USA und durch wilde Spekulationen auf dem Aktienmarkt, durch Leerverkäufe und noch andere Schweinereien von Spekulanten. Dazu kamen dann die Staatsschulden einzelner Länder, durch die wir die Nationen dann finanziell strangulieren konnten. Ja, ja, man soll eben nie über seine Verhältnisse leben. Natürlich haben wir sie erst zum Schuldenmachen animiert.“
Jetzt grinste er wieder über das ganze Gesicht.
‚Kann er noch etwas Anderes als grinsen?‘ fragte sich Jeannette.
„Ich kann dir sagen, die ganze Misere ist nicht zufällig. Dahinter steckt wie immer in der Politik ein Plan, der von langer Hand vorbereitet wurde und den man genial ausgetüftelt hat. Und niemand merkt, dass da jemand versucht, die Welt noch ein wenig mehr in den Griff zu bekommen?“
„Und wer sollte dieser jemand sein“, fragte Jeannette genervt. Sie widerte dieses wichtigtuerische Theater, dieses Gerede von Verschwörungen und Machtdemonstrationen inzwischen nur noch an.
„Na wer schon? Banker-Familien und ihre Konsortien, oder wer glaubst du sonst?“
„Und welchen Zweck sollten sie verfolgen?"
„Das ist doch so offensichtlich. Die noch solventen Staaten schnüren Rettungspakete, um ihre eigene Wirtschaft und ihre Handelsbeziehungen zu retten – oder sogar ganz Europa, wie die Politiker theatralisch verkünden. Dabei nehmen sie irrsinnige Summen in die Hand, und auch ihre Schulden bei uns internationalen Bankern steigen. Es geht hier um Beträge, die die Kosten von Kriegen um ein Mehrfaches übersteigen. Aber je mehr sich die Regierungen anstrengen, desto mehr liefern sie sich uns aus. Die Folge dieser gigantischen Schuldenwirtschaft ist eine schleichende Geldentwertung. Die Länder sind irgendwann finanziell völlig überfordert und rutschen in den Staatsbankrott. So übernehmen wir Banker ganze Staaten, ohne dass dies jemand merkt. Denn nun diktieren wir die Bedingungen. In einigen Ländern in Südeuropa haben wir diesen Zustand schon erreicht. Genial nicht?
Das Dumme ist nur, dass die Initiative diesmal nicht von den Lapisvent ausgeht. Wir haben die Entwicklung verschlafen, und man hat uns in die Planung erst sehr spät einbezogen. Zurzeit bestimmen andere die Spielregeln, und wir laufen hinterher. Wenn es so weitergeht, werden wir völlig ausgebootet und überlassen unseren Konkurrenten das Feld.“
„Aber ihr verdient doch nach deiner eigenen Aussage recht gut an der Krise.“
„Das ist schon richtig, aber Geld ist eben nicht alles. Außerdem sind neue Mächte entstanden, die wir nicht kontrollieren können, und die sich unserem Einfluss mehr und mehr entziehen.“
„Und welche Mächte wären dies?“ fragte Jeannette, deren Ton immer ironischer wurde.
„Zum Beispiel: China, Indien, die Vereinigten Arabischen Emirate. Aber wer unsere wirklichen Konkurrenten sind, darf ich dir nun wirklich nicht sagen.“
„Und? Was wollt ihr zumindest gegen die Staaten unternehmen? Wollt ihr sie etwa aufkaufen?“
„Das tun wir schon, so gut es geht“, antwortete Bernard ernsthaft. „Aber leider müssen wir noch andere Wege einschlagen. Wir sind noch am Diskutieren, welcher der Erfolgreichste ist. Richards Meinung steht jedoch schon fest. Er sagt, es gibt nur eine Lösung, einen bewaffneten Konflikt. So bekommen wir wenigstens die Staaten in den Griff und übernehmen international wieder die Initiative des Handelns. So ein paar Bomben und Raketen machen die ganze Finanzkrise sekundär.“
„Dein Richard ist ein Idiot.“
„Sage so etwas nicht“, Bernard flüsterte auf einmal. „Richard ist jetzt schließlich das Oberhaupt von la famille. Man weiß nie, wer eventuell mithört.“
„Trotzdem sage ich es noch mal und das ganz laut: Wer einen Krieg mutwillig herbeiführt, ist ein Idiot“, wiederholte das Mädchen trotzig.
„Ach, du hast eben keine Ahnung! Ich werde es dir erklären. Im Zwanzigsten Jahrhundert war unsere Basis, wenn man so sagen will, die Staaten von Europa und von Amerika. Sie spielten nach unseren Regeln, und es ging ihnen gut dabei, und auch wir waren zufrieden. Besonders die USA, die wir durch die von uns initiierten Weltkriege zur Supermacht aufgebaut haben, bildeten unser strategisches Rückgrat. Aber wir brauchten einen Feind, um zum Beispiel die Rüstungsausgaben zu rechtfertigen und die Kontrolle von Wirtschaft und Handel durchzusetzen. Und so schufen wir den bösen, bösen Kommunismus.
Gegen Ende des Jahrhunderts kamen wir dann zu der Meinung, dass die Welt nun genug vom kommunistischen Experiment gehabt habe. Unser Ziel war nun die Eine-Welt-Regierung. Deshalb konnten wir keine Zweiteilung der Welt mehr brauchen.“
„Und dann habt ihr einfach den Kommunisten gesagt, dass es genug ist und die sind abgetreten? Du spinnst doch!“
„Nein, es war zwar einfach, aber nicht sooo einfach. Wir lancierten die richtigen Leute an die Macht und beendeten das Trauerspiel. Nun wollten wir das gigantische Menschenpotenzial von China und Indien endlich ausschöpfen. Wir hatten dies schließlich bereits mit den Japanern erfolgreich praktiziert. Ich glaube, dieser Karl Marx hat geschrieben, der Kapitalismus jage um den Erdball und forme die Welt nach seinem Bild. Heute nennt man es ‚Globalisierung‘, und wir haben sie realisiert. Wir verwandelten besonders China in eine gigantische Fabrik, die von Shrimps in ehemaligen Reisfeldern über Kleider und jede Art von Computern alles, was die Welt benötigt, zu Spottpreisen produziert.“
Der Mann kippte ein Glas Grappa hinunter und schenkte sich nach.
„Alles lief gut. Die Löhne der Beschäftigten in unseren Kernländern sanken. Die billige Konkurrenz ließ die Macht der Gewerkschaften schwinden. Dafür aber konnten sich - wenigsten eine Zeit lang – viele Bürger dieser Staaten viel Konsum leisten.“
„Ich weiß“, warf Jeannette ein. „Freiheit und Demokratie bedeuten im Grund nur die Freiheit sich alles kaufen zu können, wenn man das Geld hat.“
Bernard lächelte bei diesen Worten ein wenig abfällig und machte eine lange Pause. Jeannette widerte wieder einmal seine Arroganz an. Um sein dämliches Grinsen zu beenden, fragte sie barsch: „Nun, ist eure Rechnung aufgegangen?“
„Ja und nein. Anfangs waren wir internationalen Bankiers durchaus zufrieden. Unsere Macht wuchs und unser Einkommen wuchs noch mehr. Doch inzwischen sehen wir die Kehrseiten der Entwicklung. Die Machtzentren verschieben sich. Als wir noch Kinder waren, hatten wir einen Spruch, über den wir herzlich lachten: ‚Was ist der Unterschied zwischen einem Optimisten und einem Pessimisten? Der Optimist lernt Russisch und der Pessimist lernt gleich Chinesisch.’ Nun, inzwischen lernen die Kinder in westlichen Aufsteigerfamilien tatsächlich Chinesisch. China ist zu einer Weltmacht geworden, die wir nicht mehr kontrollieren können, und Indien schickt sich an, nachzuziehen. Nachdem heute beinahe alle Waren dort produziert werden, selbst die billigen italienischen und spanischen Schinken, häufen diese Staaten ungeheure Geldmengen an. Besonders die USA verkaufen kaum noch Güter in die Welt, sondern kaufen nur noch ein. Es ist schon euphemistisch, von Außenhandelsdefiziten zu sprechen. Nein, die westlichen Staaten sind gigantische Schuldner, und ihre Gläubiger sind wir und diese neuen, emporstrebenden Staaten. Von den Koreanern, den Taiwanesen, und wie sie alle heißen, habe ich noch gar nicht gesprochen. Diese Länder haben inzwischen ungeheure Mengen an Devisen angehäuft, mit denen sie bald Einfluss und Macht in der Welt beanspruchen werden. Damit aber kommen sie uns ins Gehege, schließlich wollen sie unsere bewährten Spielregeln nicht annehmen.“
‚Wie schön’, dachte sich Jeannette. ‚Endlich kommt ein wenig ausgleichende Gerechtigkeit ins Spiel. Die Geister, die sie riefen, werden sie nun nicht mehr los!’
Laut sagte sie: „Und was wollt ihr dagegen unternehmen?“
„Langsam, langsam“, lächelte der Mann. „In meiner Analyse fehlt noch ein wichtiges Puzzlestück: die ehemalige Sowjetunion. Sie wurde zerschlagen, indem wir den Nationalismus ihrer Mitgliedsstaaten radikal gefördert haben. Die amerikanische CIA hat dort wie immer hervorragende Arbeit geleistet. Dann haben wir die wichtigsten Rohstoffreserven und Produktionsanlagen an uns genehme Leute verteilen lassen, heute nennt man sie Oligarchen. Aus einfachen Studenten wurden so über Nacht Milliardäre. Aber das Land ist noch immer militärisch eine Weltmacht und verfügt über Energiereserven, mit denen es besonders Europa fest in einem erpresserischen Klammergriff hält.“
Das Mädchen setzte sich wieder: „Wie du mir jetzt ausführlich erläutert hast, schwindet eure Macht. Was wollt ihr dagegen unternehmen?“
„Na ja, so ist schlimm es auch wieder nicht, dass unsere Macht schwindet. Noch immer beherrschen unsere USA den Erdball und das wird auch noch eine Weile so bleiben. Amerika ist und bleibt eben militärisch die stärkste Supermacht der Welt und kontrolliert für uns die Staaten. Wenn dann irgendwelche Länder aus der Reihe tanzen und eine unabhängige Wirtschaft und ein unabhängiges Geldsystem anstreben, dann treten unsere USA eben als Weltpolizist auf und schaffen Ordnung. Aber so kommen wir dennoch auf dem Weg zum Eine-Welt-Staat nicht weiter. Es muss etwas Grundlegendes geschehen, schon damit wir von den anderen Familien nicht überholt werden.“
„Und was soll das sein?“
„Noch ist nichts beschlossen. Wir bereiten eine Vorlage für die Sitzung des InnerCircle vor. Richard hat einen genialen Plan.“
„Und der wäre?“ Jeannette war nun auf einmal ganz gespannt. Bisher hatte sie die endlosen Ausführungen gelangweilt über sich ergehen lassen und sich über das großspurige Gehaben ihres Gegenübers geärgert, der ihr doch tatsächlich verkaufen wollte, dass er und seine Familie die Weltgeschichte lenken. Doch nun wollte sie wissen, wozu sich diese Irren zumindest in der Theorie versteigen würden.
„Der Plan ist einfach, aber ungeheuer effektiv. Wir haben ihn ‚Action world balance‘ genannt.“
„Nun sag schon!“
„Das darf ich aber nicht. Ich bin Geheimnisträger. Wenn ich es dir sage, wirst du auch zum Geheimnisträger, obgleich du nicht zu la famille gehörst.“
‚Aha!’ dachte sich die Frau. ‚Wie immer leere Worte. Die haben gar keinen Plan.’
„Dann lasse es eben!“ sagte sie laut. „Ich will es gar nicht wissen.“
„Jetzt habe ich dich aber so neugierig gemacht. Meine Schuld. Ich muss dich einfach einweihen.“
„Tue, was du nicht lassen kannst!“ rief Jeannette aus dem Badezimmer, in das sie gegangen war, um sich die Hände zu waschen.
„Also gut, du sollst die Lösung selbst herausfinden. Ich habe dir erläutert, welche neuen Machtzentren entstanden sind, und dass einige Regierungen in unseren Augen zu selbstbewusst werden und ein wenig aufgemischt werden müssen. Wo würde sich ein Krieg lohnen? So, nun habe ich dir viele Tipps gegeben.“
Jeannette war inzwischen zurückgekehrt. Sie gab sich gleichgültig und zuckte mit den Schultern. Sie mochte dieses dämliche Spiel nicht: „Ihr wollt doch nicht wie damals in Afghanistan eine westliche Allianz nun in einen Krieg gegen China hetzen?“
„Unsinn! Daran denkt niemand. Also noch einmal: Welche Staaten schwimmen in Geld und sind bei uns so gut wie nicht verschuldet? Richtig, China und Russland. Wer geht immer mehr eigene Wege und glaubt, er müsse auf niemanden mehr hören. Richtig, China und Russland. Und genau diese beiden Staaten sollen sich demnächst gegenseitig ein wenig ärgern. Wir wollen ihnen nämlich auf die Hände klopfen und ein wenig von ihren enormen Gewinnen abschöpfen. Wie sagte schon der US-Präsident John Adams: ‚Es gibt zwei Wege, eine Nation zu erobern und zu unterdrücken. Einerseits durch das Schwert. Andererseits durch Schulden.‘ Die anderen Banker versuchen es mit den Schulden. Wir werden wohl das Schwert in die Hand nehmen müssen."
Die Frau sah den Mann an, als sei er nicht mehr ganz normal. Der sprach über einen Krieg wie über ein Monopoly Spiel. Wenn dieser irrwitzige Plan tatsächlich Realität werden sollte, so würde dies Millionen von Menschenleben kosten. War dieses Schloss denn ein Tollhaus, eine psychiatrische Klinik?
Bernard schien ihre Gedanken erraten zu haben, denn er sagte: „Josef Stalin war zwar ein blutrünstiger Idiot, aber mit seiner Maxime lag er nicht falsch: ‚Man kann kein Omelett zubereiten, ohne Eier aufzuschlagen.’ Das dürfte doch auch dir einleuchten! Doch das alles sind bisher nur Vorüberlegungen. Wir müssen noch die Vertreter der anderen Organisationen überzeugen. Dazu ist viel Planungsarbeit nötig. Auch ist bis jetzt Sir Ludovic, dieser senile Narr, dagegen. Hoffentlich besinnt er sich bis zur Sitzung des InnerCircle in der nächsten Woche.“
„Das heißt, ihr seid euch nicht einig und der Krieg ist noch nicht beschlossene Sache?“
„Wie gesagt, Sir Ludovic ist leider dagegen, und Helen stänkert wie immer. Im Grund interessiert sie sich nicht für das operative Geschäft. Sie ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Und Ludovic ist eben ein alter Mann. In ihm ist das Feuer erloschen. Den kann man nicht mehr ernst nehmen. Es wird Zeit, dass wir Jungen das Heft in die Hand nehmen. Der Schlaganfall meines Bruders ist zum rechten Zeitpunkt eingetreten.“
„Schlaganfall? Bruder?“ fragte Jeannette erstaunt. „Von deinem Bruder hast du bisher noch nichts erzählt. Ist er krank?“
„Das ist ein eigenes Thema“, antwortete Bernard und erhob sich. „Darüber sprechen wir ein andermal.“
Dann verließ er das Zimmer.
5
Nach diesem Besuch hatte Jeannette endgültig genug von dieser Familie. Ob sie nun die Erlaubnis von Bernard bekam oder nicht, sie wollte einfach weg aus diesem Tollhaus, auch wenn es mit Gold ausgekleidet war. Deshalb nahm sie einen der Mäntel aus dem Schrank, packte ihre Handtasche und spazierte gemächlich ins Freie. Niemand begegnete ihr, und so war sie sehr zuversichtlich, dass man sich ihrer Abreise nicht in den Weg stellen würde.
Obgleich schon später Nachmittag, war es noch immer drückend heiß, und als sie die asphaltierte Straße entlangwanderte, die zum Eingangstor führte, geriet sie rasch ins Schwitzen. Es war eine bezaubernde und gepflegte Landschaft, die sich links und rechts von ihr erstreckte. Da waren weite grüne Wiesen mit kleinen Baumgruppen und sorgfältig geschnittene Hecken. In der Ferne erspähte sie ein Gatter mit Pferden. Vielleicht täuschte sie sich, aber sie glaubte sogar, das Meckern einer Ziegenherde zu hören. Das weitläufige Gelände schien auch wirtschaftlich genutzt zu werden, um die Bewohner mit frischer Milch und frischem Gemüse zu versorgen.
Endlich sah sie in der Ferne das hohe schmiedeeiserne Tor und die hohen Masten mit den Flutlichtscheinwerfern, die die Gegend in der Nacht taghell erleuchteten. Sie beschleunigte ihre Schritte und war froh, bald dieses seltsame Erlebnis mit Bernard und seiner Familie hinter sich zu haben. Sie hatte sich zwar noch keine Gedanken gemacht, wie sie ohne Geld nach Cambridge zurückkommen sollte, aber sie war sich sicher, es würde sich schon eine Lösung finden. Nun musste sie erst einmal den Dunstkreis von la famille verlassen. Dann würde man weitersehen.
Als sie das Tor erreichte, war es verschlossen. Drei Männer in schwarzen Uniformen warteten bereits auf sie. Weitere hielten sich in dem weiträumigen Wachhaus auf. Die Männer stellten sich ihr in den Weg und baten sie höflich, in einen bereitstehenden Jeep einzusteigen. Obgleich sie sehr freundlich waren, ließen sie keinen Zweifel daran, dass die Frau ihre Befehle zu befolgen hatte. Jeannette sah sie starr an und vor Wut traten ihr Tränen in die Augen. Man hatte also mit ihr gespielt. Die ganze Zeit war sie unter Beobachtung gestanden. Ihr war demonstriert worden, dass sie ohne Erlaubnis das Schloss nicht verlassen durfte.
Wütend stieg sie in das offene Auto und ließ sich zurückfahren. Wieder auf ihrem Zimmer warf sie voller Wut ihre Handtasche gegen die Wand und schenkte sich dann ein Glas Grappa ein, dass sie in einem Zug hinunterstürzte. Während sie noch versuchte, ihre Wut unter Kontrolle zu bringen und sich zu beherrschen, öffnete sich die Tür, und ein strahlender Bernhard trat ein.
„Hat dir dein kleiner Ausflug gefallen? Ich nehme an, du wolltest etwas frische Luft schnappen!" sagte er in seiner netten Art.
„Rede nicht so ein dummes Zeug. Du weißt genau, dass ich wegwollte. Ich bin also doch deine Gefangene. Wie kommst du eigentlich dazu, mich hierher zu entführen? Sobald ich kann, werde ich dich anzeigen und vor Gericht verklagen. Das lasse ich mir von dir und deiner blöden Familie nicht bieten. Das könnt ihr mit anderen machen, aber nicht mit mir. Ich weiß nicht, was ich euch getan habe, aber ich habe nur noch den einen Wunsch, lasst mich endlich in Frieden."
Sie hätte sicherlich noch eine Weile weiter geschrien, wenn sich nicht erneut die Tür geöffnet hätte, und Maria erschienen wäre.
„Mademoiselle haben gerufen? Was kann ich für Mademoiselle tun?"
„Es ist schon gut. Maria, wir brauchen sie nicht. Mademoiselle Grashuber hat sich nur ein klein wenig echauffiert, aber nun ist alles wieder in Ordnung."
Nachdem die Dienerin gegangen war, sagte er in seinem stets gleichbleibend freundlichen Ton: „Auf mich musst du wohl für eine Weile verzichten. Ich habe wichtige Aufgaben zu erledigen. Ich werde dich aber nicht aus den Augen verlieren. Du bist mir sehr ans Herz gewachsen."
6
Jeannette stand eine Weile traurig am Fenster, als es erneut an der Tür klopfte. Ohne auf eine Antwort zu warten, streckte Helen streckte den Kopf herein: „Ist der Angeber weg?“
Jeannette nickte wortlos, und die Besucherin trat ein. Sie sah sich kurz um und öffnete dann einen Weinklimaschrank, den Jeannette noch gar nicht entdeckt hatte. Kritisch musterte sie die Flaschen, entschied sich für einen alten Bordeaux und zog routiniert den Korken. Während sie das Kristallglas gegen das Licht hielt und die Farbe des Weins prüfte, fragte sie beiläufig: „Hat dir mein Bruder etwas von der Sitzung heute erzählt?“
„Nur, dass sie sehr wichtig war“, antwortete Jeannette vorsichtig.
„Meine Süße, ich warne dich! Bernards Taktik ist es, dich neugierig zu machen und dann leider deine Neugierde auch zu stillen. Dabei vertraut er dir immer mehr Geheimnisse an und zieht dich damit tiefer und tiefer in dein eigenes Unglück. Schließlich weißt du so viel, dass wir dich nicht mehr laufen lassen können. Ich will dir keine Angst machen, aber du bist nicht die Erste, der es so geht. Ich weiß nicht, welcher Teufel meinen Bruder reitet, aber er spielt ein böses Spiel mit seinen Geliebten. Ist er wenigstens gut im Bett?“
Die Frage kam so überraschend und war so direkt, dass Jeannette der Atem stockte. Konnte sie dieser fremden Frau sagen, dass sie sich bisher noch nicht einmal geküsst hatten? Stattdessen antwortete sie: „Ich möchte nach Cambridge zurück. Was soll ich hier? Inmitten dieses Luxus langweile ich mich unsäglich.“
„Das kann ich gut verstehen. Ich werde mich für dich starkmachen. Doch eins musst du wissen: Bevor sie dich gehen lassen, werden sie dir ein Wahrheits-Serum spritzen. Das musst du verstehen. Unser Einfluss in der Welt gründet nicht zuletzt darauf, dass wir nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen, und die Medien nicht jeden unserer Schritte und Aktionen kommentieren. Die Politik von la famille verlangt Diskretion. Im Übrigen sind wir dies auch unseren Partnern schuldig, die uns vertrauen."
Jeannette erschrak und versuchte das Zittern ihrer Hände vor Helen zu verbergen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie erinnerte sich an den seltsamen Brief, den sie auf dem Schiff entdeckt hatte. Er stammte von einer ihrer Vorgängerinnen und war ein Hilferuf gewesen. Sollte sie hier unter all diesen distinguierten Leuten wirklich in Gefahr sein?
„Nun meine Kleine, meine Süße", die Stimme von Helen war zuckersüß, „nun verrate mir endlich, was du schon alles weißt. Mir kannst du vertrauen. Es bringt dir nichts, etwas zu verschweigen. Du bist meiner Meinung nach schon hart an der Grenze, wo dein Wissen für dich gefährlich wird - wenn du sie nicht schon überschritten hast.“
„Wer entscheidet darüber, wie viel ich wissen darf und was nicht?“
„Keiner aus dem engsten Kreis der Familie. Wir machen unsere Hände nicht schmutzig. Nein, die Entscheidung fällt im Führungsstab der SFL, und keiner von uns kann und will darauf Einfluss nehmen. Es steht zu viel auf dem Spiel. Doktor Warner ist der Chef des Geheimdienstes, er ist für alles verantwortlich.“
„Warum holt Bernard dann immer wieder Frauen und weiht sie ein, wenn es für sie so gefährlich ist?“
„Das ist eben seine Masche, Weiber aufzureißen. Er will ihnen imponieren und von ihnen bewundert werden. Und das gelingt ihm auch stets aufs Neue. Du hast doch sicher schon von der Erotik der Macht gehört? Ach, was sage ich ‚gehört’, du hast sie am eigenen Leibe verspürt, sonst wärest du nicht hier. Aber die Frauen spielen mit ihrem Leben. Ich rate dir, lass den Typ sausen und kümmere dich um mich. Vertraue mir alles an. Bei mir bist du sicher, und ich mache es dir schöner, als es ein Mann jemals kann.“
Die Frau erhob sich, trank im Stehen ihr Glas leer, küsste Jeannette auf die Stirn und verließ neckisch winkend den Raum.
7
Am nächsten Tag begannen die Beratungen bereits nach dem gemeinsamen Frühstück. Die neuen Teilnehmer hatten im Gästehaus übernachtet und trafen bereits gegen neun Uhr zur Fortsetzung der gestrigen Sitzung ein. Jeannette saß noch bei einer Tasse Kaffee auf der Terrasse und beobachtete die Leute, die geschäftig durch das Hauptportal ins Schloss eilten. Man konnte den Männern und Frauen ihre Bedeutung ansehen. Dies war die Führungselite dieser Welt.
Das Mittagessen nahm Jeannette an diesem Tag auf Anweisung von Maria wieder auf ihrem Zimmer ein. Durch das geöffnete Fenster hörte sie von fern die Stimmen der Konferenzteilnehmer, die gemeinsam auf der Terrasse aßen.
Nach dem Essen legte sie sich ein wenig hin. Aus ihrem Dösen wurde sie durch leises Klopfen gerissen. Herein trat Sir Ludovic, der höflich wartete, bis sich die junge Frau erhoben und ihm einen Platz angeboten hatte.
„Ich habe nur wenig Zeit“, sagte er dann. „Die Mittagspause ist nur kurz, aber ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen. Ich habe am Rand unserer Sitzung mit Helen, der Freifrau von Lapisvent, geredet. Sie macht sich Sorgen um Sie. Helen meint, Sie wären in großer Gefahr, weil Sie bereits zu viele Interna von la famille wüssten. Wenn dem so ist, dann teile ich ihre Befürchtungen.
Ich möchte Ihnen einen Vorfall in diesem Schloss erzählen, den ich selbst miterlebt habe. Ich saß mit Arthur, dem Oberhaupt der Familie, in einem der kleineren Besprechungszimmer. Natürlich sind diese Räume alle abhörsicher und man kann sehr vertraulich miteinander reden. Wir waren so in unser Gespräch vertieft, dass wir nicht gehört haben, wie ein Diener den Raum betrat, um uns nach unseren Wünschen zu fragen. Er war nur eine Aushilfe und kannte die Gepflogenheiten nicht. Deshalb machte er sich nicht lautstark bemerkbar, sondern blieb höflich im Hintergrund stehen, um unser Gespräch nicht zu unterbrechen. Schließlich bemerkte ihn der Baron und schickte ihn barsch aus dem Raum. Am nächsten Tag sah ich, wie er gefesselt von drei Bodyguards in einen VW-Bus verfrachtet und abtransportiert wurde. Sein Gesicht war geschwollen. Man hatte ihn beim Verhör gefoltert. Ich habe nie wieder etwas von ihm gesehen oder gehört.
Ich erzähle Ihnen diese unselige Geschichte, um Ihnen zu demonstrieren, wie wichtig in diesem Schloss die Diskretion ist, und wie streng darauf geachtet wird, dass Unbefugte keine Interna erfahren. Die Macht von la famille liegt in der Verschwiegenheit. Unsere Kronjuwelen sind unsere Geheimnisse, und sie werden sorgfältiger behütet, als die Schätze im Tower von London.“
Als sein Schützling beharrlich schwieg, fuhr er fort: „In dieser Welt, in die sie unvermutet geraten sind, sind Schweigen und Geheimnisse bewahren das oberste Gebot.“
Jeannette war seiner Erzählung kreidebleich gefolgt. Bisher hatte sie die Indiskretionen von Bernard mehr wie einen spielerischen Tabubruch statt eines arroganten Kavalierdelikts gesehen. Doch nun wurde ihr schlagartig klar, in welcher Gefahr sie sich befand. Sie nahm Sir Ludovic sehr ernst. Er würde sie niemals grundlos warnen und ängstigen.
Mit zitternder Stimme fragte sie: „Angenommen, ich wüsste etwas. Angenommen, Bernard hätte mir etwas erzählt. Was sollte ich dann tun?“
„Das weiß ich auch nicht, mein Kind.“
Ludovic erhob sich müde aus seinem Sessel und verließ schweigend den Raum.
8
Am späten Nachmittag ließ Bernard sie zu sich in die Bibliothek rufen. Diese lag im Erdgeschoss, erstreckte sich über zwei Stockwerke und war sehr dunkel. Regale reichten vom Boden bis zur Decke. Hohe Leitern wurden auf Schienen hin und her geschoben. Der Raum machte Jeannette Angst.
Bernard hatte wieder vor Aufregung ganz rote Ohren und war so aufgedreht, dass er nicht stillsitzen konnte, sondern ständig auf und ablief.
„Es gibt vorläufig doch keine world balance geben“, rief er wütend. „Auch Richard ist sehr aufgebracht. Diesem Idioten Ludovic ist es doch gelungen, die Mehrheit der Ratsmitglieder zu überzeugen. Ein Krieg, so meint man nun, würde unsere Geschäfte erheblich stören. Wir sollten erst einmal die Möglichkeiten, die die Globalisierung bietet, voll ausnutzen. Konkret, wir sollen den Finanzsektor noch mehr ausreizen. Damit ist der nette Konflikt erst einmal gestorben. Dabei hätte ich unsere Wette ganz gewiss gewonnen.“
‚Der ist nicht normal‘, dachte sich Jeannette. ‚Ich muss mich noch mehr vor ihm in Acht nehmen.‘
Laut sagte sie: „Zum Glück seid ihr zur Vernunft gekommen. Wie hättet ihr so einen Krieg auch inszenieren wollen? Aber du musst es mir nicht sagen. Ich will es gar nicht wissen. Das einzige, was ich wirklich will, ist zurück nach Cambridge gebracht zu werden.“
Wie immer ging der Baron nicht darauf ein, sondern fuhr fort zu erzählen: „Der Plan war genial. Die wichtigsten Gedanken stammen übrigens von mir. Ich wusste bisher gar nicht, dass ich ein so guter Stratege bin.“
Doch diesmal ließ sich Jeannette nicht zum Schweigen bringen: „Ich will es nicht hören! Verstehst du nicht? Ich will es nicht hören! Du weißt doch ganz genau, in welche Gefahr du mich mit diesem Insiderwissen bringst. Welche Ziele verfolgst du eigentlich?“
Bernard war stehen geblieben, hatte sein Glas Cognac leer getrunken und sah sie kalt an: „Ich frage mich eher, welche Ziele du verfolgst? Seit du hier im Schloss bist, fragst du mich aus und willst sogar die geheimsten Pläne wissen. Deine Neugierde ist unersättlich. Ich war bisher so dumm und habe mich von dir übertölpeln lassen. Ich Idiot habe dich eingeweiht. Nun frage ich mich, ob du vielleicht eine berufsmäßige Spionin bist, die man auf mich angesetzt hat.“
Jeannette war fassungslos und stotterte: „Aber ich habe dich doch nach gar nichts gefragt. Du hast von dir aus erzählt und erzählt. Was sollte ich denn machen?“
„Gut!“ sagte er nun wieder beschwichtigend. „Ich glaube dir ja, dass du keine bösen Absichten verfolgst. Und ich werde auch niemandem verraten, was du weißt. Dass du eingeweiht bist, ist und bleibt unser kleines Geheimnis.“
„Aber man hat mir gesagt, dass ich ein Wahrheits-Serum gespritzt bekomme, bevor ich das Schloss verlassen darf.“
„Das ist tatsächlich normalerweise der Fall. Aber bei dir werden wir eine Ausnahme machen. Ich werde dich beschützen und die Prozedur verhindern. Vertraue mir! Habe keine Angst! Aber jetzt willst du doch sicher wissen, was wir planen!“
Seine Stimme veränderte sich bei diesen Worten wieder, und seine Wangen röteten sich.
„Nein, ich will es nicht wissen!“ sagte Jeannette störrisch. „Ich will vielmehr wissen, wann du mich endlich gehen lässt.“
„Du nervst!“ war die Antwort. „Fehlt es dir hier an irgendetwas?“ Und als Jeannette den Kopf schüttelte: „Na also! Und nun kommen wir zu den wichtigen Dingen, unseren leider aufgeschobenen Plan world balance. Du solltest mich für diesen Plan loben, er ist genial. Es sollte zu einem Grenzzwischenfall zwischen China und Russland kommen, der beide Staaten zum Handeln zwingen würde. Erinnerst du dich noch an das Jahr 1969, da gab es einen Grenzzwischenfall auf einer Insel im Fluss Ussuri mit zahlreichen Toten. Die Grenztruppen der UdSSR und Chinas lieferten sich damals wilde Gefechte.“
„Wie sollte ich mich daran erinnern? Damals war ich noch gar nicht geboren!“
„Wir wollten bei world balance an damals anzuknüpfen. Beide Länder sind sehr geschichtsbewusst und hätten das Signal sogleich erkannt.“
Jeannette wurde immer ungeduldiger. Sie hatte jetzt wirklich genug von dem Geschwätz: „Also, nun mal Klartext! Was beabsichtigt ihr nun konkret?“
Bernard achtete nicht auf ihre Frage.
„Die ganze Welt würde kopfstehen, die Medien würden sich überschlagen, wenn plötzlich zwischen diesen beiden Staaten ein bewaffneter Konflikt ausbrechen würde. Dann hätten die Chinesen keine Zeit mehr, die Weltwirtschaft durcheinanderzubringen, und die Russen hätten wichtigere Dinge im Kopf, als mit ihrem Erdöl und ihrem Erdgas zu pokern. Und natürlich würden dann früher oder später unsere USA eingreifen, die Macht in den Ländern übernehmen und uns genehme Regierungen einsetzen.“
Jeannette lachte auf einmal hämisch: „Und wie wolltet ihr das Ganze einleiten? Hattet ihr vor, Abgesandte nach Peking und Moskau zu schicken mit dem Auftrag - ‚Nun macht mal schön Krieg’?“
Bernard ließ sich nicht provozieren, sondern blieb gelassen: „Zum einen ist der Plan ja nicht gecancelt, sondern nur aufgeschoben. Und zum andern gibt es erprobte Taktiken. Die CIA praktiziert dies schon seit Jahrzehnten. Dort nennt man es Destabilisieren. Auch wir Banker haben schon oft mit diesen Methoden in das Weltgeschehen eingegriffen, sodass es inzwischen zur reinen Routine geworden ist. Man kann beispielsweise zur rechten Zeit einen Attentäter losschicken, wie damals in Sarajevo. Oder eine Volksbewegung ins Leben rufen, die von außen gesteuert wird, wie die Farbenrevolutionen. Oder man kann eine Organisation im Land gründen und finanzieren, die unsere Interessen vertritt wie in Irland, als es um das Votum gegen die europäische Verfassung ging.
Aber wenn es so weit ist, werden wir diesmal ganz konventionell vorgehen. Mein Plan sieht vor, dass wir Agenten einsetzen, die schon vor Ort operieren und sich inzwischen eine Vertrauensbasis aufgebaut haben. Dann bestechen wir hier ein wenig und drohen dort ein wenig. Wir versprechen neue Karrieren, empören uns über himmelschreiende Ungerechtigkeit, beklagen das Fehlen von Menschenrechten und fordern Demokratie. Die Kampf-Begriffe ‚Menschenrechte‘ und ‚Demokratie‘ sind immer gut.
Aber welche Taktik wir auch anwenden werden, das Schicksal der Völker wird von Einzelnen bestimmt, von sehr wenigen Einzelnen. Und diese einzelnen Entscheider kann man auf die eine oder andere Art und Weise immer beeinflussen. Und ich weiß, dass wichtige Generäle in diesen Ländern auf unserer Seite sind. Doch wie schon gesagt, die heiße Phase ist vertagt. Nun werden wir erst einmal über die Finanzmärkte agieren, und so die Welt aus den Angeln heben.“
Er lächelte und verschwand. Das Mädchen rührte sich nicht und sah ihm lange nach. Sie hatte das Gefühl, als habe sie eben ihr Todesurteil vernommen.
USA, Salt Lake City, Juni – Julian Strawman
1
Julian hatte ausgeschlafen. Er fühle sich erholt und wieder zu Taten bereit. Es war schon Mittag, als er endlich in der Küche aufkreuzte, in der seine Mutter das Geschirr in die Spülmaschine räumte. Sie hatte rote Augen vom Weinen, nahm sich aber zusammen.
„Was möchtest du zum Frühstück? Rührei mit Schinken?“
„Das wäre prima“, sagte er betont fröhlich und holte sich heißen Kaffee von der dampfenden Kaffeemaschine.
Die Eier mit Schinken waren gut. Sie waren eine Spezialität seiner Mutter. Sie würzte sie mit Kräutern. Während er aß, fragte er: „Wo ist Vater?“
Die Mutter antwortete nicht. Sie kniff die Lippen zusammen und machte mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung Wohnzimmer. Als Julian gegessen hatte, küsste er Mutter zum Dank auf die Wange und schlenderte ins Wohnzimmer. Dort traf er auf den Vater, der in seinem Lieblingssessel saß, ein Glas Whisky in der Hand hielt und vor sich hinstarrte. Sein Sohn ging vor ihm auf die Knie, nahm ihm vorsichtig das halb volle Glas aus der Hand und stellte es auf den Boden. Dann nahm er die Hände des Vaters in die seinen und sagte: „Es wird alles wieder gut! Ich bin jetzt hier und werde die Sache aufklären.“
Strawman schien wie aus einem tiefen Schlaf zu erwachen: „Du bist es! Wir müssen uns für die Praxis etwas einfallen lassen. Die hohen Kosten laufen weiter, und ich habe keine Einnahmen mehr. Der größte Teil der Ersparnisse ist für die Kaution draufgegangen.“
„Uns wird schon etwas einfallen. Denke nicht mehr darüber nach. Kommt Zeit, kommt Rat!“
„Was soll ich denn sonst tun, außer nachdenken?“ fragte der Vater bitter.
2
Der Rechtsanwalt des Vaters hieß Hawkfort und war Inhaber einer Kanzlei im Zentrum der City. In der Kanzlei arbeiteten noch zwölf weitere Rechtsanwälte, die sich alle spezialisiert hatten. Hawkfort war unter anderem Fachmann für Medizinfragen und arbeitete mit Strawman schon über zehn Jahre zusammen. Ein gut verdienender Arzt mit eigener Praxis brauchte oft juristischen Beistand. Es gab einfach zu viele Rechtsanwälte, die ständig hinter Schadensersatzprozessen her waren und dabei auch die Ärzte nicht verschonten.
Hawkfort empfing Julian in seinem dunkel, getäfelten Arbeitszimmer. Er entsprach genau dem Typ des amerikanischen Rechtsanwalts, den man nach all den Gerichtsfilmen im Fernsehen vor Augen hatte. Er ließ Julian vor dem Schreibtisch Platz nehmen und eine Tasse Kaffee bringen.
„Ihr Vater ist in eine dumme Sache hineingeraten“, begann er das Gespräch, „aber ich bin sicher, wir werden eine strafrechtliche Verurteilung abwenden können.“
„Was sagt die Haftpflichtversicherung? Vater hat doch seit Jahren horrende Beiträge gezahlt.“
„Sie sagen, sie seien nicht zuständig. Schließlich habe Ihr Vater die Probleme nicht in Ausübung seines Berufes bekommen.“
„Aber er war doch am Operieren und konnte deshalb nicht helfen.“
„Wie auch immer, die Versicherung weigert sich, und Ihr Vater hat nicht mehr genügend flüssige Mittel, um noch einen weiteren Prozess, diesmal gegen die Assekuranz, finanzieren zu können.“
„Genau das wissen die Leute von der Versicherung, und damit rechnen sie auch.“
Der Rechtsanwalt zuckte die Schultern.
„Kann ich die Unterlagen sehen?“
Julian wurde von der Sekretärin in einen Nebenraum geführt. Dort lagen die Akten für ihn ausgebreitet. Sogleich fielen ihm die Zeitungsausschnitte ins Auge. Die Bilder waren eine halbe Seite groß und zeigten den Eingang zur Praxis.
„All der Marmor! Ein bisschen zu protzig“, dachte sich Julian. „Etwas Bescheidenheit hätte Vater gut angestanden. Aber dann hätte er vielleicht keine so hohen Honorare verlangen können.“
Auf den Marmorstufen lag ausgestreckt ein Mann. Seine Augen waren geschlossen und seine rechte Hand war nach oben gestreckt und sah seltsam verkrampft aus. Man sah, dass dieser Mann unter einem Anfall litt. Menschen standen um ihn herum und starrten auf den Kranken. In das große Bild war ein Foto des Vaters hineinkopiert, der abweisende die Hände ausgestreckt hatte. Sicher wollte der Vater nur die Reportermeute abwehren. Für den Zeitungsleser hingegen sah es aus, als wolle er den Kranken von sich fernhalten. In großen Buchstaben stand unter der Bildmontage: „Zum Sterben verdammt. Dieser Arzt hilft nicht.“
Das Bild in der anderen Zeitung zeigte eine Frau, die neben dem Kranken kniet und die gefalteten Hände betend zum Himmel streckt. Der Text: „Vom Arzt verlassen. Es bleibt nur Beten!“
Auch in dieser Zeitung sah man Strawman mit verzerrtem Gesicht und mit zu Fäusten geballten Händen. Der Text: „Würden Sie diesem Mann Ihr Leben anvertrauen?“
So perfide wie die Bilder waren auch die Texte der Artikel. Weil er mit dem Töten ungeborenen Lebens beschäftigt war, habe Doktor Strawman keine Zeit gefunden, einen Sterbenden zu retten. Das Töten sei ihm wichtiger gewesen, als das Heilen.
Diese Art der Berichterstattung zog sich über mehrere Tage hin und wurde dann auch noch mit Leserbriefen fortgesetzt. Dabei fielen Ausdrücke wie:
„Der Arzt ein Mörder“,
„Das Scheusal von Salt Lake City“,
„Dieser Arzt darf nie wieder töten!“
Mutter hatte Julian erzählt, es seien sogar Drohanrufe gekommen. Man habe daraufhin Polizeischutz beantragt, aber nicht bekommen. Es war auf jeden Fall eine üble Kampagne gegen seinen Vater, die Julian studierte. Er fragte sich, weshalb die Presse schneller bei der Praxis war, als der Krankenwagen. Wer hatte sie verständigt? Und wer war überhaupt der Kranke? In einem der Berichte hieß es lapidar, man habe seinen Leichnam eingeäschert und beigesetzt. Hatte man den Mann nicht obduziert? Was waren die Ergebnisse gewesen? Woran war er gestorben? In welches Krankenhaus hatte man ihn gebracht?
Fragen über Fragen, die er später auch dem Rechtsanwalt stellte. Der zuckte wieder einmal die Schultern. Sicher, man könnte den Fall noch weiter untersuchen. Doch woher das nötige Geld dafür nehmen? Die verbliebenen Mittel seines Vaters würden für die Verteidigung und die Abwehr der Zivilklagen gebraucht. Außerdem müsse die Familie doch von etwas leben und er, der Sohn, wolle doch gewiss noch studieren.
„Wer stellt die Regressforderungen?“ wollte Julian wissen.
„Der Onkel des Toten.“
Mit dem Namen und der Adresse des Onkels verließ Julian schließlich die Kanzlei.
Als Nächstes suchte er das Polizeirevier auf, das den Fall bearbeitet hatte. Er gab sich als Journalist aus und zeigte flüchtig seinen Studentenausweis aus Cambridge. Niemand kontrollierte ihn. Der Uniformierte an der Theke wusste auch sogleich Bescheid.
„Die Story ist doch längst ausgelutscht", sagte er abfällig. „Was willst du denn noch Neues schreiben?"
„Ich will eigentlich gar nichts schreiben, aber mein Chef hat mich noch einmal darauf angesetzt. Ich soll über das Opfer berichten."
„Der ist doch längst unter der Erde."
„Klar! Aber etwas Brauchbares werde ich schon noch auftreiben. Wie hieß der Mann und wie heißt die Klinik, in die sie ihn gefahren haben?"
Der Beamte tippte ein paar Worte in den Computer und sagte dann: „Es war ein gewisser Jonathan Wizer. Das Hospital muss das RMC gewesen sein. Seltsam, dass hier nicht Genaueres steht."
„Das RMC?"
„Ja, das Regional Medical Center."
„Wer von euch hat den Fall untersucht?"
„Das war Jim Baldwin. Aber er ist nicht mehr hier. Der ist die Treppe nach oben geflogen."
3
Julian bedankte sich und fuhr nach Hause. Dort setzte er sich erst einmal an den Computer und ging ins Internet. Noch immer keine Nachricht von Jeannette. Aber die Eltern hatten seit Tagen keine E-Mails mehr abgerufen, und so musste er sich durch viele hundert Nachrichten und Spams klicken. Wie er erwartet hatte, fand er eine Menge Beschimpfungen, aber auch einige zustimmende Mails von ehemaligen Patientinnen, die ihrem alten Doktor Mut machen wollten. Eine Mail aber erregte seine besondere Aufmerksamkeit. Sie war direkt an ihn, Julian, gerichtet und enthielt nur einen einzigen Satz: „Noli turbare circulos nostros!" – „Störe nicht unsere Kreise!“
Es war ein bekanntes Zitat, und Julian als Sprachwissenschaftler musste nicht lange über seine Bedeutung rätseln. Archimedes soll diesen Satz einem römischen Soldaten bei der Eroberung von Syrakus zugerufen haben, bevor er niedergestochen wurde. Und Julian konnte die aktuelle Botschaft auch deuten. Er war mit seinen Nachforschungen über den Verbleib seiner Freundin Jeannette einigen Leuten mächtig auf die Nerven gegangen. Sie hatten es ihm heimgezahlt. Er nahm sich vor, in Zukunft erheblich vorsichtiger zu sein. Zwar machte er sich große Sorgen um Jeannette und fragte sich, in was sie wohl hineingeraten war. Doch zuerst musste er dem Vater aus dieser Falle helfen.
Bevor er sich auf den Weg machte, informierte er sich noch rasch über das Regional Medical Center. Es war vor einem Jahrhundert von den Schwestern des Heiligen Kreuzes gegründet worden und lag nahe dem Stadtzentrum. Das RMC galt als eine gute Klinik.
Als er davorstand, sah er einen imposanten, etwas verwinkelten Bau mit einer großen Kirche als Anbau, und wunderte sich, dass ihm diese Klinik nicht schon früher aufgefallen war. Schließlich war er in Salt Lake City aufgewachsen. An der Rezeption zeigte er wieder seinen Studentenausweis aus England vor und gab sich als Journalist aus. Dieser Trick hatte sich bewährt. Er recherchiere über einen gewissen Jonathan Wizer, sagte er, und wurde sogleich auf das Berufsgeheimnis der Ärzte verwiesen.
Nein, er wolle keine intimen Einzelheiten wissen, sondern nur wann Mister Wizer gestorben sei, und wo man ihn begraben habe.
Die Schwester hinter der Theke sah ihn seltsam an, machte sich dann jedoch an ihrem Computer zu schaffen. Endlich blickte sie auf und meinte, er müsse sich wohl geirrt haben. Ein Jonathan Wizer sei hier niemals Patient gewesen. Man habe auch keine Leiche dieses Namens obduziert. Sie könne ihm nicht weiterhelfen.
Verwirrt und ratlos stand Julian wieder auf der Straße, umtost vom Verkehr der Rushhour. Sein Verdacht erhärtete sich, dass der ganze Vorfall nur für die Presse inszeniert worden war, um seinen Vater zu ruinieren. Am meisten erschütterte ihn dabei, wie leicht dies gewesen war. War dieser Jonathan Wizer etwa nur ein Schauspieler? Aber da stand ja noch die Zivilklage seines angeblichen Onkels im Raum. Der würde wohl Farbe bekennen müssen - doch wann? Bis dahin war die Praxis verloren und der Vater im Alkoholdelirium. Und was war mit Jeannette? Lebte sie überhaupt noch? Seit Tagen hatte er sich nicht mehr um sie gekümmert. Mit Lena hatte er ausgemacht, sie würde sich sofort bei ihm melden, wenn sie etwas von ihrer Freundin erfahren sollte. Aber er traute Lena nicht mehr. Da gab es zu viele Ungereimtheiten in ihrem Verhalten. Was sollte er also tun? Die Spur von Jeannette konnte er nur in Europa verfolgen. Doch die Zeiten, als er nach Belieben über den Atlantik jetten konnte - und dies auch noch in der Business Class - waren vorbei. Jetzt hatte seine Familie erst einmal Vorrang. Ob sie vielleicht den Rechtsanwalt wechseln sollten? Mister Hawkfort machte keinen besonders engagierten Eindruck.
Frankreich, Languedoc, Departement Aude, ein Schloss, Juni – Jeannette Grashuber
1
Jeannette träumte sie hätte ihre Wohnung in einem schönen und komfortabel eingerichteten Eisenbahnwaggon. Der Wagen wurde jeweils an einen ICE angekoppelt und wäre so ständig unterwegs. Sie selbst wusste aber nicht, wohin die Reise ging. Draußen flog die Landschaft vorbei, während sie kochte, aß und schlief. Unangenehm waren nur die Bahnhöfe. Dann wurde es in ihrem Wagen dunkel und die Luft schlecht. Sie sah gehetzte Menschen an ihrem Fenster vorbeieilen und hoffte, dass sich der Zug möglichst bald wieder in Bewegung setzte. Unangenehm war auch, wenn sie auf irgendeinem Rangiergleis für einen Tag abgestellt wurde, bevor die Reise mit einem anderen Zug weiterging. Die Aussicht dort war trostlos.
Sie saß gerade in einem weißen Sessel, hatte die Füße hochgelegt, trank ein Glas mit kaltem Orangensaft und sah draußen die Alpen vorüberziehen, da wurde sie geweckt.
Eine Stimme sagte: „Mademoiselle, es ist Zeit zum Aufstehen! Sie wollen doch sicher nicht den ganzen Tag im Bett verbringen?“
Es war Maria, die sich zu ihrer persönlichen Dienerin deklariert hatte. Jeannette reckte sich und sprang aus dem Bett. Ohne auf Maria zu achten, ging sie ins Nebenzimmer. Dort stand bereits eine Kanne mit heißem Kaffee auf einem Stövchen. Sie schenkte sich ein und dachte dabei, wie rasch man sich doch an die Annehmlichkeiten des Reichtums gewöhnt. Am heißen Kaffee nippend ging sie zum Fenster und drückte auf den Knopf, der die Vorhänge öffnete. Dann drückte sie auf den zweiten Knopf, der das Fenster öffnete. Sie beugte sich hinaus und atmete tief die würzige Sommerluft ein. Der Duft von Blumen und Sträuchern vermischte sich mit dem des Kaffees.
Jeannette fühlte sich wohl. Alle Sorgen waren weit weg. Sie genoss diesen Luxus pur. Bis Maria, die ihr schweigend gefolgt war, mit leiser Stimme, beinahe verschwörerisch erklärte: „Ich soll Sie darauf hinweisen, dass gestern Abend Doktor Warner angekommen ist. Er möchte mit Ihnen im Lauf des Tages sprechen.“
Doktor Warner war der Chef der Sicherheitsabteilung, der ominösen Armati. Jeannette hatte bereits viel von ihm gehört und hatte jetzt schon vor ihm Angst. Von einer Sekunde auf die andere war ihre gute Stimmung verflogen.
Maria sah den Stimmungswandel und zog sich zurück. Jeannette ging ins Bad und begann sich die Zähne zu putzen. Dabei dachte sie nach. Wie lange war sie nun schon in diesem geheimnisvollen Schloss? Mit Bernard hatte sie noch nicht geschlafen. Er schien an Sex kein großes Interesse zu haben. Ein paar anzüglichen Bemerkungen, sonst machte er keine Annäherungsversuche. Sie wusste nicht, ob sie darüber froh oder enttäuscht sein sollte. Aber immer, wenn sie zusammen waren, vertraute er ihr neue Geheimnisse von la famille an, und auch die Geheimnisse der Morgans und der Warburgs und der Rothschilds, der anderen Bankiersfamilien, plauderte er aus. Ob sie wollte oder nicht, sie musste sich anhören, wie das Federal Reserve System auf Jekyll Island entstanden war, und welche Funktion es hatte. Die junge Frau konnte sich gar nicht alles merken, was er ihr erzählte, und ihr wurde von Mal zu Mal mulmiger, wenn sie an die Konsequenzen dieses Wissens dachte.
Freifrau Helen gab sich zwar als ihre Freundin aus, aber Jeannette traute auch ihr nicht. War sie wirklich bisexuell oder lesbisch und wollte sie ins Bett bekommen? Oder verfolgte sie andere Ziele? Richard, der es inzwischen genoss, von allen als der Leader behandelt zu werden, war immer noch zynisch und gemein zu ihr.
2
Am häufigsten war sie mit Sir Ludovic zusammen. In ihm sah sie einen Freund. Ihm vertraute sie als Einzigen und wusste doch nicht warum. Er war kein harmloser, betulicher alter Opa. Ludovic war einer der mächtigsten Männer dieser Welt, und so eine Rolle bekommt man nicht mit Güte und Nettigkeit. Aber er war zumindest offen zu ihr und offenbarte ihr sogar seine Gefühle.
Sie erinnerte sich an ein Gespräch im Park. Er hatte sich plötzlich auf die gemauerte Umrandung eines der großen Springbrunnen gesetzt. Während er die Hand ins Wasser tauchte, sagte er nachdenklich: „Sie erinnern mich an meine Tochter!"
„Wie alt ist sie?"
„Sie war vier Jahre, als ich mich von meiner ersten Frau getrennt habe. Meine Frau hat damals einhundert Millionen Dollar als Abfindung bekommen, also einen Betrag, der nicht der Rede wert war. Zum Glück hat sie meine wahren Vermögensverhältnisse nicht gekannt. Aber fünfundzwanzig Millionen für jedes Jahr Ehe mit mir waren natürlich auch ein stattlicher Preis. Ein Teil der Abmachung über das viele Geld war, dass unsere Tochter Virginia bei mir blieb. Na ja, ich will nicht mehr darüber nachdenken. Es war eine böse Frau."
„Was macht sie heute?"
„Ich nehme an, sie geht mit dem Rest des Geldes noch immer einkaufen. Aber in der Zwischenzeit hat sie eine Menge Männer kennengelernt, und die haben die hundert Millionen ganz schön dezimiert. Doch wie es ihr heute geht, weiß ich nicht einmal. Ich lasse sie schon lange nicht mehr überwachen. Sie interessiert mich einfach nicht mehr!"
„Erzählen Sie von Ihrer Tochter!"
„Es war ein liebes Mädchen, sehr anhänglich und stets auf der Suche nach Liebe und Zuneigung. Ich habe sie von ganzem Herzen geliebt. Nie wieder habe ich so geliebt. Doch ich war damals im Beruf besonders erfolgreich und deshalb viel unterwegs. Morgens um sieben wartete bereits der Hubschrauber, und oft kam ich tagelang nicht nach Hause. Natürlich war Virginia bestens versorgt. Ich weiß gar nicht, wie viele Leute ich für sie engagiert hatte. Und wenn ich dann zurückkam, hatte ich ein schlechtes Gewissen und brachte ihr tolle Geschenke mit. Sie hatte schließlich so viele Stofftiere, dass wir einen Laden hätten aufmachen können. Aber sie wollte keine Stofftiere, sie wollte einen Vater. Am schlimmsten war es für sie, wenn ich an ihren Geburtstagen unterwegs war, und das war ich regelmäßig. Ich glaube, sie hat viel geweint. Doch ich dachte mir immer, wir hätten noch die ganze Zukunft vor uns, und irgendwann würden wir dann gemeinsam verreisen und nur noch füreinander da sein. Welch‘ eine Illusion!
Dass etwas nicht stimmte, merkte ich erst, als sie in die Pubertät kam. Sie begann, mit Scheren oder Messern in ihre Unterarme zu ritzen. Als ich dies feststellte, feuerte ich umgehend ihre Betreuer - die einzigen Menschen, zu denen sie eine intensive Beziehung hatte. Keine besonders gute Idee, wie ich nachträglich feststellen muss. Dann ließ ich ein Heer von Therapeuten und Psychologen auf sie los mit der Folge, dass sie ihren Kummer und ihre Verzweiflung nur noch besser zu verbergen lernte. Sie begann dann mit Extremsportarten. Je gefährlicher desto besser. Ich wurde halb wahnsinnig vor Angst und musste doch meinem Job nachgehen. Damals waren wir gerade mit dem Vietnamkrieg befasst. Da blieb nicht viel Zeit für private Probleme. Langer Rede kurzer Sinn, ich will Sie schließlich nicht langweilen, Virginia hatte sich zuletzt auf Hochhausklettern spezialisiert. Sie stürzte ab, aber sie überlebte. Heute liegt sie in einer eisernen Lunge, und ich besuche sie, so oft es nur geht. Immer, wenn ich an sie denke, fühle ich mich so unendlich schuldig."
Der alte Mann hatte Tränen in den Augen und zuletzt nur noch mit erstickter Stimme gesprochen. Beiden sahen dann eine Weile der hohen Fontaine zu.
Auf einmal fuhr Sir Ludovic fort: „Bei meinem letzten Besuch, ich war schon an der Tür, hat sie mich noch einmal zurückgerufen und mich gefragt ‚Vater, warum hast du damals meine Hilferufe nicht gehört'?"
Um ihn ein wenig abzulenken, fragte Jeannette: „Haben Sie noch einmal geheiratet?"
„Aber natürlich, noch drei Mal. Ich bin auch jetzt verheiratet. Meine Frau ist dreißig Jahre jünger als ich. Wir haben uns wenig zu sagen, und jeder von uns lebt sein Leben. Aber sie ist wie ein schönes Schmuckstück, das ich mir als reicher Mann leisten kann. Wenn wir zusammen ausgehen oder bei gesellschaftlichen Ereignissen auftauchen, so bewundern alle meine attraktive Begleiterin, und die Männer beneiden mich. Ja, Lisa, meine Frau, schmückt mich ungemein!"
Nun lächelte er wieder über seinen Zynismus. Er stand auf, und sie schlenderten weiter.
3
Aber weder Bernard noch Ludovic und auch nicht Helen hatten viel Zeit, um sich mit Jeannette zu beschäftigen. Eine Konferenz jagte die nächste. Ständig fuhren Autokolonnen vor in Begleitung von schwer bewaffneten Männern, Hubschrauber landeten und starteten. Es war ein Kommen und Gehen. Wie sie von Bernard wusste, kündigten große Ereignisse sich an. Jeanette langweilte sie sich sehr. Irgendwann hatte sie Maria gefragt, ob es in diesem feudalen Schloss nicht einen Swimmingpool gebe. Die hatte geantwortet: „Natürlich. Aber leider ist Ihnen die Benutzung zum jetzigen Zeitpunkt nicht gestattet.“
Mehr war aus der Dienerin nicht heraus zu bekommen gewesen.
Nach dem Mittagessen wurde Jeannette zu Doktor Warner gerufen. Er hatte im Haupthaus ein eigenes Büro. Es war spartanisch und altmodisch eingerichtet und passte so gar nicht zum prunkvollen Stil des Schlosses. Er empfing sie freundlich und schüttelte ihr lange die Hand. Der Mann war von undefinierbarem Alter, er konnte fünfzig sein oder über siebzig. Warner hatte eine Hakennase, eine Halbglatze und eine durchtrainierte Figur. Die verbliebenen Haare trug er lang. Auf der Straße hätte man ihn wohl eher für einen Künstler, als für den Chef eines Geheimdienstes und Sicherheitsapparates gehalten.
„Sir Ludovic habe schon viel über sie erzählt“, begann er das Gespräch und fügte lächelnd hinzu, „nur Gutes!“
Dann komplimentierte er sie in einen abgewetzten Sessel, nahm ihr gegenüber Platz und schaltete eine gelbe Stehlampe ein. Schließlich bestellte er Kaffee für sie und fragte, ob sie ihren Freund, Julian Strawman, vermisse.
„Woher wissen Sie, dass ich einen Freund mit diesem Namen habe?“ Die junge Frau war erstaunt und auch empört.
„Einen Freund zu haben, ist doch nichts Unanständiges für eine junge Dame. Und dass wir uns für unsere Gäste interessieren, ist doch selbstverständlich. Bitte betrachten Sie dies nicht als Indiskretion.“
„Leider darf ich mich mit meinem Freund nicht in Verbindung setzen. Seit ich von Bernard zu Hause abgeholt wurde, bin ich von der Außenwelt völlig abgeschnitten. Ich kann mir diese Geheimhaltung einfach nicht erklären.“ Jeannette klang trotzig.
„Wirklich nicht?“ fragte Doktor Warner lauernd.
„Was sollte ich denn verraten? Dass ich zurzeit in einem Schloss lebe, und man mir hier jeden Wunsch von den Augen abliest?“
„Haben Sie schon früher von der Familie Lapisvent gehört?“ wechselte Warner das Thema.
„Nein, noch nie. Sollte ich? Ich kann doch nicht alle reichen Familien auf dieser Welt kennen.“ Sie gab sich ganz unbefangen.
„Nun, Sie werden inzwischen wohl erfahren haben, dass die Lapisvent keine gewöhnliche Familie sind?“
„Sie haben sehr viel Geld, das ist mir klargeworden. Aber inwiefern unterscheiden sie sich von anderen Reichen und Mächtigen?“
„Eigentlich gar nicht – und ich bin froh, dass Sie dies auch so sehen. Und nun will ich Sie nicht länger aufhalten. Sie wollen sich sicher mit Bernard treffen oder ein kleines Mittagsschläfchen halten, wie es so Ihre Art ist.“
Als Jeannette das Büro verließ, dachte sie noch darüber nach, woher der Mann von ihren Schlafgewohnheiten wusste. Das Gespräch war zwar angenehm und nett gewesen, und dennoch hatte sie das Gefühl, ausgefragt worden zu sein. So harmlos war das Treffen nun doch nicht gewesen, und sie hoffte, dass sie die Prüfung bestanden hatte.
4
Am Nachmittag besuchte sie der alte Mann auf ihrem Zimmer und lud sie zu einem Spaziergang im Park ein. Es sei ein schöner Tag, und er brauche nach all den schwierigen Verhandlungen etwas Abwechslung. Sie schlenderte in einen Teil des Parks, den Jeannette bisher noch nicht betreten hatte. Vor einem sehr großen Beet, in dem blaue Rosen angepflanzt waren, blieb der Alte stehen.
„Fällt Ihnen nichts auf?“ fragte Ludovic.
„Die Rosen sind wunderschön“, antwortete Jeannette „und wahrscheinlich sehr selten. Ich habe noch nie blaue Rosen gesehen.“
„Blaue Rosen gibt es überhaupt nicht“, sagte der alte Mann triumphierend. „Wenn sie bisher welche gesehen haben, so waren sie gefärbt. Zwar bemühen sich Züchter seit Jahrzehnten um eine blaue Rose, doch vergeblich. Den Rosen fehlt nämlich, wie auch den Nelken und Chrysanthemen, das Gen zur Herstellung des blauen Farbstoffs.“
„Aber in diesem Meer von blauen Rosen kann doch nicht jede einzeln gefärbt worden sein?“ Die junge Frau blieb skeptisch.
„Meine Liebe, was Sie hier sehen ist das Ergebnis einer erfolgreichen Genmanipulation. Man hat in diese Rosen das Veilchen-Gen eingeschmuggelt. Diese Rosen hier sind einzigartig und so gut wie unbezahlbar. Aber die Gärtner hier verfügen über blendende Beziehungen und unerschöpfliche Ressourcen.“
„Dieses Schloss ist voller Geheimnisse“, sagte Jeannette staunend.
„In diesem Beet ist aber noch ein Geheimnis verborgen. Wenn sie von oben auf dieses Beet blicken, dann können Sie dieses Quadrat erkennen. Man hat die Buchstaben aus blauen Rosen gepflanzt."
Er zeichnete dieses Quadrat mit seinem Stock in den Sand:
S | A | T | O | R |
A | R | E | P | O |
T | E | N | E | T |
O | P | E | R | A |
R | O | T | A | S |
Jeannette hatte dieses Quadrat mit den seltsamen Wörtern schon in der Eingangshalle als Mosaik im Fußboden gesehen, aber nicht weiter darauf geachtet. Nun betrachtete sie es genauer und versuchte seinen Sinn zu erfassen.
Das Merkwürdige daran war, dass es sich, ganz gleich ob man die Zeilen senkrecht oder waagerecht las oder sogar von hinten nach vorn, stets um die gleichen Worte handelte.
„Dies ist die Sator-Arepo-Formel?“ Ludovic lächelte. „Es ist ein Satzpalindrom. Ein Palindrom kann man vorwärts und rückwärts lesen. Palindrome gibt es viele, dieses Quadrat aber, das in alle Richtungen einen Sinn ergibt, ist wahrscheinlich einmalig. Deshalb werden ihm auch magische Kräfte zugesprochen. Es soll eine Art Schutzmacht für den Menschen und sein Haus sein. Es soll sogar gegen den bösen Blick und gegen Verhexen schützen, sowie feuerhemmende und feuerlöschende Wirkung haben. Man kann die Formel wie einen Talisman mit sich führen. Sator-Arepo gehört damit zu den wichtigsten Zauberformeln des Abendlandes“
„Was bedeutet es?“
Da lachte der Alte: „Das genau ist das Problem. Man hat die Formel zuerst als Graffiti in Pompeji gefunden, aber sie ist wahrscheinlich viel, viel älter. Solange man diese Formel kennt, versuchen die Menschen, ihren Sinn herauszufinden. Die lateinischen Worte heißen übersetzt „Sämann Arepo hält die Arbeit der Räder“ oder „Der Sämann Arepo hält mit seiner Mühe die Räder in Gang“. Man kann diesen seltsamen Satz christlich deuten, aber auch außerchristlich oder gar jüdisch. Also, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Mit dem Sämann kann Gott gemeint sein oder Jesus Christus und mit den Rädern die Schöpfung. Dann hieße es übertragen „der Schöpfergott vervollkommnet seine Schöpfung“. Doch es gibt Hunderte von Deutungsversuchen. Nimmt man die Buchstaben als Anagramm, so kann man sowohl senkrecht, als auch waagrecht „Pater Noster“ formen. Aber auch der Satz „Satan, ter oro te, reparato opes“ ist möglich - Satan, dreimal bitte ich dich: Gib mir mein Vermögen wieder! Ja sogar Petro et reo patet rosa sarona wurde hineingelesen - Petrus, dem Schuldigen, steht die saronische Rose offen. Ich will Sie nicht langweilen, aber wie Sie bemerken, habe ich mich etwas intensiver mit dieser seltsamen Formel beschäftigt.“
Jeannettes Neugierde war geweckt. Sie wollte mehr über die geheimnisvolle Buchstabenkombination erfahren. Doch der Alte hatte die Lust verloren und wollte nichts mehr erzählen.
„Dann sagen Sie mir wenigstens noch, warum dieses Quadrat ausgerechnet als Mosaik im Schlosseingang angebracht und hier mit unbezahlbaren Rosen angepflanzt wurde?“
„Das weiß ich nicht“, antwortete er ernst. „Natürlich habe ich zu eruieren versucht, was die Familie Lapisvent mit dieser Formel verbindet, aber ich bin dabei auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. Dabei muss Sator-Arepo für die Familie von großer Bedeutung sein, denn jeder ihrer Grabsteine wird damit geschmückt und neben dem Saphir findet es sich an allen Häusern und Gütern von la famille.“
„Ich werde Bernard fragen. Vielleicht klärt er mich auf?“
„Das glaube ich nicht!“ Der Alte war sich da sehr sicher.
5
An diesem Abend saß Jeannette mit Helen in dem kleinen Kino des Schlosses. Sie tranken zusammen alten Bordeaux Rotwein und sahen die fünfte Staffel aus Helens Lieblingsserie „Married with Children“.
Die Freifrau hatte die Füße auf einen Sessel gelegt und schüttelte sich vor Lachen. Als der letzte Abspann vorbei war und Al Bundy verblasst, wurde sie plötzlich ganz ernst. Sie wandte sich Jeannette zu und versuchte, sie zu überrumpeln: „Also, wie ist es? Was weißt du?"
Doch diese war auf der Hut und antwortete mit gespielter Langweile: „So rede doch mit Bernard. Er wird bestätigen, dass ich nichts weiß."
„Dem Idioten kann man nicht trauen. Er sagt jeden Tag etwas Anderes. Wir sind heute nach den Sitzungen noch zusammengesessen und haben dabei auch über dich gesprochen. Doktor Warner ist sehr skeptisch, was dich betrifft. Große Dinge stehen bevor, die die Welt verändern werden, und wir haben schon durch die Krankheit eines Familienmitglieds ein gewaltiges Handicap. Da können wir kein Risiko eingehen. Eigentlich hat sich nur Sir Ludovic für dich starkgemacht - und ich natürlich", fügte sie nach einer Pause hinzu. „Auf jeden Fall müssen wir alles in Ordnung bringen und können nicht länger die schwachsinnigen Hobbys meines dekadenten Bruders tolerieren. Kurz, wir müssen für dich eine Lösung finden."
„Wie soll die aussehen?" Jeannette spürte bereits die Schlinge um ihren Hals und bekam keine Luft. Um die Freifrau abzulenken, fragte sie: „Was ist eigentlich aus der Untersuchung von Soudam herausgekommen?"
Helen lächelte, klingelte und ließ eine neue Flasche Wein bringen. Als der Diener gegangen war, und sie getrunken hatte, sagte sie: „Dies ist ein ganz seltsamer Fall. Doktor Warner hat zwei äußerst renommierte Pathologen mitgebracht. Die haben Soudam tagelang untersucht und herausgefunden, es gibt keine Zeichen von äußerlicher Gewaltanwendung. Soudam muss erstickt sein. Die Filme aller Überwachungskameras wurden genau geprüft. Außer dem Diener, der ihm das Frühstück gebracht hat, war niemand an diesem Morgen bei ihm gewesen. Aber Soudam hatte sich schon am Vortag merkwürdig verhalten. Ganz entgegen seiner geschwätzigen Art hat er weder in der Klinik noch bei der anschließenden Beratung ein Wort von sich gegeben. Wir haben natürlich auch überlegt, wem sein Tod nützen könnte, aber keine vernünftige Erklärung gefunden. Klar hatte er Feinde. Wer hat die nicht? Besonders ein Mann in seiner Position und mit seinem Einfluss ist mehr unbeliebt, als beliebt! Aber für keinen in la famille war er gefährlich, sondern vielmehr äußerst nützlich. Es gab keinen Grund ihn ins Jenseits zu befördern.“
Bernard hatte dem Mädchen bisher nichts von der Klinik der Familie erzählt. Deshalb verstand sie die Ausführungen von Helen auch nur zum Teil. Dennoch nickte sie wissend und sagte: „Ach so!"
„Aber kommen wir wieder zu dir. Ich sage es dir ganz offen, Richard will dich loswerden, und Richard ist jetzt das Familienoberhaupt. Auf Dauer wird sich ihm niemand widersetzen können."
„Und was heißt das für mich?"
„Wahrheits-Serum! Und dann entweder Rückkehr und ein sorgenfreies Leben mit genügend Geld - wobei wir dich aber für den Rest deines Lebens überwachen - oder...", sie machte eine Handbewegung quer über den Hals.
Jeannette begann, wieder am ganzen Körper zu zittern.
„Was kann ich tun?" fragte sie.
„Mir alles sagen!"
„Aber was?"
„Deine Naivität macht mich misstrauisch. Was verschweigst du uns? Wer bist du überhaupt? Bernard sagt, du bist clean. Aber stimmt das auch?"
„Ich bin eine Studentin aus Cambridge. Ich habe niemandem etwas getan, und ich will hier weg. Ich will meine Freundinnen wiedersehen. Ich will studieren und einen interessanten Beruf ergreifen. Bitte, bitte lasst mich doch gehen! Ich kann nicht mehr. Ich bin mit den Nerven am Ende!“
Jeannette war in Tränen ausgebrochen und schluchzte bitterlich. Helen tätschelte ihr unbeholfen die Schulter, dann nahm sie erneut einen Schluck Wein. Der gab ihr den Rest. Mit einem Schlag war sie betrunken. Plötzlich schrie sie nämlich: „Mir reicht es auch! Ich habe das ganze Theater satt. Wir haben so unendlich viel Geld, uns gehört praktisch die Welt, und dennoch geben wir keine Ruhe. Ich will genauso wie du ein normales Leben führen. Ich hasse la famille, ich hasse mich, ich hasse alle. Ich will endlich in Ruhe leben. Lasst mich doch alles ... "
Weiter kam sie nicht, denn es öffnete sich die Tür, und Richard trat ein. Er war in Begleitung von zwei stämmigen Dienern. Der eine gab Helen ohne Umschweife eine Spritze, dann trugen sie die sich wehrende Frau hinaus.
„Es ist nichts geschehen", sagte Richard streng. „Sie haben nichts gehört! Vergessen Sie den Vorfall!"
Jeannette nickte nur, und sie nickte noch immer, als sich die Tür schon längst geschlossen hatte.
6
In dieser Nacht schlief Jeannette wieder einmal schlecht. Immer wieder schreckte sie aus Albträumen hoch, in denen sie umgebracht werden sollte. Entsprechend gerädert fühlte sie sich, als sie sich am Morgen zwang, zum Frühstück auf die Terrasse zu gehen. Die Morgensonne schien auf die Marquise und ließ Tische und Stühle hell leuchten.
Wie immer saß Sir Ludovic bereits an einem Tisch, korrekt angezogen und gut gelaunt. Er küsste ihr die Hand und sagte galant: „Bei Ihrem Anblick verspricht der Tag, angenehm zu werden!"
Später, sie hatten bereits gegessen, und Ludovic nippe an seinem Tee, begann der alte Mann vorsichtig ein wichtiges Gespräch: „Heute wird Sie Doktor Warner erneut zu sich rufen. Sie sollten das Gespräch mit ihm sehr ernst nehmen. Es kann auch sein, dass man Ihnen eine Spritze geben wird. Sie ist ganz harmlos und dient nur der Sicherheit, denn morgen sollen Sie uns, so sehr ich dies auch bedauere, verlassen. Ich teile auch nicht das Misstrauen der anderen, aber Richard wünscht es so, und Doktor Warner gibt ihm recht. Noch ein Wort zu Doktor Warner: Er ist ein überaus korrekter und feinsinniger Mensch, der eine schwierige Aufgabe zu bewältigen hat. Warner ist stets hilfsbereit und nimmt an dem Schmerz anderer Leute großen Anteil. Er liebt die Kunst und die Musik. Aber Doktor Warner trennt streng zwischen seinen beruflichen Aufgaben und seinen privaten Empfindungen. La famille kann sich blind auf ihn verlassen. Deshalb wird er auch seine Arbeit was Ihre Person betrifft sorgfältig und routiniert ausführen. Bitte seien Sie vorsichtig."
Ohne auf ihre Erwiderung zu warten, erhob sich der alte Mann. Er küsste ihr noch einmal die Hand und verschwand, so als hätte er bereits zu viel gesagt.
7
Ludovic hatte es eilig, denn er wollte Doktor Warner treffen. Die beiden Männer kannten sich schon lange und hatten schon viele Probleme gemeinsam gelöst. Sie vertrauten sich und hatten voreinander nicht mehr Geheimnisse, als unbedingt nötig. Als sie sich nun in der Halle begegneten, ging Sir Ludovic auf den Sicherheitschef zu und bat um ein Gespräch unter vier Augen. Sie zogen sich in einen der abhörsicheren Konferenzräume zurück und ließen sich Kaffee und Tee bringen.
Der General Manager kam ohne Umschweife zur Sache.
„Ich mache mir Sorgen um Bernard", sagte er. „Er kreuzt immer wieder mit jungen Frauen auf, weiht sie in die Geheimnisse von la famille ein, worauf wir sie nicht mehr zurückkehren lassen können."
Doktor Warner nickte: „Und die Schmutzarbeit müssen dann meine Leute erledigen. Ich finde es auch widerlich. Aber dennoch wird auch Mademoiselle Grashuber unserer intensiven Überprüfung nicht entgehen."
„Was benutzen Sie? Skopolamin? Natrium-Thiopental?“
„Das sind doch Mittel aus der Steinzeit. Die Drogen, die wir verwenden, sind weit effektiver und ungefährlicher.“
Die beiden Männer schwiegen eine Weile und hingen ihren Gedanken nach.
Endlich fragte Ludovic: „Haben Sie eine Vorstellung, welche Ziele Bernard mit diesen Indiskretionen verfolgt?"
„Eine gute Frage. Ich habe Bernard schon vor Jahren von Fachleuten analysieren lassen. Die Erklärung ist ganz einfach: Bernard ist impotent!"
„Und was hat dies mit dem bösen Spiel zu tun, dass er mit Frauen spielt?"
„Können Sie sich das nicht denken? Zuerst verblüfft er die Frauen mit dem ungeheuren Reichtum, den er ihnen bietet. Dann weiht er sie tief in die größten Geheimnisse der Welt ein und wird dafür von ihnen bewundert. Noch nie in ihrem Leben haben sie so einen Mann getroffen. Unterschätzen Sie nicht die Erotik der Macht! Je mächtiger sich Bernard darstellt, desto sexuell anziehender wird er für die jungen Frauen. Er demonstriert ihnen eine Potenz, die ihm körperlich fehlt. Sie wollen mit ihm schlafen, aber er hält sie hin. Das wiederum gibt ihm ein Gefühl der Allmacht. Und dann kommt der perverse Höhepunkt. Weil er den Frauen zu viele Geheimnisse anvertraut hat, müssen sie eliminiert werden. Und so straft er schließlich die Frauen für sein Unvermögen, für seine eigene Impotenz."
„Klingt schlüssig", sagte Sir Ludovic lakonisch. „Schlüssig und abscheulich. Kann man nichts dagegen unternehmen? Was sagen die Ärzte zu dieser Impotenz?"
„Nichts, denn Bernard lässt sich nicht untersuchen. Er ist mit den pubertären Spielchen völlig zufrieden und vermisst nichts."
„Und Sie lassen sich weiterhin zum Handlanger dieser Perversionen machen?"
„Wir alle dienen la famille. Das ist unsere Aufgabe."
„Und die armen Frauen?"
„Nun, sie sind ihm freiwillig gefolgt. Sie haben das schöne Leben genossen. Sie haben ihn bewundert und sich von ihm faszinieren lassen. Sie wären gern von ihm besprungen worden! Ich glaube nicht, dass die Frauen so arm dran sind."
„Aber sie zahlen doch mit ihrem Leben."
„Zahlen wir nicht alle?"
Die beiden Männer erhoben sich, um an ihre Arbeit zu gehen.
8
Jeannette ging mit Magenschmerzen zurück auf ihr Zimmer. Nun war es also so weit. Man wollte ihr tatsächlich ein Wahrheits-Serum spritzen. Und dieses Schwein Bernard hatte sie absichtlich in diese Lage gebracht. Sie war auch nicht die erste Frau, die er in diese Falle gelockt hatte. Das wusste sie von Helen. Wie konnte sie sich retten? Sir Ludovic hatte ihr klargemacht, dass sie von Doktor Warner keine Nachsicht zu erwarten hatte. Er war in der Ausübung seiner Pflicht unerbittlich. Es blieb ihr nur die Flucht. Doch wohin? Und wie? Dieses Schloss wurde doch besser bewacht, als das Weiße Haus in Washington. Bernard und auch Maria hatten ihr erzählt, das gesamte Gelände sei von Wachposten umgeben. Dazu kamen Bewegungsmelder, Infrarotdetektoren und anderes elektronisches Gerät. Sogar Bluthunde würden eingesetzt. Da gab es kein Entkommen! Sollte sie andererseits geduldig darauf warten, bis man ihr in dieser luxuriösen Umgebung den Garaus machte? Wie würde man sie denn umbringen? Erschießen? Vergiften?
Nein, Jeannette war kein Mensch, der passiv auf das Ende wartete. Sie wollte zumindest einen Ausbruchsversuch wagen, auch wenn sie sich wenige Chancen ausrechnete. Wann wäre wohl die günstigste Zeit? In der Nacht würde die Bewachung wahrscheinlich noch schärfer sein als am Tag. Doch hatte sie eine Wahl? Wann würde man sie zu Doktor Warner zitieren? Danach war alles vorbei. Man würde sie sicherlich einsperren. Also besser jetzt gleich und nicht warten. Das wäre auch für ihre Nerven die bessere Lösung. Und sie hatte einen Plan! Sie würde nicht zum Ausgang laufen. Dieser Versuch war schon einmal gescheitert. Sie würde überhaupt nicht versuchen, nach draußen zu gelangen, sondern sich auf dem weiträumigen Gelände verstecken und auf eine Möglichkeit zur Flucht warten.
Sie zog sich bequeme Schuhe an. Eine große Auswahl hatte man ihr schließlich zur Verfügung gestellt. Dazu kamen eine weite Hose, eine Bluse, ein Anorak, trotz des heißen Wetters.
Dann verließ sie betont lässig das Zimmer, denn inzwischen wusste sie, dass auch der Flur mit Kameras beobachtet wurde. Langsam stieg sie die breite, geschwungene Treppe hinab und verließ das Haus durch das Hauptportal. Sie schlenderte über den Vorplatz und an den geometrisch geschnittenen Sträuchern vorbei. Rechts war das seltsame Beet mit den blauen Rosen. Am großen Springbrunnen mache sie kurzen Halt und tauchte die Hände spielerisch ins Wasser. Nach und nach entfernte sie sich immer weiter vom Schloss. Sie hatte bereits den zweiten Springbrunnen hinter sich und konnte schon den Antennenwald auf den Gebäuden sehen. Noch war ihr kein Wachmann begegnet. Bald würde sie das Ende des Parks erreichen, dort wo er in den Wald überging. Noch ein paar Schritte und sie würde zwischen den Bäumen verschwunden sein. Die erste, vielleicht die einfachste Etappe ihrer Flucht wäre dann geschafft. Jeannette atmete tief durch und wollte gerade lossprinten, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte.
„Du Närrin", sagte eine bekannte Stimme, „glaubst du denn, du würdest weit kommen? Man hat dich doch selbst hier draußen voll im Visier. Wenn du den Wald betrittst, schießen sie dich ab wie einen Hasen."
Erschrocken wandte sich Jeannette um. Hinter ihr stand Helen. Sie sah schrecklich aus. Das Gesicht eingefallen und runzelig, tiefe Ringe unter den Augen. Ihr Alkoholkater war unübersehbar. Sie musste schreckliche Kopfschmerzen haben.
„Ja, schau mich nur an", zischte sie. „Mir geht es dreckig, obgleich ich schon drei Aspirin genommen habe. Dennoch habe ich mich aus dem Bett gequält, um dich zu retten."
„Du mich retten?" Jeannette tat erstaunt.
„Ja! Sir Ludovic hat mich geweckt und mich hierhergeschickt, um dich vor einer entsetzlichen Dummheit zu bewahren. Wie bist du nur auf diese blöde Idee gekommen, dich im Freien zu verstecken?"
„Glaubst du etwa, ich warte brav, bis mich euer Geheimdienst umbringt?"
„Also hat mein Bruder, dieser Wichtigtuer, doch wieder einmal seinen Mund nicht gehalten und mit deinem Leben gespielt?"
Die junge Frau nickte. „Ich konnte nichts machen", schluchzte sie plötzlich. „Er hat erzählt und erzählt, obgleich ich immer wieder gesagt habe, dass ich nichts hören will."
„Dann weißt du also alles?"
Wieder nickte Jeannette.
„Das ist schlimm! Ich habe es mir aber beinahe gedacht. Du bist wirklich in Lebensgefahr, da hat Ludovic schon Recht."
„Willst du mir etwa helfen?"
„Wenn ich kann. Ludovic hat einen Plan. Aber jetzt müssen wir erst einmal die misstrauischen Beobachter befriedigen. Umarme mich und küsse mich, als ob wir hier ein lesbisches Date hätten."
Mit diesen Worten zog sie das zitternde Mädchen an sich. Jeannette roch den Alkohol im Atem der Frau, die sich sicher noch nicht die Zähne geputzt hatte, und bevor sie sich zur Wehr setzen konnte, wurde sie auch schon gedrückt und geküsst.
„So habe ich auch etwas davon", stellte Helen schließlich grinsend fest. „Und nun gib mir deine Hand. Wir schlendern im Park umher. Wenn wir bei dem großen Springbrunnen angekommen sind, reißt du dich los und tust so, als würdest du vor mir weglaufen. Ich werde dich verfolgen und dabei schreien. Die Kamera ist auf dem großen, weißen Pfahl. Bei unserer Verfolgungsjagd decke ich dich mit meinem Körper ab. Es soll aussehen, als ob du zwischen den Büschen verschwindest. In Wirklichkeit aber schlüpfst du ins Wasser des Brunnens, legst dich dort auf den Rücken und atmest durch dieses Röhrchen. Du zählst langsam fünf Mal bis tausend und kriechst dann wieder aus dem Wasser zu den Büschen und wartest dort. Du zählst wieder langsam zwei Mal bis tausend und kriechst dann in Richtung Schloss. Ich werde inzwischen die Bodyguards alarmieren und nach dir suchen lassen. Wir treffen uns am Dienstboteneingang. Der schwierigste Teil wird es sein, dich auf mein Zimmer zu schmuggeln. Dazu brauchen wir die Hilfe von Ludovic. Er will auf uns warten."
Helen drückte der jungen Frau ein etwa ein Meter langes Kunststoffrohr in die Hand, das sie irgendwo im Haus hatte mitgehen lassen, umarmte sie noch einmal, diesmal aber um ihr Mut zu machen. Dann gab sie ihr einen Klaps auf den Hintern, und bevor Jeannette überhaupt zum Nachdenken gekommen war, rannte sie auch schon los. Hinter sich hörte sie Helen schreien. Dann tauchte vor ihr der Springbrunnen auf, in dessen Mitte eine Fontäne Wasser spie. Aus den Augenwinkeln sah sie sich nach der Kamera um, die hoch über ihrem Kopf auf einer Stange thronte. Die Fontäne und der Körper von Helen verdeckten der Kamera nun die Sicht und ohne weiter nachzudenken, ließ sich das Mädchen ins Becken fallen und tauchte unter. Ihre Kleider sogen sich sogleich voller Wasser und zogen sie nach unten. Sie schmiegte sich dicht an den gemauerten Rand und steckte das Röhrchen durch die Wasseroberfläche. Dann lag sie da und zählte, und die Zeit verging sehr, sehr langsam.
Der Plan, den sich Helen und Sir Ludovic ausgedacht hatten, war nicht schlecht. Im Brunnen würde man sie zuletzt suchen. Das Wasser verhinderte jede Infrarot-Ortung, und auch die anderen elektronischen Geräte dürften vorübergehend nutzlos sein. Aber was war, wenn sie wieder aus dem Wasser kriechen musste?
Ihre Eltern fielen ihr ein, die sich stets um sie gesorgt hatten. Schon bei dem geringsten Schnupfen war sie zum Kinderarzt geschleppt worden. Und wenn dessen Pillen und Tropfen nichts halfen, dann wendete Mutter ihre bewährten Hausmittel an. Mit Schaudern dachte sie daran, wie sie nackt in kalte, nasse Tücher gepackt worden war, und dort liegen musste, bis sie trocken waren. Es mag ja sein, dass diese Rosskur irgendeine Wirkung hatte. Sie jedenfalls wurde schon aus Angst vor einer Wiederholung der Prozedur gesund. Vielleicht half auch der heiße Zitronensaft mit dem großen Löffel Honig? Und dann war da noch die wollene Unterwäsche, für die sie sich stets vor ihren Freundinnen geniert hatte!
Und nun lag sie irgendwo in Frankreich unter Wasser in einem Springbrunnen und zitterte um ihr Leben. Die Angst ließ sie plötzlich keuchen, und sie bekam durch das dünne Rohr nicht mehr genügend Luft. In einem Anfall von Platzangst wollte sie schon auftauchen und nach Luft schnappen, doch sie beherrschte sich und zwang sich zur Ruhe. Nun hatte sie aber das Zählen vergessen und versuchte verzweifelt die Zeit, die sie schon im Wasser lag, einzuschätzen.
Endlich hatte sie bis Tausend gezählt und machte sich an den zweiten Durchgang. Da sah sie über sich Schatten, die die Sonne verdunkelten. Irgendjemand schaute in den Brunnen. Dann erschienen ein zweiter Schatten und ein dritter. Gleich würde man sie herausziehen und festnehmen. Doch die Schatten verschwanden, und sie lag noch immer auf dem Rücken und zählte.
Als sie nach der vereinbarten Zeit den Kopf aus dem Wasser schob, hörte sie Schreie und Rufe, die sich aber entfernten. Wie ein Aal glitt sie über die Brüstung, schlängelte sich über den Weg unter die Büsche. Dort blieb sie schwer atmend liegen und sah zurück. Sie hatte eine feuchte Spur hinter sich hergezogen und konnte nur hoffen, dass sie trocknete, bevor jemand aufmerksam wurde. Und wieder begann sie, gehorsam zu zählen.
Unter den Büschen hindurch zu kriechen, war sehr mühsam. Sie riss sich die Hände und Knie auf, sodass sie bluteten. Endlich, als sie schon aufgeben und sich ergeben wollte, lag das Schloss vor ihr. Sie sprang auf und rannte auf die Tür zu, durch die die Dienstboten das Haus betraten. Sie sah die Antennen auf beiden Seiten des Eingangs und wusste, dass mit Radiofrequenz das Kommen und Gehen des Personals kontrolliert wurde. Dahinter lag ein Raum mit Spinden an den Wänden. Dort mussten die Diener vor Betreten des eigentlichen Schlosses alle persönlichen Gegenstände wegschließen. Hier wartete Helen.
„Das hast du gut gemacht!" lobte sie flüsternd. „Ich habe mich mit Ludovic abgesprochen. Ich werde ihn in seinem Zimmer anrufen, und er wird einen Kurzschluss produzieren, sodass die Kameras ausfallen. Ich weiß nicht, wie er das anstellen will. Der alte Mann ist ganz aufgeregt. Er kann zwar in Geschäftsdingen knallhart sein, aber so ein Abenteuer hat er sicher noch nicht erlebt. Wir haben etwa zwei Minuten Zeit. Dann springen die Notstromaggregate an. Bis dahin müssen wir auf meinem Zimmer sein."
Sie schlichen die Treppen empor, stets nach Überwachungskameras Ausschau haltend. Von einem der Dienstbotentelefone aus rief Helen dann Sir Ludovic an. Sie warteten hinter einer Tapetentür, bis die rote Kontrollleuchte an der Flurkamera erlosch, und rannten los. Endlich im Salon von Helen ließen sich zwei Frauen schwer atmend in die Barocksessel fallen.
Wenig später tauchte Sir Ludovic auf. Sein Kopf glänzte vor Aufregung, und seine Hände zitterten. Aber er strahlte über das ganze Gesicht.
„Das haben wir toll hingekriegt“, flüsterte er. „Ich hätte nie geglaubt, dass es klappen würde. Sogar den richtigen Stromkreis für meine Sabotage habe ich gefunden. Kinder, wir sind große Klasse.“
In diesem Ton hatte selbst Helen den stets korrekten und beherrschten General Manager noch nie sprechen hören und schmunzelte.
USA, Salt Lake City, Juni – Julian Strawman
1
Julian war mit seiner Arbeit zufrieden. Er hatte den Kopf des angeblich verstorbenen Mannes aus den Zeitungsbildern herauskopiert und vergrößert. Mit dem Bild hatte er eine Art Steckbrief angefertigt, in dem er 500 Dollar Belohnung auslobte für Hinweise, wer dieser Mann sei. In einem Copyshop hatte er dann 1000 Kopien gedruckt, die er nun unter die Leute bringen wollte.
Da ihm nichts Besseres einfiel, fuhr er quer durch die Stadt und fragte in irgendwelchen Geschäften nach, ob er an der Theke seine Flugblätter auslegen durfte. Er hatte dabei stets die gleiche Story parat, es handle sich um einen geisteskranken Mann, der aus einer psychiatrischen Klinik entkommen sei und sich wahrscheinlich selbst ein Leid zufügen würde. Deshalb müsse man ihn in seinem eigenen Interesse so rasch wie möglich finden.
Zwei Tage blieb es ruhig. Niemand meldete sich, und Julian glaubte schon, alles wäre vergeblich gewesen. Aber am dritten Tag klingelte nachmittags das Telefon. Eine unbekannte Frau behauptete, den Gesuchten zu kennen. Sie wollte sich mit Julian treffen und verlangte, er solle das Geld gleich mitbringen.
Julian fuhr in die Außenbezirke der Stadt und traf in einem schmuddeligen Lokal am Foothill Drive eine Frau Ende dreißig, die dort bediente. Sie erklärte ihm sofort, sie sei eigentlich Schauspielerin und würde den Job als Kellnerin nur vorübergehend ausüben. Die Engagements seien in der letzten Zeit etwas spärlich. Doch sie habe schon gute Rollen gespielt. Die Elektra bei Eugene O’Neill und sogar Shakespeare. Julian hatte Mühe ihren Redefluss zu stoppen und zum Grund ihres Treffens zu kommen. Er legt ihr eines seiner Flugblätter vor und fragte, ob sie den Mann kenne.
„Klar kenne ich das Schwein. Der hat mich um 500 Dollar betrogen, und die will ich nun von Ihnen wiederhaben. Zeigen Sie mir, dass Sie das Geld dabeihaben.“
Julian holte ein Bündel Geldscheine aus der Tasche. Der oberste war ein Hundertdollarschein. Das schien die Frau zu beruhigen, denn sie fragte: „Was wollen Sie wissen?“
„Wie heißt der Mann, und wo kann ich ihn finden?“
„Das ist eindeutig Jim Ballard. Den Kerl habe ich beinahe ein Jahr durchgeschleppt. Ich ging arbeiten, und er erzählte mir Tag für Tag, er habe eine Statistenrolle in irgendeinem Film. Bekäme das Honorar aber erst später.“
„Das ist ungewöhnlich“, wandte Julian ein. „Jeder weiß doch, dass die Honorare der Statisten am Ende eines jeden Tages ausgezahlt werden.“
„Natürlich weiß das jeder, nur ich war so verknallt, dass ich ihm jede Story abgenommen hätte, und wenn sie noch so absurd gewesen wäre. So zahlte ich brav, und er machte sich ein schönes Leben. Wenn er wenigstens noch gut gefickt hätte. Aber nicht einmal das. Er war am Abend von der Arbeit so müde, wie er sagte, dass er in der Regel rasch einschlief und mich heiß und unbefriedigt neben sich liegen ließ. Wahrscheinlich hatte er sich den Tag über mit irgendwelchen Weibern vergnügt, und für mich blieb nichts mehr übrig. Irgendwann wurde es mir zu viel. Ich drohte, ich werde ihn rauswerfen. Da hat er gelächelt und geantwortet: ‚Du willst also auf das größte Glück in deinem erbärmlichen Leben verzichten!’ Am nächsten Tag war er weg und mit ihm die Miete, die ich angespart hatte. Wie er das Geld gefunden hat, weiß ich nicht. Ich hatte es sorgfältig versteckt. Aber er hatte ja Zeit genug zum Suchen, dieses Schwein. Und von Ihnen will ich nun das Geld wiederhaben. Ich habe Ihnen nun gesagt, wer er ist und wie er heißt.“
„Und er heißt nicht zufällig Jonathan Wizer? Wo finde ich ihn?“
„Wie kommen Sie auf Wizer? Ich sagte doch schon, es ist Jim Ballard. Wo er sich aufhält, weiß ich natürlich nicht, sonst hätte ich ihm schon die Hölle heißgemacht.“
„Und für solche vagen Angaben wollen Sie Geld haben? Sie können diese Geschichte doch frei erfunden haben. Woher weiß ich, dass Sie den Mann wirklich kennen und mir seinen richtigen Namen genannt haben?“
Da wurden die Augen der Frau ganz schmal: „Sie wollen mich also auch bescheißen? Ich habe geliefert, und ich erwarte Bezahlung!“
„Sie haben nicht geliefert, sondern eine Geschichte erzählt. Sagen Sie mir, wo ich den Mann finde, und ich rücke mit dem Geld heraus.“
„OK“, die Frau sah ein, dass sie so nicht weiterkam, „keine fünfhundert! Aber was zahlen Sie mir für den Namen?“
„Nichts, denn ich weiß nicht, ob er stimmt.“
Da begann die Frau zu schreien und zu fluchen an, sodass alle Leute im Lokal die Köpfe zu ihnen umwandten. Julian war das sehr peinlich, und er sagte, zwanzig Dollar würde er springen lassen.
„Fünfzig“, antwortete die Frau sofort und hielt die Hand auf.
Julian zahlte zähneknirschend und fuhr nach Hause.
Die Mutter erwartete ihn schon: „Da war ein Anruf für dich. Scheint wichtig zu sein.“
Sie gab ihm eine Mobilnummer, und ihr Sohn rief dort an. Ein Mann meldete sich, und als er den Namen Strawman hörte, erklärte er, er sei der Onkel von Jonathan Wizer und wolle sich mit Julian treffen.
„Ihr Neffe heißt nicht zufällig Jim Ballard“, fragte der lauernd.
Der Mann am anderen Ende der Leitung stutzte einen Moment. Dann sagte er barsch: „Wie kommen Sie darauf? Mein Neffe heißt Wizer, und Ihr Vater hat ihn auf dem Gewissen. Damit nicht genug, Sie verunglimpfen ihn nun auch noch mit einem Steckbrief. Das wird meine Schadensersatzforderung gewaltig in die Höhe treiben und den Geschworenen gar nicht gefallen.“
„Was wollen Sie? Warum haben Sie angerufen?“