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ОглавлениеHorst Henrik Neißer
Die Ministerin und die Tibet-Mafia
Ein Verschwörungs-Thriller
Im Mittelpunkt dieses Thrillers stehen die geheimnisvollen Mächte, von denen auch die großen und unermesslich reichen Bankiersfamilien, die die Welt regieren, abhängig sind.
Immer wieder wird von Menschen berichtet, die scheinbar unsterblich viele Generationen lang durch die Weltgeschichte geistern. Existieren sie wirklich oder sind sie nur Legenden? Wer sind diese sagenhaften Gestalten wie zum Beispiel der ominöse Graf von Saint Germain oder der Highlander? Und wenn es sie gibt, welchen Einfluss nehmen sie auf das Weltgeschehen? Welche Ziele verfolgen diese „Zeitlosen“? Sind sie tatsächlich die wirklichen Herrscher über diese Welt?
Die deutsche Umweltministerin Suzan Bergstoh lernt auf einem Empfang des Bundespräsidenten einen geheimnisvollen Grafen kennen, der sie mehr und mehr in seinen Bann zieht und immer größere Macht über sie gewinnt. Was will er von ihr, was sind seine Ziele? Irgendwann entführt er sie bei einer Dienstreise in China aus ihrem Hotel und bringt sie nach Tibet. Eine deutsche Ministerin verschwindet spurlos. Wie reagieren die Öffentlichkeit und die Medien? Doch nach einem Jahr taucht sie wieder auf und ist ein anderer Mensch. Sie gehört nun zu den „Zeitlosen“ und weiß um die Gefahren, die der gesamten Menschheit drohen. Zusammen mit ihren Freunden versucht sie, die Katastrophe zu verhindern und riskiert dabei ihr Leben.
Sie hat sich zu einer lebensgefährlichen Mission entschlossen und dringt tief in das verborgene Leben der Superreichen ein. Dabei kommt sie in einen der exklusivsten Vergnügungsparks der Welt. Was dort vor sich geht, davon ahnen die Normalsterblichen nichts, sie können nicht einmal davon träumen. Aber nachdem bei einer Sex-Session ein Mord geschieht, wird der Aufenthalt für sie zu einem lebensgefährlichen Alptraum. Überhaupt ist ein Motto der Mächtigen: Wer im Weg steht, wird beseitigt.
Bis zuletzt aber bleibt die Frage: Welches Spiel spielt der Graf? Wie mächtig ist er und was will er von Suzan Bergstoh?
Horst Henrik Neißer
Die Ministerin
und die Tibet-Mafia
Circel
Imprint
Horst Henrik Neißer
Die Ministerin und die Tibet-Mafia
Copyright: © 2014 Horst Neisser
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
3. Auflage Circel 2017
Der Roman erschien in der ersten Auflage 2013 unter dem Titel: „Die Ministerin im Banne der Eliten.“
Alle Rechte der Vervielfältigung und Verbreitung (auch elektronisch) vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autors wiedergegeben werden.
Wichtige Vorbemerkung
Die Handlung dieses Romans ist absolut fiktiv.
Alle Personen sind frei erfunden.
Allerdings spielt das Buch in der Gegenwart.
Um eine glaubwürdige Authentizität zu erzeugen, mussten deshalb manchmal existierende Personen aus dem öffentlichen Leben oder reale Zeitungen usw. genannt werden.
So spielt zum Beispiel eine erfundene deutsche Bundeskanzlerin eine entscheidende Rolle. Diese Figur hat jedoch absolut nichts mit der tatsächlichen, bisher einzigen weiblichen Regierungschefin der
Bundesrepublik Deutschland zu tun.
Auch sind für die Handlung erforderliche Medien-Artikel
(zum Beispiel aus der „WELT“ oder dem „SPIEGEL“)
frei erfunden.
Larvatus prodeo
(Unter einer Maske gehe ich meinen Weg)
Wahlspruch Descartes
Mit dem Wissen wächst der Zweifel.
Johann Wolfgang von Goethe
Die junge Ministerin
1
Es war einer jener unsäglichen Abende, die zum Pflichtprogramm einer Ministerin gehören. Der Bundespräsident hatte zu Ehren ausländischer Staatsgäste zu einem Bankett ins Schloss Bellevue geladen. Natürlich mussten an derartigen Feierlichkeiten nicht alle Kabinettsmitglieder teilnehmen, man wechselte sich ab, aber diesmal hatte es sie erwischt.
Das Essen fand im Großen Saal im Obergeschoss des Amtssitzes statt. Man traf sich im Schinkelsaal mit dem riesigen Bild von Karl Friedrich Schinkel. Die goldgerahmte ‚Gotische Klosterruine‘ dominierte auf unerträgliche Weise den Raum. Davor standen die Männer in ihren Fräcken und sahen aus wie Pinguine, um ihre Hälse und an den Frackbrüsten baumelten bunte Kreuze. Gemächlich stolzierten sie mit ihren weiblichen Begleitungen von der einen zur anderen Gruppe. Die Frauen trugen lange Kleider und hatten ihre kostbarsten Brillanten und Perlen aus den Safes geholt. Dazwischen schlängelten sich livrierte Diener und Dienerinnen mit ihren Tabletts, auf denen Champagnergläser, Fruchtsäfte und Mineralwasser standen. Man wartete in diesem eigens dafür vorgesehenen Vorraum, bis sich die Türen zum Festsaal endlich öffneten und man sich seinen Platz suchen durfte. Dieses gesellige Zusammensein vor dem Entree zum Mahl gehörte zur Inszenierung derartiger Festlichkeiten.
Suzan Bergstoh hatte sich für ein schwarzes langes Abendkleid entschieden, schlicht aber elegant. Sie wusste, dass sie noch immer eine gute Figur hatte, die das Kleid prächtig zur Geltung brachte. Dazu trug sie eine Perlenkette und Perlenohrringe. Im Gegensatz zu ihrer Gewohnheit, kaum Schminke zu verwenden, hatte sie für den Abend nicht nur Lidstrich und Lippenstift, sondern sogar ein wenig Make-up aufgelegt. Der Lidstrich war wichtig, denn ihre Wimpern waren so hell, dass ihr Gesicht ohne ihn seltsam blass und unkonturiert wirkte.
Der Abend würde lang und unangenehm werden. Wer würde wohl neben ihr sitzen und mit wem würde sie sich stundenlang unterhalten müssen? Sie wollte dabei einen klaren Kopf behalten und hatte sich deshalb für Mineralwasser entschieden.
Da sich ihr Mann zurzeit in den USA aufhielt, hatte sie keinen Begleiter und stand etwas verlegen in der Ecke. Sie war erst seit wenigen Monaten im Amt und kannte deshalb nur einige der Anwesenden flüchtig. Ihr fehlte ein Gesprächspartner.
Ein Mann fiel ihr auf. Er mochte sechzig Jahre sein, vielleicht älter, vielleicht jünger, durchtrainierte Figur, kaum Bauchansatz, weißes, dichtes Haar, sehr schönes Gesicht. Auch er war ohne Begleitung, aber er bewegte sich zwischen all den Leuten, als wäre er hier zu Hause. Irgendwann öffnete er ohne Umstände die Tür zum Großen Saal und trat ein. Suzan Bergstoh, froh über die Abwechslung, tat es ihm nach und schlüpfte ebenfalls in den Bankettsaal.
Sie beobachtete ihn, wie er, ohne sich um das Personal zu kümmern, das letzte Hand an die Gedecke legte, von Tisch zu Tisch schritt und in aller Ruhe die Tischkarten las. Dann nahm er eine der Karten und vertauschte sie mit einer Karte von einem anderen Tisch. Als er damit fertig war, bemerkte er die Beobachterin.
„Schauen Sie nicht so böse“, sagte er und lächelte. Es war ein bezauberndes Lächeln. „Ich weiß, dass die Leute vom Protokoll stundenlang an der Sitzordnung gefeilt haben. Aber der Abend wird lang werden, und es gibt nichts Schlimmeres, als eine langweilige Tischnachbarin zu haben, bei der schon nach wenigen Minuten der Gesprächsstoff ausgeht. Das, was ich eben getan habe, ist nur Selbstschutz.“
Weiter kam er nicht, denn nun öffneten sich die beiden Türen des Saals und die Gäste strömten herein. Jeder suchte seinen Platz, und auch die Ministerin fand die Tischkarte mit ihrem Namen. Zu ihrem großen Erstaunen saß sie neben dem Fremden. Auf der Karte las sie einen hochtrabenden Namen: Graf von und zu Manderscheidt.
Der trat nun auf sie zu, schüttelte ihr herzlich die Hand, tat, als sei auch er von der Sitzordnung überrascht, und sagte gewinnend: „Welche angenehme Überraschung!“
Der Saal war hell erleuchtet, unangenehm hell. An der Decke brannten kristallene Leuchter mit vielen einzelnen Birnen und an den Wänden glitzerten ebenso viele Wandlampen in der gleichen Art. Der Bundespräsident hatte bereits im Schinkelsaal jeden Gast mit Handschlag begrüßt. Nachdem er und seine Frau Platz genommen hatten, setzten sich alle.
Jeweils acht Personen waren um die großen runden Tische gruppiert. Der Mann links neben Suzan gehörte zu einer ausländischen Gesandtschaft und sprach nur wenig Englisch und kein Deutsch.
Da saß sie nun zwischen diesem selbstbewussten Grafen und einem Gast, dessen Namen sie nicht einmal aussprechen konnte.
‚Das kann ja heiter werden‘, dachte Suzan. ‚Warum habe ich mir das angetan und mich nicht einfach mit einer Ausrede entschuldigt. Aber die schlimmsten Strafen sind die, die man sich selbst auferlegt. ‘
Höflich wandte sich der neben ihr sitzende Graf an sie: „Liebe, gnädige Frau! Wie schön, dass ich mich mit Ihnen unterhalten kann, und dass mir der Zufall eine Prominente als Tischnachbarin geschenkt hat.“
Bergstoh lachte ein wenig verlegen: „Prominent bin ich sicher nicht.“
„Sie sollten nicht so bescheiden sein. Zumindest die Zeitungen berichten, dass sie dem Kabinett unserer hochverehrten Bundeskanzlerin angehören. Was war doch gleich Ihr Ressort?“
„Da sehen Sie, wie prominent ich bin. Sie kennen nicht einmal meinen Geschäftsbereich.“
„Lassen Sie mich raten! Außenministerium?“
Nun lachten beide gleichzeitig so laut, dass sich alle Gesichter am Tisch ihnen zuwandten.
„Nein, zum Glück nicht“, gluckste sie, „ich bin ein Reisemuffel. Und für eine Vizekanzlerin bin ich wohl noch etwas jung.“
„Was nicht ist, kann noch werden. Ich kann mir vorstellen, dass Sie eine ausgezeichnete Außenministerin wären. Sie würden bei allen Staatsoberhäuptern den Kavalier herauskitzeln. Wahrscheinlich würden Sie von jeder Dienstreise eine Menge unanständiger Anträge mit nach Hause bringen.“
‚Dieser Graf von und zu weiß gar nicht, wie recht er hat‘, dachte Suzan.
Laut sagte sie: „Ich bin mit meinem Job als Ministerin für Umwelt und Naturschutz recht zufrieden. Es ist eine wichtige und hochinteressante Aufgabe.“
Suzan Bergstoh war eine schlanke, gepflegte Person und sah mit ihren zweiundvierzig Jahren recht gut aus. Das rötliche Haar trug sie kurz und mit den Sommersprossen auf der Nase sah sie noch jünger aus. Sie hatte grüne Augen, mit denen sie ihre Gesprächspartner fest fixierte. Die Journalisten waren begeistert von der gut aussehenden Ministerin, und der STERN hatte sie sogar auf die Titelseite als Covergirl genommen.
Natürlich gab es stets irgendwelche Männer, die sich selbst etwas beweisen mussten, indem sie Suzan anmachten. Aber das war sie gewohnt und konnte damit umgehen. Sogar beim ersten gemeinsamen Treffen nach der Regierungsbildung, als sich alle Minister zusammen mit der Kanzlerin den Fotografen präsentierten, hatte der neue Innenminister leise zu ihr gesagt, sie sei eine Sünde wert.
Manche Männer, selbst in hohen Positionen, halten eben noch immer starr an der Meinung fest, dass Frauen nur auf anzügliche Komplimente warten und sich davon beeindrucken lassen. Natürlich ist dieses Gerede nur Angeberei und dummes Geschwätz. Wenn sie tatsächlich einmal echtes Interesse an einem Mann zeigte, so wurde der rasch verlegen und machte einen Rückzug.
‚Männer mögen keine starken Frauen‘, das wusste sie. ‚Jemand wie ich macht den Männern Angst. Sie sind wie Pfauen, sie schlagen ein Rad, um zu imponieren. Doch ihre bunte Angeberei fällt rasch in sich zusammen, wenn man sie beim Wort nehmen will.‘
Hätte sie ihren Mann nicht schon vor vielen Jahren auf der Uni kennengelernt, als sie noch beide Studenten gewesen waren, sie wäre sicher heute ledig.
Der Graf unterbrach ihre Gedanken: „Ich habe gelesen, Sie sind so etwas wie ein politischer Shootingstar. Sie haben in Ihrer Partei nicht die Ochsentour gemacht und es dennoch in wenigen Jahren zu einem Ministeramt gebracht. Kompliment!“
„Ich glaube, dass sich die Außenstehenden falsche Vorstellungen von der Politik machen“, wies sie ihn zurecht. „Letztlich zählen in den Spitzenpositionen doch nur Sachverstand und Können. Die treuen Parteisoldaten bleiben alle auf halber Strecke hängen, auch wenn sie sich noch so anstrengen und intrigieren. Ich glaube nicht an den Willen zur Macht. Solides Wissen, Fleiß und Verhandlungsgeschick sind eher Garanten für eine Karriere.“
Der Graf sah sie skeptisch an.
„Sie müssen es ja wissen“, sagte er endlich.
‚Wie bin ich eigentlich wirklich zu diesem Ministeramt gekommen?‘ dachte sie auf einmal.
Sicher sie hatte sich im Ortsverein ihrer Partei engagiert und war schließlich sogar zur Vorsitzenden gewählt worden. Irgendwann bot man ihr dann einen Platz auf der Landesliste für die Landtagswahl an. Doch noch bevor sich das Landesparlament konstituiert hatte, bekam sie einen Anruf von der Kanzlerin, die ihr das Umweltministerium im Bund anbot. Diese Berufung war mehr als seltsam, denn bis dahin war sie eine recht unauffällige Nachwuchspolitikerin gewesen. Eine engagierte Frau, wie sie in allen Parteien zuhauf vertreten sind. Weshalb war gerade sie für das hohe Amt auserwählt worden? Sie wusste es nicht und beschloss, ein andermal darüber nachzudenken.
Das Essen war ausgezeichnet, aber Suzan Bergstoh bekam wenig davon mit, denn ihr Tischnachbar zog sie mehr und mehr in eine immer intensivere Unterhaltung. Dabei war die Verständigung schwierig, denn der große Saal summte und brummte von all den Gesprächen an den Tischen. Der Bundespräsident hatte seine offizielle Rede längst gehalten, der letzte Gang war abgetragen und Kaffee mit Cognac serviert worden. Nun löste sich auch die Sitzordnung auf. Man setzte sich zu Bekannten an andere Tische und sprach dem Wein ohne weitere Hemmungen zu.
„Ich glaube, hier wird es jetzt ungemütlich“, sagte der Graf. „Was halten Sie davon, wenn wir uns ein ruhigeres Plätzchen suchen.“
Dagegen hatte die Ministerin nichts einzuwenden. Aber sie war gespannt, wo der Mann in dieser Abendgesellschaft ein ‚ruhiges Plätzchen‘, wie er sagte, finden wollte. So stand sie mit ihm zusammen auf und folgte ihm nach draußen. Sie durchquerten den Schinkelsaal und landeten im Salon Luise. Dort war es dämmrig, denn es brannten nur die vier Wandlampen neben den Türen. Als der Graf die Türen geschlossen hatte, war es ganz still. Der Lärm und der Trubel der Abendgesellschaft waren ausgesperrt, waren weit weg. Als sie auf der klassizistischen Sitzgruppe Platz genommen hatten, waren sie in einer anderen Welt gelandet.
Und nun änderte sich auch der Mann, der sie hierhergebracht hatte. Er sprach nicht mehr von Politik und erzählte witzige Anekdoten über abgetretene Politiker. Vielmehr berichtete er jetzt von längst vergangenen historischen Ereignissen, so als sei er dabei gewesen: „Sie können sich nicht vorstellen, was für ein Gesicht Ludwig der XV. gemacht hat, als ihn die Pompadour vor allen Leuten auf seine nachlassende Potenz ansprach.“
Er hatte seine ganze Aufmerksamkeit der Ministerin zugewandt, und diese hatte das Gefühl, dass sie in diesem Augenblick für ihn der wichtigste Mensch auf dieser Welt war.
„Erzählen Sie mir von sich“, bat er irgendwann, und sie tat es, ohne lange nachzudenken.
Sie berichtete von ihrem Mann, einem Berufsschullehrer, der nun auch noch einen Beraterjob bei einer Firma für Sonnenkollektoren hatte.
„Haben Sie da nachgeholfen?“ fragte der Graf.
Sie schüttelte den Kopf.
„Sie sind an ihn herangetreten, und er hat nicht ‚nein‘ gesagt. War mächtig stolz. Ich habe erst davon erfahren, als der Vertrag bereits unterschrieben war.“
„Vorsicht, vorsicht!“ murmelte der Mann. „So etwas macht Sie erpressbar.“
Suzan erzählte von ihrem Elternhaus, von ihren verstorbenen Schwestern und erwähnte sogar ihre erste Liebe, und wie unglücklich sie damals gewesen war.
Plötzlich kam sie zu sich.
‚Bin ich denn verrückt‘, schalt sie sich. ‚Ich sitze hier mit einem wildfremden Mann, von dem ich nichts weiß, und schütte ihm mein Herz aus. Frau Minister reißen Sie sich endlich am Riemen! ‘
Aber der Graf war so sympathisch und geduldig und wusste die richtigen Fragen zu stellen, sodass sie weitererzählte.
Irgendwann erschien ein Bediensteter, um das Licht zu löschen. Er war sehr erstaunt, als er hier zwei Menschen vorfand und sagte, dass sich die Abendgesellschaft bereits aufgelöst habe und nur noch wenige Gäste anwesend seien. Auch der Herr Bundespräsident sei schon vor einiger Zeit gegangen.
„Dann werden wir wohl auch gehen müssen“, sagte der Graf. „Darf ich Sie nach Hause fahren?“
„Mein Fahrer wartet unten.“
„Dann schicken Sie ihn nach Hause. Die Nacht ist so schon kurz für den Mann, schließlich soll er Sie schon morgen früh wieder abholen.“
Suzan nickte. Schaltete ihren Blackberry ein und sagte dem Fahrer, er brauche nicht auf sie zu warten.
Der Graf schien sich im Schloss Bellevue gut auszukennen, denn er führte die Ministerin auf dem kürzesten Weg nach draußen. Als sie aus einer Nebenpforte in die Nacht traten, war es kalt und Suzan fröstelte. Behutsam, wie um sie zu wärmen, legte er den Arm um sie, und sie ließ ihn gewähren. Der Mann führte die Ministerin zum Parkplatz, wo sein Wagen wartete. Es war eine große, schwarze Stretch-Limousine, wie sie in Europa unüblich ist, wohl aber von wichtigen Leuten in den USA gefahren wird. Als der Fahrer seinen Chef kommen sah, sprang er aus dem Auto und riss die hintere Tür auf. Die beiden kletterten hinein. Durch die Standheizung war es angenehm warm. Die Fensterscheibe zum Fahrer war hochgefahren und zusätzlich mit einem Vorhang verdeckt.
„Wo darf ich Sie hinbringen?“ fragte der Graf, und Suzan nannte ihre Adresse.
Der Graf sprach in ein verstecktes Mikrofon, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Nun öffnete er einen kleinen Kühlschrank und entnahm ihm eine Champagnerflasche, die er routiniert öffnete. Er schenkte zwei Kelche voll und stieß mit seinem Gast an.
Dann stellte er die Gläser auf eine Ablage und begann Suzan ohne Umstände zu küssen. Sie ließ es verwundert geschehen. Die Küsse waren nicht intensiv und auch nicht leidenschaftlich. Eher ein wenig zärtlich. Mehr so, wie ein Vater die Tochter auf Wange, Stirn und Augen küsst.
Irgendwann streifte er den Rock ihres Abendkleides hoch und begann sie zwischen den Beinen zu streicheln.
‚Die Frau Minister treibt Petting wie eine Sechzehnjährige‘, dachte sie noch verwundert, bevor sie sich seinen Liebkosungen ganz hingab.
2
Am nächsten Morgen war die Ministerin, Doktor Bergstoh, wie immer pünktlich um sieben Uhr im Büro. Sie war schlecht gelaunt, denn sie hatte kaum geschlafen. Sie war wütend auf sich, dass sie sich von diesem Mann hatte verführen lassen. Aber, und das musste sie sich nun bei Tageslicht hier in ihrem Büro doch eingestehen, sie hatte noch nie einen Mann mit so erfahrenen Händen erlebt.
Die Ministerin zwang sich zum Arbeiten, wühlte sich durch Postmappen und den Presseüberblick. Für neun Uhr war die erste Konferenz angesetzt. Danach hatte sie im Halbstundentakt Termine. Vor elf Uhr in der Nacht würde sie wohl nicht nach Hause kommen.
Sie wurde in ihren Gedanken von ihrer Sekretärin, Frau Warnstrut, unterbrochen, die mit Blumen ins Zimmer kam.
„Das wurde eben für Sie abgegeben“, sagte sie erstaunt.
Blumen erreichen die Ministerin in der Regel nicht. Sie werden unten an der Pforte entgegengenommen und aus Sicherheitsgründen sogleich entsorgt. Doch diesmal hatte einer der Sicherheitsleute den Strauß persönlich gebracht. Der Absender hatte damit ein kleines Wunder vollbracht.
Als das Papier entfernt worden war, kamen drei wunderschöne Orchideen zum Vorschein. An einer war die Visitenkarte des Grafen geheftet. Seine Titel nahmen die halbe Karte ein, aber eine Adresse oder gar Telefonnummer standen nicht auf der Visitenkarte.
Auf der Rückseite fand sich handschriftlich der Satz: „Danke für den wunderschönen Abend. Er bleibt mir unvergesslich!“
Suzan war geschmeichelt und lächelte. ‚Ein Kavalier der alten Schule‘, dachte sie sich. Doch als die Sekretärin die Blumen in eine Vase stellen wollte, fiel ihr Blick auf die Klammer, die die drei Rispen zusammenhielt. Sie sprang auf und nahm Frau Warnstrut den Strauß aus der Hand. Dann ging sie mit der Klammer an Fenster, um im hellen Tageslicht besser sehen zu können.
Es war eine Brosche aus Platin, zu allem Überfluss auch noch reich mit Brillanten besetzt. Flüchtig bemerkte sie auf ihrer Rückseite die eingravierte Zahl 220, die ihr aber nichts sagte. Deshalb dachte sie nicht weiter darüber nach, sondern schätzte stattdessen den Wert dieses Kleinods und kam auf mindestens zwanzigtausend Euro. Suzan Bergstoh erbleichte. Wo war sie da hineingeraten? Solche Geschenke werden nicht ohne Hintergedanken gemacht. Natürlich würde sie das Schmuckstück unverzüglich zurückgeben und die dämlichen Orchideen gleich mit. Was bildete sich dieser Mann nur ein?
Doch wohin sollte sie das Paket schicken? Trotz Visitenkarte hatte sie weder eine Adresse noch eine Telefonnummer. Sie kannte nur den Namen und die angeberischen Titel.
In jedem Ministerium gibt es eine Stelle, bei der offizielle Geschenke abgegeben werden. Schließlich erhält ein Regierungsmitglied eine Fülle von Geschenken und zwar nicht als Person, sondern in seiner Funktion. Dorthin schickte Doktor Bergstoh Frau Warnstrut und ließ die Brosche abgeben. Die Quittung dafür wurde abgeheftet.
Nachdem dies geregelt war, durften auch die Orchideen auf ihren Schreibtisch gestellt werden.
‚So schöne Blumen kann man doch nicht verkommen lassen‘, dachte sie sich.
3
Die Tage vergingen und die Erinnerung verblasste. Suzan Bergstoh hatte andere Sorgen, denn sie war über Nacht in politische Turbulenzen geraten. Eine vertrauliche Planung ihres Ministeriums war einer Zeitungsredaktion in die Hände gespielt worden, und nun gab es in der Öffentlichkeit große Aufregung und Proteste. Sogar ihren Rücktritt hatte man schon gefordert. Eine Konferenz mit Spezialisten aus dem Presseamt jagte die nächste. Bergstoh führte eine Menge Gespräche insbesondere mit Journalisten, um die Gemüter zu beruhigen, telefonierte mit wichtigen Leuten in ihrer Partei, um sich abzusichern und sich den Rücken stärken zu lassen. Endlich wurde sie von der Kanzlerin angerufen. Die erklärte ihr, dass sie hinter ihr stünde und sich ihre Ministerin keine Sorgen machen müsse.
Suzan war erleichtert, fragte sich jedoch, warum die Kanzlerin sich erst so spät vor sie gestellt hatte.
Inzwischen war auch ihr Mann aus den USA zurückgekehrt und hatte in der kurzen Zeit, in der sie sich sahen, viel zu erzählen.
Suzan Bergstoh hatte also wenig Zeit zum Nachdenken, und bald erschien ihr die Nacht in der Stretch Limousine wie trügerische Fantasie. Da war nichts gewesen! Sie hatte es sich nur eingebildet. Sie würde sich doch niemals mit einem Mann, den sie kaum kannte, am ersten Abend auf so etwas einlassen. Und dazu noch im Auto, sie die Ministerin, undenkbar.
‚Ich bin ganz einfach überarbeitet‘, dachte sie, ‚wenn ich schon irgendwelche Fantasien für real halte. ‘
Aber wenn eine der vielen Sitzungen langweilig wurde, und ihre Gedanken abschweiften, dann spürte sie noch immer seine Hände.
Dann kontrollierte sie sogleich ihre Gedanken und verdrängte diese absurden Erinnerungen. Es konnte schon deshalb nichts gewesen sein, weil es nicht gewesen sein durfte. ‚Du bist das, an was du dich erinnerst‘, hatte sie im SPIEGEL gelesen.
Nur die Orchideen verloren nichts von ihrer Pracht. Sie strahlten in der Sonne auf ihrem Schreibtisch und wurden von jedem Besucher bewundert. Suzan konnte sich den Schreibtisch ohne diese Orchideen schon gar nicht mehr vorstellen.
Den Grafen traf die Ministerin überraschend auf einer Sitzung wieder. Geladen waren wichtige Vertreter aus Wirtschaft und öffentlichem Leben. Es war ein erlauchter Kreis, der sich da unter dem Vorsitz der Kanzlerin Kruschka zusammenfand. Aus dem Kabinett waren der Wirtschaftsminister, der Innenminister und eben Bergstoh vom Ministerium für Umwelt anwesend.
Suzan hatte zusammen mit dem Präsidenten der Bundesbank den Sitzungssaal betreten. Sie war so in das Gespräch vertieft gewesen, dass sie den Grafen erst entdeckte, als die Kanzlerin die Sitzung bereits eröffnet hatte. Er saß ganz am unteren Ende des Tisches und meldete sich während der zweistündigen Diskussion kein einziges Mal zu Wort. Die Kanzlerin hatte ihn nicht in seiner Funktion vorgestellt, sondern nur seinen Namen, Graf Manderscheidt, genannt.
Die Versammlung verbiss sich schließlich in zwei Alternativen, und man konnte sich für keine der beiden entscheiden. Etwa die Hälfte der Anwesenden bevorzugte die eine Lösung und die andere Hälfte die andere. Es wurde erregt debattiert, und ein Ende des Streits war nicht abzusehen.
Da meldete sich der Graf zu Wort. Er fasste kurz die wesentlichen Argumente zusammen und empfahl dann lächelnd als Lösung: „Aggressives Hinwarten!“
Nach anfänglicher Verblüffung und Schweigen meldeten sich nach und nach die Teilnehmer zu Wort und unterstützten den Vorschlag. Damit war er angenommen und die Sitzung beendet.
Später beim Hinausgehen traf Suzan den Grafen. Er begrüßte sie herzlich. Seine lange, schmale, gepflegte Hand, deren Finger sie noch immer in Erinnerung hatte, umklammerte die ihre mit einem festen Druck.
„Wir sollten zusammen essen gehen“, sagte er dabei.
Weiter kam er nicht, denn eine Stimme stellte fest: „Sie kennen sich also!“
Es war die Kanzlerin, die hinter ihnen stand und fortfuhr: „Dann muss ich Sie gar nicht mehr vorstellen.“ Sie wandte sich an den Grafen und sagte: „Ich muss mit Ihnen noch einiges besprechen. Darf ich Sie bitten, mich in mein Dienstzimmer zu begleiten?“
Als ihre Chefin mit dem Grafen abzog, blieb Suzan enttäuscht zurück. Erst nach einer Weile wurde ihr klar, dass es ein Gefühl von Eifersucht war, welches in ihr tobte.
4
Für diesen Tag waren keine weiteren Konferenzen und Termine mehr angesetzt. Schließlich war das Ende dieser so überaus wichtigen Sitzung unter der Leitung der Kanzlerin nicht absehbar gewesen. Und obgleich ihr Schreibtisch mit unerledigten Aufgaben bedeckt war, die sie eigentlich bis in die Nacht hinein hätte aufarbeiten müssen, ließ sich Suzan Bergstoh von ihrem Fahrer nach Hause bringen.
Die Haushaltshilfe, die treue Seele, hatte für ihren Mann gedeckt und das Abendessen gerichtet. Er saß im Speisezimmer ein wenig verloren an dem großen Tisch, las in einer Zeitschrift und kaute dabei gedankenverloren auf seinem Brot. So einsam wie er dasaß, tat er ihr sehr leid. Sie konnte auf ihn keine Rücksicht nehmen, und er führte eigentlich das Leben eines Singles. Wie er sich wohl fühlte? Sie wusste es nicht. Sie wusste überhaupt nicht, was in ihrem Mann vor sich ging. Die Zeiten, in denen sie vertraut waren und jeden Gedanken miteinander geteilt hatten, waren längst vergangen.
„Was habe ich mit diesem Mann noch zu schaffen?“ fragte sich Suzan.
Sie war unbemerkt in der Tür stehen geblieben und beobachtete Simon. Er war so alt wie sie selbst, aber während sie sich noch jung und tatkräftig fühlte, fielen ihm bereits die Haare aus, und sein Bauch wölbte sich mächtig nach vorn.
Unwillkürlich musste sie an den Grafen denken, seine sportliche Figur, die kontrollierten Gesichtszüge und das gepflegte Haar. Ob er wohl ein Toupet trug? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Das hätte nicht zu seinem Stil gepasst.
Vielleicht sollte sie sich von Simon scheiden lassen, dachte sie. Schließlich war er für sie zu einem Fremden geworden. Es verband sie nichts mehr. Ihr Zusammensein war eine Lüge.
‚Nach all dem, was wir zusammen erlebt haben, hätte er mehr Ehrlichkeit verdient. Jetzt hatte er noch die Chance, eine Frau zu bekommen, die auch zu ihm passt. ‘
Aber eine Trennung kam nicht infrage, solange sie noch in der Politik Karriere machen wollte. Das hätte sie zu viele Wählerstimmen gekostet. So etwas konnte sich vielleicht ein Paradiesvogel wie Joschka Fischer leisten, aber kein normaler Politiker. Selbst dieser Seehofer war schließlich zähneknirschend zu seiner Frau zurückgekehrt.
Nun bemerkt Simon die Beobachterin und stand erfreut auf. Er und seine Frau umarmten sich flüchtig, dann lief er in die Küche und holte Teller und Besteck für sie.
„Gab es heute etwas Besonderes?“ fragte Simon, als sie sich gegenübersaßen.
„Nein“, antwortete sie laut, „nur eine endlose Sitzung“ und dachte bei sich: ‚Natürlich gab es etwas Besonderes, ich habe den Grafen wiedergetroffen, und er hat mich zum Essen eingeladen. ‘
Dann erinnerte sie sich, wie die Kanzlerin ihn abgeschleppt hatte und dachte bitter: ‚Ob wohl die Kruschka auch etwas mit ihm hat? ‘
Der Gedanke war ihr unangenehm, und sie verdrängte ihn sogleich mit aller Macht.
Sie hatte eben ihren Teller Suppe zu Ende gegessen und belegte sich eine Scheibe Toastbrot mit ungarischer Salami, da klingelte das Telefon. Simon stand unwillig auf und hob den Hörer ab.
Kurz darauf sagte er: „Es ist für dich!“
Sie überlegte, wer sie so spät noch zu Hause anrufen würde? Doch als sie die Stimme hörte, blieb ihr beinahe die Luft weg. Es war ER!
„Ich freue mich auf dich“, sagte er mit seiner ruhigen, tiefen Stimme. „Bitte komme herunter, ich warte hier auf dich.“
Bevor Suzan etwas antworten konnte, hatte er bereits aufgelegt.
Sie starrte den Telefonhörer an und bemühte sich, einen klaren Gedanken zu fassen.
„Ich muss noch einmal weg“, sagte sie.
„Schade“, war die Antwort ihres Mannes, „wir hätten uns endlich wieder einmal einen gemütlichen Abend machen können.“
Seine Worte reizten sie. Wütend antwortete sie: „Deine Klagen und Beschwerden kann ich nun gar nicht gebrauchen. Du wusstest, als ich in die Politik ging, dass dies eine Belastung für unsere Ehe werden würde. Ich habe es dir damals ausdrücklich gesagt. Und du warst auch damit einverstanden, dass ich das Ministeramt übernehme. Was soll also jetzt das Lamentieren. Ich kann eben nicht so frei über meine Zeit verfügen wie du.“
Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um und sagte versöhnlich: „Vielleicht dauert es ja auch nicht lange. Ich werde mich auf jeden Fall beeilen, dann habe wir doch noch etwas von dem Abend.“
Als sie langsam die Treppe hinunterstieg, fragte sie sich, wie der Graf wohl an ihre private Telefonnummer gekommen sein mochte. Wie alle Minister hatte sie natürlich eine Geheimnummer, die nur wenige Leute ausgehändigt bekamen.
Vor dem Haus standen zwei Autos. Der Polizeiwagen mit den Beamten, die sie rund um die Uhr bewachten, und die Stretch Limousine, die sie schon kannte.
Sie sah nach oben zu ihrer Wohnung und meinte dort am erleuchteten Fenster eine Bewegung gesehen zu haben. War dies Simon, der sie beobachtete? Rasch stieg sie in den schwarzen Wagen, der sogleich losfuhr.
Der Graf saß in der Ecke. Es war dunkel, und sie konnte sein Gesicht nur schemenhaft sehen. Er reichte ihr seine kühle, gepflegte Hand und sagte: „Schön, dass du gekommen bist.“
Wie beim ersten Mal öffnete er geschickt eine Flasche Champagner und schenkte zwei Sektkelche ein. Er stieß nicht mit ihr an, sondern trank sogleich schlürfend einen Schluck. Dann nahm er noch einen Schluck und wandte sich seinem Gast zu.
„Bitte zieh dich aus“, sagte er mit sanfter Stimme.
Suzan war es, als habe sie nicht richtig gehört und eine Ohrfeige erhalten. Sie reagierte nicht.
„Bitte zieh dich aus“, wiederholte der Graf noch einmal.
Sie wusste selbst nicht warum, aber nun knöpfte Suzan langsam ihre Bluse auf. Dabei ärgerte sie sich über sich selbst. Was fiel diesem arroganten alten Typ eigentlich ein? Er behandelte sie wie eine Hure. Dabei war sie eine wichtige Persönlichkeit in dieser Republik. Sie, Doktor Suzan Bergstoh, verhandelte mit den wichtigsten Politikern dieses Erdballs. Jede öffentliche Bemerkung von ihr stand am nächsten Tag in der Presse, und Hunderte von Leuten rätselten, was sie damit wohl habe ausdrücken wollen.
Nun aber saß sie hier in diesem amerikanischen Angeber-Auto, fuhr völlig sinnlos durch die Nacht und zog sich vor einem fremden Mann aus. Was war in sie gefahren? Welche Macht übte dieser Graf auf sie aus? Ob er wohl mit der Kanzlerin auch so umsprang?
Sie hatte die Knöpfe der Bluse geöffnet und zog sie aus. Da saß sie nun mit ihrem weißen BH, der in der Dunkelheit leuchtete. Bis hierhin war sie bereit, diese Verrücktheit mitzumachen, aber nun sollte es Schluss sein.
Doch der Graf war nicht zufrieden. Er nippte wieder an dem Sektkelch und flüsterte: „Bitte auch den Büstenhalter.“
Suzan wollte widersprechen, nach dem Sinn dieser törichten Aktion fragen, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen.
„Bitte…“, sagte er eindringlich.
Obgleich sich alles in ihr sträubte, griff sie nach hinten und öffnete den Verschluss. Der BH fiel auf ihren Schoß, und ihre Brüste standen leuchtend weiß von ihrem Körper ab.
„Danke“, flüsterte er wieder. „Und nun die Hose. Bitte!“
Suzan wollte erneut protestieren, sich wieder anziehen, den Wagen anhalten lassen und aussteigen. Sie würde mit ihrem Mobiltelefon ein Taxi rufen und nach Hause fahren. Dieser Mann war ein Verrückter, ein Perverser. Wahrscheinlich war er sogar gefährlich. Sie hatte alle Vorsicht außer Acht gelassen und war ohne Personenschutz im Dunklen zu einem fremden Mann, den sie kaum kannte, ins Auto gestiegen.
Doch sie sagte nichts, presste die Lippen aufeinander und begann, die Knöpfe ihrer Hose zu öffnen. Als sie sich von dem Sitz ein wenig erhob, um die Hose abzustreifen, bemerkte sie, dass sie erregt war. Und sie ärgerte sich noch mehr über sich selbst. Dann war sie völlig nackt. Sie sah auf ihre Scham herunter und schämte sich.
„Du darfst es jetzt machen“, sagte er sanft.
5
In dieser Nacht schlief Suzan Bergstoh nicht eine Minute. Sie hörte das leise Schnarchen ihres Mannes, während sie sich von einer Seite auf die andere wälzte. Was war nur in sie gefahren? War sie von allen guten Geistern verlassen? Hatte sie den Verstand verloren?
Sie hatte sich im Auto eines fremden Mannes zu exhibitionistischen Sexspielen verleiten lassen. Wenn sie jemand gesehen oder gar fotografiert hatte, war sie erledigt. Paparazzi gab es schließlich überall, und für so ein Bild wäre von den entsprechenden Redaktionen bis zu einer Million gezahlt worden.
„Die Frau Minister auf der Straße beim Sex Spiel ertappt!“
Eine tolle Schlagzeile – und sie wäre sogar wahr gewesen.
Wie hatte der SPIEGEL einmal geschrieben? „Es ist eine Welt, in der Berühmtheit als Ware gehandelt wird.“
Ihr Wert als Ware wäre ins Unermessliche gestiegen. Sie musste unbedingt den Kontakt zu diesem perversen Grafen abbrechen. Sie würde keine Sekunde mehr mit ihm allein verbringen. Diese Eskapaden waren Vergangenheit. Sie würde sich nun wieder zusammenreißen.
Während sie so im Bett lag und verzweifelt zu schlafen versuchte, fiel ihr eine Episode aus ihrer Schulzeit ein. Es war im Abiturjahr gewesen. Die Klasse war auf einen Schulausflug nach Italien gefahren. Der sie begleitende Klassenlehrer hatte Mathematik unterrichtet. Die weibliche Begleitung war eine Lehrerin aus der Parallelklasse gewesen, die vor dem Mathekollegen großen Respekt gehabt hatte.
Suzan wusste nicht mehr genau, wie es dazu gekommen war. Sie hatten alle zusammen ein Weinlokal besucht und auf dem Nachhauseweg war sie, ohne dass die anderen es bemerkt hätten, mit dem Lehrer zurückgeblieben. Und dann hatte er sie geküsst und ihr unter den Rock gefasst. Sie hatte es damals nicht nur geduldet, sondern sogar genossen. Anschließend hatte sie alles ihrer Freundin erzählt. Die war wahnsinnig neugierig und aufgeregt gewesen.
O.K., dachte sie, der Vorfall damals war noch verständlich. Schließlich war der Lehrer eine Respektsperson gewesen, und es hatte ihrer Eitelkeit enorm geschmeichelt, dass er sich mit ihr abgab. Aber heute leitete sie ein wichtiges Ministerium, eine gigantische Behörde. Heute müsste der Lehrer stolz sein, wenn sie ihm überhaupt die Hand gab.
Bei dem Wort Hand fielen ihr wieder die Hände des Grafen ein. Diese weichen, langen, gepflegten Finger. An sein Gesicht konnte sie sich nur schwer erinnern, aber die Hände standen ihr ganz plastisch vor Augen.
Hatte ihr der Lehrer damals einen psychischen Schaden zugefügt, sodass sie sich heute nicht gegen diesen anmaßenden Grafen wehren konnte? Was war das überhaupt für ein Graf? Eine seltsame, eine dubiose Gestalt. Und da war auch noch die Bundeskanzlerin Kruschka. Sie kannte den Grafen scheinbar recht gut. Ob er wohl mit ihr auch diese Spielchen trieb?
Am nächsten Morgen war sie müde und schaffte es erst gegen acht Uhr im Büro zu sein. Natürlich brachte die Verspätung ihren ganzen Tagesplan durcheinander. Nur einmal, als sie stark erkältet gewesen war, hatte sie sich eine derartige Undiszipliniertheit gestattet.
Als sie sich mit schwerem Kopf hinter ihren Schreibtisch setzte, fiel ihr Blick auf die Orchideen. Sie rief die Sekretärin und ließ die Blumen entfernen.
„Ich habe nun lange genug auf diese Dinger gestarrt“, bemerkte sie dabei.
„Aber sie sind noch immer sehr schön“, sagte die Sekretärin. „Darf ich sie im Vorzimmer aufstellen?“
„Nein!“ war die barsche Antwort. „Ich möchte, dass sie weggeworfen werden.“
Müde griff sie zur Unterschriftenmappe, öffnete den teuren Parker Füller und machte sich an die Arbeit. Dabei fiel ihr Blick auf ihre Finger und auf den Ring mit dem blauen Brillanten, der seit gestern Nacht dort steckte. Als sei sie bei etwas Unanständigem ertappt worden, verbarg sie sogleich mit ihrer linken Hand den Ring.
Dieser Ring war das endgültige Zeichen ihrer Blödheit. Als sie wieder vor ihrer Wohnung angekommen waren, und sie bereits aussteigen wollte, hatte ihr der Graf diesen Ring entgegengehalten und sie mit seiner weichen Stimme gebeten: „Bitte trage ihn ab jetzt ständig.“
Sie hatte nicht geantwortet und auch nicht nach dem Sinn dieses Geschenkes gefragt, sie hatte sich den Ring übergestreift und war dann wort- und grußlos aus dem Auto gestiegen und ins Haus geeilt.
Sollte sie dieses Symbol ihrer Unterwerfung nun tatsächlich tragen? Sie verschob die Entscheidung auf später und vertiefte sich erst einmal in die Post.
Sie hatte die erste Mappe erst zur Hälfte abgearbeitet, da wurde sie von der Sekretärin unterbrochen. Ein Bote habe wieder Blumen gebracht, erklärte sie und stellte sieben langstielige Rosen vor Suzan auf den Tisch.
Ein kleines Couvert war an einen Rosenstiel gebunden. Die Ministerin öffnete es und heraus fiel die bekannte Visitenkarte mit der Bemerkung: „Um die Lücke zu füllen, die die weggeworfenen Orchideen hinterlassen haben.“
Was war das für ein Mann? Was wollte er von ihr? Was wusste er? Aber noch wichtiger war ihr die Antwort auf die Frage, warum tat sie alles, was er ihr befahl? Warum erregte er sie so sehr?
Ihm selbst konnte es doch nicht um sexuelle Befriedigung gehen. Er machte nicht die geringsten Anstalten mit ihr zu schlafen oder sich auf andere Weise befriedigen zu lassen. Sie hatte nicht einmal eine Erektion bei ihm gesehen.
‚Vielleicht sollte er eine dieser blauen Pillen nehmen‘, dachte sie und schmunzelte ungewollt. ‚Wahrscheinlich ist er impotent und gewinnt ein perverses Vergnügen, wenn er Frauen in solche Situationen bringt. ‘
Andererseits, wie ein alter Lustmolch sah er nicht aus und gerierte sich auch nicht so. Welche Absichten verfolgte er? Was sollte das Ganze? Galt sein Interesse ihr als Ministerin oder ihr als Frau? Aber alle diese Gedanken hatte sie bereits in den langen Nachtstunden hin und her gewälzt, ohne eine Antwort zu finden.
Da standen nun die Rosen vor ihr und zogen ihre Blicke auf sich. Obgleich sie es mit all ihrer Energie versuchte, war Suzan nicht in der Lage, sich auf die Post zu konzentrieren. Endlich gab sie auf. Sie rief die Sekretärin. Diese sollte im Vorzimmer der Bundeskanzlerin anrufen und um die Adresse des Grafen Manderscheidt bitten. Doch sie erhielt die ablehnende Botschaft, dass diese Adresse nur mit Zustimmung der Kanzlerin selbst mitgeteilt werden dürfe.
Das war mehr als seltsam. Doch Bergstoh dachte nicht weiter darüber nach, sondern ließ um einen raschen Termin bei der Kanzlerin bitten. Es würde nur ein paar Minuten dauern.
Suzan wusste, wie sehr die Kruschka derartige Überfälle hasste, aber sie sah keine andere Möglichkeit, um ihre Ruhe wiederzufinden. Sie erhielt einen Termin um 11 Uhr 45 und beauftragte ihr Vorzimmer, alle Termine für diesen Tag abzusagen. Ihre Mitarbeiterinnen sahen sie erstaunt und verständnislos an. Die Chefsekretärin versuchte noch einige Einwendungen. Ob die Frau Minister nicht wenigstens an der Sitzung um 15 Uhr teilnehmen könne? Schließlich sei dieses Treffen wegen ihr bereits viermal verschoben worden. Doch Suzan schüttelte nur unwillig den Kopf.
Um halb zwölf ließ sie ihren Wagen vorfahren. Dann fuhr sie mit Blaulicht von der Alexanderstraße zum Bundeskanzleramt. Es dauerte zehn Minuten. Dort gab es die üblichen, wenn auch eingeschränkten Sicherheitskontrollen.
Das Kanzleramt in Berlin ist ein Haus voller zeitgenössischer Kunst. Der Chef des Kanzleramts hatte irgendwann für alle Minister und Staatssekretäre eine Führung gemacht und die Historie jedes einzelnen Kunstwerks beschrieben. In der Tat, das Haus hat eine Menge Überraschungen zu bieten. Aber darauf achtete Bergstoh heute nicht. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl in den 7. Stock. Dort residierte die Kanzlerin auf Augenhöhe mit dem Plenum des Bundestages. Sie hatte sich bewusst einen Mann als Sekretär ins Vorzimmer gesetzt, der Suzan nun freundlich bat, noch etwas zu warten. Im Warteraum wurden ihr Kaffee und etwas Gebäck serviert.
Dort dachte Suzan darüber nach, was die Kruschka wohl mit dem Mann in ihrem Vorzimmer demonstrieren wollte. War es eine Geste an die feministische Bewegung in Deutschland? Sollte es ein Zeichen für die Gewerkschaften sein? Oder arbeitete Hannelore Kruschka einfach lieber mit Männern zusammen?
Suzan wusste, dass die Kanzlerin bei allen Entscheidungen einen Hintergedanken hatte. Sie tat nichts und ordnete nichts an, was nicht genau durchdacht war. Hannelore Kruschka legte großen Wert auf symbolische Akte.
Bergstoh wurde in ihren Gedanken unterbrochen und zur Kanzlerin gebeten. Die kam ihr schon an der Tür entgegen und gab ihr herzlich die Hand. Beide Frauen trugen dunkle Hosenanzüge und dezenten Schmuck. Aber zu ihrem Erschrecken sah Suzan, dass die Kanzlerin den gleichen Diamantring trug wie sie selbst. Möglichst unbemerkt drehte sie ihren Ring, sodass der Stein nun unter der Handfläche verborgen war und nur noch der schmale Goldreif nach oben zeigte. Es hätte sich nun auch um einen einfachen Ehering handeln können.
Ihr Blick wurde wie immer von dem Bild an der Wand hinter dem großen Schreibtisch angezogen. Es stellte den ersten Kanzler der Republik dar, Konrad Adenauer, gemalt von Oskar Kokoschka. Doch die Kanzlerin führte sie nicht zu ihrem Schreibtisch. Sie hatte sich angewöhnt, an einer Ecke des großen Besprechungstisches zu arbeiten. Von da sei der Weg zum Büro der Sekretärin am kürzesten, behauptete sie.
„Ich habe in der Presse von ihren erfolgreichen Verhandlungen mit RWE gelesen“, begann Hannelore Kruschka das Gespräch. „Mein Kompliment, das haben Sie wunderbar geregelt.“
Suzan bedankte sich und erläuterte, dass man in ihrem Ministerium gerade an einer Richtlinie zur CO2-Reduzierung arbeite und eine entsprechende Vorlage in Bälde der Kanzlerin vorgelegt werden könne.
„Ein lobenswertes Unterfangen“, war die Antwort. Nach einer kleinen Pause kam die Frage: „Was führt Sie zu mir?“
Suzan Bergstoh beugte sich nervös vor und sagte: „Sie kennen doch den Grafen Manderscheidt? Ich muss unbedingt mit ihm Kontakt aufnehmen, weiß aber nicht, wie ich ihn erreichen kann. Er ist wie ein Gespenst. Er taucht einfach auf und verschwindet dann wieder im Nichts.“
Nun lachte die Kruschka herzlich: „Fürwahr eine treffende Beschreibung. Natürlich kann ich Ihnen die Adresse des Grafen geben. Ich werde im Vorzimmer Bescheid sagen. Geht es um eine wichtige Angelegenheit?“
„Wie man es nimmt“, antwortete Bergstoh ausweichend. „Ich glaube schon, dass es von Bedeutung ist. Wenn es Sie interessiert, werde ich Sie bei Gelegenheit unterrichten.“
„Darum bitte ich.“
Einer plötzlichen Eingebung folgend fragte Suzan: „Wissen Sie eigentlich, wie alt der Graf ist?“
Die Kanzlerin sah sie erstaunt an, stand plötzlich auf und ging zum Fenster. Ihre Ministerin folgte ihr. Die beiden Frauen starrten eine Weile schweigend auf den Tiergarten und auf den Potsdamer Platz.
Endlich sagte die Kruschka: „Der Jüngste ist er sicherlich nicht mehr. Er selbst sagt von sich, er sei unendlich alt. Er nennt sich in persönlichen Gesprächen den Grafen von Saint Germain. Wissen Sie, auf wen er dabei anspielt?“
Suzan hatte den Namen schon gehört, wusste aber nicht genau, wer gemeint war. Irgendeine historische Persönlichkeit.
Die Kanzlerin sah ihre Unsicherheit und fuhr erklärend fort: „Der Graf von Saint Germain war eine schillernde Persönlichkeit. Er lebte im 18. Jahrhundert. In nüchternen Quellen wird er als Abenteurer, Geheimagent, Alchemist, Okkultist und Komponist bezeichnet. In anderen gilt er als Wanderer durch die Zeiten, der immer wieder als Reinkarnation auftaucht und die Geschicke dieser Welt mitbestimmen soll. Da werden Namen genannte wie Merlin, Bacon oder Paracelsus. Madame Blavatsky, Sie haben sicher schon von dieser Spiritistin gehört, sie hat die Theosophie begründet. Also, diese Madam Blavatsky hielt Saint Germain für einen der geheimen tibetischen Weisen. Das alles ist natürlich Unsinn, aber ich glaube unserem Grafen schmeicheln diese Legenden, und er spielt mit ihnen.“
Die Kanzlerin war ins Erzählen gekommen und rief sich nun wieder demonstrativ zur Ordnung.
„Ich bin doch eine Plaudertasche und lasse mich einfach gehen. Bitte entschuldigen Sie mich. Ich halte Sie auf und weiß doch, wie sehr Sie unter Zeitdruck stehen.“
Dieses Abschweifen und dann diese demonstrative Selbstkontrolle hatte Suzan bei der Kruschka schon häufiger beobachtet. War dies eine Inszenierung oder tatsächlich ein Charakterzug von ihr. Klar war nur, dass die Besucherin jetzt gehen sollte.
Die Kanzlerin begleitete ihre Ministerin zur Tür und gab im Vorzimmer Anweisung, die Adresse des Grafen herauszusuchen.
Bevor sie sich verabschiedete, sagte sie noch: „Bitte gehen Sie pfleglich mit dem Grafen um und behandeln Sie ihn mit äußerster Vorsicht. Er ist sehr einflussreich.“
Ernest Altmann, der engste Mitarbeiter der Kanzlerin, machte ihr einen Ausdruck aus einer Computerdatei, und dann hielt sie tatsächlich die Adresse des Grafen in den Händen. Adresse? Sechs Adressen! Eine davon im Villenvorort Falkensee-Finkenkrug in Berlin.
6
Wieder in ihrem Büro erklärte die Ministerin, sie wolle nicht gestört werden. Dann setzte sie sich an den Computer und rief Wikipedia auf. Tatsächlich fand sich dort ein Eintrag zum Grafen von Saint Germain.
Danach war ein Mann mit diesem Namen im 18. Jahrhundert durch Europa vagabundiert. Er hatte Zugang zu den höchsten Stellen, zu Fürsten und Königen gehabt. Er verfügte über große Geldmittel, war gebildet und ein exzellenter Musiker. Dieser Mann gab an, Zeuge wichtiger, weit zurückliegender historischer Ereignisse gewesen zu sein, die er in genauen Einzelheiten schilderte und dabei sehr gute historische Kenntnisse durchblicken ließ.
Die Pompadour machte ihn mit dem französischen König Ludwig XV. bekannt. Der richtete ihm im Trianon-Schlösschen in Versailles ein Alchemistenlabor ein. Außerdem stellte er dem Grafen von Saint Germain Räume im Loire-Schloss Chambord zur Verfügung, wo dieser unter anderem an neuen Methoden für die Textilfärberei experimentierte. Saint Germain behauptete, Fehler in Edelsteinen beseitigen und kleine Diamanten zu größeren verschmelzen zu können. Er lieferte dem König auch Proben ab, hütete sich aber, in diesem Fall Tricksereien anzuwenden. Anscheinend war Saint Germain auch in der Pharmazie bewandert und behauptete, ein Aqua benedetta zu besitzen, das bei Damen das Altern stoppen konnte. Dies trug sehr zur Beliebtheit des Grafen bei.
Doch die Gunst des Königs schuf ihm auch mächtige Gegner, sodass er schließlich nach London fliehen musste. Saint Germain mied nun eine Weile Frankreich und hielt sich hauptsächlich in den Niederlanden und in Deutschland auf, wo er gerne den Decknamen Welldone benutzte. Später soll er sogar eine wichtige Rolle beim Putsch von Katharina II. 1762 in St. Petersburg gespielt haben.
‚Immer wieder Frauen‘, dachte Suzan. ‚Ob er wohl auch mit der Pompadour oder Katharina seine Spielchen getrieben hat? Vielleicht in dunklen Kutschen?‘
Doch dann schalt sie sich selbst. Nun ging sie doch tatsächlich dem Grafen Manderscheidt auf den Leim und nahm seine propagierte Legende als Tatsache.
‚Das Einzige, was die beiden Männer verbindet‘, sagte sie sich, ‚ist ihr Hang zum Geheimnisvollen und zur Hochstapelei. ‘
Und noch etwas hatten die historische Figur und der zeitgenössische Mann gemeinsam, sie konnten Frauen um den Finger wickeln.
„Saint Germain“, las sie weiter, „spielte in verschiedenen Freimaurerzirkeln eine bedeutende Rolle. 1778 gelang es Saint Germain in Hamburg, die Freundschaft des von Alchemie und Freimaurermythen begeisterten Karl von Hessen-Kassel, dem Statthalter des dänischen Königs in Schleswig, zu erringen. Auf seinem Sommerschloss richtete dieser dem Grafen ein Alchemistenlabor ein, und im nahen Eckernförde gründeten beide eine Seidenfärberei.
Zu seinen zahlreichen chemischen Entdeckungen zählte auch ein goldähnliches Metall. Er nannte es Similor, also similor – ähnlich Gold, auch als Carlsgold beziehungsweise Neu-Platinum bekannt.
„Wer war dieser seltsame Graf?“ las sie auf dem Bildschirm. „Eine Hypothese ist, dass er der Sohn der letzten spanischen Habsburgerkönigin Maria Anna von Pfalz-Neuburg (1667–1740) und eines jüdischen Bankiers in Madrid, Comte Adanero, war, den sie zu ihrem Finanzminister machte. Auch der Saint-Germain-Forscher Charconac plädiert für die Pfalz-Neuburg-Variante und gibt als Vater Jean Thomas Enriquez de Cabrera an, Herzog von Rioseco, elfter und letzter Amirante von Kastilien, mit umfangreichem Besitz in Sizilien.
Saint Germain war vielsprachig – er sprach perfekt italienisch, deutsch, spanisch, portugiesisch, französisch, englisch und las einige tote Sprachen.“
Dann kam ein äußerst interessanter Hinweis: Saint Germain soll einen prominenten Schüler gehabt haben, nämlich den Arzt Franz Anton Mesmer. Mesmer wiederum gilt als Entdecker der Hypnose und Begründer der hypnotischen Behandlung. War der historische Graf etwa in der Lage, psychische Kontrolle über andere Menschen auszuüben? Und hatte er diese Fähigkeit vielleicht an Graf Manderscheidt weitergegeben? Dies würde ihre Willenlosigkeit in seiner Gegenwart erklären. Dann war sie bei diesen sexuellen Eskapaden gar nicht bei Sinnen gewesen, sondern einem Psychoguru aufgesessen?
Sie las dann noch, dass die Zeitgenossen des historischen Grafen behaupteten, er wäre nicht gealtert. Viele Memoirenschreiber wollen ihn noch bis weit ins 19. Jahrhundert gesehen haben. Aber offiziell ist er laut Kirchenbucheintrag am 27. Februar 1784 in Eckernförde gestorben.
Sie klickte sich weiter durch verschiedene Internetseiten und stieß dann auf die Eintragung eines Horace Walpole, der 1745 über die Verhaftung eines Mannes namens Graf von Saint Germain berichtete:
„Er war in den letzten Jahren hier in England, will aber nicht sagen, wer er ist oder woher er kommt. Er gibt an, dass er nichts mit irgendeiner Frau zu tun hat, noch zu tun haben will. Er singt, spielt wundervoll Geige, komponiert, ist verrückt und nicht sehr vernünftig.“
Nun war die Ministerin völlig verwirrt. Sie hatte den Grafen wirklich anders erlebt. Wahrscheinlich waren dieser Saint Germain und der Manderscheidt doch nicht identisch. Und doch, musste sie vor sich zugeben, er hatte keinerlei Anstalten gemacht, selbst zu einer sexuellen Befriedigung zu kommen.
7
Der Graf empfing die Ministerin Bergstoh in seinem Labor. Sie hatte in Wikipedia gelesen, dass der Graf von Saint Germain bekannt für seine naturwissenschaftlichen Experimente gewesen war. Trieb es dieser seltsame Graf bei seiner Imitation des historischen Vorbilds so weit, dass er dessen Forschungen nachahmte?
Sie hatte ein eng anliegendes dunkelblaues Kostüm an, von dem sie wusste, dass es ihr besonders gutstand. Dazu trug sie eine antike Granatbrosche, die einst ihrer Mutter und davor deren Mutter gehört hatte. Die roten Steine bildeten zu dem Blau der Jacke einen faszinierenden Kontrast.
Der Graf hatte die Jacke seines dreiteiligen dunklen Anzugs ausgezogen und stattdessen eine große Lederschürze übergestreift. Die Ärmel seines blütenweisen Hemdes waren bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt. Er war gerade damit beschäftigt, aus einer Flasche mit der Aufschrift „Schwefelsäure“ ein Reagenzglas zu füllen. Er trug keine Handschuhe, sondern benutzte die blanken Finger. Etwas Unaufmerksamkeit, eine unachtsame Bewegung, ein kurzes Zittern und diese Hände, diese magischen Hände, wären verätzt.
Oder war dies etwa eine für sie inszenierte Show? War er rasch, nachdem er von ihrer Ankunft erfahren hatte, in dieses Labor geeilt und hantierte lediglich mit Wasser? War dieser Mann vielleicht der perfekte Selbstdarsteller?
Nachdem der Graf das Reagenzglas abgestellt hatte, trat er mit einem strahlenden Lächeln auf sie zu. Er breitete die Arme aus und rief: „Wie schön, nun sehen wir uns endlich auch einmal bei Tageslicht.“
Dabei sah Suzan Bergstoh eine Tätowierung auf seinem Unterarm. Eine Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt in der Form einer horizontalen Acht, also das Zeichen für Unendlichkeit. Diese Schlange hält ein Adler in den Klauen, der zu sieben Sternen fliegt. Es war ein seltsames Tattoo, aber Suzan dachte nicht weiter darüber nach, sondern wich seiner Umarmung aus und fragte: „Wer sind Sie?“
„Ein Mensch!“
„Und was wollen Sie von mir?“
„Dich!“
„Was heißt das?“
„Ich will dich ganz und gar.“
„Und ich werde nicht gefragt?“
„Du willst es doch auch.“
„Was?“
„Alles!“
„Nein! Bitte lassen Sie mich in Ruhe!“
„Ich kann dich doch nicht unglücklich lassen.“
„Ich bin nicht unglücklich. Ich möchte von Ihnen nicht mehr belästigt werden.“
Mit diesen Worten zog sie den Brillantring vom Finger und legte ihn auf den Tisch. Daneben legte sie die wertvolle Spange, mit der die Orchideen geschmückt gewesen waren, sie hatte sie aus dem Fundus holen lassen. Dann wandte sie sich wortlos zum Gehen.
Sie hörte ihn leise lachen und dann die Worte: „Mädchen, du weißt genau, dass du mir nicht entgehen kannst. Alles, was ich von dir will, willst du doch auch. Sei endlich einmal in deinem Leben ehrlich zu dir selbst!“
Suzan drehte sich um und sah ihm in die Augen.
„Ich sage Ihnen, was ich möchte. Ich möchte nicht von Ihnen vergewaltigt werden.“
„Ich vergewaltige dich nicht. Ich helfe dir lediglich das zu tun, was du in deinem Innersten willst. Ich befreie dein wahres Ich. Dafür solltest du mir danken.“
„Auf diese Hilfe kann ich verzichten. Ja, Sie haben mich schwach erlebt, und Sie haben diese Schwäche ausgenutzt. Doch nun bin ich wieder bei mir selbst. Ich weiß nicht, welche Tricks sie angewandt haben, um mich gefügig zu machen, aber damit ist nun Schluss! Noch einmal: lassen Sie mich in Zukunft in Ruhe!“
„Aber mein liebes Mädchen, es hat dir doch Spaß gemacht.“
„Ich bin nicht Ihr liebes Mädchen. Merken Sie sich das! Nein, es hat mir keinen Spaß gemacht. Es hat mich gedemütigt. Und ich weiß nicht, weshalb Ihnen meine Demütigung Genugtuung verschafft. Ich weiß nicht, welche perversen Absichten Sie noch hegen. Ich bin sicher auch nicht die einzige Frau, an der Sie Ihre Neigungen austoben. Aber mit mir nicht mehr!“
„Habe ich dich etwa zu etwas gezwungen? War nicht alles ganz freiwillig? Habe ich etwa keine Lust auf deinem Gesicht gesehen und aus deinem Mund gehört?“
Darauf wusste Suzan nichts zu antworten. Sie ging und sah sich nicht mehr um.
In ihrem Dienstwagen mit dem vorausfahrenden Polizeiauto hatte sie Zeit zum Nachdenken. Sie bat den Fahrer, das Telefon abzustellen und schaltete auch ihr Blackberry aus.
Hatte sie eben richtig gehandelt? Die Warnung der Kanzlerin klang ihr zwar noch im Ohr, aber sie hatte keine Angst vor seinem Einfluss. Nun gut, dann sollte er ihr eben Schwierigkeiten machen. Sie würde das schon überstehen. Aber sie würde sich nicht für ihren Job prostituieren. Das kam nicht infrage.
Seine Hände fielen ihr ein. Diese außergewöhnlichen Hände, mit denen er eben noch das Reagenzglas gehalten hatte. Diese Hände waren so ungeheuer erotisch. Plötzlich sehnte sie sich nach der Berührung durch diese Hände. Nach ihrem Auftritt eben würde sie diese Hände nie wieder spüren. Ein Schmerz durchzuckte sie. Vielleicht hatte sie überreagiert, falsch gehandelt?
Sie erinnerte sich an die erste Nacht in dieser Stretch Limousine. Was war das Auto überhaupt für eine Marke? Ein Lincoln?
Unter diesen Händen hatte sie sich völlig geborgen gefühlt. So geborgen, dass sie sich hatte hingeben können. Das hatte sie noch nie zuvor in ihrem Leben erlebt.
Mit aller Macht versuchte sie, diese Gedanken zu verdrängen. Sie dachte an ihre nicht erledigten Aufgaben, an die morgige Pressekonferenz, die Besprechung mit den Umweltschutzgruppen. Sie wusste, in der Verfassung, in der sie war, würde sie das alles nicht durchstehen.
Dann dachte sie an Simon, ihren Mann. Sie kannten sich bereits über fünfzehn Jahre. Sie hatten viel miteinander erlebt. Aber wirklich erregt hatte er sie nie. Da waren natürlich auch noch andere Männer gewesen. Sie hatten ihrem Selbstwertgefühl geschmeichelt, und sie hatte auch Sex mit ihnen gehabt. Aber nie war es so intensiv gewesen wie im Auto des Grafen. Dieser Mann weckte irgendetwas Verborgenes in ihr. Ließ etwas zum Durchbruch kommen, was sie bisher unterdrückt und kontrolliert hatte.
Wie hatte er gesagt: „Ich helfe dir lediglich das zu tun, was du in deinem Innersten willst. Ich befreie dein wahres Ich.“
Woher konnte er ihr wahres Ich kennen? Woher konnte er wissen, was sie wirklich wollte? Dies war eine dieser typischen männlichen Anmaßungen. Männer glauben immer zu wissen, was für Frauen gut ist. Dabei sind sie so dumm und ignorant. Sie gehen immer nur von sich selbst aus. Sie hatte noch keinen Mann getroffen, der sich in sie hätte hineinversetzen können. Stets wollten sie immer und immer wieder nur das Gleiche: sie penetrieren.
‚Nein, das ist viel zu harmlos ausgedrückt‘, dachte sie. ‚Männer denken nicht so gewählt, Männer sind vulgär, sie gebrauchen keine Worte wie penetrieren. Sie wollen ihren Schwanz in mich hineinstecken, und dann glauben sie, dass sie mich damit glücklich machen. Sie gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass ich die gleiche Lust wie sie empfinde. Welch‘ eine Ignoranz! Männer sind so grenzenlos dumm! ‘
Zumindest hatte sie es sich abgewöhnt, ihnen den Gefallen zu tun, und beim Sex etwas vorzuspielen.
Aber der Graf hatte bisher keinen Versuch in dieser Richtung unternommen. Und tatsächlich hatte sie bei ihm zum ersten Mal in ihrem Leben wirkliche Lust verspürt. Was war eigentlich so schlimm an dem, was sie getan hatte? Hatte sie kein Anrecht auf Lust? Warum sollte sie sich schämen?
Die Wagenkolonne war vor dem Ministerium angekommen und das Blaulicht wurde ausgeschaltet. Ihr Fahrer sprang aus dem Wagen und hielt ihr die Tür auf.
Im Büro war die Sekretärin schon ganz aufgeregt. Es hatte eine Fülle von Anrufen gegeben, darunter sehr dringliche und wichtige. Die Rückrufliste, die es nun abzuarbeiten galt, war lang. Auch ihr Mann hatte angerufen. Mit ihm ließ sie sich zuerst verbinden.
„Was willst du?“ fragte sie kurz angebunden.
„Ich habe Theaterkarten besorgt und möchte dich anschließend zum Essen einladen.“
Wut stieg in ihr hoch. Er wusste doch, dass er mit einer Spitzenpolitikerin verheiratet war, und dass sie sich nicht einfach so mir nichts dir nichts einen Abend freinehmen konnte. Sie war keine Sachbearbeiterin und auch keine Lehrerin. Sie war Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit der Bundesrepublik Deutschland. Und das sagte sie ihm auch und spürte, dass er beleidigt war.
„Aber gestern Abend bist du doch auch früh nach Hause gekommen“, wandte er ein.
„Gestern war gestern und heute ist heute! Abgesehen davon, dass ich gestern auch wieder wegmusste.“
Er antwortete nicht, und so schwiegen beide eine Weile. Endlich wurde es ihr zu viel: „Du weißt ganz genau, dass ich es nicht mag, wenn du diese Kleinkind-Tour abziehst. Mama ich bin so allein. Mama kannst du mich nicht ins Bett bringen.“ Sie verstellte die Stimme und äffte ein kleines Kind nach.
„Nun gut“, antwortete er daraufhin. „Wie du willst. Ich wollte uns beiden nur etwas Gutes tun. Aber du hast Recht! Jeder von uns sollte seiner eigenen Wege gehen, ohne an den anderen viele Gedanken oder gar Gefühle zu verschwenden.“
Damit legte er auf.
Suzan starrte noch eine Weile auf den Hörer. Sie hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen. So hätte sie ihn nicht abfertigen dürfen. Das wusste sie. Er hatte es doch nur gut gemeint. Aber sie empfand Simon seit einiger Zeit wie einen Klotz am Bein.
Bewusst hatte sie bisher keine Kinder zugelassen, obgleich über das Warum in allen Klatschspalten gerätselt worden war. Nein, auf ein Kind konnte sie sich in ihrem Leben nicht konzentrieren. Es wäre verantwortungslos gewesen, wenn sie ein Kind in diese Welt gesetzt hätte.
Aber wenn sie sich schon kein eigenes Kind gönnte, dann brauchte sie gewiss auch kein großes Kind, keinen Mann, der an ihrem Schürzenzipfel hing. Wann begriff Simon das endlich?
Dann stürzte sie sich in die Arbeit, studierte Vorlagen, lehnte Anträge ab und machte sich Gedanken über die große Rede, die sie in acht Tagen im Bundestag halten musste. Zwei Referenten hatten ihr einen Entwurf geschickt, der ihr jedoch nicht gefiel.
Um sechs Uhr ließ sich noch Doktor Gültner melden. Es war ihr parlamentarischer Staatssekretär und damit ihr Stellvertreter und beinahe genauso mächtig wie die Ministerin.
‚Nein, mächtiger‘, entschied sie für sich selbst.
8
In dieser Nacht kam sie spät nach Hause. Eine Delegation aus ihrem Wahlkreis war nach Berlin gekommen. Die Ministerin hatte es sich nicht nehmen lassen, persönlich den Abend mit den Leuten zu verbringen. Es waren der Chef der Landesgruppe, Ortsvereinsvorsitzende, deren Stellvertreter und Stellvertreterinnen und andere Leute, die dort eine wichtige Rolle spielten, wo man das Kreuzchen auf dem Wahlschein zur Landtagswahl für sie gemacht hatte.
Die Leute hatten für sie gekämpft, hatten Plakate geklebt, Stunden an Informationsständen in den Fußgängerzonen verbracht, am Abend Flugblätter ausgetragen, heiß diskutiert und ihrer Hand für sie, ihre Kandidatin, ins Feuer gelegt. Ohne diese Menschen wäre die Ministerin niemals in das Ministeramt gelangt. Sie hatte ihnen viel zu verdanken. Die Leute wussten das auch und forderten nun diese Dankesschuld ein. Von den gewählten Abgeordneten verlangt der Wahlkreis eine Art von Demut.
Natürlich wurde auch erwartet, dass die Ministerin persönlich zum Telefonhörer greift, wenn in ihrem Wahlkreis Hilfe von höherer Stelle nötig sein sollte. Sei es, dass der Sohn des Landesgruppenchefs eine Assistentenstelle bei einem Bundestagsabgeordneten anstrebt, sei es, dass die Kommune, in der ihre Partei die Mehrheit hat, Probleme mit der Gewerbesteuer bekommt, oder wenn beim Kampf um abgelehnte Zuschüsse für den Straßenbau eine Intervention nötig wird.
Das Wichtigste aber ist die regelmäßige Präsenz im Wahlkreis, sowie die Betreuung von Delegationen, wenn die schon mal den Weg nach Berlin finden. Die Volksvertreter sind für vier Jahre gewählt und wollen doch sicher noch einmal für vier Jahre gewählt werden. Es ist eine Symbiose. Die Abgeordneten brauchen den Wahlkreis, und der brauchte sie. Das war das Kleingedruckte in dem ungeschriebenen Vertrag der Parteimitglieder untereinander.
Morgen würde die Gruppe durch das Ministerium und anschließend durch das Bundeskanzleramt geführt werden. Auch eine Stadtführung war geplant und die Besichtigung des Bundestages. Dies alles und ganz besonders die Bewirtung des heutigen Abends musste natürlich bezahlt werden. Die Parteifreunde erwarteten, dass man sie freihielt. Aber dafür gab es ja einen Bewirtungs-Fond, über den jeder Minister verfügen konnte. Er war zwar nicht für die Wahlkreispflege gedacht, denn die gehörte nicht zu den offiziellen Aufgaben eines Ministers. Streng genommen war der Einsatz dieser Mittel für Besuche von Parteifreunden illegal. Aber alle setzten den Fond dafür ein, und deshalb tat die Ministerin das Gleiche und dachte nicht weiter darüber nach.
Zwei ihrer Referenten hatten sie begleitet, und einer hatte auch die Rechnung mit der offiziellen Kreditkarte bezahlt.
Am nächsten Morgen wartete ein Team von „RTL Explosiv“ vor ihrem Ministerium auf sie. Als sie aus dem Wagen stieg, wurde sie sogleich umringt. Eine Reporterin hielt ihr ein Mikrofon unter die Nase und fragte unschuldig: „Frau Minister, ich hoffe, Sie haben gestern einen schönen Abend verbracht?“
Suzan Bergstoh lachte und antwortete: „Aber gewiss! Es ist immer schön, einen Abend mit Freunden zu verbringen“
Und dann kam die Bombe: „Frau Minister, lassen Sie sich Ihre Abende mit Freunden immer vom deutschen Steuerzahler bezahlen?“
„Ich weiß nicht, was Sie meinen?“
Die Stimme der Journalistin wurde schärfer. Man hörte ihr die Empörung an: „Wer hat denn die Rechnung gestern Abend bezahlt? War das nicht Ihr Referent?“
Mit einem Schlag wurde es der Ministerin heiß und kalt. Sie sah die Falle, in die sie gelockt werden sollte.
„Natürlich hat er dies in meinem Auftrag und mit meinem Geld gemacht.“
„Mit Ihrem Geld? Wurde nicht vielmehr eine dienstliche Kreditkarte eingesetzt?“
„Dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Ich gehe davon aus, dass alles seine Richtigkeit hat. Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Auf mich wartet viel Arbeit.“
Die Journalistin mit ihrem Mikrofon und der Kameramann rannten noch bis zur Eingangstür neben ihr her, aber sie ließ sich zu keinem weiteren Statement verführen. Noch im Fahrstuhl zücke sie ihr Blackberry und bestellte beide Referenten zu sich ins Büro.
Vor ihren Diensträumen wartete bereits ihr Büroleiter auf sie. Er hieß Doktor Friedrich Brauer und war so etwas wie das Herz des Ministeriums. Während die Ministerin hauptsächlich repräsentierte und die Arbeit ihrer Behörde nach außen vertrat, bereitete er die Entscheidungen vor und setzte sie auch durch. Er war verantwortlich für das Personal und die ordnungsgemäßen Abläufe im Ministerium.
‚Was würde ich nur ohne Doktor Brauer anfangen‘, fragte sich die Ministerin täglich, seit sie das Amt übernommen hatte.
Suzan Bergstoh war fest entschlossen, die Ausgaben des gestrigen Abends sofort an die Regierungskasse zu überweisen, um jeglichen Angriffen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Doch dies erwies sich als nicht so einfach.
Ihr Büroleiter erklärte ihr, dass dazu bürokratischer Aufwand erforderlich wäre. Es bedürfe nämlich einer Sollstellung, einer Rechnung und eines Kassenzeichens. Würde sie einfach das Geld überweisen, so könnte es in der Kasse nicht zugeordnet werden. Eine Rücküberweisung wäre unvermeidlich. Aber er wolle sich darum kümmern, dass der verwaltungstechnische Aufwand so rasch wie möglich über die Bühne ginge.
Inzwischen waren auch die beiden Referenten erschienen, und zu viert erörterten sie nun lang und breit die Fragen: Wer hat geplaudert? Wer hat den Zahlvorgang gesehen? Was war da eigentlich los?
Sie waren noch intensiv in der Diskussion, als ein Anruf von RTL kam mit dem Hinweis auf die folgende Nachrichtensendung und der Bitte um ein anschließendes telefonisches Statement. Mit ungutem Gefühl sagte die Ministerin zu.
‚Es handelt sich um eine Lappalie‘, versuchte sie sich zu beruhigen. ‚Ich habe nichts Unübliches gemacht. Aus so einer Kleinigkeit kann man mir keinen Strick drehen. In zwei Tagen redet kein Mensch mehr darüber. Die Journalisten müssen ganz einfach wieder einmal demonstrieren, dass sie investigativ arbeiten und die alten Prinzipien der Branche noch hochhalten. ‘
Eine versehentlich mit einer falschen Kreditkarte bezahlte Rechnung war doch keine gute Story. Bergstoh war sich da ganz sicher. Dann kamen die RTL-Nachrichten. Inzwischen waren der Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit und ihr Pressereferent zu der kleinen Gruppe gestoßen. Man saß im Ministerzimmer im Kreis um den großen Flachbildschirm.
„Ein krasser Fall von Betrug am Steuerzahler“, sagte der Anchorman bei seiner Anmoderation. Bergstohs Abendessen war der Hauptaufmacher der Sendung.
Der Beitrag begann mit der Außenansicht des leeren Lokals, in dem gestern Abend das Zusammensein stattgefunden hatte.
„Hier“, so kam der Ton aus dem Off, „fand gestern Nacht ein rauschendes Fest statt. Ministerin Bergstoh gab eine Party für die Leute, denen sie ihr Amt zu verdanken hat und auf deren Unterstützung sie auch weiterhin hofft.“
Ein Bild von Suzan Bergstoh wurde groß eingeblendet.
„Und diese Unterstützung wird die umstrittene Ministerin auch nötig haben. Kleine Geschenke schaffen Freunde, heißt es, und nach diesem Grundsatz hat Suzan Bergstoh bei ihren Parteifreunden auch gehandelt. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn für diese Geschenke nicht der deutsche Steuerzahler zur Kasse gebeten worden wäre.“
Nun klingelte das Telefon. Die zuständige Redakteurin war in der Leitung und teilte mit, dass man die Ministerin gleich live zuschalten werde.
„Bezahlt hat nämlich ein Mitarbeiter dieser spendablen Ministerin und zwar mit der offiziellen Kreditkarte des Ministeriums.“
In Großaufnahme erschien der Buchungsbeleg auf dem Bildschirm. Dann kam ein Interview mit dem zuständigen Kellner, der erklärte, an diesem Abend sei das Beste gerade gut genug gewesen. Den Höhepunkt des Berichts aber bildeten Interviews mit zwei bewirteten Gästen aus dem Wahlkreis, die treuherzig in die Kamera sagten: „Also, ich bin davon ausgegangen, dass uns die Suzan persönlich eingeladen und auch alles selbst bezahlt hat. Wenn ich gewusst hätte, dass alles auf Staatskosten geht, hätte ich diese Einladung niemals angenommen.“
Suzan Bergstoh war es im Verlauf der Sendung immer heißer geworden. Aber als sie ihre Parteifreunde hörte, packte sie die kalte Wut.
‚Diese Heuchler! ‘ dachte sie.
Doch sie konnte nicht länger über diese Infamie nachdenken, denn nun sagte der Anchorman: „Wir wollten die Frau Minister natürlich zu dem Vorfall befragen. Aber sie zog es vor, vor uns davonzulaufen. War es etwa das schlechte Gewissen, dass Suzan Bergstoh getrieben hat?“
Nun kamen die Filmaufnahmen vom Morgen.
„Doch inzwischen hat sich die Ministerin eines Besseren besonnen und will uns Rede und Antwort stehen. Wir haben sie jetzt am Telefon. Frau Minister, ich hoffe Sie hatten gestern einen vergnüglichen Abend und heute keinen schweren Kopf?“
Suzan versuchte so ruhig und gelassen, wie möglich zu antworten.
„Danke der Nachfrage, es geht mir ausgezeichnet.“
„Es freut uns, dies zu hören.“ Die Stimme des Moderators triefte vor Ironie. „Dann können Sie uns ja im Vollbesitz Ihrer Sinne in aller Ruhe erklären, ob Sie für Ihre Gäste immer den Steuerzahler aufkommen lassen?“
„Ich zahle natürlich auch den gesamten gestrigen Abend. Das ist doch selbstverständlich. Ich hatte nur meine Kreditkarte vergessen, deshalb musste vorübergehend dienstlich abgerechnet werden. Doch im Lauf des Vormittags ist alles an die Regierungskasse zurückgezahlt worden. Das ist doch eine Selbstverständlichkeit.“
„Nun, Sie haben es halt nur versucht, auf Kosten des Steuerzahlers zu feiern. Ob sie wenigstens jetzt, nachdem wir den Fall aufgegriffen haben, so anständig sind und alles zurückerstatten, wird sich überprüfen lassen“, sagte der Mann, „wir bleiben dran, darauf können Sie sich verlassen.“
War dies nun eine Drohung oder ein Versprechen an die Zuschauer?
Als der Fernsehapparat wieder abgeschaltet war, herrschte Totenstille im Amtszimmer.
„Frau Minister“, sagte endlich der Leiter der Öffentlichkeitsabteilung, „Sie haben ein Problem!“
9
Die nächsten Tage waren hektisch, und Suzan hätte sie später gern aus ihrem Leben gestrichen. Obgleich sie die Zeche umgehend zurückgezahlt hatte, wurde sie von den Medien als Diebin oder etwas noch Schlimmeres behandelt. Wie die Geier stürzten sich alle auf sie. Sie wurde mit bekannten und berüchtigten Betrügern, vor allem mit einem ehemaligen Bundespräsidenten, den man auch auf diese Weise abgeschossen hatte, in einen Topf geworfen und an ihr die sinkende Moral in der Politik und das mangelnde Verantwortungsbewusstsein der Politiker dingfest gemacht.
Das Kesseltreiben und die Hetzjagd der Medien waren sogar noch zu ertragen. Am Schlimmsten war für Suzan aber die Einsamkeit. Plötzlich schien sie niemand mehr zu kennen. Man ging ihr aus dem Weg, so als habe sie die Krätze und man wolle sich nicht anstecken. Auch die Kanzlerin schwieg, sowohl in der Öffentlichkeit als auch intern. Als Bergstoh einen Termin bei ihrer Chefin wollte, wurde sie abgewimmelt. Leider sei die Bundeskanzlerin unter ungeheurem Zeitdruck. Sobald sich aber eine Möglichkeit böte, werde man auf die Frau Minister sogleich zukommen.
Berlin ist eine Schlangengrube, das wusste Suzan schon lange. Doch nun erfuhr sie es am eigenen Leib. Mit dem Chef des Bundespresseamtes hatte sie mehrere Termine. Schließlich musste der auf der Bundespressekonferenz zu dem Vorfall Stellung nehmen. Er war höflich, aber Suzan war sich im Klaren, dass sie in ihm keine Unterstützung hatte.
So, wie es aussah, war ihre Karriere am Ende, und dies wegen eines derart banalen Vorfalls. Sie hätte sich vor Wut selbst ohrfeigen mögen.
Ein paar Tage später, ihre Affäre beruhigte sich nicht, sondern kochte höher und höher, meldete die Sekretärin, Graf Manderscheidt sei am Telefon und wolle die Ministerin sprechen.
Unwillige befahl sie: „Stellen Sie durch.“
Bevor der Anrufer ein Wort sagen konnte, fauchte sie schon: „Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe. Habe ich mich bei meinem Besuch neulich nicht deutlich genug ausgedrückt?“
„Suzan, ich rufe an, weil du Hilfe brauchst.“ Es war diese tiefe, ruhige, angenehme Stimme.
„Ich brauche keine Hilfe.“
„Doch du steckst in Schwierigkeiten. Man muss nur die Nachrichten hören und lesen.“
„Sie meinen diese Bewirtungs-Affäre? Das ist eine Lappalie. Bald wird niemand mehr darüber reden. Ich bin mir auch keiner Schuld bewusst.“
„Ob du dir etwas bewusst bist oder nicht, darauf kommt es nicht an. Eine Petitesse ist es sicherlich. Aber dennoch brauchst du meine Hilfe. Du hast eine Menge wichtiger Leute gegen dich aufgebracht.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Glauben Sie etwa, Sie bekommen mich wieder zu Ihren Perversitäten herum, wenn Sie in Panik machen? Nein, ich habe keine Angst. Und nun lassen Sie mich bitte zufrieden. Ich habe zu tun!“
„Suzan, du weißt doch gar nicht, in welchen Schwierigkeiten du tatsächlich steckst. Diese Bewirtungskiste ist doch nur der Anfang. Die wollen dich fertigmachen. Die wollen, dass du zurücktrittst. Ist dir das noch immer nicht klar?“
„Und warum, bitteschön, sollten die Leute das wollen? Und wer, bitteschön, sollen diese Leute sein? Und was, bitteschön, haben Sie damit zu tun.“
„Oh, das sind eine Menge Fragen. Die möchte ich nicht am Telefon beantworten. Wenn du willst, können wir uns treffen. Rufe mich an. Ich habe meine Telefonnummer deiner Sekretärin gegeben. Jetzt nur so viel, du hast auf einer Veranstaltung gesprochen, auf der du nicht hättest auftauchen sollen. Es war ein Symposium, und es war töricht von dir.“
Ohne ein weiteres Wort legte der Graf auf, und Suzan starrte auf den toten Telefonhörer.
Sie begann, nachzudenken. Was hatte er gemeint? Auf welches Symposium hatte er angespielt? Und plötzlich erinnerte sie sich. Es war vor vier Wochen gewesen.
Ihr Referent, Doktor Lohwitz, war in ihr Zimmer gestürzt. Er war sehr aufgeregt gewesen.
„Frau Minister“, hatte er schon in der Tür gerufen, „ich habe eben erfahren, dass Sie auf dem Symposium ‚Wege zu einer lebensfreundlichen Welt‘ die Eröffnungsrede halten wollen.“
Sie hatte ihn verwundert angesehen, wie er sich erschöpft auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch hatte fallen lassen.
„Na und? Wo ist das Problem?“
„Sie müssen unbedingt absagen.“
„Und warum?“
„Dort tritt ein CO2-Leugner auf.“
Er spuckte dieses Wort mit der gleichen Verachtung aus, wie er wohl Kinderschänder, Massenmörder oder Brandstifter sagen würde.
„Was meinen Sie damit?“
„Die Veranstalter lassen auch den Schmidt eine Rede halten. Man hat Ihnen zwar schon sämtliche Zuschüsse gestrichen, aber sie wollen diesen Schmidt dennoch nicht ausladen.“
Bergstoh verstand noch immer nicht: „Wer ist dieser Schmidt?“
Man sah dem Mann an, was er von der Ignoranz seiner Chefin hielt: ‚Und so jemand ist Umweltministerin!‘
Doch dann bequemte er sich zu einer Erklärung: „Professor Josef Schmidt ist Physiker, hat sich aber inzwischen auf Klimaforschung spezialisiert. Eine Zeit lang war er recht angesehen und wurde schon in jungen Jahren zum Außerordentlichen Professor ernannt. Doch dann begann er durchzudrehen. Er wollte einen Artikel in ‚Nature‘ veröffentlichen, in dem er bezweifelte, dass die Klimaerwärmung allein auf das von Menschen produzierte CO2 zurückzuführen sei. ‚Nature‘ hat den Beitrag natürlich abgelehnt, aber es hat sich herumgesprochen, dass Schmidt ins Lager der CO2-Leugner gewechselt ist. Man hat ihm daraufhin den Geldhahn zugedreht und seine Fördergelder gestrichen. Doch glauben Sie, der Mann ist zur Vernunft gekommen? Nein. Er hat den Aufsatz doch noch in irgendeiner obskuren Zeitschrift publiziert.“
„Und was ist dran an seinen Argumenten?“ Die Ministerin verstand die Aufregung noch immer nicht.
Ihr Referent sah sie an, als habe sie den Verstand verloren: „Das weiß ich nicht. So einen Unsinn lese ich nicht.“
„Ich soll zwar nur die Eröffnungsrede halten, also mehr ein Grußwort, aber mich würden die Argumente dieses Professor Schmidt schon interessieren. Man muss schließlich wissen, welche Thesen in der Welt sind, schon um sich gegen sie wappnen zu können. Es handelt sich doch um ein Symposium und keine Festveranstaltung. Auf Symposien sollen doch konträre Meinungen ausgetauscht werden.“
Suzan sah dem Mann an, dass es ihm schwerfiel, einen respektvollen Ton gegenüber seiner Chefin beizubehalten.
„Würden Sie auch eine Veranstaltung eröffnen, zu der man einen Holocaustleugner eingeladen hat?“
„Natürlich nicht, das ist doch nicht zu vergleichen. Sie sollten darüber keine Witze machen.“
Der Mann war so erregt, dass er, ohne um Erlaubnis zu fragen, nach der Sprudelflasche für Besucher griff und sich einschenkte. Gierig trank er ein Glas leer, bevor er antwortete: „Aber ich mache keine Witze. Sie können nun mal kein Symposium durch Ihre Anwesenheit adeln, auf dem ein CO2-Leugner zu Wort kommt. Schließlich sind Sie die Ministerin für Umweltschutz in diesem Land.“
„Ist es nicht unanständig, Holocaust und Kohlendioxid miteinander zu vergleichen?“
Blister schüttelte erregt den Kopf.
„Sie scheinen die ganze Dimension der Problematik nicht zu überblicken. Es ist sogar schon die Forderung gestellt worden, die CO2-Leugnung unter Strafe zu stellen, ebenso wie die Leugnung des Holocaust.“
„Moment! Es soll also verboten werden, hypothetische Klimamodelle aus dem Computer infrage zu stellen?“
„Es gilt als eine Tatsache, und an der darf nicht gerüttelt werden. Die Erde erwärmt sich und dafür ist allein der CO2-Ausstoß, den wir Menschen mit unserer Zivilisation verursachen, verantwortlich.“
„Und damit basta?“ fragte sie ironisch.
„Und damit basta!“ hatte er ernst geantwortet.
Suzan wusste nicht mehr, welcher Teufel sie damals geritten hatte. Natürlich hatte ihr Referent recht gehabt. Aber sie war trotzig und stur geblieben und hatte sich geweigert, ihre Teilnahme rückgängig zu machen. Und nun hatte sie die Quittung bekommen.
In einem waren sich die Atomlobby, die Umweltschutzverbände, die Windkraft- und Solarenergielobby, die Ökofreaks aber auch alle Politiker einig, der Feind hieß CO2. Mit dem Hinweis auf diesen Feind ließ sich jede Investition oder Maßnahme, und seien sie noch so unsinnig, jedes schwachsinnige Gesetz, wie zum Beispiel das Verbot von Glühbirnen, ja sogar der weltweite Emissionshandel rechtfertigen. Bei der CO2-Problematik ging es um unendlich viel Geld und niemand wagte inzwischen noch zu widersprechen, wenn das Totschlagargument, CO2-Emission, fiel. Und sie, die frisch gebackene Umweltministerin, Doktor Suzan Bergstoh, war in diese Falle getappt, hatte sich mit Kreisen angelegt, deren Einfluss so groß war, dass selbst sie als zuständige Ministerin ihn nicht überblicken konnte.
Sie war zu dem Symposium gefahren und nach ihrer Eingangsrede sogar noch geblieben, um das Referat von diesem Professor Schmidt zu hören.
Er hatte ganz vernünftig gesprochen, auf die Probleme der derzeitigen Klimamodelle hingewiesen und erläutert, dass das meiste CO2 nicht von der Menschheit produziert wird, sondern natürlichen Ursprungs ist. So sondert ein Vulkan jährlich mehr CO2 ab, als mehrere Großstädte zusammen. Er erwähnte die in der Erde brennenden Kohleflöze in China, die man nicht löschen kann, und vieles mehr. Schmidt rief in Erinnerung, dass die Erde bisher auch ohne menschliches Einwirken immer wieder Wärme- und Kälteperioden durchgemacht hat.
Nachdem er geendet hatte, gab es nur dünnen Applaus. Dennoch verbeugte er sich tief. Er schien diese Reaktion gewöhnt zu sein.
Vor seinem Vortrag hatte sich bereits der Diskussionsleiter von ihm distanziert. Natürlich seien die Thesen des Kollegen höchst fragwürdig und hielten einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Fraglos könnten derartige Thesen, wenn sie an die Öffentlichkeit gelangten, die Menschen verunsichern. Weshalb er der Meinung sei, der Beitrag von Professor Schmidt solle nicht im Kolloquiums-Reader publiziert werden. Doch im Sinne der wissenschaftlichen Neutralität und der Freiheit von Forschung und Lehre habe man auch dem Kollegen Schmidt die Möglichkeit geben wollen, seine - wenn auch fragwürdigen -Thesen vorzutragen.
Als die Ministerin mit ihrem Stab - den Referenten, den Sicherheitsleuten, einigen Honoratioren und den Gastgebern - zu ihrem Wagen eilte, tauchte plötzlich dieser Schmidt auf und stellte sich der Korona demonstrativ in den Weg. Suzan Bergstoh kam nicht umhin, ihm die Hand zu schütteln.
Wie ihr sein Vortrag gefallen habe, wollte er wissen.
Sogleich eilte einer ihrer Referenten herbei und wies auf den Zeitdruck hin. Man müsse unverzüglich losfahren, wenn man den nächsten Termin noch schaffen wolle.
Aber Suzan Bergstoh gefiel dieser Schmidt. Er war nicht besonders groß und etwas füllig, hatte aber ein verschmitztes Gesicht und eine sympathische Stimme. Deshalb ging sie nicht auf die Rettungsversuche ihres Referenten ein, sondern sah dem Professor offen ins Gesicht und sagte: „Sie vertreten sehr seltsame Thesen!“
„Inwiefern?“
„Sie stehen konträr zu allen Wissenschaftlern, die ich kenne.“
„Darf ich Anatole France zitieren? ‚Auch, wenn fünf Millionen Menschen eine Dummheit sagen, so bleibt es dennoch eine Dummheit‘.“ Sie hörte deutlich den Schalk in seiner Stimme.
„Haben Sie noch nie von der Schwarm-Intelligenz gehört?“ antwortete sie daraufhin ebenso spöttisch.
Doch so leicht ließ sich der Professor nicht aus der Ruhe bringen: „Sie glauben an die Intelligenz des Schwarms? Nun, da sich der Schwarm der Fernsehzuschauer in erster Linie für die privaten Sender entscheidet, senden die wohl die Programme, die die Menschheit voranbringen. Aber zehn Millionen Fliegen könne nicht irren – hier lasst uns zelten!“
Das war schlagfertig pariert. Langsam machte Suzan das Gespräch Spaß. Obgleich der Referent mehr und mehr drängte, antwortete sie lächelnd: „Sie sind zynisch und eingebildet, wenn Sie glauben, als Einziger die Wahrheit zu wissen.“
„Ich bin nur einer von vielen, der sich Gedanken macht. Aber im Gegensatz zu Ihrem Schwarm weiß ich zumindest, wie wenig wir wissen.“
„Wow“, sagte die Ministerin, „Sokrates lässt grüßen. Es ist doch immer schön, wenn man sich hinter einem Philosophen verstecken kann. Aber wahrscheinlich glauben Sie ebenso wie der liebe Sokrates, der mit seinem Nichtwissen doch nur kokettiert hat, dass Sie die Wahrheit kennen. Sind Sie auch bereit, wie Sokrates den Schierlingsbecher zu trinken? Darum werden Sie wohl nicht herumkommen, wenn Sie weiterhin gegen den wissenschaftlichen Strom schwimmen.“
Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und eilte mit raschen Schritten zu ihrem Wagen.
Die Umweltministerin hatte als Dienstwagen einen Audi A8 mit 326 PS. Der Wagen schwebte über die Straße, und Bergstoh versuchte sich zu entspannen. Sie dachte über das Gespräch nach und stellte erneut fest, dass ihr dieser Professor gefiel. Deshalb reagierte sie etwas unwirsch, als ihr Referent sagte: „Vielleicht wäre es besser gewesen, gleich loszufahren und dieses Gespräch zu vermeiden.“
„Wie meinen Sie das?“
„Ich bin sicher, dass Ihr Verhalten genau beobachtet wurde und nun den betreffenden Leuten berichtet wird.“
„Ich habe niemanden gesehen. Im Gegenteil fand ich Ihre Bemühungen, das Gespräch mit dem Professor zu verhindern, unhöflich und peinlich.“
Der Referent antwortete nicht. Erst nach einer Weile sagte er: „Ich habe auf jeden Fall mein Möglichstes getan, um das Schlimmste zu verhindern.“
Und dieser läppische Vorfall sollte dieses Erdbeben ausgelöst haben? Suzan Bergstoh wollte es nicht glauben.
Dabei hatte dieser Schmidt den Klimawandel und damit die Erderwärmung doch sogar zugegeben. Er hatte auch nicht geleugnet, dass CO2 dabei eine Rolle spielt. Allerdings hatte er die Klimakatastrophe nicht ausschließlich auf das von Menschen produzierte CO2 zurückgeführt, und er hatte die gängigen Klimamodelle angezweifelt und sie lediglich als unbewiesene Hypothesen bezeichnet. Diese ganze Angelegenheit war künstlich hochgespielt worden und würde sich schon wieder in Ordnung bringen lassen. Da war sich die Ministerin sicher.
Als sie sich die Post vornahm entdeckte sie die Versetzungsgesuche ihrer beiden Referenten, die von der Ministerin abgezeichnet werden mussten, bevor sie auf dem Dienstweg weitergeleitet werden konnten. Sie ließ die beiden rufen und fragte nach den Gründen. Ob sie eine schlechte Chefin sei? Ob der Job bei ihr keinen Spaß mache?
Die beiden waren etwas verlegen und meinten, sie wollten noch andere Ministerien kennenlernen. Nein, sie hätten nichts gegen die Frau Minister ganz im Gegenteil.
Während die Männer herumdrucksten, wurden Suzan plötzlich die Hintergründe für deren Verhalten klar. Die beiden Referenten wollten nicht mit ihr untergehen. Die Ratten verließen das sinkende Schiff. Wahrscheinlich musste sie ab jetzt mit einer Flut derartiger Gesuche rechnen. Und es war ja auch verständlich, dass die jungen Leute auf ihre Karriere achteten. Später würde schließlich gefragt: ‚Wo kommen Sie her? Ach, von der geschassten Bergstoh! Na, das ist ja wohl keine Empfehlung. ‘
Suzan befürwortete die Versetzung. Als sie unterschrieb, krampfte sich ihr Herz zusammen. Was würde wohl aus ihr selbst werden?
Sie hatte inzwischen die Bankenkrise aus den Schlagzeilen verdrängt. Die Zukunft der Währung war scheinbar nicht so wichtig wie der Kreditkartenmissbrauch einer Ministerin. Alle verlangten, sie solle endlich reinen Tisch machen, die Öffentlichkeit aufklären. Doch da gab es nichts aufzuklären. Was sollte sie noch zu dem banalen Vorfall sagen? Ihr Bedauern hatte sie doch schon mehrfach bekundet. Dennoch ging die Hetzjagd der Medien weiter. Inzwischen machte die Bild-Zeitung Andeutungen, sie habe neue Flecken auf der gar nicht so reinen Weste der Ministerin entdeckt und wolle sie in den nächsten Tagen veröffentlichen. Suzan konnte sich zwar nicht vorstellen, worauf die Zeitung anspielte, aber allein bei dem Gedanken an die bevorstehende Veröffentlichung brach ihr der kalte Schweiß aus.
Am späten Nachmittag schließlich ließ sich ihr Mann Simon anmelden. Erstaunt über den Besuch bat sie ihn herein.
Sie hatte in all dem Trubel der letzten Tage wenig an ihn gedacht. Wenn sie nach Hause gekommen war, lag er schon im Bett und schlief. Und sie hatte andere Dinge im Kopf, als sich um diesen Mann zu kümmern. Schon allein der Gedanke an Sex mit ihm war ihr unangenehm. Sie konnte ihn im wahrsten Sinn des Wortes nicht mehr riechen.
Und nun tauchte er plötzlich hier im Büro auf. Er wusste doch, dass sie derartige Besuche nicht mochte. Dienstliches und Privates sollten nicht vermischt werden. Außerdem hatte sie jetzt weder Zeit noch Muse für private Dinge. Das Private musste in so einer Situation einfach zurückstehen.
Ärgerlich bat sie Simon, Platz zu nehmen und beauftragte die Sekretärin, sie bei den eingeplanten und wartenden Besuchern zu entschuldigen und um Verständnis zu bitten. Es würde nicht lange dauern.
Barsch fragte sie ihren Mann: „Was willst du?“
Der hatte die Anweisungen an die Sekretärin gehört und fragte höhnisch zurück: „So, es wird nicht lange dauern? Woher willst du das wissen?“
„Weil ich noch immer meine Zeit selbst einteile, und es nicht dir überlasse!“
„Siehst du“, sagte er, „und da liegt unser Problem.“
„Bist du etwa gekommen, um eine Debatte über unsere Ehe zu führen? Gibt es dafür keinen besseren Zeitpunkt?“
„Ich will keine Debatte führen. Ich will dir nur mitteilen, dass ich mich heute bei drei Partneragenturen angemeldet habe.“
„Du hast was?“ Suzan glaubte, nicht recht zu hören.
„Ich habe mich offiziell bei Partnervermittlungen eingeschrieben. Ich suche eine Frau.“ Die Stimme war triumphierend.
„Bist du verrückt? Der Mann der Umweltministerin der Bundesrepublik Deutschland sucht über irgendwelche Agenturen ein Betthäschen? Willst du die Auflagen der Boulevardpresse und der diversen Klatschblätter steigern? Wenn das herauskommt, gibt es einen unendlichen Skandal, und ich bin erledigt.“
Er schien mit dieser Reaktion gerechnet zu haben, denn nun kam es wie aus der Pistole geschossen: „Erledigt bist du doch so und so. Aber gut, dann lassen wir uns scheiden. Billig wird es für dich nicht, das sage ich dir.“
Suzan versuchte, sich zu beruhigen. Damit hatte sie nicht gerechnet.
„Und warum das Ganze?“
„Ich habe es satt, das Leben eines Singles zu führen. Ich sehe dich kaum noch. Hin und wieder gehen wir zusammen zu offiziellen Einladungen. Das ist ätzend und kein Vergnügen. Sex findet nicht mehr statt. Und wer weiß, mit wem du zusammen bist, wenn du angeblich von Termin zu Termin eilst.“
„Sei doch vernünftig. Du hast deinen Beruf und ich den meinen. Bisher ging es doch ganz gut. Ich werde versuchen, ein wenig kürzer zu treten. Vielleicht sollten wir einen Kurzurlaub einschieben? Die Insel Föhr hat dir doch immer gut gefallen. Wir werden am Strand spazieren gehen und Wattwanderungen machen.“
„Das hätte dir früher einfallen müssen“, war die barsche Antwort. „Jetzt will ich nicht mehr. Ich habe auch meinen Stolz. Im Übrigen habe ich morgen Abend bereits mein erstes Date. Ich glaube, ich bin sehr fair, dass ich dich rechtzeitig unterrichte, damit du dich darauf einstellen kannst.“
Wie um seine Worte zu unterstreichen schob sich in diesem Moment eine Wolke vor die Sonne, und es wurde düster im Zimmer.
„Du willst also tatsächlich einen Skandal“, sagte sie mit unterdrückter Wut. „Und du glaubst, du kommst dabei ungeschoren davon, und es trifft nur mich? Mein Lieber, da irrst du. Du bist dabei, ein Erdbeben auszulösen, das uns beide vernichten wird.“
„Um dich zu vernichten, fehlt nicht mehr viel!“ Seine Stimme war höhnisch. „Für deine Vernichtung sorgst du schon selbst. Kaum im Amt und schon häufen sich die Skandale. Ich hätte dich für klüger gehalten. Ich weiß auch nicht, wie du aus diesen Affären wieder herauskommen willst.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „Das ist auch ein Grund, warum ich mich jetzt absetze. Ich will nicht mit dir untergehen.“
‚Untergehen, Absetzen!‘
Die Ministerin musste an ihre beiden Referenten denken. Inzwischen hatte sie neun weitere Versetzungsgesuche auf dem Tisch gehabt und auch unterschrieben. Auch ihr Büroleiter war zu ihr auf Distanz gegangen. Und die Staatssekretäre hatte sie auch schon seit ein paar Tagen nicht gesehen.
‚Man hat mich isoliert‘, wurde ihr klar. ‚Man behandelt mich wie eine Aussätzige, an der man sich nicht anstecken will. ‘
Ihr eigener Mann ergriff schließlich auch gerade auf drastische Weise die Flucht.
Obgleich die Opposition einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss gefordert hatte, schwieg die Kanzlerin bisher zu allen Vorwürfen. Sie hatte der Presse lediglich gesagt: „Ich habe bisher keinen Grund meiner Ministerin mein Vertrauen zu entziehen.“
Das war ja wohl die dürftigste Solidaritätserklärung, die man sich denken konnte. War Suzan denn bisher blind gewesen? Wo war ihr politischer Instinkt geblieben, auf den sie sich bisher stets verlassen konnte? Sie musste etwas unternehmen! Aber was?
Zuerst musste sie Simon loswerden.
„Ich muss jetzt weitermachen. Ich komme heute Abend früher nach Hause, dann reden wir noch einmal über alles!“
„Da gibt es nicht mehr viel zu reden“, maulte er und zog ab.
10
Mit zitternden Fingern goss sich Suzan Bergstoh aus der Thermoskanne auf ihrem Schreibtisch eine Tasse Kaffee ein. Damit ging sie ans Fenster und sah gedankenverloren hinaus, während sie das heiße Getränk schlürfte.
Wer stand noch auf ihrer Seite? Auf wen konnte sie noch zählen?
Der Graf fiel ihr ein. Er hatte sie gewarnt. Ob sie ihn anrufen sollte? Zwar wollte sie mit diesem Mann nichts mehr zu tun haben, aber hatte sie jetzt noch eine Wahl?
Sie ließ sich von der Sekretärin verbinden und so, als habe er auf ihren Anruf gewartet, hatte sie Sekunden später Graf Manderscheidt am Apparat. Er war überhaupt nicht erstaunt, dass die Ministerin ihn sprechen wollte.
Bevor sie etwas sagen konnte, fragte er: „Soll ich es in Ordnung bringen?“
Suzan zitterte so stark, dass sie den Hörer mit beiden Händen halten musste.
Endlich fragte sie stockend: „Können Sie denn helfen?“
„Ich glaube schon. Aber ich brauche natürlich deine Kooperation.“
Suzan schwieg und überlegte, was er damit meinte.
Schließlich stammelte sie: „Ja!“
„Dann hole ich dich um neun Uhr ab, und wir gehen essen.“
Als er aufgelegt hatte, fiel ihr ein, dass sie doch ihrem Mann den Abend versprochen hatte. Wie sollte sie ihm klarmachen, dass er schon wieder zurückstehen musste? In der Verfassung, in der er war, konnte er durchdrehen. Er war jetzt zu allem fähig. Aber einen weiteren Skandal konnte sie in der derzeitigen Situation nun gar nicht gebrauchen.
Sie entschloss sich zu einem Kompromiss. Sie würde sich bereits um halb sieben Uhr mit Simon treffen. So lange würde die Aussprache mit ihm sicher nicht dauern. Sie würde dann den Termin mit dem Grafen doch noch wahrnehmen können.
Simon war sehr erfreut, dass seine Frau so früh nach Hause kam. Er schloss daraus auf ihr großes Interesse, den Konflikt beizulegen.
Noch in der Tür versuchte er, sie zu umarmen. Aber sie wich einen Schritt zurück. So als sei nichts geschehen, eilte er nun in die Küche, holte zwei Gläser und eine Flasche Rotwein, während seine Frau den Mantel auszog. Sie setzten sich in die mächtige Couchgarnitur, und er schenkte ein.
Suzan hatte nicht die geringste Lust jetzt Rotwein zu trinken. Sie würde mit dem Grafen am späten Abend noch genügend Alkohol konsumieren müssen. Und sie brauchte bei diesem Treffen einen klaren Kopf. Aber sie wollte Simon nicht schon wieder enttäuschen. Deshalb stieß sie mit ihm an und nippte an ihrem Glas.
„So, nun erzähl mal“, sagte sie freundlich. „Was ist denn los?“
Der mütterliche Ton öffnete bei dem Mann alle emotionalen Schleusen. Er begann, sie mit Vorwürfen zu überschütten. Sie sei so gefühlskalt geworden, interessiere sich nur noch für ihre Karriere. Er könne gern auf diese prachtvolle Wohnung verzichten und wieder in die schäbige Studentenbude von damals zurückkehren, wenn damit auch ihre alte Gemeinsamkeit wiederhergestellt würde.
Innerlich nickte Suzan. Das konnte sie gut verstehen. Auch ihre war diese Wohnung mit ihren sechs großen Zimmern ziemlich gleichgültig. Man hatte sie für die Ministerin ausgesucht, und sie bekam einen Mietkostenzuschuss. Die Größe und Ausstattung der Wohnung war wichtig, denn man erwartete, dass sie auch offizielle Gäste einlud und für die Regierung repräsentierte.
Die banalsten Dinge wurden nun von Simon zur Sprache gebracht. Dass sie ihn auf irgendeinem Empfang den wichtigen Leuten nicht vorgestellt hatte. Dass sie ihn und seine Arbeit nicht respektiere. Und natürlich, dass sie keinen Sex mehr mit ihm hatte. Dies schien ihn am meisten zu bedrücken und zu verletzen.
Sie hörte sich alles ruhig an und entgegnete nichts. Sie verteidigte sich nicht und verzichtete auf Gegenangriffe. Dabei hätte sie auch eine Menge vorzubringen gehabt. Seine ewig weinerliche Art, die er sich angewöhnt hatte. Diese ständigen stummen Vorwürfe. Sein wichtigtuerisches Gerede, wenn er sie zu offiziellen Feiern begleitete. Merkte er denn nicht, wie sehr er sich blamierte und sie mit? Die Leute waren höflich und hörten ihm zu, aber sie suchten bei der erstbesten Gelegenheit das Weite. Und sie schämte sich dann für ihren Mann, dem jegliches Feingefühl für gesellschaftliche Nuancen fehlte.
Irgendwann fragte sie: „Und was willst du wirklich?“
Nun änderte sich sein Ton. Er verlor seine Aggressivität und wurde weinerlich. Sie befürchtete schon, er würde in Tränen ausbrechen. Aber er beherrschte sich und berichtete dann von seinen Problemen im Beruf. Dass er wegen seiner Ehe mit der Frau Minister unter besonderer Beobachtung stand. Dies sei für ihn eine enorme psychische Belastung.
Noch werde er mit Vorsicht und Respekt behandelt, aber, so seine Befürchtung, wenn seine Frau in der Öffentlichkeit weiterhin so kritisiert würde oder sogar zurücktreten müsste, dann würden sie alle über ihn herfallen. Dann würde man ihm im Lehrerzimmer nur noch mit Häme begegnen. Er würde von allen Kollegen den schlechtesten Stundenplan bekommen. Seine Stunden wären dann über die ganze Woche verteilt und jeden Tag hätte er eine Menge Leerstunden, sodass er sich von morgens bis zum späten Nachmittag in der Schule aufhalten müsste. Bisher sei sein Stundendeputat konzentriert. Er hatte sogar zwei Tage in der Woche frei. Auch mit den Schülern und den Eltern seien Probleme zu erwarten.
„Und was soll ich tun?“ fragte sie trocken und nahm nun doch einen großen Schluck von dem Wein. Ihr Mann hatte sich, während er redete, schon mehrfach nachgeschenkt und seine Zunge wurde inzwischen schwer.
„Du musst mir helfen, dass ich an eine andere Schule versetzt werde.“
„Du bist gut! Du suchst ganz offen eine neue Frau, drohst mir mit Scheidung und gleichzeitig erwartest du, dass ich deine beruflichen Probleme löse?“
„Diese Probleme habe ich doch nur wegen dir.“
„Das behauptest du.“
Sie sah, wie seine Lippen ganz schmal wurden, und hörte seine gepresste Stimme: „Wenn du mir nicht hilfst, mache ich dich fertig! Du bist doch schon am Kippen. Ich kann dir den Todesstoß versetzen.“
Wütend stellte sie ihr Glas auf den Tisch und sprang auf.
„So kannst du mit mir nicht reden. Was geht eigentlich in deinem Kopf vor sich? Bist du denn noch zu retten? Was du hier versuchst, ist eine glatte Erpressung. Du glaubst doch nicht, dass ich mir von meinem eigenen Ehemann mit Erpressung drohen lasse!“
Nun brach Simon völlig zusammen.
„Bitte, so habe ich es nicht gemeint. Ich will dich doch nicht erpressen“, rief er weinerlich. „Ich brauche doch nur deine Hilfe! Hast du denn gar kein Mitleid?“
Suzan setzte sich wieder und zwang sich zur Ruhe. Es hatte keinen Sinn, mit diesem betrunkenen Mann zu streiten.
„Ich will dir gerne helfen“, sagte sie beschwichtigend. „Aber das ist nicht so einfach. Wie du weißt, sind Schulen Ländersache. Der Schulsenator von Berlin mag es gar nicht, wenn Mitglieder der Bundesregierung an ihn Forderungen stellen. Aber ich will mein Möglichstes tun.“
Inzwischen war es halb neun Uhr, und Suzan musste bald gehen. Das teilte sie dem betrunkenen Mann mit. Der brach in Tränen aus.
„Du willst mich schon wieder verlassen? Dabei dachte ich, wir würden miteinander schlafen, ein wenig kuscheln. Bitte, ich brauche dich so sehr! Schlafe wenigstens noch mit mir, bevor du gehst. Dann habe ich das Gefühl, es wird alles gut.“
Sie überlegte, ob sie auf diesen Wunsch eingehen sollte. Zeit für ein Quicky war noch. Dann wäre er zufrieden und ruhiggestellt, und sie hätte den Rücken frei. Doch dann beschloss sie, sich auch nicht für den eigenen Mann zu prostituieren. Sie stand auf und ging in ihr Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Dabei hörte sie, wie er zur Toilette rannte und sich dort übergab.
11
Punkt neun Uhr stand die schwarze Limousine unten vor dem Haus. Woher hatte der Graf gewusst, dass sie zu Hause war? Sie hatten keinen Treffpunkt ausgemacht. Als sie ins Auto stieg, spürte sie den Rotwein, aber sie war nicht wirklich betrunken. Der Graf begrüßte sie mit einem galanten Handkuss, als habe es nie einen Streit zwischen ihnen gegeben. Dann bewunderte er ihr Kleid und bemerkte sogleich, dass es aus dem Haus Versace stammte. Er habe diesen Stil schon immer gemocht, erklärte er, um dann sogleich fortzufahren: „Zuerst werden wir uns öffentlich sehen lassen. Wir müssen demonstrieren, dass du nicht isoliert bist.“
„Ich muss meinem Personenschutz Bescheid sagen.“
„Das wird nicht nötig sein. Uns folgt ein Auto mit Bodyguards. Das ist doch selbstverständlich.“
„Wohin fahren wir?“
„Zuerst einmal ins Café Einstein. Wir sollen zusammen gesehen werden.“
Suzan nickte. Das war eine gute Idee. Das Café Einstein war ein Szenentreffpunkt. Dort verkehrten Politiker ebenso wie Künstler, Autoren oder Medienleute. Wenn man mit jemandem gesehen werden wollte, so war das Einstein dazu der beste Ort. Der Graf kannte sich aus.
Dem Fahrer wurde mitgeteilt, er solle nach genau dreißig Minuten wiedererscheinen, dann setzten sich die Beiden an einen Ecktisch und bestellten Espresso und Cappuccino. Natürlich sah niemand auffällig zu ihnen herüber. Aber wer die Ministerin und den Grafen erkannte, der würde am nächsten Tag darüber sprechen.
Für das Abendessen hatte Graf Manderscheidt das Margaux, eine exklusive Gaststätte mit einem Stern, ausgesucht. Souverän stellte er das Menü zusammen und orderte einen exquisiten Chablis.
Seit sie zu ihm in den Wagen gestiegen war, plauderte der Graf ununterbrochen. Dabei war es Suzan gar nicht nach Small Talk zumute. Sie wurde immer ungeduldiger, wollte den Grafen aber auch nicht drängen. Zuviel stand für sie auf dem Spiel. Nun kam er endlich zur Sache.
„Frau Minister“, sagte er und grinste geheimnisvoll, „da hast du dir ganz schön etwas eingebrockt. Ist dir denn nicht klar, dass du unter permanenter Beobachtung stehst?“
„Auch jetzt? Hier in diesem Lokal?“ fragte sie entgeistert.
„Auch hier und jetzt“, war die trockene Antwort. „Ich wusste gar nicht, dass man so naive Leute wie dich zu Ministern macht. Aber wahrscheinlich muss man ein wenig naiv sein, um den Posten auch anzunehmen.“
Da war sie wieder diese entwaffnende Ironie.
„Und wer beobachtet uns hier?“
„Das weiß ich nicht. Irgendein treuer Bürger schnappt eine Bemerkung von dir auf und ruft sogleich die Redaktion seiner Zeitung an. Wenn dir eine Naht an deinem Kleid platzt, zücken bestimmt drei Leute ihr Fotohandy und schicken das Bild sogleich per MMS an die Bildzeitung. Du kennst dich doch aus. Stell dich nicht dümmer an, als du bist.“
Inzwischen servierten die Kellner die Suppe, und der Graf kostete vorsichtig einen Löffel voll, so als müsste er testen, ob die Speise auch nicht giftig sei. Abwägend wandte er den Kopf hin und her und sagte dann: „Es fehlt ein Hauch Salz, und ein Tropfen Zitronensaft mehr hätte auch nicht geschadet. Das bin ich von dem Koch hier gar nicht gewohnt. Aber ich werde nicht reklamieren. Ansonsten ist die Suppe essbar.“
Die Suppe war nicht nur essbar, sondern köstlich, und der Chablis passte genau dazu.
„Und für wen bin ich so interessant?“ nahm die Ministerin den Gesprächsfaden wieder auf.
„Vor allem für die Klatschpresse, aber auch die CO2-Maffia hat es auf dich abgesehen.“
Er sah ihren fragenden Blick und fuhr fort: „Das sind eine Menge Leute. Ich hoffe, dir ist inzwischen klar, es geht um sehr, sehr viel Geld. Damit aber nicht genug. In dieser Mafia vereinen sich scheinbar erbitterte Gegner. Das sind die Erzeuger von alternativen Energien, die Kraftwerkbetreiber, die Hersteller der Windräder und der Fotovoltaik, ebenso wie die Umweltschutzverbände mit ihrem enormen Spendenaufkommen. Es sind die Elektro- und Automobilkonzerne und sogar die Hersteller von genmanipuliertem Saatgut. Und nicht zuletzt alle, die am Handel mit Emissionszertifikaten beteiligt sind. Wer sich einen neuen Markt erschließen will, und wer will das nicht, der setzt auf die CO2-Karte. Am wichtigsten aber sind die Politiker, die mit dem Menetekel Erderwärmung jeden Schwachsinn durchsetzen können. Alle haben gemeinsam einen Feind - oder soll ich lieber sagen ‚Freund‘ - nämlich das von Menschen produzierte Kohlendioxid, also CO2. Es wird schließlich, wie du weißt, für den Klimawandel, für die Erwärmung der Erde verantwortlich gemacht. Wie du siehst, geht es hier um eine ganze Menge. Die Anti-CO2-Liga ist wohl zurzeit der expansivste, nein der wichtigste Wirtschaftszweig weltweit. Wer will schon verantworten, dass der Meeresspiegel um einen Meter steigt und ganz Holland im Meer versinkt?“
Er hatte sich in Begeisterung geredet und stockte nun einen Moment. Dann fügte er lächelnd hinzu: „Obgleich das natürlich physikalisch gesehen Unsinn ist. Aber wen stört dies! Selbst gestandene Physiker erheben schließlich keinen Einspruch.“
Er sah ihren verstörten Gesichtsausdruck.
„Du verstehst nicht, was ich meine. Für eine Umweltministerin bist du aber ziemlich unbedarft. Natürlich steigt der Meeresspiegel nicht an, wenn das Polareis schmilzt. Kennst du nicht mehr aus deinem Physikunterricht im Gymnasium das triviale Experiment. Man füllt ein Glas mit Wasser, gibt Eiswürfel hinzu und macht einen Eichstrich auf dem Glas bei der Höhe des Wasserstandes. Der Wasserstand bleibt gleich, auch wenn das Eis geschmolzen ist. Ich sage nur ‚spezifisches Gewicht‘. Aber wen interessiert das. ‚Holland unter Wasser‘ und die ‚Fitschiinseln im Meer versunken‘ ist doch viel aufregender. Wen interessiert es, dass die Erde auf Grund der nachlassenden Aktivitäten der Sonne einer Kälteperiode entgegengeht? Mit der Klimaerwärmung kann man alles begründen. Warme Sommer, kalte Sommer, Trockenheit und Dauerregen. Und weil das so ist, gibt es ein Dogma, dem jeder in verantwortlicher Stellung gehorchen muss: es darf nicht angezweifelt werden, dass wir in eine Klimakatastrophe hineintaumeln, die ihre Ursache in dem von Menschen verursachten CO2-Ausstoß hat. Wer gegen dieses Dogma verstößt, wird erbarmungslos vernichtet. Ja selbst der Umgang mit diesen Ketzern ist verboten.
Genau gegen dieses Dogma hast du verstoßen. Dieser Professor Schmidt muss ein Verrückter sein. Er hat seine eigene Karriere vernichtet und sich selbst jede Existenzgrundlage entzogen. Und schon ein einziges Treffen mit ihm kann verhängnisvoll sein, wie du ja inzwischen leidvoll erfahren hast.“
Der Graf wurde in seiner langen Rede durch den nächsten Gang unterbrochen. Zanderfilet. Wieder kostete Manderscheidt ganz vorsichtig, so als sei er bereit, den giftigen Brocken sogleich wieder auszuspucken. Doch der Zander im Kräutermantel fand seine Zustimmung.
Das gab Suzan die Gelegenheit zu einer Frage, die ihr schon eine Weile auf der Zunge lag: „Welche Position nehmen Sie denn selbst ein?“
Der Graf legte, als er die Frage hörte, das Besteck aus der Hand und lachte. Dieser sonst so distinguierte Mann lachte so laut, dass die Gäste von den Nebentischen zu ihnen herüberblickten.
„Was ich selbst meine, fragst du? Ich gehöre doch auch zu dieser Mafia und verdiene nicht schlecht dabei. Das CO2-Dogma ist die lukrativste Ideologie, seit die römisch-katholische Kirche entmachtet worden ist. Sie hält sich nun schon seit beinahe zwei Jahrzehnten. Weder das Waldsterben, noch das Ozonloch, weder die Vogel-, Schweine- und sonstige Grippen haben bisher so viel Profit abgeworfen.“
Suzan hätte ihn am liebsten geohrfeigt, aber sie musste seinen Zynismus aushalten. Schließlich ging es um ihren Kopf. Ungeduldig fragte sie: „Hat der Mensch nun den Klimawandel verursacht oder nicht?“
„Suzan, das ist mir egal. Sicher, die Computer spucken Klimamodelle aus. Aber Computer können nur das berechnen, was man ihnen eingibt. Solange unsere Computer nicht einmal das Wetter der nächsten vierzehn Tage mit einiger Wahrscheinlichkeit voraussagen können, glaube ich ihnen keine Vorhersage für die nächsten hundert Jahre. Aber es spielt für uns heute doch gar keine Rolle, ob wir in eine Wärmeperiode hineinschliddern oder in eine neue Eiszeit, ob das CO2 wirklich der auslösende Faktor ist, und wenn, ob es auch das von Menschen erzeugte Kohlendioxid ist.
Wichtig ist allein, dass wir es geschafft haben, CO2 zum Totschlagargument hoch zu stilisieren, mit dem alles, aber auch wirklich alles, begründet und durchgesetzt werden kann. Noch nie hatten es die Lobbyisten so leicht. Sie müssen nur das Wort ‚Klimakatastrophe‘ sagen, und schon widerspricht ihnen niemand mehr, und sie erhalten alles, was sie wollen. Und du glaubst doch nicht, dass wir uns das von ein paar Querköpfen, die immer an allem zweifeln müssen, kaputtmachen lassen! “
Den letzten Satz hatte der Graf mehr zu sich selbst gesagt. Nun wandte er sich wieder seinem Zander zu.
Suzan hatte inzwischen Gänsehaut. Es war ihr klargeworden, in welche gigantische Maschinerie sie da hineingeraten war, und wen sie sich zu Feinden gemacht hatte.
„Und, was soll ich jetzt tun?“ fragte sie mit erstickter Stimme.
Sie war so aufgeregt, dass sie vom Essen nichts schmeckte. Man hätte ihr auch Kartoffeln pur servieren können, und sie hätte sie auf die Nachfrage des Grafen hin gelobt.
„Ich bringe das schon in Ordnung“, sagte er beruhigend. „Ich werde dich exkulpieren und in zwei Wochen redet niemand mehr über deine angeblichen Affären. Doch bitte nimm dich in Zukunft in Acht und ganz besonders, meide diesen Josef Schmidt und jeden anderen CO2-Leugner, der dir begegnen sollte. Denke immer daran, du stehst weiter unter Beobachtung, und man kann es nicht zulassen, dass ausgerechnet du, die Umweltministerin, gegen das zentrale Tabu verstößt.“
Die letzten Worte hatte er sehr scharf, beinahe drohend hervorgestoßen. Nun wurde seine Stimme wieder weich: „Und nun sprechen wir von anderen, von erfreulichen Dingen! Ich sehe dir doch an der Nasenspitze an, dass du eine Menge Fragen auf der Seele hast. Nun, heraus damit!“
Suzan Bergstoh war noch immer in Gedanken bei den bisherigen Ausführungen ihres Gegenübers, und sie schauderte vor den mächtigen Feinden, die sie sich gemacht hatte. Konnte der Graf ihr tatsächlich helfen? Hatte er so viel Macht, sie vor dem Untergang zu bewahren? Ihr war inzwischen klargeworden, dass es nicht nur um ihre Demission als Ministerin ging. Man wollte ihr Leben zerstören, und die Weichen dafür waren schon gestellt. Ein ehemaliger Bundespräsident fiel ihr wieder ein.
Doch der Graf erwartete eine harmlose Frage. Er wollte nun zum gemütlichen Teil des Abends übergehen. Ihr fiel nichts Besseres ein als: „Wer sind Sie?“
Er lachte laut: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft.“
Aber Suzan hakte ernst nach: „Sind Sie der Graf von Saint Germain?“
Diesmal lachte der Mann nicht, obgleich sie es erwartet hatte. Er sah sie ruhig an, während seine Hände, diese wundervollen Hände, den letzten Bissen Zander mit dem Messer auf die Gabel schob.
„Wie kommst du darauf?“
„Man sagt so etwas. Ich weiß natürlich, dass es Unsinn ist. Aber irgendetwas muss an dem Gerücht doch sein?“
„Oh je, Gerüchte gibt es viele, und Wahrheiten sind leider spärlich gesät.“
„Wie alt sind Sie?“
„Was spielen Lebensjahre schon für eine Rolle? Ich bin jung und sehr alt zugleich.“
„Was meinen Sie damit?“
„Ich habe viel gesehen und erfahren und habe mir doch die geistige Jugend, die Neugierde, das Staunen und den Mut, Fehler zu machen, bewahrt.“
Dann wechselte er das Thema. Später fragte sie ihn noch nach dem Tattoo auf seinem Unterarm. Er war erstaunt und wollte wissen, woher sie davon Kenntnis hatte.
„Ich habe es bei meinem Besuch in Ihrem Labor gesehen.“
„Kompliment, du passt wirklich auf. Es ist ein altes Erkennungszeichen. Heute benötigen wir diese Zeichen nicht mehr. Aber ich finde die Tätowierung noch immer hübsch und aussagekräftig.“
Sie saßen bis nach Mitternacht in dem Lokal. Der Kellner hatte inzwischen verschiedene Weine gebracht, und stets hatte der Graf gut gewählt. Er war wie immer geistreich und amüsant, erzählte Geschichten aus der Vergangenheit und aus der Gegenwart. Er schien alle wichtigen Leute zu kennen und mit ihnen vertraut zu sein.
Suzan stellte mit Verwunderung fest, dass es Graf Manderscheidt tatsächlich gelungen war, sie für eine Weile ihre Probleme vergessen zu lassen und sie auf andere Gedanken zu bringen.
Dann fuhren sie in der großen Limousine durch die Nacht zurück. Suzan saß entspannt in den Polstern. Sie war satt, wohlig müde und irgendwie heiter. Ein Gefühl, das sie lange nicht mehr empfunden hatte. Die Lichter Berlins huschten an den Fenstern vorbei. Der Verkehr war zu dieser Zeit schwach, und sie kamen rasch voran. Der Graf und die Ministerin schwiegen.
Plötzlich sagte er: „Weißt du eigentlich, dass dein Mann erpresst wird?“
Mit einem Schlag war das schöne Gefühl wie weggewischt. Die Spannung hatte wieder von ihrem Körper Besitz ergriffen. Der schöne Abend war beendet.
„Wer erpresst ihn?“
„Vier seiner Schülerinnen.“
„Was haben sie gegen ihn in der Hand?“
„Eigentlich nichts Ernstes. Er hat mit einer von ihnen ein wenig geknutscht.“
„Und was wollen sie von ihm?“
„Anfangs nur gute Noten. Er hat sich nicht zur Wehr gesetzt, sondern nachgegeben. Nun steigen die Forderungen. Jetzt wollen sie Geld.“
Deshalb also wollte Simon versetzt werden. Es ging ihm nicht um Sanktionen, denen er nach ihrem Rücktritt ausgesetzt wäre. Nein, er hatte sich in der Schule in eine unmögliche Situation gebracht und wollte fliehen. Dieser feige Lügner! Aber sie hatte auch Schuldgefühle. Nur weil sie ihn vernachlässigt hatte, musste er sich seine Selbstbestätigung bei den eigenen Schülerinnen holen. Die erkannten mit weiblicher Intuition seine Schwäche und nutzten sie aus. Sie war unfair zu Simon gewesen, hatte ihre Karriere über die Ehe gestellt. Das war Unrecht, das wusste sie.
„Ich werde das in Ordnung bringen“, sagte sie dem Grafen.
Dann waren sie vor ihrem Haus angekommen. Das Auto hielt, und sie erwartete, dass der Graf wieder eine seiner demütigenden sexuellen Handlungen von ihr verlangte. Doch er machte keinerlei Anstalten.
Sie bedankte sich für den Abend, für sein Verständnis, für seine Hilfe und für seine Informationen. Dann wollte sie aussteigen. Als sie ihm jedoch die Hand zum Abschiedsgruß hinhielt, drückte er ihr den bekannten Ring in die Hand.
„Bitte trage ihn wieder“, sagte er mit weicher Stimme.
Sie nickte stumm. Sodann sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ: „Du wirst ab jetzt keinen Sex haben, bis ich es dir wieder erlaube. Weder mit deinem Mann, noch mit einem anderen Mann, noch allein. Wenn du es brauchst, rufe mich an und bitte um Erlaubnis.“
Da war sie also wieder die sexuelle Anmaßung, die Demütigung. Er konnte es einfach nicht lassen. Doch sie widersprach nicht.
‚Das ist eine leichte Bedingung‘, dachte sie und nickte. ‚Ich komme kaum vor 24 Uhr nach Hause und muss bereits um sechs Uhr schon wieder aufstehen. Da bleibt nicht viel Zeit für Sex. Und wie will er überhaupt überprüfen, ob ich mich daranhalte? ‘
Und tatsächlich hatte sie in den letzten Jahren von sich aus kaum an Sex gedacht und ihn auch nicht vermisst.
Doch kaum war die Abmachung getroffen, da verspürte sie schon so etwas wie Sehnsucht. Es war ein Sehnen, das sich mehr und mehr in ihrem Körper ausbreitete.
Der Graf schien in sie hineinsehen zu können.
„Siehst du, es beginnt schon“, sagte er. „Es wird schwer für dich werden.“
12
Während der nächsten Tage schien sich alles wie durch ein Wunder zum Guten zu wenden. Die bösartigen Artikel in den Zeitungen wurden weniger, auf SPIEGEL-online und FOCUS-online wurde ihr Name nur noch im Zusammenhang mit der nächsten Klimakonferenz erwähnt.
Eine der großen Zeitungen brachte sogar in der Wochenendausgabe einen Leitartikel:
„Vox populi
Bei den alten Römern gab es ein Sprichwort ‚vox populi, vox bovi‘, also die Stimme des Volkes ist die Stimme des Rindviehs. Wenn man das absurde Kesseltreiben verfolgt, mit dem seit einiger Zeit die Autorität der Umweltministerin, Suzan Bergstoh, untergraben wird, dann muss man den alten Römern Recht geben.
Was ist eigentlich geschehen? Die Ministerin hat Leute aus ihrem Wahlkreis eingeladen, und weil sie ihre eigene Kreditkarte vergessen hat, wurde die Zeche mit der Kreditkarte des Ministeriums bezahlt. Am nächsten Tag hat sie ordnungsgemäß den Betrag an die Staatskasse zurücküberwiesen. Eine Banalität also, über die man eigentlich kein Wort zu verlieren bräuchte. Aber was hat Volkes Stimme daraus gemacht? Wie hat der Neidfaktor die Gemüter aufgeputscht?
Das ging so weit, dass man sogar den Rücktritt der Ministerin gefordert hat, so als ob unser Land über eine unbegrenzte Zahl hoch qualifizierter Politiker verfügen könnte. Da hat man endlich eine international anerkannte Fachfrau, und was tut man, man versucht sie mit allen Mitteln zu demontieren. Vox bovi!“
Dieser Artikel tat Suzan unendlich gut und beruhigte ihre Nerven. Sie las ihn dreimal und fühlte sich endlich rehabilitiert.
Noch am Wochenende rief die Kanzlerin bei ihr an und versicherte, dass sie hinter ihrer Ministerin stehe und ihr volle Rückendeckung gebe. Diese unsinnige Polemik in den Medien müsse nun endlich ein Ende haben.
Im Büro erhielt sie den ganzen Tag über Anrufe von den verschiedensten Leuten. Die Anlässe waren zum Teil an den Haaren herbeigezogen, man wollte sich lediglich bei der Ministerin, die so überraschend von den Toten auferstanden war, in Erinnerung bringen. Suzan ging auf das Spiel ein. Sie war heiter und charmant und verabredete sich mindestens mit fünfzehn Leuten zum Essen.
Vor dem Deutschen Bundestag hielt sie erfolgreich eine Rede. Der Fraktionsvorsitzende ihrer eigenen Partei gratulierte ihr enthusiastisch, und selbst die Opposition war des Lobes voll. Sie hatte geendet mit den Worten: „Wir übernehmen heute die Verantwortung für die Zukunft. Eine Verantwortung, der wir uns in der Vergangenheit leider nicht gestellt haben. Doch wenn wir unseren Kindern und Enkeln jemals noch offen in die Augen sehen wollen, dann müssen wir jetzt alles tun, um die Klimakatastrophe zu mildern. Verhindern können wir sie wohl nicht mehr. Kein Aufwand darf für die Reduzierung von CO2 in der Atmosphäre zu groß, und keine Kosten dürfen zu hoch sein. Alle anderen Vorhaben müssen hinter diesem existenziellen Problem der Menschheit zurückstehen. Die Bundesregierung hat dies erkannt und ist bereit, unter Berücksichtigung aller Konsequenzen den richtigen Weg zu gehen. Ich bitte Sie alle, uns auf diesem Weg zu folgen.“
Auch die Versetzung ihres Mannes war leichter zu bewerkstelligen, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie rief die Schulsenatorin von Berlin an und hatte den Eindruck, die habe bereits auf ihren Anruf gewartet. Aber natürlich werde man helfen. Da sei doch gar keine Frage. Natürlich würde man für den Mann der Frau Minister eine Schule finden, die näher zu seiner Wohnung gelegen sei. Der Mann einer Bundesministerin habe schließlich eine Fülle von Verpflichtungen, sodass für ihn Zeitersparnis auf dem Schulweg eine absolute Notwendigkeit sei.
Zu den vier erpresserischen Mädchen wurde Rechtsanwalt Doktor Jung geschickt, ein langjähriger Freund der Bergstohs. Der machte den jungen Damen klar, was eine Verleumdungsklage ist, und wie teuer ein derartiges Verfahren für sie werden könne. Damit war auch dieses Problem aus der Welt. Zwischen Suzan und Simon wurde das Thema Erpressung nie besprochen.
Auch ihr Personenschutz wurde wieder zurückgefahren auf normale Gefährdungsstufe. Kurz, die Welt der Ministerin Doktor Suzan Bergstoh war wie durch ein Wunder auf einmal wieder in Ordnung, obgleich sie sich selbst schon im Abgrund gesehen hatte.
13
Anders war es mit Verdikt des Grafen. Damals im dunklen Auto hatte Suzan gedacht, dass ihr Sexleben niemanden etwas anginge, und sie sich um keine Verbote zu kümmern gedenke. Sie war eine erwachsene Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand. Was kümmerten sie obskure Anweisungen eines perversen Grafen!
Doch in den folgenden Tagen hatte sie zwar ständig sexuelle Wünsche, erlaubte sich jedoch nicht, ihnen nachzugeben. Sie schalt sich selbst als dämlich und völlig verrückt, aber sie hielt sich gegen ihre eigene Überzeugung an das Verdikt des Grafen.
Überhaupt beschäftigte sie sich in Gedanken häufig und intensiv mit dem geheimnisvollen Mann. Jeder schien ihn zu kennen, und doch wusste man so gut wie nichts über ihn.
Suzan Bergstoh hatte vor ein paar Wochen Geburtstag gehabt und natürlich eine Menge Geschenke erhalten. In erster Linie waren es Bücher gewesen. In der Regel schenkt man jemandem, dessen Geschmack man nicht kennt, einen teuren Bildband. Und weil die meisten Leute so dachten, hatte die Ministerin identische Bildbände zum Teil dreifach bekommen.
Sie wollte eigentlich an ihrer Rede für die nächste Weltklimakonferenz arbeiten, aber ihre Gedanken waren noch immer beim Grafen. Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren. Um überhaupt etwas zu tun, nahm sie das oberste Exemplar von dem Stapel der Geschenkbücher und begann geistesabwesend darin zu blättern. Sein Titel: „Deutsche Geschichte in Wort und Bild“.
Plötzlich fiel ihr Blick auf ein Gruppenfoto. Es war aus dem Jahr 1908 und zeigte eine Gruppe von Männern in der damaligen Kleidung, die sich, wie es so üblich war, in Pose geworfen hatten. Sie stutzte, rief die Sekretärin und ließ sich ein Vergrößerungsglas bringen. Aufmerksam studierte sie die Gesichter. Es gab keinen Zweifel, der Mann in der zweiten Reihe von links war Graf Manderscheidt.
Hastig blätterte sie weiter und fand noch zweimal ein Gesicht, das Manderscheidt wie ein Ei dem anderen glich. Auf dem dritten Bild waren sogar seine Hände zu sehen, diese langen, schmalen, unvergleichlichen Hände.
Begann sie nun total zu spinnen? Hatte sie Halluzinationen? Sah sie schon Gespenster?
Sie legte den Bildband zurück und griff zum nächsten Geschenk. Diesmal waren es Fotografien aus der europäischen Geschichte. Und wieder fand sie Personen, die dem Grafen aufs Haar glichen. Selbst auf dem Bild „Kongress zu Berlin in seiner Schlusssitzung am 13. Juli 1878“ von Anton von Werner entdeckte sie Manderscheidt.
Das konnte doch nicht wahr sein! Ihre Fantasie verifizierte die selbst gestrickte Legende des Grafen als historische Tatsache. Hatte Manderscheidt sie so sehr in seinen Bann gezogen? War sie von ihm hypnotisiert? Wer war dieser Mann wirklich? Wie groß war sein Einfluss, und wodurch hatte er diese Macht? Aber, was viel wichtiger war, was wollte dieser Mann von ihr?
Sie wurde in ihren Gedanken unterbrochen durch einen Anruf. Und wer war am Apparat? Der Graf!
„Gut gemacht, Suzan“, begann er das Gespräch. „Deine Rede vor dem Bundestag war ausgezeichnet. Du hast rasch gelernt. Aber ich habe von dir auch nichts Anderes erwartet. Du bist aber auch in anderer Hinsicht tapfer. Ich habe deinen Anruf erwartet, mit dem du mich um Erlaubnis bittest.“
Suzan ging auf diese Anspielung nicht ein: „Ich habe mir eben hundert Jahre alte Bilder angesehen, auf denen ich Sie zu erkennen glaube. Bitte sagen Sie mir, dass ich mich täusche und mir etwas einbilde.“
„Es ist schön, dass du dich mit mir beschäftigst. Aber bevor du auf alten Fotografien nach mir suchst, schicke ich dir lieber ein aktuelles Bild von mir.“
Sein leises Lachen dröhnte in ihren Ohren wie Donnerhall.
„Ich möchte mich bei Ihnen bedanken“, fuhr Suzan fort. „Sie haben mein Leben wieder in Ordnung gebracht. Ohne Sie wäre ich verloren gewesen.“
Er wiegelte nicht höflich und bescheiden ab, sondern sagte sehr bestimmt: „Da hast du Recht. Du warst bereits zum Abschuss freigegeben, und es war nicht leicht, für dich eine neue Basis zu schaffen. Doch es ist gelungen, und darüber sollten wir beide froh sein.“
„Also noch einmal herzlichen Dank! Ich freue mich, wenn wir in Kontakt bleiben.“ Suzan blieb kühl und höflich.
„Da ist noch etwas. Du wirst doch bald nach Peking zur Weltklimakonferenz reisen und dort eine Rede halten. Um dir die Vorbereitungen etwas einfacher zu machen, haben ein paar Leute einen Teil deiner Rede schon geschrieben. Du kannst den Text so übernehmen, wie er ist. Ein Bote hat ihn bereits für dich abgegeben. Ich weiß nicht, wer deine Post vorkontrolliert. Der Brief an dich ist ‚Unter Umschlag! Vertraulich!‘. Vielleicht gibst du Anweisung, dass derartige Post direkt auf deinen Tisch kommt.“
„Ich soll in Peking also etwas vorlesen, was Sie formuliert haben?“
„Nicht ich habe es geschrieben, sondern eine kleine Gruppe kluger Köpfe. Das Ganze ist doch eine Hilfe für dich und soll dir Zeit sparen. Die Gruppe hat sich viel Mühe gemacht. Bitte enttäusche sie nicht. Benutze ohne Scheu das Manuskript, dann haben sie nicht umsonst gearbeitet.“
„Ich werde es zumindest erst einmal lesen.“
„Mache nicht schon wieder Schwierigkeiten“, klang es auf einmal drohend aus dem Telefon.
Sie antwortete nicht.
Da sagte der Graf wieder auf seine verbindliche Art: „Heute solltest du früher nach Hause gehen. Mein Verbot ist aufgehoben.“
Vor ihrem geistigen Auge konnte sie sehen, dass er schmunzelte.
Nachdem sie den Hörer wieder aufgelegt hatte, fragte sie im Vorzimmer nach, ob dieser angekündigte Brief bereits eingetroffen sei. Er war da. Es handelte sich um einen DIN A4-Umschlag, in dem 8 Seiten steckten.
Doch, als sie sich ans Lesen machen wollte, fiel ihr die Erlaubnis des Grafen ein, und auf einmal musste sie schmunzeln.
‚Warum nicht? ‘ dachte sie.
Sie bat ihren Staatssekretär, die restlichen Termine des Tages von ihr zu übernehmen. Der war natürlich nicht begeistert, denn auch er hatte einen vollen Terminkalender. Aber da die Ministerin gesundheitliche Probleme vorgab und nach Hause wollte, konnte er sich nicht verweigern.
Der Verkehr in Berlin war dicht, und ihr Fahrer kam nur langsam voran. Suzan wurde immer ungeduldiger. Nun hatte sie es so lange ohne Probleme ausgehalten, und diese halbe Stunde Verzögerung machte sie beinahe wahnsinnig.
Zu Hause erwartete sie ein völlig überraschter Simon, dessen Erstaunen noch wuchs, als sie zu ihm ohne Umschweife sagte: „Komm, geh mit mir ins Bett!“
Dann war alles vorüber, und sie war enttäuscht wie immer. Simon hatte es routiniert durchgezogen. Nach so vielen Jahren des Zusammenlebens wusste sie genau, was er als nächstes tun, und wann er stöhnen würde. Er ging immer nach dem gleichen Schema vor und war beim Sex völlig fantasielos. Und darauf hatte sie nun wochenlang gewartet? Das konnte doch nicht wahr sein!
Später kochte sie Kaffee und taute Kuchen auf. Sie saßen an dem großen Esstisch und zwischen ihnen war ein verlegenes Schweigen.
„Was ist eigentlich aus deinen Dates über die Partneragenturen geworden?“ fragte sie endlich ein wenig spitz. „Oder gab es die gar nicht, und du wolltest mich nur unter Druck setzen?“
Das Thema war ihm sichtlich unangenehm.
„Doch, ich bin schon hingegangen. Aber ich war dann froh, als es vorüber war.“
„Das musst du mir aber erzählen.“ Sie bemühte sich, den Triumph in ihrer Stimme zu verbergen
„Ach, ich möchte eigentlich nicht darüber sprechen. Du musst dir auf jeden Fall keine Sorgen mehr machen. Ich bin geheilt.“
Sie tat ganz kameradschaftlich: „Nun erzähl schon! Sei kein Frosch! Ich bin ganz einfach neugierig. Wie sahen sie denn aus? Dick?“
Man sah, welche Überwindung ihn die Antwort kostete: „Nein, sie waren nicht dick. Sie sahen sogar für ihr Alter noch recht gut aus. Aber die eine konnte nur von ihren Katzen reden, die andere erzählte ständig, wie gemein ihr geschiedener Mann gewesen war, und die Dritte bekam die Zähne gar nicht auseinander. Die eine Stunde mit ihr im Café war quälend. Dann hatte ich die Nase voll und habe mich bei der Agentur wieder abgemeldet.“
„Du Armer!“ sagte Suzan mütterlich. „Du hast ein wenig fremdgehen und Mami ärgern wollen und bist so enttäuscht worden. Waren sie denn nicht einmal fürs Bett gut?“
„Bitte mache dich nicht über mich lustig“, er war nun ärgerlich. „Es ist schon schlimm genug, dass ich überhaupt auf diese Schnapsidee gekommen bin.“
14
Das Erste, was die Ministerin am Morgen des nächsten Tages in die Hand nahm, war der Redeentwurf des Grafen. Dort las sie eine Passage, die ihr Herz schneller schlagen ließ.
„Wir, die wir hier aus vielen Ländern zusammengekommen sind, verbindet die große Sorge um die Zukunft unserer Mutter, der Erde. Wir tragen alle und ohne Ausnahme die Verantwortung dafür, dass dieser Planet nicht lebensfeindlich wird. Aber diese Entwicklung ist bereits weit fortgeschritten. Daran sind die Sünden der Vergangenheit schuld. Begangene Sünden kann man in der Regel nicht wieder gut machen. Man kann nur neue Sünden vermeiden. Und das bedeutet ganz konkret, den CO 2 -Ausssstoß weiter und weiter zu reduzieren.
Aber was ist mit dem Kohlendioxid, mit dem wir bereits die Atmosphäre vergiftet haben?
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, dass ich ein Bild aus dem Bereich der Medizin gebrauche. Wir haben die Prävention vernachlässigt und äußerst ungesund gelebt. Darüber ist unser Patient, die Erde, sehr, sehr krank geworden. Nun diagnostizieren wir und diagnostizieren und streiten uns über die Diagnosen. Um die kranke Erde zu heilen, machen wir große Anstrengungen, die Prävention nachzuholen. Natürlich muss ein Kranker gesund leben, aber mit Prävention wurde noch nie eine ausgebrochene Krankheit geheilt. Deshalb sage ich Ihnen, wir müssen endlich mit der Therapie beginnen. Unser Patient stirbt, und wir diagnostizieren immer weiter und weiter und rufen nach noch mehr Prävention. Deshalb, wiederhole ich es noch einmal: Es ist höchste Zeit für eine umfassende Therapie!Inzwischen gibt es zum Glück eine Methode, wie man diese Umweltsünden heilen kann. Wir müssen das CO 2 , das wir als Gift in die Atmosphäre geschickt haben, wieder einfangen.
Sie fragen sich natürlich, wie kann dies möglich sein?
Ich will es erklären. Es hat sich ein internationales Konsortium aus verantwortungsbewussten Menschen gebildet, die ‚SPM incorporation‘. Sie trägt den ehrgeizigen Namen ‚Salus pro mundum‘, also ‚Rettung für die Welt‘, und die Therapie unserer Probleme kann dieses Konsortium tatsächlich leisten. Die Menschen, die sich dort zusammengeschlossen haben, werden nämlich riesige Anlagen bauen, mit denen man das CO 2 wieder aus der Atmosphäre entfernt. Dieses CO 2 wird verflüssigt und dann in großen unterirdischen Kavernen endgelagert.
Die deutsche Bundesregierung unterstützt dieses Projekt von ganzem Herzen und wird mit Steuergeldern die Entwicklung vorantreiben, damit die Anlagen so bald wie möglich ihren Betrieb aufnehmen können.
Aber wie soll das Ganze finanziert werden? Wir wissen heute ziemlich genau, wie hoch die CO 2 -Emissionen in den einzelnen Ländern sind. Der Plan ist, die Staaten kaufen sich diese Emissionsmenge bei der Rückgewinnungsfirma ein. Und die dafür nötigen Finanzen holen sie sich bei den Verursachern wieder. Wie Sie sehen, es ist ein einfaches aber wirksames Modell.“
Suzan Bergstoh konnte nicht weiterlesen. Dieses einfache aber wirksame Modell war für das Betreiberkonsortium die Erlaubnis zum Gelddrucken.
Sie wusste inzwischen, dass der größte Teil des Kohlendioxids in der Atmosphäre natürlichen Ursprungs war. Es kam aus dem Meer, aus Vulkanen, von brennenden Kohleflözen und selbstverständlich auch aus brennenden Ölquellen und abgefackelten Gasen. Diese Rückgewinnung von CO2 aus der Atmosphäre kam dem Versuch gleich, das Meer mit einem Eimer leer schöpfen zu wollen, wobei das geschöpfte Wasser sogleich wieder ins Meer zurückfließt.
Außerdem würden diese riesigen Anlagen, von denen die Rede war, natürlich enorme Energien verbrauchen und nicht gerade umweltfreundlich sein. So wie die per Gesetz verordneten Energiesparlampen die Umwelt erheblich mehr schädigten, als die harmlosen alten Glühbirnen.
Und sie sollte diesen Unsinn im Namen der Bundesregierung verkaufen. Sie würde sich doch unsterblich blamieren. Nein, das konnte sie einfach nicht. Das musste der Graf doch einsehen. Aber sie war bereits einmal am Abgrund gestanden, und sie wusste, wie man sich dort fühlt. Das wollte sie nicht noch einmal erleben. Was konnte sie tun? Suzan Bergstoh war ratlos.
Sie ließ sich mit dem Grafen verbinden und hatte ihn kurz darauf am Apparat.
Nach einer kühlen Begrüßung sagte sie: „Ihre Redevorlage hat mich etwas überrascht. Aber ich kann keine derartig weitreichende Innovation verkünden, wenn ich nicht einmal einen Kabinettsbeschluss habe. Im Übrigen bin ich von der Notwendigkeit einer CO2-Rückgewinnungsanlage absolut nicht überzeugt.“
Hier unterbrach sie ihr Gesprächspartner: „Derartige Fragen sollten wir nicht am Telefon erörtern. Man weiß nie, wer mithört. Der Plan ist genial, und ich möchte nicht, dass er durch eine vorzeitige Indiskretion gefährdet wird. Komm bei mir vorbei, und wir können in aller Ruhe darüber sprechen!“
Ohne auf ihre Reaktion zu warten und ohne Gruß unterbrach der Graf das Gespräch. Überrascht starrte die Ministerin auf das tote Telefon. So unhöflich hatte sie den Mann noch nie erlebt.
Bereits am nächsten Tag ließ sich Suzan Bergstoh durch ihr Vorzimmer beim Grafen anmelden und dann zu dessen Villa fahren. Sie trug einen eng geschnittenen, rosenfarbenen Hosenanzug von Pierre Cardin, dazu beinahe minimalistischen Goldschmuck. Graf Manderscheidt erwartete sie in seinem Rosengarten, einem gärtnerischen Meisterwerk. Dort war bereits ein Tisch mit Kaffee und süßen Leckerbissen aus aller Welt gedeckt.
Wie immer war der Graf von ausgesuchter Höflichkeit. Er machte ihr Komplimente für den ausgezeichneten Geschmack ihrer Garderobe, küsste ihr die Fingerspitzen und bat sie Platz zu nehmen. Nach vielen Komplimenten und amüsanten Anekdoten fragte Manderscheidt auf einmal: „Was gefällt dir an dem Redeentwurf nicht?“
„Dieser Plan mit der CO2-Rückgewinnung ist doch Unsinn. Ich kann ihn in dieser Form der Weltöffentlichkeit nicht präsentieren“, antwortete die Ministerin vorsichtig.
„Ob er durchdacht ist oder nicht, musst du schon uns überlassen“, war die barsche Antwort. „Glaube mir, wir haben uns eine Menge Gedanken gemacht, und der Plan ist genial.“
‚Ja, ein genialer Weg, um unendlich viel Geld zu verdienen, ohne dass jemand den Betrug merkt‘, dachte sie. Aber laut antwortete sie dem Grafen: „Er ist doch wahrscheinlich noch im Stadium der Vorüberlegung, mehr eine Absichtserklärung.“
„Du irrst! Wir werden das durchziehen, und du hast die Ehre, es auf einer großen internationalen Bühne zu verkünden. Bist du nicht ein wenig stolz, dass wir dir diese wichtige Rolle übertragen?“
Plötzlich hatte Suzan das Gefühl, als würden sich Eisenklammern um ihre Brust legen.
„Und wenn ich nicht mitmache? Wenn ich mich weigere?“
„Du wirst dich nicht weigern!“
Die Drohung in der Stimme war unüberhörbar.
Sie versuchte ruhig zu bleiben und sagte einlenkend: „Lass uns doch in Ruhe das Projekt diskutieren.“
Die Entgegnung des Grafen war hart und duldete keinen Widerspruch: „Mit dir diskutiere ich nicht. Du hast einen Auftrag, und ich erwarte, dass du ihn ausführst. Es kann dir völlig gleichgültig sein, ob die CO2-Rückgewinnung sinnvoll ist oder nicht. Auf jeden Fall, so viel kann ich dir verraten, bringt sie viel Geld. Es wird wahrscheinlich das größte Geschäft seit der Entdeckung des Erdöls zum Antrieb von Autos. Aber das hast du dir wahrscheinlich schon gedacht. Dumm bist du ja nicht!“
„Ich frage noch einmal. Was ist, wenn ich mich weigere, mitzuspielen?“ entgegnete sie trotzig.
„Und ich antworte dir noch einmal, du wirst dich nicht weigern. Du hast bereits einen kleinen Vorgeschmack bekommen, wie es ist, wenn von heute auf morgen deine Existenz ruiniert wird. Und das war nur ein harmloses Geplänkel. Wir wollten dir nicht wirklich wehtun. Doch wir können auch anders. Wir können es so weit treiben, dass du dir wünschst, nie geboren zu sein. Wir können dich so vernichten, dass du an keinem Ort dieser Welt mehr zur Ruhe kommst. Und du weißt, dass dies keine leere Drohung ist.“
Der Graf machte eine lange Pause, und sie starrten sich feindselig an. Plötzlich lächelte er, seine Stimme wurde weich und herzlich, als er sagte: „Mädchen, hast du dir nie darüber Gedanken gemacht, wieso du als kleine Ortsvereinsvorsitzende plötzlich diese Karriere gemacht hast? Deine Berufung zur Ministerin hat doch alle Kenner der politischen Szene total überrascht! So naiv kannst du doch nicht sein, dass du dies alles auf deine eigenen Leistungen oder gar auf Zufälle zurückführst. Inzwischen müsste dir doch klargeworden sein, dass wir dahinterstecken, dass wir dich ausgesucht haben. Mädchen, du bist unser Geschöpf und deshalb wirst du deine Aufgabe erfüllen und diese Rede wortgetreu halten.“
Seine anfangs warme Stimme war immer drohender geworden, und die mächtige Ministerin immer mehr in ihrem Stuhl zusammengesunken. Doch nun entspannten sich seine harten Gesichtszüge wieder. Mit weicher und einschmeichelnder Stimme sagte er: „Was reden wir hier für dummes Zeug! Ich weiß doch, dass ich mich auf dich verlassen kann. Und es wird dein Schaden nicht sein. Ich mag dich nämlich, und ich habe noch Großes mit dir vor. Du wirst sehen, du hast an diesem Abend beim Bundespräsidenten das große Los gezogen.“
„Aber ich kann doch ohne Rückendeckung der Kanzlerin und des übrigen Kabinetts keine derartigen Pläne verkünden“, stammelte sie.
„Um die Rückendeckung durch die Kruschka kümmere ich mich! Und dem Kabinett legst du eine Vorlage vor, die die übrigen Minister garantiert einstimmig beschließen werden. Mach dir da keine Sorgen!“
Suzan wollte etwas entgegnen, fragen, ob die Kanzlerin eingeweiht sei, aber Graf Manderscheidt stand auf, zauberte von irgendwo eine Gartenschere hervor und schnitt eine wunderbare blaue Rose ab. Es war eine Blüte, wie sie Suzan noch nie gesehen hatte. Ein seltenes Kunstwerk der Natur von beinahe überirdischer Schönheit. Diese Rose überreichte der Graf formvollendet seinem Gast.
„Alles was uns beide betrifft, soll sub rosa geschehen“, sagte er dabei.
Doch bevor Suzan fragen konnte, was damit wohl gemeint sei, hatte er sich wieder gesetzt und fragte nun mit weicher, einfühlsamer Stimme: „Bist du neulich meiner Erlaubnis gefolgt? War es schön?“
Suzan antwortete nicht. Dieser abrupte Themenwechsel hatte ihr die Sprache verschlagen. Auch rief diese Direktheit, mit der er ihre innersten Gefühle und Geheimnisse ansprach, bei ihr Verlegenheit und Abwehr hervor. Was war das für ein Mann, der innerhalb von Sekunden von eiskalter Drohung auf größte Liebenswürdigkeit umschalten konnte?
„Ich werde dich verwöhnen und glücklich machen“, sagte er nun, und Suzan wusste, dass dies kein leeres Versprechen war.
Doch sie hatte Angst vor dem Mann und gleichzeitig ganz tief in ihrem Innern die Sehnsucht, sich ihm auszuliefern, sich ihm zu übergeben. Dieser Graf strahlte eine ungeheure Macht und gleichzeitig eine Feinfühligkeit aus, die ihr Gänsehaut bereitete.
Als sie sich schon verabschiedet hatte, rief er sie noch einmal zurück. In einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, fragte er: „Übrigens, hast du morgen öffentliche Auftritte?“
„Ja, drei Reden und eine große Fragestunde im Bundestag.“
„Du wirst morgen den ganzen Tag einen Rock und darunter kein Höschen tragen!“
Obgleich sie den Grafen hasste, wusste sie doch, dass sie seinem Gebot folgen würde.
15
In ihrem Büro ließ Ministerin Suzan Bergstoh ihren Referenten, Bernd Lohwitz, kommen, der inzwischen sein Versetzungsgesuch zurückgezogen hatte. Sie beauftragte ihn, in der Bibliothek des Deutschen Bundestages zusammen mit dem dortigen Personal in alten Unterlagen und Büchern nach Bildern von Personen zu suchen, die dem Grafen ähnlich sahen. Ihr Mitarbeiter sah sie verwundert an. Sie wusste, nun denkt er, ‚die Alte spinnt total‘. Doch er widersprach nicht. Nachdem sie die gefährliche Bewirtungs-Krise überstanden hatte, war sie im gesamten Ministerium hoch angesehen. Man wusste nun, dass sie über mächtige Verbündete verfügte, und wollte sich auf jeden Fall mit ihr gut stellen.
In den Ministerien hatten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen stets ihre Karriere im Blick und mit schlafwandlerischer Sicherheit erkannten sie die Zeichen der Macht und stellten sich darauf ein.
Lohwitz war bereits an der Tür, als sie ihn noch einmal zurückrief.
„Besorgen Sie mir bitte ein ausführliches Dossier über einen Grafen Manderscheidt und stellen Sie mir knapp und übersichtlich alles zusammen, was Sie über die historische Figur des Grafen von Saint Germain herausfinden können. Mich interessieren auch Legenden und Gerüchte.“
Stumm nahm der Referent den seltsamen Auftrag entgegen und unterdrückte seine Verwunderung.
Als Lohwitz gegangen war, kam die Sekretärin mit den Postmappen. Es war die übliche Routine. Dienstpost, die über ihren Schreibtisch zu laufen hatte, und die sie abzeichnen musste, Einladungen, Protokolle, Dankesschreiben von Organisationen, bei denen sie eine Rede gehalten hatte, Bitten und Gesuche aus ihrem Wahlkreis und so weiter und so fort. Doch in der letzten Mappe fand sich ein verschlossener Umschlag. Auf ihm stand handschriftlich: „Persönlich, vertraulich, unter Umschlag“.
Sie hatte, dem Wunsch des Grafen entsprechend, Anweisung gegeben, die so adressierte Post ihr ungeöffnet auf den Schreibtisch zu legen. Aber natürlich wurde dennoch jeder Brief auf Sprengstoff untersucht und deshalb öffnete sie das Kuvert ohne Angst.
Das Blatt, das sie nun in Händen hielt, hatte zwar nichts mit dem Grafen zu tun, aber als sie die Unterschrift gelesen hatte, ließ sie es fallen als handelte es sich um eine Bombe. Es war ein handgeschriebener Brief von Professor Josef Schmidt.
„Liebe, gnädige Frau Minister,
dies ist mein letzter Versuch, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Zwar wäre ein Telefongespräch viel einfacher, aber entweder wimmelt mich Ihre Sekretärin ab, oder sie stellt mich zu einem Ihrer Referenten durch, der mich dann ins Leere laufen lässt. Vielleicht bekommen Sie diesen Brief tatsächlich persönlich in die Hände. Es ist meine letzte Hoffnung.
Gern erinnere ich mich an unser kurzes Gespräch anlässlich des Symposiums. Wir waren zwar nicht einer Meinung, aber ich habe sie als offene und informierte Persönlichkeit kennengelernt. Deshalb wage ich es nun, sie um Verständnis und Hilfe zu bitten. Ich gehe ganz einfach davon aus, dass Sie die Ministerin aller Bürger sind und nicht nur die Vertreterin einer mächtigen CO 2 -Lobby.“
An dieser Stelle legte sie den Brief aus der Hand. Es war einfach unverschämt, was sich dieser Schmidt herausnahm. Er stellte doch tatsächlich ihre Integrität infrage. Sie wollte den Brief bereits in den Papierkorb werfen, als ihr klar wurde, dass sie selbst nicht mehr an die eigene Integrität glaubte. Also faltete sie ihn wieder auseinander und las weiter:
„Wie Sie wissen, hinterfrage ich die These von einem von Menschen verursachten Klimawandel durch ungehemmten CO 2 -Ausstoß. Das Ganze ist mir zu dogmatisch, thesenhaft und wissenschaftlich ganz und gar nicht bewiesen. Aber mit diesem Dogma lässt sich eben eine Menge Geld verdienen. Geld, das an anderer Stelle, wo es erheblich dringender gebraucht würde, fehlt. Natürlich trete ich für Umweltschutz ein, natürlich kämpfe ich dafür, dass weltweit die Emissionen von giftigen Gasen und Schmutzpartikeln ausgefiltert werden, dass man die Unternehmen kontrolliert und an die Leine legt. Ich bin also ganz und gar kein Vertreter eines Raubtierkapitalismus, der im Interesse eines ungehemmten Wirtschaftswachstums die Gesundheit der Bevölkerung schädigen und die Natur vernichten darf.
Aber der CO 2 -Lobby geht es gar nicht um die Natur, sonst hätte sie nicht absurde Verbote und Maßnahmen durchgesetzt, wie den umweltfeindlichen Biodiesel, für den die Menschen in der dritten Welt hungern müssen. Aber das, was als Rettung für den Erdball verkauft wird, ist eben ein gigantisches Geschäft.
Ich will Sie nicht langweilen und endlich zum Anliegen dieses Briefes kommen.
Ich bin schon lange erheblichen Sanktionen ausgesetzt, die ich bereit war, hinzunehmen. Als Folge davon ist meine Ehe kaputtgegangen, und ich wurde wirtschaftlich ruiniert. Immerhin konnte ich aber bisher meine Professur behalten. Doch nun soll ich auch sie verlieren und sehe mich einem Strafprozess ausgesetzt, der mich vernichten wird.
In dieser Not wende ich mich an Sie mit der Bitte, um ein kurzes Telefongespräch unter der Nummer 0551 686754. Sie sind, verehrte Frau Minister, meine letzte Hoffnung.
Ihr sehr ergebener Josef Schmidt.“
Suzan Bergstoh konnte sich nur zu gut in den Mann hineinversetzen. Schließlich war sie selbst vor nicht allzu langer Zeit in einer ähnlichen Situation gewesen. Aber was konnte sie tun? Sie war doch genauso hilflos und ausgeliefert wie er selbst. Schon allein ein Telefonat mit ihm war für sie brandgefährlich. Sie steckte den Brief samt Umschlag in ihre Handtasche und beschloss, später noch einmal über ihre mögliche Reaktion nachzudenken.
An diesem Tag hatte die Ministerin ein Mittagessen mit einem wichtigen Vertreter des SBfU, des Schutzbundes für Umwelt. Sie hatte den Mann der Einfachheit halber in das Casino im Jakob-Kaiser-Haus, also in die Kantine des Bundestages, eingeladen.
Das Casino sah zwar elegant aus, aber die Architekten hatten wie so oft nur an das Design, nicht aber an die Funktionalität der Räume gedacht. Durch die vielen Stein- und Glasflächen war es im Casino zu Stoßzeiten unerträglich laut, sodass eine Unterhaltung nur schreiend stattfinden konnte. Auch die Namen der Menüs versprachen mehr, als die Speisen dann zu halten vermochten.
Dennoch kam die Ministerin gern mit Besuchern hierher, denen sie ein einfaches Essen schuldete. Man wurde dort rasch bedient, und es war so billig, dass ihr Bewirtungsetat kaum belastet wurde. Innerhalb einer Stunde waren die Treffen in der Regel abgewickelt, und sie konnte an ihren Schreibtisch zurückkehren. Auch war das Casino sicher. So hatten ihre Bodyguards über Mittag frei.
Ihr Besucher hatte sich für „Wildschweinragout mit Birne Helene und Preiselbeeren“ entschieden. Aber danach zu schließen, wie lange er auf einem Bissen herumkaute, schien das Wildschwein schon hoch in den Jahren gewesen zu sein. Sie selbst aß ein trockenes, strohiges „Norwegisches Steinbeißer Filet“.
Der Gast, Doktor Waldemar Bodelstein, leitete das Gespräch mit sorgenvollem Gesicht: „Da sitzen wir nun gemütlich zusammen und in der Zwischenzeit sterben wieder mindestens zwanzig Tier- und Pflanzenarten aus.“
Doktor Bergstoh, ein wenig ungehalten wegen des schlechten Essens, sah ihren Gegenüber daraufhin mit großen Augen an. Er hatte die Fünfzig bereits weit überschritten und trug das lange Haar hinten zu einem Zopf zusammengebunden. Seine häufigen Aufenthalte in der Natur hatten sein Gesicht, aus dem stechende blaue Augen starrten, tief gebräunt.
„Woher wissen Sie das?“ fragte sie unwirsch.
„Aber darüber gibt es doch keine Diskussion“, antwortete er verwundert. „Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass täglich bis zu 130 Arten aussterben. Mehr als 16.300 Tier- und Pflanzenarten sind offiziell vom Aussterben bedroht, und die Artenvielfalt schwindet immer schneller.“
Er erklärte dies in einem vorwurfsvollen Ton. Schließlich saß er mit der Ministerin für Umweltschutz an einem Tisch, und die sollte dies alles schließlich wissen.
Seine Selbstgewissheit, die frei von jeglichen Zweifeln war, ärgerte sie. Deshalb antwortete sie spitz: „Könnten Sie mir bitte eine Liste mit den Arten zukommen lassen, die in diesem Jahr bereits ausgestorben sind?“
Doktor Bodelstein blickte immer verwunderter. Ein wenig verunsichert sagte er: „Woher soll ich wissen, welche Arten gerade im brasilianischen Urwald untergehen.“
„Und woher wissen Sie dann die genaue Zahl?“
„Diese Angaben sind natürlich nur Schätzungen. Man hat in einem kleinen Gebiet gezählt und dann extrapoliert.“
Mit eisigem Ton stellte die Ministerin fest: „Ihre Angaben über das Artensterben sind also nur Vermutungen?“
Völlig irritiert und mühsam seinen Zorn beherrschend sagte der Doktor: „Sie wollen doch nicht ernsthaft in Zweifel ziehen, dass der Mauigimpel auf Hawaii und der Jangtse-Delphin auf das Äußerste bedroht sind? Auch der Gorilla wurde inzwischen in die höchste Gefährdungsklasse eingestuft. Der Orang-Utan in Sumatra gilt als äußerst gefährdet. Und die Population des Ganges-Gavial, einem Krokodil, das in Indien und Nepal lebt, hat sich in den vergangenen zehn Jahren auf 182 Tiere mehr als halbiert.“
„Aber das bezweifle ich doch gar nicht“, beruhigte ihn Bergstoh. „Einzelne Arten sind sicher vom Aussterben bedroht, und wir tun gut daran, Wege zu ihrer Rettung einzuleiten. Aber Sie sprachen von 130 Arten täglich. Sie müssen für mich Verständnis haben. Ich bin Juristin und keine Biologin. Deshalb lege ich Aussagen auf die Goldwaage und bin auf den Rat von Fachleuten wie Ihnen angewiesen.“
Zufrieden mit dieser Auskunft lehnte sich Waldemar Bodelstein zurück und strich sich über seine schon stark ergrauten Haare.
„Aus der Roten Liste, die die Weltnaturschutzunion IUCN in Genf veröffentlicht hat, geht hervor, dass jede vierte Säugetierart, ein Drittel aller Amphibienarten und jede achte Vogelart vom Aussterben bedroht sind“, begann er zu dozieren.
„Und was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen dafür?“
„In erster Linie der Mensch! Wir rauben den Tieren und Pflanzen den Lebensraum.“
„Wenn es uns nicht gäbe, so würden also wahrscheinlich auch kein Artensterben?“
Bodelstein nickte eifrig.
„Und warum sind Arten, lange bevor der Mensch auf dieser Erde wandelte, zugrunde gegangen?“
„Das kann man doch nicht vergleichen.“
„Und warum nicht?“ fragte sie unschuldig.
„Weil das eine durch die Natur verursacht wurde und die jetzige Katastrophe durch die Profitgier der Menschen. Wir stehen in der Verantwortung und müssen korrigierend eingreifen. Wir müssen die Erde vor den Menschen retten!“
„Und wo sollen wir beginnen?“
„Natürlich bei der Reduktion der CO2-Emissionen.“ Er sagte dies mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ. „Nur so können wir vielleicht den Klimawandel noch stoppen, das Waldsterben beenden und das Aussterben der meisten Arten verhindern.“
‚Ich muss aufpassen‘, dachte sich Suzan Bergstoh, ‚wenn ich ihn weiterhin in die Enge treibe, behauptet er anschließend, ich sei von der Industrie oder anderen profitgierigen Umweltschweinen gekauft. Er hält mich doch schon jetzt für einen Maulwurf im Herzen des Umweltschutzes. Er bleibt nur höflich, weil er von mir Geld will. ‘
Doktor Weiß, ihr beamteter Staatssekretär hatte sie auf das Gespräch vorbereitet. Er hatte die Finanzanträge der Umweltschutzorganisation geprüft und wollte ihnen zustimmen, obgleich eine Steigerung von 30 % gegenüber dem Vorjahr gefordert wurde. Das Gespräch mit der Ministerin war nur eine Formsache. Es sollte so aussehen, als käme die Bewilligung von ihr, und sie sei eine Art Schirmherrin des SBfU. Und nun provozierte sie diesen Doktor Bodelstein ohne Not. So würde sie keine Plus- sondern Minuspunkte machen.
Aber sie konnte es einfach nicht lassen. Der Mann, der ihr gegenübersaß, selbstzufrieden, ohne die geringsten Zweifel an seinen eigenen Dogmen; dieser Mann, der sich im Vollbesitz der Wahrheit glaubte, der sich zu den Guten in dieser Welt zählte, dieser Doktor Bodelstein regte sie nicht nur auf, er verursachte ihr körperliches Unwohlsein. Deshalb konnte sie es sich nicht verkneifen und sagte: „Ich verstehe zwar nicht viel davon, Sie sind der Fachmann. Aber wenn ich die Darwinisten mit ihrer Evolutionstheorie recht verstehe, so entstehen doch in der Natur ständig neue Arten und ständig sterben Arten aus, die dem Selektionsdruck nicht mehr standhalten können. Dies soll doch so sein, seit es Leben auf diesem Planeten gibt. Das Artensterben ist, folgt man Darwin, nur ein natürlicher Teil der Evolution?“
Bodelstein wurde rot im Gesicht.
„So kann man das nun wirklich nicht sehen“, zischte er.
Er griff nach seiner abgegriffenen Lederaktentasche, die er neben sich auf den Boden gestellt hatte und für deren Erwerb er bestimmt eine Menge Trödelläden hatte abklappern müssen, und holte großformatige Fotografien hervor, die er der Ministerin vor die Nase hielt. Sie zeigten junge Gorillas und Orang-Utans.
„Wollen Sie wirklich, dass diese Lebewesen für immer verschwinden? Dass unsere Enkel und Urenkel diese reizenden Geschöpfe nur noch auf alten Fotografien bewundern können? Haben Sie denn kein Mitleid?“ rief er pathetisch.
„Aber, aber“, beruhigte sie ihn. „Sie haben mich völlig missverstanden. Natürlich schlägt mein Herz höher, wenn ich diese Tiere sehe. Natürlich möchte ich die gesamte Flora und Fauna auf diesem Erdball erhalten. Das ist nicht nur meine Aufgabe als Ministerin, sondern es ist mir eine Herzensangelegenheit. Ich will mich doch nur von Ihnen umfassend informieren lassen.“
‚Du Heuchlerin‘ sagte sie sich. ‚Aber warum bist du auch in die Politik gegangen. Du wusstest doch, dass er dir schwerfällt, deinen Kopf auszuschalten und den Mund bei offensichtlichem Unsinn zu halten. So nimm dich jetzt zusammen und versuche, zumindest eine Spur von gutem Eindruck zu hinterlassen. Oder willst du, dass dieser Idiot anschießend eine Pressekonferenz gibt, in der er dich in die Pfanne haut? ‘
Laut fuhr sie fort: „Und nun reden wir von den Dingen, die mir von meiner Ausbildung her näherliegen, vom Geld. Wie viel benötigen Sie im nächsten Jahr, damit Sie Ihre wichtige Arbeit fortsetzen können?“
16
Die Ministerin hatte anschließend keine Zeit über das Gespräch nachzudenken, sie musste vor der Industrie und Handelskammer eine Rede halten. Referent Lohwitz saß auf der Fahrt dorthin neben ihr im Auto und erläuterte ihr das Redemanuskript, das er vorbereitet hatte. Lohwitz schrieb gute Reden. Sie hatten Spannungsbögen und Pfiff, und er verstand es, den Sprachduktus seiner Chefin glänzend zu imitieren.
Sie stand nach der Veranstaltung noch eine Weile mit dem Vorstand und anderen wichtigen Leuten zusammen und ließ sich zu ihren Thesen beglückwünschen: „Der Umweltschutz als lange vernachlässigter Wirtschaftsfaktor“.
Auf der Rückfahrt nach Berlin erledigte sie verschiedene Telefonate und arbeitete Akten durch. Irgendwann wurde sie müde, lehnte sich in den Polstern zurück und döste ein wenig. Dabei erinnerte sie sich wieder an den Brief dieses Querkopfes, des Professor Schmidt. Sollte sie ihm antworten? Sie war im Grunde ihres Herzens dazu fest entschlossen, wusste aber nicht wie. Ihn einfach anzurufen war unmöglich. Sie war sich sicher, dass man sie überwachte. Und sie durfte gar nicht daran denken, welche Reaktion in diesem Fall vom Grafen zu erwarten war.
Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass sie Angst hatte. Sie, eine Ministerin der Bundesrepublik Deutschland, hatte Angst mit jemandem zu telefonieren. Absurd! Aber dennoch war es so. Sie kam sich vor, als sei sie wieder sechzehn Jahre und wollte sich mit ihrem neuen Freund treffen, aber der Vater durfte es nicht erfahren.
Schon vor ein paar Wochen war sie sich wie ein pubertierendes Mädchen vorgekommen. Damals in der dunklen Stretch Limousine, als der Graf sie zum Petting verführt hatte. Wahnsinn! Sie schämte sich noch jetzt. Wie lange war das nun schon wieder her? Und was war alles seit damals geschehen? Auf dem Empfang des Bundespräsidenten vor vielen Äonen war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Sie war stolz auf das Ministeramt, das man ihr kurz zuvor übertragen hatte, und hatte noch an die Gestaltungsmöglichkeiten in dieser Position geglaubt. Sie wollte ihre Ideen verwirklichen. Und dann hatte sie den Grafen Manderscheidt getroffen, diesen seltsamen, faszinierenden Mann mit den wunderschönen Händen. Als sie an seine Hände dachte, überflutete sie eine Welle sexueller Erregung. Und nun war sie in seiner Gewalt, sollte ihren guten Ruf für seine geldgierigen Ziele aufs Spiel setzen. Wer war dieser Mann, den so viele Geheimnisse umgaben? War er tatsächlich der mythische Graf von Saint Germain?
‚Unsinn‘, sagte sie sich.
Sie als Einserjuristin glaubte nur an unwiderlegbare Beweise. Alles Esoterische war ihr fremd, langweilte sie. Von Verschwörungstheorien hielt sie gar nichts. Es konnte einfach keinen Wanderer durch die Zeiten geben, sondern nur Angeber, Hochstapler oder Betrüger. Und doch hatte sie den Auftrag erteilt, in der Vergangenheit nachzuforschen, ob jemand mit dem Aussehen des Manderscheidt an früheren historischen Ereignissen beteiligt gewesen war. Begann sie vielleicht peu en peu den Verstand zu verlieren?
Aber vielleicht konnte sie dieser Josef Schmidt wieder in die Realität zurückführen? Ein Versuch war es zumindest wert.
17
Mitten in der Nacht wachte sie auf. Das Doppelbett vibrierte leicht, und sie hörte ihren Mann leise stöhnen. Angewidert versuchte sie wieder einzuschlafen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Zu viele Probleme gingen ihr durch den Kopf. Nach einer Stunde, in der sie sich hin und her gewälzt hatte, wobei ihr Mann schon lange wieder schlief, fand sie die Lösung.
Sie würde ihre Mutter in Göttingen besuchen. In Göttingen wohnte auch dieser Schmidt. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn sich da nichts arrangieren ließe. Sicher, sobald sie eingetroffen war, stünden sie und das Elternhaus unter Kontrolle. Aber was wäre, wenn sich Josef Schmidt bereits zuvor bei ihrer Mutter einfände?
Schon sehr früh am nächsten Morgen war Graf Manderscheidt am Telefon. Er wollte mit ihr sprechen, bevor sie „auf Tour ging“, wie er ihre Reden und Eröffnungen nannte.
Als sie seine Stimme hörte, wusste sie nicht, ob er verärgert oder amüsiert war.
„Was hast du denn mit dem armen Bodelstein angestellt? Er ist ja ganz aus dem Häuschen.“
„Ich habe mit ihm lediglich zu Mittag gegessen und ihm das gewünschte Geld zugesagt.“
„Er hat das aber ganz anderes im Kopf. Besonders dein Hinweis auf die Evolutionstheorie, nach der ständig neue Arten entstehen und andere aussterben müssen, hat ihn beinahe um den Verstand gebracht. So etwas von der Ministerin für Umwelt und Naturschutz hören zu müssen, darauf war er nicht vorbereitet. Am liebsten wäre er aufgestanden, erzählt er nun überall, und hätte dieser Frau Minister seine Meinung gesagt. Aber er sei schließlich ein höflicher Mensch und die Frau Minister nur eine inkompetente Juristin. Suzan, du hast ja recht! Der Typ ist penetrant. Aber warum machst du dir das Leben so schwer? Der versteht doch gar nicht, was du zu ihm sagst. Der wiederholt doch den ganzen Tag nur die derzeit gängigen Phrasen. Also, wirf deine ironischen Bälle nicht vor die Säue und schaffe dir nicht so viele Feinde.“
Bevor er auflegte, sagte er noch: „Aber der Einfall mit der Evolutionstheorie und dem Artensterben hat mir gut gefallen. Das war pfiffig!“
18
Vierzehn Tage später war es dann so weit. Suzan Bergstoh fuhr zu ihrer Mutter nach Göttingen. Sie war in ausgezeichneter Laune und hatte das Gefühl, als würde sie zu einem Rendezvous fahren. Unablässig sang sie ohne Rücksicht auf ihren Fahrer das Lied:
Et puis notre bois de Vincennes,mais Dieu que les roses sont bellesà Göttingen, à Göttingen. Sie dachte an das alte Haus. Die Mutter hatte es geerbt und mit in die Ehe gebracht. Dort hatte sie ihre Kindheit verbracht.
‚Habe ich eigentlich eine glückliche Kindheit gehabt?‘ fragte sie sich plötzlich und war selbst erstaunt, dass sie sich eine so ketzerische Frage erlaubte.
Aber war ihre Kindheit wirklich glücklich gewesen? Suzan Bergstoh war auf Papua-Neuguinea geboren. Dort hatte sich ihr Vater, Samuel Rausch, um das Seelenheil der Eingeborenen als Missionar gekümmert, und ihre Mutter, eine approbierte Ärztin, hatte sich um die Gesundheit der Papuas gesorgt. Sie war das dritte Kind, das Mutter Adelheid dort geboren hatte.
Der Vater war ein harter Mann gewesen, am härtesten gegen sich selbst. Mörikes Spruch: „Herr, schicke, was du willst, ein Liebes oder Leides, ich bin vergnügt, dass beides aus deinen Händen quillt“, zitierte er morgens und abends.
Selbst als er seine beiden Kinder begraben musste, las er am Grab aus dem Buch Hiob: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, gepriesen sei der Name des Herrn.“
Doch dann entschloss sich der Vater ganz überraschend, seine Arbeit im Weinberg des Herrn ruhen zu lassen und mit dem dritten, noch lebenden Kind endlich nach Deutschland zurückzukehren.
Oh ja, der Vater war stets ängstlich darauf bedacht gewesen, bloß keine Schwäche zu zeigen, nur keine Angst zuzugeben. Die anderen Menschen hätten schließlich auf den Gedanken kommen können, dass er in seinem Gottvertrauen wankte und sich gegen Prüfungen, die ihm Gott auferlegt, zur Wehr setzte, anstatt sie gottesfürchtig hinzunehmen.
In seinen guten Momenten zitierte er deshalb Bonhoeffer:
„Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
Die Mutter unterwarf sich zwar ihrem Mann und widersprach seinem strengen Glauben nicht. Aber ihr Glaube war anders, er war vertrauensvoll, stets auf der Suche nach Geborgenheit. Ihr Wahlspruch lautete: „Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von wo ein Lichtlein her.“
Sie lebte in der festen Gewissheit, dass sich stets alles zum Guten wendet. Dabei war sie eine lebenstüchtige gebildete Frau, die als Ärztin mit beiden Beinen fest auf der Erde stand. Nur in einem Punkt hatte sie sich ihrem Mann nicht unterworfen, beim Sex. Später erfuhr die Tochter von ihr, dass diese schmutzige Beschäftigung eingestellt worden war, nachdem sie das 40. Lebensjahr erreicht hatte. Nur ab und zu, wenn sie bei ihrem Mann etwas Besonderes hatte erreichen wollen, wurde eine Ausnahme gemacht. Dann hatte sie zuvor genau die Scheidentemperatur gemessen, und darauf geachtet, dass sie wirklich in den unfruchtbaren Tagen war.
Und sie selbst, die Tochter? Suzan war mit drei Jahren nach Deutschland gekommen und hier aufgewachsen. Eine Erinnerung an Neuguinea, wo sie geboren war, hatte sie nicht. Und mit dem Vater gab es, als sie in die Pubertät gekommen war, nur noch Streit. Sie wollte sich seinem starken Willen nicht beugen, und sie wollte auch nicht einen Willen Gottes anerkennen, den der Vater allein zu erkennen glaubte und scheinbar allwissend auslegte. Die ständigen Auseinandersetzungen hatten die Eltern zermürbt und deshalb sträubten sie sich nicht, als die Tochter auf eine Internatsschule gehen wollte. Allerdings musste es ein christliches, ein evangelikales Internat sein.
Der Vater starb dann an Magenkrebs, und sie selbst trat aus der Kirche aus, nachdem sie volljährig geworden war. Aber sie hatte beinahe ein Jahr gewartet, bevor sie es der Mutter gestand. Wider Erwarten war die ganz ruhig geblieben. Sie hatte nur gesagt: „Wie gut, dass es Vater nicht mehr erlebt hat.“
Dann kam die Ministerin in Göttingen an. Die Mutter wartete schon draußen am Gartentor. Sie umarmten sich herzlich. Während sich die Sicherheitsleute im Garten verteilten, schlenderte Suzan mit ihrer Mutter in das alte Haus. Bei jedem Besuch hatte sie anfangs das Gefühl, wieder ein kleines Mädchen zu sein. Hier war die Welt in Ordnung, und sie brauchte sich keine Sorgen zu machen. Natürlich war dies eine Illusion, das wusste sie genau.
‚Aber die Sehnsucht und der Wunsch sind doch legitim‘, dachte sie.
Die alte Villa lud aber auch zum Träumen ein. Sie war von außen mit Efeu bewachsen und sah wie ein verwunschenes Schloss aus. Der Garten war verwildert. Da standen hohe Fichten, einst süße kleine Christbäume, die man rechtzeitig zu fällen vergessen hatte. Nun waren es riesige Bäume, aus deren Schatten das Haus zu keiner Tageszeit entkommen konnte. So altertümlich wie außen war auch das Innere. Die sanitären Anlagen ließen zu wünschen übrig, die Fenster waren undicht.
‚Das alles gehört dringend renoviert‘, sagte sich Suzan, als sie die knarrenden Holzstufen hinaufstieg.
Sie dachte daran, wie sie als Kind die Stufen emporgesprungen war, und öffnete ganz in Gedanken die Tür zum großen Wohnzimmer im Obergeschoss mit dem runden Erker. Sie war so in ihre Erinnerungen versunken, dass sie ein wenig erschrak, als sie im Wohnzimmer den Gast erblickte, der auf sie gewartet hatte. Professor Doktor Josef Schmidt legte die Fachzeitschrift, in der er gelesen hatte, beiseite und erhob sich sogleich.
Suzan musterte seine gedrungene Gestalt, das bleiche Gesicht mit den tief liegenden Augen. Wie so oft, wenn sie einen Mann kennenlernte, stellte sie sich die Frage, ob er wohl für Sex in Betracht käme, und entschied sogleich ‚nein‘.
Nachdem sie sich die Hände geschüttelt und den von Mutter bereitgestellten Kaffee getrunken hatten, meinte der Mann lächelnd: „Das ist ja geradezu ein konspiratives Treffen, zu dem Sie mich eingeladen haben. Gibt es einen Grund für diese Geheimniskrämerei?“
In der Tat hatte die Ministerin all ihre Erfindungsgabe aufgebracht, um zu vertuschen, dass sie diesen Professor traf. Sie hatte aus Telefonzellen angerufen, anonyme E-Mail-Accounts eingerichtet und war sich dabei reichlich blöd vorgekommen. Aber ihre Angst vor dem Grafen hatte alles dominiert. Diese Angst konnte sie natürlich gegenüber dem fremden Mann nicht zugeben, deshalb ging sie auf die Frage nicht ein, sondern sagte nur lauernd: „Nun da bin ich. Was erwarten Sie von mir?“
„Das weiß ich eigentlich auch nicht so genau. Sie sind lediglich die Einzige, die mir in meiner Verzweiflung eingefallen ist.“
„Worum geht es eigentlich?“
„Das ist rasch berichtet. Wie Sie ja allzu gut wissen, habe ich mich durch meine Kritik am CO2-Dogma selbst zum Enfant terrible gemacht. Als Folge bekam ich natürlich keine Forschungsgelder mehr und die Studenten blieben von meinen Veranstaltungen fern. Schließlich galt ich nun als unzurechnungsfähiger Spinner. Auch alle meine Doktoranden sind abgesprungen. Es macht sich nicht gut im Lebenslauf, wenn man bei einem Irren promoviert hat.
Andererseits läuft mein Gehalt als C3-Professor weiter. Schließlich bin ich auf Lebenszeit verbeamtet. Ich habe ein Anrecht auf Hilfsassistenten. Außerdem kann ich kostbare Laborzeit beanspruchen. Bei den Kollegen drängen sich jetzt Studentenmassen, und ich nutze die großen Laborräume nur mit einem kleinen Häufchen Studenten. Das ist der Universitätsleitung, der Verwaltung und vor allem den Kollegen natürlich ein Dorn im Auge.“
„Warum stilisieren Sie sich eigentlich zum Märtyrer?“ entgegnete ihm die Ministerin ärgerlich. „Zweifel an der CO2 Hypothese werden inzwischen doch auch von namhaften Wissenschaftlern geäußert. Sie stehen also nicht allein! Was also wollen Sie von mir?“
„Es ist schon richtig, dass sich immer mehr angesehene Leute gegen diesen wissenschaftlichen Unsinn auflehnen, der leider sehr viel Geld einbringt. Aber, wenn Sie sich mit diesen Namen beschäftigen, so werden Sie feststellen, dass alle nicht mehr im Berufsleben stehen. Erst nachdem sie emeritiert waren oder Altersruhegeld bezogen, fanden sie den Mut, für die Wahrheit einzutreten. Ich habe dies dummerweise bereits während meiner aktiven Zeit gemacht und muss nun die Konsequenzen tragen.“
„OK“, sagte die Ministerin trocken. „Ihre Tage in der Uni sind ein Spießrutenlaufen, aber das haben Sie sich selbst eingebrockt, und existenziell sind Sie doch abgesichert.“
„Ja, bisher“, war die kleinlaute Antwort. „Doch nun soll es mir an den Kragen gehen. Man klagt mich der Fälschung von Forschungsergebnissen an, um mich endlich zu beseitigen.“
„Und, ist etwas dran?“
„Unsinn, natürlich nicht.“
„Was sollen Sie denn gefälscht haben?“
„Na, was schon? Die Klimadaten, natürlich. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf!“
„Was sagt eigentlich Ihre Familie zu Ihrer Rolle als Wissenschaftsclown?“
„Meine Frau hat sich schon vor Monaten von mir getrennt. Sie wohnt jetzt allein in unserem Haus. Ich selbst habe nur noch ein kleines Appartement. Dort lebe ich aus Koffern.“
Suzan aß ein Stück von Mutters selbstgebackenem Kuchen und stellte fest, dass er zu süß war. Mutter hatte es wieder einmal zu gut gemeint und mit dem Zucker nicht gespart.
Angewidert stellte sie das halb gegessene Stück ein wenig zu heftig auf den Tisch zurück und sagte barsch: „Sie machen auf mich einen ganz vernünftigen Eindruck. Wie kommen Sie dazu, alle ihre Kollegen und Kolleginnen des Irrtums oder gar der Fälschung zu bezichtigen? Sie allein gegen alle? Haben Sie tatsächlich die Weisheit gepachtet? Steckt dahinter nicht eine gehörige Portion Größenwahn?“
Der Professor versuchte sich zu beherrschen, aber es war nun unübersehbar, wie stark seine Nerven beansprucht waren. Es gelang ihm nicht mehr, seinen gelangweilten, halb spöttischen Ton beizubehalten. Er sprang auf und lief auf und ab.
„Nun so ganz allein stehe ich gar nicht da. Es mehren sich die Stimmen, die die gleichen Fragen stellen wie ich. Aber nur Leute, die pensioniert sind und ihre wissenschaftliche Karriere längst hinter sich haben, wagen die Wahrheit beim Namen zu nennen. Allerdings werden sie genauso wenig gehört und ebenso verteufelt wie ich. Vor einiger Zeit hat man die E-Mails der CO2-Päpste gehackt und veröffentlicht. Dort wurde unmissverständlich zugegeben, dass meine ach so honorigen Kollegen die Klimadaten gefälscht haben.“
„Ich weiß, das habe ich auch gelesen“, murmelte sie.
„Doch hat dies etwas geändert. Die Lügen werden weiterverbreitet, so als ob nichts geschehen wäre. Aber Ihr Argument vom Wahrheitsanspruch der Mehrheit möchte ich mit dem Aphoristiker Lichtenberg kontern: Was jedermann für ausgemacht hält, verdient am meisten untersucht zu werden.“
Er kramte in seinen Unterlagen und zog endlich eine Klarsichthülle mit einem Zeitungsartikel hervor. Den überreichte er theatralisch der Ministerin. Es war eine Seite aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. Januar 2010, in der eine Modellrechnung aufgemacht wurde.
„Wenn in der BRD überhaupt kein anthropogenes CO 2 mehr erzeugt wird, wenn also Deutschland auf der Welt nicht mehr existieren würde, hat dies einen Einfluss von 0,00004712 Prozent auf die Gesamtproduktion von CO 2 unseres Planeten.“
Noch während Bergstoh diesen Artikel las, hielt er schon die nächste Kopie aus dem Kopp-Verlag bereit. Sein Gesicht war rot vor Eifer. Dort stand als Interpretation zu der Modellrechnung (kann jeder nachlesen):
Im Klartext: Wenn in keinem deutschsprachigen Dorf mehr ein Ofen brennt, alle Industrie stillgelegt ist, auch der Bundespräsident nur noch mit dem Fahrrad fährt, dann ersparen wir der Erde damit »gigantische« 0,00004712 Prozent CO 2 . Wir können stolz auf uns sein, wie viel Industrie und Arbeitsplätze wir für dieses Ziel schon vernichtet haben. Hauptsache, es ist politisch korrekt. Hurra, wir haben es bald geschafft. Denn mit immer neuen Vorgaben und Kostenstellen ruinieren wir nach den Bauern jetzt auch unsere Industrie und Arbeitsplätze.
Suzan lächelte in sich hinein. Sie ging nicht auf die provokanten Artikel ein, sondern fragte mit strenger Stimme weiter: „Wie sind Sie eigentlich in diese Rolle geraten. Welcher Teufel hat Sie geritten der Michael Kohlhaas der Klimaforschung zu werden?“
„Mehr durch Zufall. Ich habe einen Aufsatz über das Waldsterben gelesen.“
„Was hat denn das Waldsterben damit zu tun?“
„Alles und nichts. Die Panik ist damals genauso von den Medien gemacht und an den Haaren herbeigezogen worden wie heute die CO2-Katastrophe. Haben Sie in den letzten Jahren noch etwas vom Waldsterben gehört? Nein, natürlich nicht. Dem Wald geht es so gut wie lange nicht. Ich habe mich damals amüsiert, wie sich ein ganzes Land an der Nase herumführen lässt. Oder denken Sie an das berühmte Ozonloch? Wie wurde mit dieser pseudowissenschaftlichen Erkenntnis die Menschheit in Angst und Schrecken versetzt. Doch keiner von den Unheilpropheten hat jemals seinen Irrtum zugegeben. Und inzwischen werden längst neue Säue durchs Dorf getrieben. Da gibt es weltweite Seuchen wie die Vogelgrippe oder die Schweinegrippe, an deren Impfungen mehr Menschen sterben als an den Krankheiten selbst. Aber es wird gut daran verdient.
Das Waldsterben war jedenfalls für mich das Schlüsselerlebnis. Von ihm schloss ich auf die prognostizierte Klimakatastrophe und erkannte die gleichen Mechanismen. Damals war doch auch jeder ein moralisches Schwein, der am Untergang des deutschen Waldes zu zweifeln wagte. Heute fordern einige meiner Universitätskollegen sogar, die Leugnung des CO2-bedingten Klimawandels unter Strafe zu stellen.
Ich habe darüber in meinem Übermut und in Verkennung der mächtigen Interessenverbände einen ironischen Aufsatz geschrieben, in dem ich den ganzen Unsinn angeprangerte. Das Folgende kennen Sie sicherlich. Der Abdruck meines Beitrags wurde grundlos von den seriösen Zeitschriften verweigert. Da bin ich trotzig geworden und habe ihn gegen meine innere Überzeugung in einem unbekannten Blättchen veröffentlicht. Dies war mein Untergang. Von da an hatte ich alles verloren. Dabei stehe ich gar nicht so allein da. Wissenschaftlich ist dieser CO2-Unsinn längst widerlegt, nur wird dies von den Medien und den Politikern einfach nicht zur Kenntnis genommen. Und weil von den seriösen Wissenschaftlern keiner mein Schicksal erleiden will, machen sie den Mund erst dann auf, wenn sie in Rente sind - und dann hört keiner mehr auf sie.“
„Warum haben Sie diesen aussichtslosen Kampf aufgenommen?“
„Darüber habe ich inzwischen auch lange nachgedacht. Ich glaube, ich kenne heute die Antwort. Dazu müsste ich aber ein wenig ausholen und von meiner Familie berichten, und ich will Sie nicht langweilen“