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Ilka Silbermann

Am Himmelreich

ist die Hölle los

Ostfriesland Roman

Für meinen Mann und meine Mutter,

meine ersten Zuhörer

und in Gedenken an meinen Vater

„Ja, die Wohnung ist noch frei!“ Sabrina antwortete ohne zu zögern auf die Frage der beiden Männer an ihrer Haustür.

Sie konnte es sich nicht leisten, Feriengäste abzuweisen. Obwohl ihr Bauch gerade etwas anderes zu raten schien. Blanke Vorurteile! wies Sabrina ihn lautlos zurecht.

„Dann nehmen wir sie“, sprach der Ältere.

Die junge Frau schätzte ihn auf Anfang vierzig. Groß, stämmig und sehr muskulös, wie sie an dem gespannten Stoff der Baumwolljacke überdeutlich sehen konnte. Über der Sonnenbrille, die den Ausdruck seiner Augen verdeckte, ging die hohe Stirn in eine geschorene Glatze über. So entsprach er dem klassischen Bild eines Vorurteils, dazu der harte osteuropäische Akzent.

„Gut“, entgegnete sie mechanisch, noch immer mit mulmigem Gefühl. Dass Orko, ihr Rottweiler, in der Küche ohne Unterlass bellte, machte die Sache nicht besser.

„Augenblick bitte, ich hole nur eben den Schlüssel.“ Sie wandte sich ab, lehnte aber noch die Haustür an, so dass den Männern der Einblick verborgen blieb. Instinktiv versuchte sie den Aufbewahrungsort der Schlüssel zu den insgesamt sechs Ferienwohnungen nicht preiszugeben.

Gleich darauf stand sie wieder vor den Männern und zog die Haustür zu, während Orko drinnen die Küche auseinanderzunehmen schien. Doch darum würde sie sich später kümmern müssen.

„Hier entlang“, wies sie die Männer an, die ihr folgten, als sie um das rote Backsteingebäude herumschritt.

Wie in Ostfriesland häufig anzutreffen, waren auch bei diesem ehemaligen Bauernhaus die früheren Stallungen und die Scheune umgebaut worden und dienten nun als Ferienwohnungen.

„Die Wohnung kostet nun in der Vorsaison …“

„Spielt keine Rolle“, unterbrach der Ältere sie fast unwirsch.

Doch vielleicht klang es auch nur in ihren Ohren so, weil der Akzent und seine Stimmlage abweisend auf sie wirkten. Sie sah sich zu ihm um, und als er merkte, dass sie irritiert war, setzte er ein, wie er wohl glaubte, freundliches Grinsen auf, das sie umso mehr erschreckte, weil es ihr eine Reihe goldener Zähne freigab.

Vor ihrem geistigen Auge spielte sich flugs die Szene einer gefährlichen Prügelei ab, bei der die angeborenen Beißerchen im hohen Bogen verloren gingen.

Vielleicht hätte ich Schriftstellerin werden sollen, dachte sie ironisch, bei der Fantasie …Einen Bestseller landen, damit die gröbsten Kosten abgedeckt wären. In dem Fall könnte sie sich ihre Feriengäste selber aussuchen. Aber so …

Das langgestreckte Gebäude, ein ehemaliger Kuhstall, auf das sie zusteuerte, stand im rechten Winkel zum Wohnhaus. Vier Ferienwohnungen waren dort nebeneinander untergebracht. Ein großer betonierter Hof trennte diesen Bereich vom Haupthaus, dem Garten und einer angrenzenden Grünfläche.

Dort stand ein Blockhaus, die fünfte Ferienwohnung, und im Wohnhaus hatten Sabrinas Eltern die obere Etage ebenfalls als Gästewohnung hergerichtet.

Sabrina öffnete die Tür des ersten Appartements und trat ein. Der Ältere musste den Kopf einziehen, um durch die Türöffnung zu gelangen. Dadurch fiel ihr auf, dass er erstaunlich groß war.

Komisch, dachte sie. Vorhin wirkte er eher wuchtig statt riesig.

Sein Begleiter, dem sie erst jetzt ihre Aufmerksamkeit widmete, war deutlich jünger. Vielleicht Ende zwanzig. Ein wenig blass unter dem blonden, kurzgeschnittenen Schopf, helle Augen, deren Farbe nicht auf Anhieb erkennbar war, und eine normale Statur, nicht viel größer als sie selbst. Ein paar Sommersprossen auf der Nase ließen ihn jungenhaft schüchtern wirken. Fast unsicher. Nur kurz konnte sie in seine Augen sehen, da senkte er auch schon wieder den Blick.

Na, der braucht keine Sonnenbrille, wenn er die ganze Zeit auf den Boden guckt. Sabrina wandte sich wieder dem Älteren zu, den die Wohnung überhaupt nicht zu interessieren schien. „Brauchen Sie Handtücher? – Kostet extra.“

„Spielt keine …“

„Rolle“, ergänzte Sabrina spontan und biss sich sogleich auf die Lippe. „Die bringe ich Ihnen sofort. Auf dem Tisch liegt übrigens das Anmeldeformular, das Sie ausfüllen müssen.“

Der Ältere hob eine Augenbraue und sah auf das Papier. Nahm es kurz auf, sah seinen Begleiter an und sagte etwas zu ihm in einer Sprache, deren Zugehörigkeit Sabrina nicht auf Anhieb einzuordnen wusste. Daraufhin erwiderte der Jüngere etwas, und Sabrina war von dem melodischen Klang seiner Stimme überrascht, den sie bei ihm nicht vermutet hätte.

Beide grinsten sich gleich darauf an.

„Das geht klar, junge Frau.“

„Sabrina. Ich heiße Sabrina Hoffmann.“

Der Ältere lächelte, es sollte wohl verführerisch wirken, und wiederholte schmeichelnd ihren Namen. „Das geht klar, Sabrina.“

Ihr lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter.

***

„Die beiden gefallen mir überhaupt nicht, Rolf. Was meinst du? – Roholf!“

Der Angesprochene zuckte zusammen, als seine Frau ihn deutlich fordernd ansprach. Er hatte sich in der Betrachtung des dampfenden aromatischen Kaffees verloren, den seine Tochter Sabrina zubereitet hatte, nachdem Orko besänftigt und das Chaos, das er angerichtet hatte, bereinigt war.

„Was meinst du, Schatz?“

Gerda seufzte. „Die beiden!“

„Du meinst die Männer?“

„Ja, sie gefallen mir nicht. Das sind keine Guten.“

„Wer ist das schon?“, überlegte Rolf und riss sich endgültig vom Anblick der Tasse los. Wie gerne hätte er sich diesem Genuss hingegeben. Ab und zu …

„Das kann man natürlich nie mit Gewissheit sagen“, gab Gerda ihm recht. „Gerade der Große macht keinen vertrauenerweckenden Eindruck. Wer bei diesem trüben Wetter eine Sonnenbrille trägt, ist entweder ein Angeber oder hat etwas zu verbergen.“

„Oder beides“, ergänzte Rolf.

Gerdas Gesichtsausdruck wechselte von besorgt zu ängstlich. Wenn ihr Mann nicht wie üblich widersprach, musste sie wirklich Grund zur Sorge haben. „Unsere arme Kleine!“, jammerte sie nun. „Nur weil sie glaubt, dass sie jeden beherbergen muss, der bei ihr klingelt …“

„Als Servicekraft in der Saison verdient man eben nicht genug, um zu überleben“, erwiderte Rolf gereizt, der in seiner Sorge zum Angriff überging. „Aber du wolltest ja unbedingt, dass unsere Tochter erst einmal auf Selbstfindungstrip ins Ausland gehen sollte, statt eine solide und gut bezahlte Ausbildung zu beginnen.“

„Ach, jetzt bin ich wieder schuld!“ Beleidigt drehte sich Gerda um und verschränkte die Arme, um gleich darauf jedoch zum Gegenschlag auszuholen. „Und wenn du nicht so leichtsinnig gewesen wärst, hätte sie auch die Ausbildung machen können. Denn dann wären wir …“

„Fängst du schon wieder mit dieser Leier an?“, schimpfte Rolf zurück, schrumpfte jedoch sichtbar in sich zusammen. Leise fügte er hinzu: „Das lässt sich jetzt nicht mehr ändern“, und senkte traurig den Kopf.

Gerda bekam augenblicklich Gewissensbisse. „Es tut mir leid, Rolf. Ich hatte wohl genauso viel Schuld daran wie du. Ich hätte …“

***

Einige Zeit später klopfte es an der Küchentür. Verwundert sah Sabrina hoch, während Orko augenblicklich zu knurren begann.

„Ruhig, Orko, bleib!“, wies sie ihn an. Er gehorchte und blieb auf seinem Platz liegen. Sie stellte ihre Tasse ab und wollte sich gerade erheben, als schon die Tür zur geräumigen Wohnküche geöffnet wurde und der Kopf des Älteren durch den Spalt lugte.

„Entschuldigung! Im Schuppen sind Fahrräder. Dürfen wir sie uns ausleihen? Wir zahlen.“

Im Nu legte er einen Zwanzig-Euro-Schein auf die Arbeitsplatte neben der Tür.

Vor lauter Überraschung war Sabrina zunächst sprachlos. So nickte sie nur.

Augenblicklich verschwand der Fremde. Es hatte eindeutig etwas Unheimliches.

Verwundert sah sie auf die geschlossene Tür, stand auf, nahm den Zwanzig-Euro-Schein an sich und betrachtete ihn fast bewundernd.

Ein schöner Schein, dachte sie. Er fühlte sich wie frisch gedruckt an – so glatt und fest. Augenblicklich erfüllte sie Freude, die das Gefühl der Beklemmung vertrieb. Der kam nun wirklich gerade recht. Es herrschte Ebbe in ihrem Portemonnaie.

Die Ferienwohnungen warteten alle auf Gäste, bis auf die soeben vergebene. Erst in einem Monat begann ihr Saisonjob in Bensersiel. Das Arbeitsüberbrückungsgeld reichte vorn und hinten nicht. Ihre Reserven, die sie eigentlich für überraschende Reparaturmaßnahmen hütete, gingen zur Neige.

Gut, dass ihre drei Hühner gerade wieder anfingen zu legen. Da gab es zumindest mal ein Ei.

***

„Was für eine Frechheit!“, erboste sich Gerda. „Hast du das mitbekommen? – Rolf!“, rief sie ungeduldig.

„Ja, natürlich“, murrte ihr Angetrauter.

„Das gefällt mir gar nicht. Scheint hier herumzuschleichen und sich alles ganz genau anzusehen. Geht ungefragt in den Schuppen – und dringt durch den Hintereingang ins Haus ein –, das gefällt mir gar nicht“, wiederholte sie sich.

„Das sehe ich genauso! Was machen wir jetzt?“

Gerda überlegte einen kurzen Augenblick: „Komm, wir sehen uns die beiden einmal genauer an.“

Draußen machten sich derweil die beiden Männer auf dem großflächigen Hof an den Rädern zu schaffen.

Sie prüften den Luftdruck der Reifen, die Funktionsfähigkeit der Bremsen, sogar die Beleuchtung. Schließlich stellten sie die Sattelhöhe ein. Werkzeug fanden sie bei den alten Rädern in der kleinen Tasche unterhalb des Sattels. Sogar Flickzeug befand sich darin. Also alles vorschriftsmäßig.

Der Ältere schien zufrieden. Blickte auf sein Smartphone, das ihm offensichtlich als Navigationshilfe diente, gab einen knappen Befehl, und beide stiegen auf, wobei der Jüngere mit dem Damenfahrrad vorliebnehmen musste.

Er schaute nicht begeistert, doch sein Vordermann rief ihm etwas zu, das seinen Gesichtsausdruck aufhellte.

„Hast du verstanden, was sie gesagt haben?“, fragte Gerda ihren Mann, als die beiden den Hof verlassen hatten.

„Nicht ein Wort“, entgegnete er achselzuckend. „Nur, dass der Ältere scheinbar Iwan heißt und der Kleine Anton.“

„Oje! Iwan, der Schreckliche!“ Gerda schaute ganz unglücklich drein. „Genau diesen Eindruck macht er auch. – Ich sag dir, da stimmt was nicht! Ich wüsste zu gerne, was sie vorhaben.“

***

Kurzes Klopfen an der Küchentür, und wieder schob sich der Kopf des Älteren durch den Türspalt.

Erschrocken guckte Sabrina hoch. Diesmal würde sie sich zur Wehr setzen. Orko war schon aufgesprungen und rannte wütend bellend zur Tür, die flugs und geräuschvoll geschlossen wurde.

„Halten Sie die verdammte Töle zurück!“, klang es dumpf durch die Tür.

Sabrina gefiel dieses ungehobelte Verhalten überhaupt nicht, doch was sollte sie machen? „Orko, komm!“, befahl sie ihrem Beschützer. „Orko!“ Sie wurde streng. Widerwillig gehorchte der Hund. „Sitz!“, befahl sie ihm. Und dann: „Bleib!“

Sie ging zur Tür und öffnete sie. „Hören Sie mal, so geht das nicht!“

„Der Hund ist ja lebensgefährlich!“, fiel ihr der Angesprochene ins Wort.

„Er beschützt mich bloß. Das ist seine Aufgabe“, erwiderte Sabrina streng. „Sie müssen schon meine Privatsphäre respektieren, Herr, Herr … Wie heißen Sie eigentlich?“

„Nennen Sie mich Igor. Einfach Igor!“ Er versuchte sich versöhnlicher zu zeigen. „Das kann ich verstehen. Leben Sie alleine?“

Sabrina wurde vorsichtig. „Was wollen Sie von mir?“

„Essen!“

Sie hob verdutzt die Augenbrauen, wandte sich kurz um und schaute zu ihrem Teller Haferbrei auf dem Tisch, ihrem Abendessen, und dann wieder zu Igor.

„Wir zahlen!“

„Ja, ja!“ Sabrina wurde ungeduldig. Gleichzeitig war es ihr peinlich, dass man möglicherweise sehen konnte, dass sie praktisch nichts im Haus hatte.

„Das nützt jetzt gar nichts! Darauf bin ich nicht vorbereitet. Ich vermiete Ferienwohnungen. Das bedeutet, dass Sie sich selbst verpflegen müssen. Sie können nach Bensersiel oder Esens fahren und dort zu Abend essen.“

Der Mann griff in seine Hosentasche, zog ein dickes Bündel Geldscheine heraus, fingerte daraus vier Fünfzig-Euro-Scheine und drückte sie ihr in die Hand.

Als er ihre Hand nahm, sprang Orko auf und begann zu knurren.

„Ruhig, Orko!“, befahl Sabrina sofort.

„Er … – wirklich wachsam. Sie kaufen morgen in der Frühe ein. Wir brauchen nicht viel zum Frühstück. Kaffee und Ei. Neun Uhr Frühstück. Mittags brauchen wir nichts, dafür abends kochen und Bier und Wodka, eisgekühlt. Das Geld müsste reichen. Wenn Sie mehr brauchen – sagen.“ Diesmal bemühte er sich, seine Stimme vertrauenerweckend klingen zu lassen.

„Augenblick!“, rief Sabrina ihm hinterher, als sie sich von der Überraschung erholt hatte.

Er drehte sich im Flur noch einmal zu ihr um.

„Wie lange bleiben Sie denn?“ Sabrina überlegte, wie viele Mahlzeiten sie wohl bereiten musste. Vielleicht blieb ein wenig von dem Geld für sie übrig.

„Weiß nicht. Wird man sehen.“ Und schon stapfte er zur Hintertür hinaus.

Sie starrte auf die geschlossene Tür, dann rief sie Orko und ließ ihn noch einmal zum Garten hinaus, damit er sein Geschäft erledigen konnte. Heute würde ihr Rundgang ausfallen. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit schloss sie diesmal anschließend sehr sorgfältig die Türen ab.

Zurück in der Küche, nahm sie die Scheine wieder in die Hand, um sie in ihrer Börse zu verstauen.

Prüfend glitten ihre Finger über das Papier. Merkwürdig, auch dieses Geld fühlte sich fest und neu an. Sie bekam eher selten am Bankautomaten frisch gedruckte Scheine. Woher hatten sie denn so viele davon?

***

„Das wird immer unheimlicher!“ Gerda bewegte sich hin und her. „Rolf! Nun sag du doch mal was dazu. Ist dir nichts aufgefallen?“

„Was sollte mir aufgefallen sein? Dass sie Wodka trinken, dürfte für Russen normal sein. Ich nehme mal an, dass sie Russen sind, bei den Vornamen.“

„Na eben! Die Vornamen!!!“

„Was meinst du?“

„Igor! Er sagte, sie solle Igor zu ihm sagen.“

„Ja und? Ist doch heutzutage üblich, dass man sich mit Vornamen anspricht. Haben wir doch auch in unseren wilden Zeiten gemacht, weißt du noch?“ Rolf verdrehte schwärmerisch die Augen. „Make love, not war! Unser Motto in den Sechzigern!“

„Du bist vielleicht begriffsstutzig! Er heißt doch Iwan, hast du vorhin gesagt. Iwan, der Schreckliche. Doch bei Sabrina gibt er sich als Igor aus.“

„Iwan – Igor! Ist doch ähnlich. Vielleicht hab ich mich heute Nachmittag verhört.“

„Das glaub ich nicht! Los, komm!“

„Wo willst du hin?“

„Na, zu den beiden! Das muss geklärt werden. Sonst hab ich keine Ruhe!“

„Du hast Ideen! Aber erst, wenn sie schlafen.“

„Lass uns die Morgenstunden nutzen. Da ist der Schlaf am tiefsten.“

„Sollen wir nicht lieber bis morgen warten, wenn sie Wodka intus haben? Dann schlafen sie vielleicht fester.“

„Nein! Heute!“

„Oh jemine! Hoffentlich geht das gut!“, jammerte Rolf.

***

Der Wecker riss Sabrina um 6.00 Uhr aus dem Schlaf. Es dämmerte, und entschlossen warf sie die Bettdecke zurück.

Orko, der vor ihrem Bett gelegen hatte, sprang auch sogleich auf und stupste wedelnd mit seiner feuchten Nase gegen ihre nackten Beine.

„Moin, mein Schatz!“, begrüßte sie ihn liebevoll und streichelte seinen Rücken. Sie ließ ihn in den Garten, schnappte sich ihre alte Jacke vom Haken, warf sie über und ging ebenfalls nach draußen, um den Hühnerstall zu öffnen.

„Moin, meine Lieben!“, rief sie den Hühnern auf der Stange zu. Doch da kam als Antwort nur ein schläfriges „Gaaaaagaaaag“ zurück. Es musste erst noch ein wenig heller werden, dann würden sie sich auf Futtersuche durch den Garten begeben.

Als sie sah, dass Orko nur noch schnüffelnd umherlief, um Spuren von Hasen oder anderen nächtlichen Besuchern zu erfassen, rief sie ihn zu sich.

Wieder schloss sie die Tür ab. Fehlt noch, dass einer von den Männern auftaucht, während ich dusche, dachte Sabrina.

Glücklicherweise ist der Jüngere nicht viel größer als ich, bemerkte sie wenig später, als sie das Fahrrad aus dem Schuppen holte. Dann musste sie den Sattel in der Höhe nicht verstellen.

„Du passt gut auf, Orko, hörst du?“, schärfte sie dem Rottweiler ein, der nun wie üblich auf dem Hof Stellung bezog, bis sie wieder zurück war.

Diesmal schloss sie die Türen ab, was sie sonst nie machte. In Ostfriesland war man in Sicherheit. Na ja, zumindest bis jetzt, gab sie zu. Denn die beiden waren ihr wirklich viel zu distanzlos, als dass sie sich sicher fühlen konnte.

Sie schwang sich aufs Rad und fuhr vom Hof. Von ihrem erhöhten Sitz aus konnte sie einen Blick auf das Benser Tief werfen, dessen Wasser wie ein Kanal durch den Schaffhauser Wald floss, vorbei an ihrem Haus, bis es in Bensersiel in die Nordsee mündete, wenn man es denn ließ. Die Sieltore öffnete man nur bei hohem Wasserstand.

An diesem entlegenen Fleck, umgeben von Feldern, verstreut liegenden Häusern und dem Benser Tief, nur einen Steinwurf entfernt, fühlte sie sich wohl, war sie zu Hause.

Hier, am Rande der Kleinstadt Esens, hatten ihre Eltern das ehemalige Bauernhaus vor vielen Jahren gekauft, umgebaut und es als passenden Ort empfunden, um ihren wilden Jahren Einhalt zu gebieten und ihr, Sabrina, eine Heimat zu geben.

Dort wuchs sie unbeschwert in Freiheit und Sicherheit auf, ging zur Schule bis zum Abitur und hatte sich um die Zukunft keine Sorgen gemacht. Schlagartig hatte dann jedoch das Schicksal zugeschlagen und ihr den Boden unter den Füßen weggerissen.

Sabrina befuhr nur kurz den „Wolder Weg“, einen einspurigen Landschaftsweg, der nach Esens führte. Gleich darauf bog sie, nach nicht einmal fünfzig Metern, in den „Himmelriekspad“, eine Abkürzung von etwa sieben Minuten. Lediglich für Fußgänger und Radfahrer war der Pfad geeignet, der kurvenreich durch die weitläufige Landschaft führte, Namensgeber ihrer Ferienwohnanlage war und zu Hochdeutsch „Himmelreichspfad“ hieß.

Sabrina genoss den kühlen Fahrtwind, vom Vogelgezwitscher begleitet, vorbei an den ersten Kühen, die zu dieser frühen Stunde auf der Weide dösten. Dem Winterstall entlassen, genossen sie das erste frische Grün.

Tief sog Sabrina die Luft ein. Sie liebte diesen Duft. Frisch und herb aus der Nordsee, vermischt mit dem Atem feuchten Grases und dem warmen Geruch der Kühe. In solchen Augenblicken vergaß sie nicht nur ihre finanziellen Sorgen.

Bald würden die ersten Touristen eintreffen. Die Anmeldungen konnten sich sehen lassen, und sie vertraute einfach auf zusätzliche spontane Besucher. Bisher hatte es immer geklappt. So fuhr sie fröhlich dem Supermarkt entgegen.

In der Bäckerei, die im Geschäft untergebracht war, kaufte sie frische Brötchen, und während sie Aufschnitt, Butter, Marmelade und Kaffee kaufte, überlegte sie, was sie kochen könnte. Was würden sie mögen? Sie entschied sich für Sauerkraut – preiswert, Eisbein – auch günstig und sogar im Angebot, dazu Kartoffelbrei. Ah, Milch und Zucker. Der Einkaufswagen füllte sich. Nun noch Wodka und Bier. Das würde allerdings bis zu Hause ganz schön durchgeschüttelt werden.

Heute würde sie sich an dem Frühstück beteiligen. Das war ihr Lohn. Noch ein paar Eier, und gleich darauf packte sie den Einkauf sorgfältig in die Fahrradkörbe.

Schwer beladen fuhr sie, in der Vorfreude auf ein leckeres Frühstück, zurück nach Hause.

***

„Man kann wirklich nichts entdecken, was auf ihre wahre Identität hinweisen würde. Mist!“

„Sei nicht so laut. Du könntest sie wecken, Gerda!“, mahnte ihr Mann.

Es dämmerte bereits, und so blickte sich Gerda im Wohn-Essbereich um. Die eingebaute Küchenzeile bot die Möglichkeit, sich zu versorgen. Auf dem runden Tisch in der Mitte des Zimmers stand eine Karaffe mit Leitungswasser neben benutzten Gläsern. Reichlich zerknülltes Bonbonpapier, das auf eine russische Süßigkeit hinwies, lag über den ganzen Tisch verteilt.

„Die haben offensichtlich nur Schlickerkram zu Abend gegessen“, flüsterte Gerda. „Sehr merkwürdig. Sie haben doch genug Geld, um essen zu gehen. Warum haben sie es nicht gemacht?“

„Vielleicht waren sie nach der Radtour einfach zu müde“, mutmaßte Rolf. „Ich verstehe wirklich nicht, warum du alles so genau wissen willst.“

„Na, die beiden sind doch nicht sauber. Das sieht ja ein Blinder! Ich will wissen, was die vorhaben. Nicht, dass unserer Sabrina etwas passiert!“

Rolf wurde beim letzten Satz hellhörig. „Was sollte ihr denn passieren?“ Seinem „Augapfel“ durfte nichts geschehen.

„Was weiß ich? Da gibt es genug Möglichkeiten. Entführung. Verge…“ Sie brach ab, dieses Wort konnte sie einfach nicht aussprechen. „Gewalt eben!“

„Aber was können wir denn machen?“ Rolf wurde nun doch unruhig.

„Als Erstes müssen wir herausbekommen, was die vorhaben. Ich glaube im Leben nicht, dass sie harmlose Feriengäste sind.“

„Schön und gut, aber wie? Wir verstehen doch kein Wort!“

„Wir müssen an ihnen dranbleiben, sie nicht mehr aus den Augen lassen.“

„Du meinst, uns von hier entfernen, um sie zu verfolgen?“

„Ja, es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben.“

„Meinst du, das geht?“, warf Rolf ängstlich ein.

„Wir müssen es einfach versuchen, Rolf.“

„Psst. Ich glaub, da kommt jemand!“

„Wohin jetzt so schnell?“ Gerda blickte sich suchend um.

„Rasch in die Dusche!“ Rolf war in Sekundenschnelle hinter dem Vorhang in der Badewanne verschwunden. Sogleich war Gerda an seiner Seite.

„Glaubst du, dass das eine gute Idee ist?“, zischte sie ihm zu. „Die werden doch als Erstes ins Bad gehen. Und aufs Klo!“ Gerda verdrehte die Augen.

„Ruhe! Jetzt ist es zu spät!“

Im nächsten Augenblick kam tatsächlich Igor oder Iwan, wie immer er auch hieß, ins Bad. Was sich dort dann abspielte, blieb zu Gerdas Erleichterung verborgen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit klappte endlich die Tür hinter ihm zu.

„Mann, kann der nicht das Fenster öffnen?“, empörte sich Gerda. „Männer!“

Rolf grinste.

Schon öffnete sich wieder die Tür, und Anton betrat das Bad. Kurz darauf lief das Wasser aus dem Hahn.

Gerda konnte der Versuchung nicht widerstehen, an der Seite des Vorhangs vorbeizulinsen.

Grinsend stieß sie Rolf an, als sie den jungen Mann, nur in Unterhose bekleidet, vor dem Waschbecken stehen sah.

Ihr Mann verzog pikiert das Gesicht.

Mit einem Mal schien sich Anton unbehaglich zu fühlen. Mittendrin stoppte er seine Katzenwäsche, drehte sich um und rief dann laut nach seinem Freund.

„Hab ich doch gesagt, Iwan heißt er und nicht Igor!“, flüsterte Gerda ihrem Mann zu.

„Hat er was gemerkt?“ Rolf wurde unruhig.

Iwan kam ins Bad und schien Anton etwas zu fragen. Dieser machte eine Kopfbewegung Richtung Dusche.

Ein Schritt, dann eine rasche Handbewegung, und der Duschvorhang wurde zur Seite gerissen.

***

Vier Jahre zuvor

„Mir fehlt unsere Kleine, Rolf.“ Gerda betrachtete seufzend das Foto einer stimmungsvollen Nachtaufnahme auf ihrem Handy. Braungebrannt stand dort ihre Tochter Sabrina in kurzen hellblauen Hosen, pinkfarbener bestickter Bluse und mit einem breitkrempigen Strohhut auf ihrem Kopf, unter dem ihr langes, eigentlich mittelblondes Haar herausragte und vom Wind spielerisch bewegt wurde. Die Sonne hatte es heller werden lassen. Mit der einen Hand hielt sie den Hut auf ihrem Kopf fest und mit der anderen ein exotisch dekoriertes Cocktailglas, das sie dem Fotografen prostend entgegenstreckte.

In der dunklen Umgebung war die helle Gischt, die den Strand benetzte, nur ansatzweise zu erkennen sowie eine spärlich beleuchtete Strandbar, eine sogenannte Palapa, mit Palmendach. Das Blitzlicht hob das glückliche Strahlen ihrer Augen hervor.

„Wem sagst du das?“, erwiderte Rolf niedergedrückt. „Wo ist sie gerade?“

„An der mexikanischen Karibikküste. Schau nur, wie unbeschwert sie aussieht.“

Rolf warf beinahe widerwillig einen Blick aufs Handy. Es schmerzte ihn, seine Tochter zu sehen, auch wenn er ihr diese Erlebnisse von Herzen gönnte. Doch vermisste er sie mehr, als er es zugeben würde. „Hm“, brummte er deshalb nur. „Und wen strahlt sie da so an? Doch nicht uns, sondern wohl eher den Fotografen.“

„Das hab ich mich auch schon gefragt.“ Gerda machte ein nachdenkliches Gesicht. Sie hoffte nur, dass ihre neunzehnjährige Tochter vorsichtig genug war.

Damals, zu ihrer Zeit, in dem Alter ihrer Tochter, hätte sie sich so eine Möglichkeit gewünscht, darum hatte sie diese Reise unterstützt. Aber sie hatte nicht geahnt, wie sie sich selbst damit fühlen würde – als zurückgelassene Mutter. Nur mit spärlichen Informationen gefüttert. Das war sie nicht gewohnt. Bisher war sie stets über die Unternehmungen und sogar über Sabrinas Empfindungen unterrichtet gewesen, so dass sie mitunter das Gefühl hatte, nicht nur ihr eigenes Leben zu führen, sondern auch das ihrer Tochter.

Nun befand sie sich wie in einem Vakuum.

Rolf erging es nicht viel besser, nur dass er diese Gefühle nach Möglichkeit vor seiner Frau Gerda verschwieg. Schließlich war er kein Weichei.

„Was hältst du davon, wenn wir einfach in den Flieger steigen und sie in Mexiko überraschen?“, schlug Gerda vor.

Sie war geradezu begeistert von ihrer spontanen Idee, und Lebensfreude flammte endlich wieder in ihr auf.

Rolf sah sie zweifelnd an.

„Das könnten wir doch machen“, beharrte Gerda. „Wir haben keine Feriengäste mehr, die nächsten kommen erst Ende Oktober. Also genug Zeit. Und so ein kleiner Urlaub würde uns doch auch sehr guttun.“

Ihr Mann schwieg, noch nicht überzeugt, und so fuhr sie fort: „Natürlich werden wir ihr nicht auf die Nerven fallen. Nur einmal ‚Hallo‘ sagen, und wir spielen in der restlichen Zeit ‚Honeymoon‘.“ Erwartungsvoll schaute sie ihm ins Gesicht. „Erinnerst du dich noch?“, lächelte sie verführerisch.

Langsam und lockend ging sie auf ihn zu, umfasste zärtlich seinen Kopf und hauchte in sein Ohr: „Nun, was hältst du davon?“

„Ob ich mich erinnere?“, fragte Rolf mit belegter Stimme. „Komm, hilf mir mal auf die Sprünge.“ Er nahm seine Frau bei der Hand und führte sie ins Schlafzimmer.

***

Noch immer vier Jahre zuvor

Feuchtheiße Luft schlug Gerda und Rolf entgegen, als sie in Cancun das klimatisierte Flughafengebäude verließen, nachdem sie auf der Halbinsel Yucatán gelandet waren.

„Mexiko!“, jubelte Gerda. „Wir kommen!“

Ihr Unternehmungsgeist war erwacht. Der lange Flug hatte bei ihr keine Spuren hinterlassen. Rolf lächelte sie an. Für ihn war sie noch immer die attraktivste Frau der Welt. Sie wirkte auf ihn keinen Tag älter als bei ihrem Kennenlernen. Sofort hatten sie sich ineinander verliebt.

Es waren damals stürmische Zeiten gewesen. Studentenbewegungen, wilde Partys und kleine Abenteuer. Mit Gerda konnte man Pferde stehlen.

Doch zunächst brauchten sie eher einen Mietwagen.

Beide steuerten auf das abseits gelegene Gebäude zu, das bekannte Autovermietungsfirmen auswies.

Gerda überließ ihrem Mann die Verhandlungen. Bei der Besichtigung des Fahrzeugs umrundete sie es und machte mit ihrem Smartphone Fotos von allen Seiten. Sie hatten schließlich ihre Erfahrungen. Touristen versuchte man schon mal bei der Fahrzeugrückgabe hereinzulegen.

In dem kleinen und preisgünstigen Modell verstauten sie rasch ihr Gepäck.

Als sie endlich das Flughafengelände verließen, stand die Sonne hoch am wolkenlosen Himmel. Erst jetzt nahmen sie alles um sich herum richtig wahr. Palmen säumten die Straße, üppige Bougainvilleas, Oleander und Hibiskus begleiteten sie auf ihrem Weg nach Süden.

„Was für eine Hitze!“, stöhnte Gerda. „Daran muss ich mich erst noch gewöhnen. Kannst du die Klimaanlage nicht kälter stellen?“

„Ich denke, mehr geht nicht. Lass uns am nächsten Supermarkt anhalten und kühles Wasser kaufen. Wir sollten viel trinken.“

Gerda nickte und fächelte sich mit der Straßenkarte Luft zu. Schon bald hatten sie den Stadtrand erreicht und entdeckten einen „Oxxo“, eine Filiale einer weitverbreiteten Supermarkt-Kette in unterschiedlichen Größen, die sie ansteuerten. Das Auto parkten sie unweit des Eingangs, schlossen es sorgfältig ab und hielten Ausschau nach zwielichtigen Gestalten. Dass sie Touristen waren, sah man ihnen schon von weitem an. Ihre helle Haut und ihr Auftreten verriet sie.

Rasch erledigten sie ihren Einkauf und bezahlten bei der adretten jungen Mexikanerin an der Kasse.

Als sie das Auto öffneten, schlug ihnen die Hitze wie aus einem Backofen entgegen.

„Meine Güte! Wie schnell es sich aufheizt“, rief Gerda.

„Ich kann kaum das Lenkrad anfassen“, erwiderte Rolf. Rasch fuhren sie weiter. Die Fenster ließen sie herunter, um die Luft auszutauschen. Der gewünschte Effekt war jedoch äußerst gering, denn neue Glut drang von außen herein.

„Was schätzt du? Wann sind wir da?“, fragte Rolf, nachdem ihm Gerda die Richtung gewiesen hatte. Sie hielt die Straßenkarte in der Hand. Ein Navigationsgerät stand ihnen nicht zur Verfügung.

„Zwei Stunden vielleicht. Kommt auf den Zustand der Straßen an. Wenn es so weitergeht, müsste es klappen.“

Sie befuhren eine gut ausgebaute Autobahn. Anders als in Deutschland fuhren hier schnelle, aber auch langsame Fahrzeuge, wie Lastwagen, auf deren Ladefläche Arbeiter sich tummelten und den Fahrtwind genossen.

Rolf gewöhnte sich sehr schnell an die neuen Verhältnisse und passte seinen Fahrstil an.

Playa del Carmen, eine sehr schöne touristische Stadt, ließen sie nach einer Stunde Fahrt links liegen.

„Wir sollten mal hierher einen Abstecher machen. Es soll hier viele Geschäfte und ebenso viele Restaurants geben. Außerdem stand im Reiseführer, dass es eine entzückende kleine Kirche gibt, die hinter dem Altar statt der üblichen Bilder durch eine große Fensterfront den Blick aufs Meer freigibt.“

„Gerne. Doch erst einmal ankommen. Tulum müssen wir uns auch anschauen. Eine gut erhaltene Festung der Mayas, hoch oben über den Klippen. Sie haben schon zu damaliger Zeit Leuchtfeuer für ihre Seefahrer entzündet, damit sie heil durch die gefährlichen Riffe kamen. Wenn allerdings ein Angriff drohte, löschten sie diese, und die Schiffe schlugen dort leck und versanken. Es sollen noch etliche Wracks am Meeresgrund liegen.“

„Oh, dann könnten wir danach tauchen!“ Die Vorstellung, in der kühlen Karibik zu tauchen, erfüllte sie mit neuer Energie.

„Na ja, ich weiß nicht. Hier gibt es Haie.“

„Oha, na dann …“

„Aber wir können in den Cenotes tauchen. Das sind Süßwasserhöhlen, die ein weit verzweigtes Netz haben. Manche haben sogar Zugang zum Meer. Und dann gibt es noch die Pyramide Chichén Itzá. Dort wurden Menschenopfer dargebracht.“

„Igitt!“, erwiderte Gerda spontan. „Vielleicht spukt es da.“

Rolf brach in lautes Gelächter aus. „Du mit deinem Geisterunsinn!“

„Lach du nur. Du wirst sehen. Es gibt ein Leben nach dem Tod!“, beharrte Gerda.

„Halt! Hier müsste es ein!“ Gerda beugte sich ein wenig vor, um besser sehen zu können. Auf der rechten Seite befand sich der „Parkplatz“ mit dem Hinweisschild „El Paraíso Resort“. Ein großer Sandplatz, den Buschwerk und Palmen umsäumten.

Gegenüber stand anscheinend das Hauptgebäude, eingerahmt von gigantischen Bougainvilleas in leuchtendem Pink.

Ein letztes Schlagloch wurde vorsichtig überwunden, und gleich darauf parkten sie an einem schattigen Platz.

Zuvor hatten sie die asphaltierte Straße gegen einen sandigen Naturweg eintauschen müssen und fürchteten schon, sich verfahren zu haben. Für eine Weile begleitete sie der entsetzliche Verwesungsgeruch eines überfahrenen Stinktiers, dann glich die Fahrt auf dem unebenen Untergrund eher einem Rodeo-Ritt.

„Wir lassen besser nichts im Wagen“, empfahl Rolf.

Er wuchtete die Reisetaschen aus dem Auto und drückte seiner Frau eine davon in die Hand.

Augenblicklich brach ihnen der Schweiß aus allen Poren.

„Es wird immer schwüler“, bemerkte Gerda. Sie überquerten die „Straße“ und kämpften sich durch den lockeren Sand zum Seiteneingang.

„Oh, sieh nur!“ Gerda stieß einen Entzückungsruf aus. Vor ihnen breitete sich ein kleiner durchlässiger Palmenhain aus, und gleich dahinter, etwas abschüssig, glänzte völlig unbescheiden die Karibik in ihrem einzigartigen Smaragdgrün, das sich, je weiter man hinausschaute, in ein tiefes Türkis verwandelte. Einladend spiegelglatt präsentierte sie sich den Neuankömmlingen.

„Lass uns als Erstes ein Bad nehmen“, rief Gerda enthusiastisch.

„Nicht so stürmisch, junge Frau. Erst die Anmeldung und dann unser Quartier beziehen.“

Rolf trat in das offene Gebäude ein und stand auch sofort der Rezeption gegenüber. Ein enormer Propeller an der Decke verwirbelte die heiße Luft.

Eine junge blonde Frau mit Pferdeschwanz lächelte ihnen entgegen. Ihr leichtes Sommerkleid umspielte ihren braungebrannten Körper im Luftstrom des Ventilators. „Herzlich willkommen!“, sprach sie die beiden auf Deutsch an. „Hattet ihr eine gute Reise?“

„Ja, danke! Abgesehen vom Gestank eines überfahrenen Stinktiers haben wir uns tapfer hierhergeschaukelt.“

Die junge Frau lachte und reichte die Hand zur Begrüßung. „Daran gewöhnt man sich, wenn man hier länger lebt. Ich bin Vera. Wenn ihr etwas wissen wollt oder etwas braucht, könnt ihr mich jederzeit fragen. Möchtet ihr zuerst eure Cabaña sehen? Oder sofort die Anmeldung vornehmen?“

„Ich würde gerne so schnell wie möglich ins Meer springen“, sagte Gerda und pustete eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Na, dann kommt.“ Sie schaute auf die Uhr, die hinter ihr an der Wand hing. „Ja, dann solltet ihr euch beeilen, ab 17.00 Uhr wird es regnen.“

„Oh, ist der Regen hier immer so pünktlich?“, staunte Gerda.

„Ja, tatsächlich. In der Regenzeit kann man davon ausgehen, dass sich ab 16.30 Uhr der Himmel zuzieht, und spätestens um 17.00 Uhr beginnt es zu regnen und kommt mitunter auch zu Gewittern. Ich will euch keine Angst machen, aber auch Hurrikans sind in dieser Zeit möglich. – Habt ihr schon mal tropischen Regen erlebt?“, versuchte sie die beiden abzulenken, als sie Rolfs bedenklichen Gesichtsausdruck bemerkte.

„Nein, noch nicht.“

„Ist ein tolles Schauspiel, das ihr von eurer Veranda aus genießen könnt.“

„War doch richtig schön, gestern Abend.“ Gerda räkelte sich genüsslich im Sand in der kleinen Bucht, die sie und Rolf auf ihrer Fahrt mit dem gemieteten Motorboot entdeckt hatten. Sie war menschenleer und traumhaft schön. Möglicherweise war sie vom Land aus unzugänglich. Laut Vera, der Besitzerin von „El Paraíso“, gab es noch undurchdringlichen Dschungel in dieser Gegend. Schlangen, Skorpione und sogar Jaguare lebten hier. Ebenso Leguane, die ihnen ständig auf ihren Wegen begegneten.

„Schön war vor allen Dingen, dass sich unsere Kleine aufrichtig gefreut hat, uns zu sehen“, schwärmte Rolf. „Aber sag, was hältst du von diesem Dave?“ Rolf merkte man bereits an, dass er nicht sehr begeistert war.

„Ist okay! Hauptsache, Sabrina lässt sich emotional nicht zu sehr auf ihn ein. Er ist ein Abenteurer. Dennoch wird er bei ihrer weiteren gemeinsamen Tour gut auf sie aufpassen, und das sollte uns eine Beruhigung sein. Aber ein Mann fürs Leben ist ER sicher nicht!“

„Das Gefühl hatte ich auch!“ Rolf schien erleichtert. Seine Kleine war viel zu jung für eine feste Bindung.

„Meinst du nicht, dass wir so langsam zurückfahren sollten?“ Gerda stützte sich auf die Ellenbogen, als sie sich aufrichtete und zum kleinen Motorboot hinüberschaute. Ein offenes Sportboot mit Außenbordmotor, das sie sich unweit ihrer Anlage geliehen hatten.

„Wie spät mag es denn sein?“, fragte Rolf zurück.

„Keine Ahnung, vielleicht vier Uhr? Dem Glücklichen schlägt keine Stunde, mein Schatz.“

„Na dann komm mal her, du Glückliche. Bist du schon mal an einem Strand in der Karibik vernascht worden?“

„Rolf! Wir sollten wirklich los“, lachte Gerda.

„Du hast mir honeymoon versprochen“, entgegnete Rolf und zupfte sanft mit seinen Lippen an ihrem Ohrläppchen.

„Schatz, der Regen …“, hauchte sie halbherzig.

„Wie aufregend“, flüsterte Rolf.

Als sie später das Boot ins Wasser schoben, lächelten sie sich glücklich an.

Das Meer zeigte sich kristallklar, als das Boot die Wasseroberfläche zügig durchschnitt. Gerda stand neben ihrem Mann am Ruder und genoss die Fahrt.

Als sie sich umdrehte, um einen letzten Blick zur Bucht zu werfen, erschrak sie. Hinter ihr baute sich eine Wetterfront tiefschwarz auf. Das Meer unter ihr verdunkelte sich beängstigend.

„Rolf!“, rief Gerda beunruhigt und deutete nach hinten.

„Das schaffen wir. Mach dir keine Sorgen.“

Doch gleich darauf wurde die See unruhig.

Gerda suchte ihren Anleger auszumachen, um die Entfernung abzuschätzen. Er schien noch entsetzlich weit entfernt. Wieder drehte sie sich um. Die dunklen Wolken kamen rasch näher. Der Wind frischte weiter auf, und die Wellen wurden immer höher.

Gerda biss sich auf die Unterlippe. Nur nicht in Panik verfallen. Das würde ihnen jetzt auch nicht weiterhelfen.

Das Wasser hatte augenblicklich ringsherum eine bedrohliche Ausstrahlung angenommen. Das kristallklare Smaragdgrün hatte sich in undurchsichtiges Dunkelgrau verwandelt. Das Boot wurde durch die entgegenkommenden Wellen emporgehoben, so dass der Außenborder auf deren Kamm ins Leere drehte, um dann mit einem Klatschen wieder auf der Wasseroberfläche zu landen. Gischt spritzte ihnen entgegen und durchnässte sie.

„Halt dich gut fest!“, versuchte Rolf den Sturm zu übertönen. Unaufhaltsam rückten die Wolken wie eine Wand immer näher, während das gewaltige Tosen der Wellen das Boot wie eine lächerliche Nussschale behandelte. Weit oben durchzuckte ein Blitz den Himmel.

„Scheiße, Rolf! Gewitter!“, schrie Gerda. Um sie herum türmten sich die Wassermassen auf und der Strand war nur noch von den Gipfeln der Wellen aus zu sehen.

Rolf als erfahrener Bootsmann schaffte es, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, und steuerte stetig darauf zu.

„Sollen wir nicht lieber vorher an Land gehen?“, rief Gerda und blickte Rolf ängstlich an.

„Geht nicht! Da sind überall große Steine im Meer“, schrie Rolf zurück und behielt eisern den Kurs.

Die nächste Welle brachte Gerda zu Fall. Hilflos lag sie zu Rolfs Füßen.

„Bleib liegen und halte dich da unten fest!“, befahl Rolf, der breitbeinig versuchte, das Schaukeln auszugleichen. Das Ruder hielt er mit beiden Händen fest umklammert.

Im nächsten Moment brach der Regen über sie herein. Ein tropischer Guss, der Massen an Wasser mit sich führte.

Gerda lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden, als sich das Geräusch des Motors veränderte. Rolf drehte offensichtlich bei, die Wellen dienten jetzt als Beschleuniger und kurze Zeit später knirschte Sand unter dem Boden. Rolf schaltete den Motor aus und sprang auf den Strand. Kräftig zog er das Boot an Land.

„Kannst du aufstehen oder hast du dich verletzt?“, rief er.

„Ich komme.“ Mit wackeligen Beinen erhob sich Gerda, und Rolf streckte ihr die Hand entgegen. Sie kletterte aus dem Boot, und beide lagen sich in den Armen, während der Regen unablässig auf sie herniederprasselte.

„Wir haben es geschafft!“, jubelte sie. Rolf ließ sie nicht mehr los. „Komm! Wir müssen hier verschwinden.“

Hand in Hand rannten sie in Richtung Unterkunft, als plötzlich ein greller Blitz in den Boden einschlug, der mit seinem gleichzeitigen Donner das Ende verkündete – ihr Lebensende.

***

Zurück in der Gegenwart

Gerda und Rolf waren wie erstarrt, als Iwan den Duschvorhang zur Seite riss. Er lachte erleichtert auf, und während er mit Anton sprach, gestikulierte er übertrieben mit den Händen. Beim Verlassen des Bades klatschte er dem Jüngeren noch auf den Rücken.

„Na, das ist ja noch mal gut gegangen!“

Gerda und Rolf befanden sich mittlerweile in der Küche und gingen dort in sicherer Entfernung das Erlebte noch einmal durch.

„Ich war auch ganz schön erschrocken!“, erwiderte Gerda. „Irgendwie hab ich mich noch immer nicht daran gewöhnt, dass wir nicht gesehen werden.“

„Wir haben ja auch noch nie jemanden absichtlich beobachtet. Das ist neu für uns.“ Rolf blickte seine Frau erleichtert an.

„Aber irgendwie war es schon komisch.“ Gerda schien nachdenklich. „Ob Anton uns doch wahrgenommen hat? Warum hat er sonst Iwan gerufen? Der hat sogar tatsächlich hinterm Vorhang nachgesehen, wo wir uns aufgehalten haben.“

Seitdem sie beide, Rolf und Gerda, gemeinsam vor vier Jahren abrupt aus dem Leben gerissen worden waren, hielten sie sich in ihrem Haus und auf dem Grundstück auf, das nun ihre Tochter weiterführte.

So hatten sie sich ihren Tod eigentlich nicht vorgestellt.

Rolf hatte sowieso nie an ein Leben nach dem Tod geglaubt. Für ihn war dieser Zustand genauso eine Überraschung wie für Gerda.

Sie dagegen war zu Lebzeiten davon überzeugt gewesen, dass sie im Augenblick des Sterbens durch einen Tunnel ins Licht gelangen würde. Dort würde sie auf ihre Ahnen stoßen, verstorbene Freunde treffen und sogar ihren Lieblingshund aus der Kindheit. Lichtwesen, die sie Engel nannte, würden sie an die Hand nehmen und begleiten.

Doch nichts von alledem war eingetroffen.

Und nicht nur das! Sie waren allein. Zwar waren sie noch immer zusammen, aber sonst gab es in ihrer Umgebung niemanden, mit dem sie sich hätten austauschen können.

So blieben sie im Haus und begleiteten ihre Tochter tagtäglich rund um die Uhr. Schlaf war nicht mehr nötig. Wären sie nicht zu zweit, wäre dieses Leben, ach nein, war ja kein Leben mehr, also dieser Zustand öde und langweilig. Immerhin konnten sie auf diese Weise ihrer Tochter noch nahe sein und an ihrem Alltag teilhaben.

***

Mark ließ sich im siebten Stock seiner Hamburger Wohnung mit Blick auf die Elbphilharmonie auf den Designerstuhl fallen und vergrub den Kopf in seine Hände, die Ellenbogen auf den teuren Glastisch gestützt.

Doch im nächsten Augenblick öffnete er die Augen, sprang wie von einer Tarantel gestochen auf und warf voller Zorn den Tisch um, dessen Sicherheitsglas leider nicht zerbrach, so wie er es sich wünschte.

Dieser Tisch war ihm schon die ganze Zeit über ein Gräuel gewesen. Olga zuliebe hatte er ihn gekauft, genauso wie die blitzhässlichen, aber dafür sauteuren Stühle. Die ganze Wohnung hatte sie umgekrempelt, als sie bei ihm einzog. Ganz geschickt und in Nullkommanichts. Er hatte ihren Schmeicheleien einfach nicht widerstehen können. Sie hatte es verstanden, ihre Reize geschickt einzusetzen. Ihn hinzuhalten und auszuhungern, bis er schließlich alles kaufte, was sie sich wünschte.

Seine Freunde hatten nur verwundert den Kopf geschüttelt. Sie verstanden nicht, wie er, Mark Foster, der erfolgreiche Programmierer, sich so hatte ausnehmen lassen.

Er verstand sich selbst auch nicht mehr. Tief in seiner Seele hatte er gewusst, dass sie ihn nur benutzte.

Als er sie kennenlernte, fühlte er sich wie in einer Kinoszene mit Marilyn Monroe, nur dass sie nicht blond war. Ihre High Heels waren in einem Bodengitter steckengeblieben und ihr eng anliegendes kurzes Kleid erlaubte es ihr nicht, sich danach zu bücken. Er half ihr und mit ihrer melodischen dunklen Stimme und dem faszinierenden rollenden „R“ hatte sie ihn als ihren Retter geadelt und sich auf verführerische Weise zu bedanken gewusst. Zunächst mit einem Drink in einer Bar, dann mit einem Glas Champagner in seinem Bett.

Nicht lange danach stand der Hochzeitstermin fest. Gerade rechtzeitig, bevor sie das Land hätte verlassen müssen. Was für andere ganz offensichtlich war, davor verschloss er die Augen.

Olga war für ihn eine Fleisch gewordene Göttin. Eine russische Göttin. Gab es so etwas überhaupt? Egal, für ihn schon. Ein hinreißendes Geschöpf. Volles, lockiges, langes schwarzes Haar umgab ein zartes Gesicht mit hellem Teint und dunklen, glutvollen Augen. Ein Blick genügte, und sie hatte ihn in ihren Fängen, die ihn nicht mehr losließen. Ihr rollender Akzent intensivierte den Klang ihrer Stimme, die mal verführerisch sanft, mal strafend-fordernd klang. Teufel und Engel in einer Person. Dazu ihre perfekte Figur mit den geschmeidigen Bewegungen. Keine andere Frau hätte sich mit ihr messen können. Sie zog ihn in ihren Bann. Mit Haut und Haaren. Bis er ihr schließlich hörig war.

Hörig – darüber hatte er sich bei anderen lustig gemacht, es als idiotische Schwäche bezeichnet. Nun hatte ihm das Schicksal wohl gezeigt, dass man andere nicht verspotten sollte. Denn ihm war jetzt das Gleiche passiert.

Doch er hatte die Kurve gekriegt, gerade noch rechtzeitig, und sie rausgeschmissen. Na ja, eine gnädige Fügung hatte ihm dazu verholfen. Er konnte seinem Schöpfer auf Knien dafür danken, dass ihm das geschehen war.

Eigentlich der Klassiker.

***

„Du hohle Schlampe!“, brüllte Rasputin sie mit hochrotem Gesicht an, kaum dass die junge Frau ihm gestanden hatte, was passiert war.

Die Ohrfeige traf Olga mit voller Wucht, obwohl sie Ähnliches schon befürchtet und sich innerlich gewappnet hatte, warf es sie zu Boden. Die dunklen Locken ihres seidigen Haares bedeckten ihr Gesicht.

„Sieh zu, dass du das wieder in Ordnung bringst, sonst blüht dir nicht nur eine Ohrfeige.“ Der Mann, groß und breit wie ein Schrank, riss sie vom Boden hoch, umspannte brutal ihr Kinn und zwang sie somit, in seine Augen zu blicken. Deutlich zeichneten sich auf ihrer Wange die Finger der großen Männerhand ab.

Olga war klar, dass dies keine leere Drohung war. Dieser Mann war zu allem fähig.

Sie wagte nicht, ihre Hand auf die schmerzende Wange zu legen.

„Lass dir also etwas einfallen! Erzähl ihm, dass der Kerl dich dazu gezwungen hatte. Dieser Mark ist doch so ein Beschützertyp.“

Olga nickte. Sie hatte das Gefühl, dass sich hier vielleicht eine neue Chance bieten konnte, ungeschoren davonzukommen. Vor Erleichterung rollten ihr Tränen aus den Augen.

Rasputins Kaumuskeln entspannten sich, und das Gesicht nahm wieder eine normale Farbe an. „Du schaffst das! Genauso musst du ihm gegenübertreten. Ein paar Tränen, und er wird weich.“ Begehren sprach aus seinen Augen. „Du bist viel zu schön, als dass er dir widerstehen könnte.“ Rasputin zog sie ruckartig zu sich heran, presste sie gegen seinen Körper und küsste sie hart und brutal.

Olga ließ sich innerlich triumphierend darauf ein und schmiegte sich provozierend an ihn. Ihre Hände glitten über seinen Körper.

„Genau das meine ich“, murmelte er, ohne sich vollständig von ihren Lippen zu lösen.

***

Sabrina nutzte den letzten Schwung und ließ das Fahrrad im Hof ausrollen. Sie lenkte es vor den Schuppen, der sich etwas abseits vom Ferienhaus befand. Dort bewahrte sie nicht nur die Fahrräder auf, sondern ebenfalls die Gartenmöbel, den Grill und die Sommerdeko für den Außenbereich.

Vor Freude hopsend begleitete Orko sie laut bellend bis zur Hütte.

Sabrina stieg ab und streichelte ihn flüchtig. „Ist schon gut, mein Junge. Bin ja wieder da. War alles in Ordnung?“, fragte sie und schaute dabei kurz zur belegten Ferienwohnung. Gleich darauf widmete sie sich dem Rad und ihren Einkäufen. Auch der Rottweiler wandte den Kopf in dieselbe Richtung und ließ ein leises Knurren vernehmen. Im nächsten Augenblick zog er jedoch die Nase kraus und fletschte die Zähne.

Sabrina drehte sich überrascht noch einmal um.

Der Jüngere, Anton, hatte die Wohnung verlassen und kam auf sie zu. Schüchtern lächelte er ihr entgegen.

Eigentlich sieht er gar nicht so unsympathisch aus, dachte Sabrina.

In gebührendem Abstand blieb er stehen: „Darf ich?“, fragte er, da er sich offenbar nicht näher an sie herantraute.

„Aus, Orko! Ist schon gut“, beruhigte sie ihren Hund. „Kommen Sie!“, rief sie dem jungen Mann zu.

„Einkaufen?“, fragte er und wies auf die gefüllten Taschen.

„Ja. Ihr Frühstück und Abendessen. Bier und Wodka“, zählte Sabrina auf.

„Ah – gut! Ich helfe.“ Anton schnappte sich die Taschen und zog sie aus den Fahrradkörben.

Sabrina nickte nur und brachte das Rad wortlos in den Schuppen, während Anton auf sie wartete und den Hund ängstlich beobachtete.

Orko seinerseits ließ ihn nicht aus den Augen. Man merkte ihm an, dass er nur auf einen Fehler des jungen Mannes wartete. Dann könnte er ihm zeigen, wer hier das Sagen hatte.

Gleich darauf ging Sabrina zum Wohnhaus, während Anton ihr folgte, sperrte die Hintertür auf und trat ein.

Der lange, dunkle Flur führte direkt zum vorderen Hauseingang. Kurz davor befand sich rechts vor dem Treppenaufgang das kleine Büro und gegenüber die Wohn-Küche, deren Tür Sabrina nun öffnete.

In dem großzügigen Raum im ostfriesischen Stil gab es nicht nur im Essbereich das typische Ostfriesensofa, sondern auch noch einen ursprünglichen Stangenofen, der mit Holz oder Kohle befeuert wurde. Damit wurde schon früher, vor allem in der kalten Jahreszeit, gerne gekocht und gebacken. Gleichzeitig verbreitete er eine wohlige Wärme.

Einige Schritte vom Essplatz entfernt befand sich eine einladende Couchgarnitur. Auf einem flauschigen Teppich stand ein rechteckiger kniehoher Wohnzimmertisch, groß genug für Getränke, Gläser sowie Knabbereien, der schon einigen Geselligkeiten gedient hatte.

Vor den gekippten Wohnzimmerfenstern mit Blick auf die private Terrasse zur einen Seite und zum Garten zur anderen bauschten sich zarte, bodenlange Gardinen, als die Tür geöffnet wurde.

„Stellen Sie die Tüten bitte auf den Tisch. Das Frühstück ist pünktlich fertig. Ich bringe es Ihnen dann in Ihre Wohnung.“

„Nein, haben Sie einen anderen Raum?“ Anton fühlte sich unbehaglich, das sah man ihm an. Er schaute erwartungsvoll zum Küchentisch.

„Nein, hab ich nicht. Hier können Sie nicht essen. Kommt nicht in Frage.“

„Wir zahlen“, wandte er halbherzig ein, schon ahnend, dass er auf Widerstand stoßen würde.

„Nein! Auf keinen Fall! Sie können draußen essen. Holen Sie die Möbel aus dem Schuppen und stellen Sie sie in den Hof. Mehr können Sie nicht von mir erwarten. Warum nicht in Ihrem Zimmer?“

„Männer …“, lächelte Anton schief.

„Unordnung macht mir nichts aus. Sie müssen darin leben – nicht ich. Solange Sie mir nicht einen Schweinestall hinterlassen, wenn Sie wieder abfahren, ist es mir egal.“

„Gut, dann draußen.“

Der junge Mann drehte sich auf dem Absatz um und verschwand.

Sabrina begann den Einkauf zu verstauen und hoffte inständig, dass diese Gäste schon bald wieder abfahren würden.

Plötzlich stutzte sie. Abfahren? Ja, womit denn? Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie kein Fahrzeug gesehen hatte. Wie waren sie hierhergekommen? Oder hatte sie es übersehen?

Diese Frage ließ ihr keine Ruhe. Sie nahm den Hausschlüssel, rief Orko und ging zur Vordertür hinaus.

Auf ihrem kleinen Abstellplatz stand kein Wagen. Der wäre ihr auch bestimmt vorhin aufgefallen, als sie zum Einkaufen fuhr. Kam nur ein Taxi in Frage. Aber warum zu ihr? War es Zufall? Hatte man sie empfohlen? Oder hatten sie ganz gezielt eine abgelegene Bleibe im Internet gesucht? Wenn ja – wozu?

***

Marks Ausbruch war vorüber. Er starrte auf die umgeworfenen Möbelstücke. Immerhin hatte er sich beruhigt, bildete er sich ein. Doch eigentlich fühlte er sich eher wie betäubt. Kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Mit hängenden Schultern trat er ans Fenster und schaute hinaus, ohne etwas von der Aussicht wahrzunehmen.

Der grau verhangene Himmel legte sich langsam beruhigend auf sein Gemüt. Kein Geräusch drang von außen zu ihm. Die Mehrfachverglasung schirmte ihn völlig ab.

Wie auf einer einsamen Insel, dachte Mark und glaubte plötzlich keine Luft mehr zu bekommen.

Nein, auf einer Insel würde er Naturgeräusche wahrnehmen.

Mit seinen Eltern war er einmal als kleiner Junge während der Sommerferien auf einer Insel gewesen.

Aus seiner Heimatstadt im westfälischen Münster waren sie nach Ostfriesland aufgebrochen. Seitdem verbrachten sie dort jede Sommerferien. Einmal hatten sie sich eine Tagesfahrt nach Langeoog gegönnt.

Dieser Tag war ihm in lebhafter Erinnerung geblieben. Es war ein ausgesprochen schöner Sommertag gewesen, als sie morgens in Bensersiel die Überfahrt mit der Fähre antraten.

Der Morgen roch frisch und würzig. Noch war die Luft kühl, doch die strahlende Sonne ließ bereits einen heißen Tag erahnen.

Obwohl ihnen Bensersiel vertraut war, sie ihre Ferien insbesondere am Strand verbrachten, fühlte sich die andere Seite des Hafens am Fähranleger neu und aufregend an.

Die Möwen zogen kreischend ihre Bahnen und schienen ungeduldig darauf zu warten, dass die Fähre ablegte.

Dann würden sie ihr Spiel beginnen, wer sich am weitesten vom Festland forttraute, ohne sich auf der Fähre auszuruhen.

Kaum, dass die Fahrt begann, spendierte der Vater eine heiße Bockwurst mit einem Getränk. Diesen Geschmack würde er nie vergessen. Es schien, als wäre dieser Snack etwas ganz Besonderes. Ferien, Freiheit, Sorglosigkeit und Geborgenheit – all das schien dieser Imbiss zu beinhalten.

Dann, auf Langeoog angekommen, die Fahrt mit der lustigen bunten Bahn, die alle auf das gemächliche Tempo der Insel einstimmte.

Auf dem Weg zum Strand, ein Eis in der Hand, vorbei am Wasserturm, der die Dünenlandschaft unterbrach und gleichzeitig aufwertete. Und dann natürlich das Meer, das anders als in Bensersiel immer in Reichweite lag und seine Einzigartigkeit unterstrich, indem es sich endlos zeigte.

Die einzigen Geräusche, die man wahrnahm, waren das Rauschen des Meeres, die Rufe der Möwen und das fröhliche Geplänkel der Feriengäste. Für ihn als Stadtkind eine ganz besondere Atmosphäre.

All das stieg plötzlich vor Marks geistigem Auge auf und Sehnsucht machte sich in ihm breit.

Sehnsucht nach diesem Frieden.

Entschlossen drehte er sich um, schnappte sich die Reisetasche sowie seinen Laptop und begann zu packen.

***

Olga stöckelte die letzten Meter zum Eingang des modernen und eindrucksvollen Wohnhauses in der Nähe der Elbphilharmonie, um, wie sie Rasputin zugesichert hatte, Mark umzustimmen. Sie tippte den Code in die Tastatur ein, öffnete die Eingangstür und trat in die kühle Eleganz des Vorraums.

Sie liebte den dunklen, glänzenden Steinboden, der ihr bei jedem Schritt ihrer High Heels mit seinem satten Echo Aufmerksamkeit bekundete.

Nur wenige Schritte, und sie stand den beiden Aufzügen gegenüber, die sie bereitwillig in die obere Etage führen würden.

Auch das Innere des Lifts strahlte die Noblesse aus, die Menschen mit gewissen Ansprüchen als selbstverständlich voraussetzten.

Die bronzefarbene polierte Wandverkleidung vervielfachte sich im Spiegel des Fahrstuhls und verlieh dem Inneren einen edlen Charakter. Unaufdringliche Fahrstuhlmusik empfing sie. Olga liebte diese Lounge-Musik, mit der sie sich identifizierte. Unnahbar, kühl und doch mit exzentrischem Ausdruck. Sie schwelgte, ja, sie badete in diesem Gefühl. Dieses Umfeld würde sie sich nicht nehmen lassen. Es würde ihr schon gelingen, Mark klarzumachen, dass er ohne sie nicht leben könnte. Sie kannte seine Schwachstellen nur zu gut. Da ließ sich gewiss noch etwas tun.

Während der Fahrstuhl nach oben schwebte, betrachtete sie sich selbstgefällig im Spiegel.

Um Mark zu beeindrucken, probte sie vorsichtshalber verschiedene Gesichtsausdrücke. Schuldbewusst? Nein. Damit könnte er sich als Richter fühlen.

Es müsste eine Mischung aus Sich-unverstanden-Fühlen, Anklagen und Hilflosigkeit sein. „Ja – so ist es gut!“, sagte sie laut zu sich selbst. Der Aufzug hielt, und sie stieg aus.

Sie zupfte an ihrem enganliegenden Shirt herum, um den Einblick in das Dekolleté zu erweitern.

Die Naht der schwarzen Strümpfe hatte sie bereits im Spiegel des Aufzugs überprüft. Sie war sich sicher, dass Mark beim Anblick ihrer langen Beine, die von dem winzigen Stück Stoff ihres Minirocks kaum verhüllt waren, schwach wurde. Es wäre doch gelacht, wenn sie ihn nicht besänftigen könnte.

Auch hier tippte sie den Code in die Tastatur neben der Tür, um sie zu öffnen. Gleich darauf stand sie im winzigen Flur, der durch das einfallende Tageslicht der angrenzenden Glastür erhellt wurde, die direkt in den großzügigen Wohnbereich des Appartements führte.

Seltsamerweise stand diese Tür ein wenig offen.

Olga beschlich ein merkwürdiges Gefühl. Kein Geräusch drang an ihr Ohr. „Mark?“, rief sie und vergaß dabei ganz, ihre aufgesetzte Miene zu bewahren.

Vorsichtig schob sie die Tür auf. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, entfuhr ihr unwillkürlich ein Schrei.

***

Mark lenkte sein Cabrio gemächlich Richtung Esens. Es war noch früher Vormittag, und so nahm er sich Zeit, seine Erinnerungen aufzufrischen. Es hatte sich seit damals viel verändert. Dort, wo in seiner Kindheit noch Wiesen, Kühe und Pferde zu sehen waren, standen nun Häuser. Er versuchte sich zu orientieren.

An den großen Baumarkt hinter der Ampelkreuzung konnte er sich gar nicht erinnern.

Am Ortsausgangschild bemerkte er, dass er vorher hätte nach rechts abbiegen müssen.

Gleich darauf befand er sich im kleinen Ortsteil Holtgast.

Es dämmerte ihm, dass er und seine Eltern mit den Rädern häufiger von Bensersiel aus nach Holtgast gefahren waren. Es gab diese schmale, kaum befahrene Landstraße, die sie auf dem kürzesten Weg entlang eines Kanals dorthin geführt hatte.

Diesen Schleichweg würde er nehmen. Er hatte ihm schon immer gefallen.

In der Frühe hatte er sich von seinen Eltern in Münster verabschiedet.

Nachdem er am Tag zuvor ziemlich überstürzt seine Sachen gepackt hatte und sich schon Minuten nach seinem Entschluss auf der Autobahn befand, überfiel ihn der Wunsch nach Verständnis. Dafür kamen wohl am ehesten seine Eltern in Frage. Also nahm er den Umweg in Kauf und steuerte Münster an. Bei der Gelegenheit konnte er sie auch gleich über die geplatzte Hochzeit informieren. Im Geist sah er bereits ihre erleichterten Gesichter vor sich.

In seine Angelegenheiten hatten sie sich nie eingemischt, nicht, weil diese sie nicht interessierten, sondern weil sie der Meinung waren, dass jeder Mensch seine eigenen Erfahrungen machen musste, auch seine eigenen Fehler. Selbst wenn sie sich um ihn sorgten.

Ihrem Gesichtsausdruck hatte er sowieso entnehmen können, dass sie über seine Wahl nicht glücklich waren. Doch sie ließen ihn gewähren.

Tatsächlich waren sie mehr als erleichtert bei dieser Nachricht, nahmen ihn aber auch tröstend in die Arme.

Am Abend schwelgten sie in Urlaubserinnerungen. Dadurch frischten sie Marks Gedächtnis auf. Frühmorgens war er deutlich entspannter aufgebrochen.

Und nun versuchte er sich trotz der landschaftlichen Veränderungen zurechtzufinden.

Ausgerechnet die Straße, die ihn nach Bensersiel führen sollte, hatte sich nicht verändert. Triumphierend bog er in den Tannenweg ein, überquerte den Coldewind, die zur Nachbargemeinde Utgast führende Straße, und zuckelte gemächlich über die Pflastersteine des Wolder Wegs dem Küstenort Bensersiel entgegen, den er in etwa fünf Kilometern erreicht haben müsste.

Kurz vor der einzigen scharfen Rechtskurve veränderte sich der Untergrund, und so konnte er auf einer Teerdecke die Geschwindigkeit auf fünfzig Stundenkilometer steigern. Hier war alles wie früher, stellte er mit Freude fest. Der Weg führte ihn zum Benser Tief, das ihn nun für eine kleine Weile begleiten würde. Bald würde der Lauf des Wassers seinen eigenen Weg fortführen und dann großflächige Wiesen durchschneiden. Doch zuvor gabelte sich die Straße. Rechts führte sie über eine Brücke, die beide Seiten des Tiefs miteinander verband und dann nach Esens weiterging.

Überdeutlich zog ein Schild seine Aufmerksamkeit auf sich, das vor der Brücke stand. Fast so, als hätte die Sonne es angestrahlt, was nicht möglich war, denn der Himmel war bedeckt. „Ferienhaus Am Himmelreich“ stand dort zu lesen, und ein Pfeil wies in die entsprechende Richtung.

Kurz entschlossen lenkte Mark seinen Wagen auf die andere Seite und hielt vor dem Haus.

Warum nicht hier?, dachte er sich. Das Haus wirkte einladend auf ihn. An diesem Ort könnte er Ruhe finden. Auf der Deichkrone ließe sich wunderbar bis Bensersiel joggen.

Er streckte sich, als er aus dem Wagen stieg, schlug die Tür zu und ging geradewegs zur Haustür.

Auf sein Klingeln öffnete ihm eine junge hübsche Frau. „Moin“, begrüßte sie ihn lächelnd.

Für einen Moment glaubte er an eine Sinnestäuschung, denn er sah einen Strahlenkranz um sie herum. Er blinzelte dieses Bild fort, dennoch durchlief ihn ein Gefühl der Wärme. „Haben Sie noch eine Ferienwohnung frei?“

Ein Rottweiler schob sich an der Frau vorbei und begrüßte ihn wedelnd.

„Was bist du nur für ein Hübscher? – Ist doch ein Rüde, oder?“ Mark ging in die Hocke und nahm den Kopf zwischen seine Hände.

„Orko! Aus! – Entschuldigung, das macht er sonst nie. Aber kommen Sie doch herein. Da Orko Sie offensichtlich mag, kann mir wohl nichts geschehen“, lachte sie. „Ich heiße Sabrina. Sabrina Hoffmann.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen.

„Mark. Mark Foster. Ohne ‚r‘.“

„Mark ohne r?“

Er schaute sie verdutzt an, dann merkte er, dass sie einen Scherz machte, und lachte. „Ich muss meist erklären, dass ich nicht wie der Sänger heiße.“

Nett, dachte Mark. Sehr nett.

***

„Verdammt! – Wenn wir doch nur verstehen könnten, was sie sagen.“ Gerda und Rolf hatten sich in der Nähe der beiden Russen postiert und beobachteten sie bei ihrem Frühstück im Hof. Dabei ließ Gerda den Jüngeren nicht aus den Augen. Sie fürchtete, dass er sie vielleicht doch wahrnehmen würde. Aus ihren Lebzeiten wusste sie, dass es Menschen mit diesen Fähigkeiten gab. Gerade in Russland war diese Feinfühligkeit häufiger anzutreffen.

Doch diesmal verhielt er sich völlig unauffällig. Oder er war einfach zu sehr mit seinem Frühstück beschäftigt und ins Gespräch vertieft. Iwan schaute sich sichernd um, beugte sich dann dichter zu Anton und sprach leise auf ihn ein. Dieser nickte nur, runzelte mal die Stirn, gab jedoch keine Antwort.

Rolf blickte sehnsüchtig auf den Frühstückstisch.

Seine Kleine hatte den Männern etwas Feines zubereitet. Rührei, Saft, Wurst, Käse, Marmelade, ein paar Cherrytomaten, frische Brötchen und eine Thermoskanne voll frischem Filterkaffee.

Ihm lief förmlich das Wasser im Mund zusammen. Wie gut konnte er sich noch an diesen Genuss erinnern. Ein absolutes irdisches Vergnügen. Wenn die Menschen nur wüssten, wie sehr es ihnen nach dem Tod fehlen wird, dann wären sie bestimmt dankbarer und achtsamer mit ihren Mahlzeiten, sinnierte er.

„Irgendetwas stimmt mit den beiden ganz und gar nicht!“, wiederholte sich Gerda zum x-ten Mal. „Kannst du dir vorstellen, was sie im Schilde führen?“

„Nein, wirklich nicht. Auf jeden Fall versuchen sie etwas zu verheimlichen. Das ist klar. – Los, lass uns noch mal in ihre Wohnung gehen, während sie frühstücken. Da sind wir vor ihnen erst mal sicher.“

Nicht, dass Rolf wirklich glaubte, die beiden könnten ihnen etwas antun. Aber er fühlte sich einfach wohler, wenn sie nicht in ihrer Nähe waren.

Gleich darauf befanden sich die beiden in deren Zimmer.

Auf der Küchenzeile standen zwei Sixpacks Bier und eine Flasche Wodka. Zum Bonbonpapier auf dem Esstisch waren noch einige Blätter hinzugekommen, die mit kyrillischer Schrift beschrieben waren. Außerdem eine Zeichnung.

„Schau mal, Rolf! Kannst du erkennen, worum es sich bei dieser Zeichnung handelt?“

Rolf wollte das Blatt Papier an sich nehmen, was ihm nicht gelang. „Mist! Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, dass ich nichts mehr anfassen kann.“

„Dafür können wir durch Wände gehen. Ist doch auch ganz nett“, grinste Gerda.

„Also? Was erkennst du?“

Die Wohnungstür wurde geöffnet, und die Männer polterten herein. Iwan schaute zur Arbeitsfläche und wies Anton an, die Getränke kühl zu stellen.

Dann zogen sie Jacken über, setzten Sonnenbrillen und Kopfbedeckungen auf. Alle Kleidungsstücke waren in dunklen und unauffälligen Farben gehalten. Gleich darauf verschwanden sie wieder nach draußen.

„Komm! Sicher fahren sie jetzt mit den Rädern. Wir müssen hinterher.“ Gerda eilte voraus, während Rolf sich nicht vorstellen konnte, wie sie das bewerkstelligen sollten.

Schließlich hatten sie noch nie ihr Grundstück verlassen, seit sie sich nach ihrem blitzartigen Tod, den sie nicht im Mindesten mitbekommen hatten, plötzlich unsichtbar und ohne festen Körper in ihrem Zuhause wiedergefunden hatten. Sie selbst konnten einander sehen, aber auch gleichzeitig durch sich hindurch.

Nur durch die Gespräche, die Sabrina zu Hause führte, erfuhren sie, was ihnen widerfahren war.

Rolf gesellte sich zu Gerda, die die beiden Männer beobachtete, wie sie sich auf die Sättel schwangen und in die Pedale traten.

„Jetzt geht es los! Auf!“ Gerda nahm Rolf an die Hand. Anders als gedacht, war ihnen das tatsächlich möglich. Vielleicht weil sie Hand in Hand gestorben waren.

Sie hefteten sich an die Räder, und solange diese noch auf dem Hof fuhren, klappte es prima, ihnen zu folgen.

Dann verließen die Männer das Gelände und bogen nach links ab. Der Abstand vergrößerte sich, und sie konnten den beiden nur noch nachschauen.

Es war, als würden sie festgehalten werden. Oder eine unsichtbare Wand ließ sie nicht weiterkommen.

„So ein Mist!“, schimpfte Gerda.

„Hab ich mir irgendwie gleich gedacht.“ Rolf wirkte erleichtert. Heimlich fürchtete er sich davor, das gewohnte Umfeld zu verlassen. Wer weiß, was ihnen dort draußen widerfuhr?

***

Damit hatte Olga nicht gerechnet. Mark war verschwunden. Die umgestürzten Möbel wiesen in ihren Augen auf einen Kampf hin.

Davon hatte Rasputin nichts gesagt. Waren seine Leute ihr zuvorgekommen?

Aber das passte doch gar nicht zusammen.

Sie zückte ihr Smartphone und wählte Rasputins Nummer.

„Schlampe, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mich nicht anrufen sollst. Nur im Notfall“, ertönte sofort seine erboste Stimme.

Die Beleidigung überhörte Olga. Es hatte keinen Sinn, aufzubegehren.

„Na, wenn das kein Notfall ist. Wieso schickst du mich zu Mark zurück, ich solle alles in Ordnung bringen, wenn er gar nicht mehr in der Wohnung ist?“

„Was hab ich damit zu tun? Vielleicht ist er einkaufen oder im Büro?“

„Beides nein. Die Wohnung sieht verwüstet aus – hier muss jemand gewesen sein. Tisch und Stühle sind umgestoßen. Sieht nach einem Kampf aus.“

„Verdammt! Soweit ich informiert bin, waren wir das nicht! Fehlt was? Wo sind seine Unterlagen, sein Laptop?“

Olga ging mit dem Smartphone am Ohr ins Schlafzimmer.

„Die Schranktüren stehen offen und auch die Schubladen.“

Sie ging ins Arbeitszimmer. Der Schreibtisch war leer.

„Laptop ist weg.“

„Und du bist ganz sicher, dass es ein Überfall war?“

„Na, was denn sonst? Ich kann dir gerne ein paar Fotos schicken.“

„Nein! Versuch ihn anzurufen. Mal sehen, wer abnimmt.“

„Okay. Ich melde mich gleich wieder.“

„Nein. Kein Anruf – komm her! In der Zwischenzeit versuche ich herauszufinden, was passiert sein könnte.“ Rasputin drückte das Gespräch weg.

Olga suchte in den Kontakten Marks Nummer und wählte sie an.

Sofort antwortete die Mailbox, die ihr zeigte, dass er sein Handy ausgeschaltet haben musste.

Ich könnte die Polizei einschalten, dachte sie, dann wäre sie vielleicht auf einen Schlag aus allem raus.

Nein. Sie schüttelte den Kopf. Das würde nicht funktionieren.

Und was jetzt? War ihre Mission beendet? Würde man sie nun wieder nach Baku schicken, um dort weiterzumachen?

Es half nichts, sie musste zurück zu Rasputin und auf neue Anweisungen warten.

***

Ihn schickt der Himmel!, dachte Sabrina dankbar, als sie Mark hereinbat, um sich die Wohnung im Obergeschoss anzuschauen.

„Du kannst erst einmal die Wohnung besichtigen, ob sie dir gefällt. Ich hätte sonst noch andere anzubieten. – Ich darf doch Du sagen, oder?“

„Ja, klar. – Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mir gefällt. Hauptsache, ein bisschen Ruhe.“

„Du bist Schriftsteller“, stellte Sabrina eher fest, als dass es eine Frage war, nachdem sie einen Blick auf seine Laptop-Tasche geworfen hatte.

Mark zögerte einen winzigen Augenblick: „Wie kommst du darauf?“

„Wenn jemand seinen Laptop ständig bei sich trägt, hat er wohl die Befürchtung, dass seine Aufzeichnungen verloren gehen könnten.“

„Da hast du recht“, entgegnete er grinsend. „Und du bist Detektiv?“

Sabrina lachte. „Wie kommst du darauf?“, wiederholte sie seine Fragestellung.

„Du zeigst dich als gute Beobachterin und bist scharfsinnig.“

„Danke für das Kompliment, aber nein. Mir gehören die Ferienwohnungen, und in der Saison arbeite ich in Bensersiel im Service.“ Sabrina schaute ein wenig verlegen auf den Boden. „Da das geklärt ist, zeige ich dir jetzt die Wohnung. Mir nach!“, forderte sie ihn betont forsch auf.

Sogar der Rottweiler mühte sich die Treppe nach oben.

Scheinbar hat Orko einen Narren an Mark gefressen. Hab ich noch nie bei ihm erlebt. Spontane Liebe, dachte Sabrina. Sie hielt es für ein sehr gutes Zeichen. Orkos Instinkt konnte man rückhaltlos vertrauen.

Die schmale Treppe entsprach der ursprünglichen Bauweise und war noch im Original-Zustand. Bei jedem Schritt knarzte und ächzte sie mal mehr, mal weniger.

Oben öffnete Sabrina die Tür, und ein gemütlich eingerichtetes Zimmer offenbarte sich.

Sie eilte zu den zwei nebeneinanderliegenden Fenstern und öffnete sie.

„Entschuldigung, ich habe heute noch nicht gelüftet. So früh hatte ich mit dir nicht gerechnet.“

Mark lachte. „Hellsehen kannst du also auch“, und trat neben sie. „Schön“, sagte er schlicht, als er hinaussah. Von hier aus konnte man in das Benser Tief schauen, Enten und Teichhühner betrachten und sich, abgesehen von ein paar entfernt liegenden Häusern, bis zum Horizont an der Natur erfreuen. Er öffnete weit das Fenster, lehnte sich hinaus und nun konnte er, wenn er nach rechts sah, sogar Bensersiel erahnen. Mark war begeistert. Soweit das Auge reichte, flaches Land. Herrlich.

Sabrina war inzwischen ins angrenzende Schlafzimmer und Bad geeilt, um dort ebenfalls die Fenster zu öffnen.

Mark folgte ihr und schaute auf ein Doppelbett mit weißlackiertem Rahmen. Der Kleiderschrank, ebenfalls in Weiß, schien aus einer bekannten schwedischen Möbelkette zu stammen.

„Ich komme gleich das Bett beziehen“, erklärte Sabrina.

„Ach, das kann ich auch machen.“

„Alles im Preis inbegriffen“, widersprach sie.

„Okay. Brauchst du Vorkasse?“

„Ganz wie du möchtest“, und dachte: Los! Rück es raus. Doch bloß keine Schwäche zeigen, und darum fügte sie beherzt hinzu: „Ich vertraue dir. Wenn Orko dich liebt, kann ich mich darauf verlassen.“

Mark schaute sich nach dem Hund um, der brav im Türrahmen sitzengeblieben war. Dieser wusste, dass er die Ferienwohnungen nicht betreten durfte.

Als er seinen Namen gehört hatte und sah, dass Mark ihn anschaute, stand er erwartungsvoll auf, und sein ganzes Hinterteil wackelte vor freudiger Erwartung.

„Ist das so, Orko?“, sprach Mark ihn direkt an und Orkos Popo wackelte noch stärker.

„Na komm her, mein Junge.“ Er hatte es noch nicht ganz ausgesprochen, da sprang der Rottweiler ihn auch schon an und schleckte ihm übers Gesicht. Fast wäre Mark hintenübergekippt bei dem unerwarteten Gewicht.

„Erstaunlich, dass er überhaupt so hoch springen kann“, lachte Mark und wehrte ihn freundlich streichelnd ab.

„Ja, er ist schwer. – Orko, aus!“

„Ist schon gut, ich glaube, ich habe mich gerade verliebt.“

„Ich gehe jetzt mal davon aus, dass du Orko meinst“, grinste Sabrina und fühlte sich erstaunlich beschwingt.

„Bis jetzt ist das so“, neckte Mark zurück.

Sabrina schaute ihn an, lachte und merkte dann zu ihrem Entsetzen, dass sie rot anlief.

„Also, ich hole mal eben die Bettwäsche.“ Sie drehte sich rasch um und ging.

„Komm, Orko!“, rief sie im Hinausgehen.

Dieser blieb aber bei Mark und schmiegte seinen Kopf an dessen Hosenbein.

***

„Na, Orko, was machen wir jetzt? – Vielleicht erst einmal auspacken?“ Der Hund legte den Kopf schief und strengte sich an, den Mann zu verstehen.

„Dazu müssen wir aber erst zum Auto, das Gepäck holen.“ Mark streichelte das kurze, seidige Fell, dann stieg er die ersten Stufen hinab.

Gleichzeitig betrat Sabrina am unteren Absatz die Treppe, einen Stapel Bettwäsche vorm Gesicht.

Orko, der Schwierigkeiten hatte, die Stufen abwärts zu laufen, schoss förmlich an Mark vorbei und rutschte mehr, als dass er lief, seiner Herrin entgegen. Als er auf seinem Weg nach unten an ihr vorbeischlidderte, strauchelte diese, woraufhin Mark ihr zu Hilfe eilte.

Fest umschloss seine Hand ihren Arm, wobei die Wäsche durch die Luft wirbelte. Schnell umfasste er mit der anderen Hand ihre Taille, als Sabrina den Halt verlor und von den Stufen abrutschte.

Wie eine Schlenkerpuppe hing sie in seinen Armen.

„Hoppala! Das ist ja gerade noch einmal gut gegangen. – Hast du dir wehgetan?“ Mark half ihr, wieder auf die Füße zu kommen.

„Orko, du verdammte Töle!“, schimpfte sie. „Ja, aua“, jammerte sie gleich darauf, sich das linke Schienbein reibend.

„Willst du lieber nach oben oder nach unten?“ Mark stützte sie fürsorglich.

Sabrina sah sich nach der Wäsche um, die auf dem Boden lag und Orko einrahmte, der ihnen wenig schuldbewusst entgegensah. Vielmehr wirkte er zufrieden. „Endlich mal wieder etwas los“, schienen seine Augen zu sagen.

„Nach unten ergibt wohl mehr Sinn“, bemerkte Sabrina trocken.

„Ich wollte sowieso gerade mein Gepäck aus dem Auto holen. Also nach unten.“

Sabrina löste sich etwas verlegen aus seiner Umarmung. „Danke, es geht schon“, und humpelte hinunter.

Mark blieb hinter ihr, und beide bückten sich gleichzeitig, um die Wäsche aufzuheben. Und wie es in jedem Film zu sehen ist, stießen sie tatsächlich mit ihren Köpfen zusammen.

„Ich hole gleich frische“, beteuerte Sabrina und rieb sich den Kopf, den Zusammenstoß ignorierend.

„Ach was. Ist nicht nötig. Ist doch nichts passiert. – Wo kann ich wohl mein Auto parken?“

„Rechts neben dem Haus ist hinter einer Hecke ein kleiner Parkplatz. Dort kannst du es abstellen oder du fährst um das Haus herum auf den Hof. Ganz wie du möchtest.“

„Parkplatz klingt gut. Ich bin gleich wieder bei dir. Warte, dann kann ich dir mit der Wäsche helfen.“ Schon war er draußen, wobei er die Haustür nur anlehnte.

„Das fehlte noch! Kann ich auch alleine. – Und du, Orko …!“ Sie wurde sehr streng. „Du bleibst jetzt hier unten, verstanden?“

Orko legte sich ergeben hin und schaute traurig zu ihr hoch.

„Hast es dir selbst zuzuschreiben, mein Lieber.“

Mark ging unterdessen zum Auto und setzte es um. Holte sein Gepäck aus dem Fahrzeug, und gleich darauf stand er neben Sabrina, die bereits im Obergeschoss dabei war, die Betten in seinem Zimmer zu beziehen.

„Eins hätte auch gereicht. Ich erwarte keinen Besuch.“

„Es sieht so ungemütlich aus, wenn nur ein Bett bezogen ist“, erwiderte Sabrina und dachte: Das kann man nie wissen. – Ups, Sabrina!, ermahnte sie sich schmunzelnd.

Mark sah ihren Gesichtsausdruck und schaute sie fragend an. „Hab ich was verpasst?“

„Wie bitte?“ Sabrina wusste wirklich nicht, was er meinte.

„Du grinst so.“

„Ich? Nö. Nichts“, und widmete sich ausgiebig dem Bettbezug.

„Wie lange hast du vor zu bleiben?“, fragte Sabrina.

„Ich weiß es nicht. Ehrlich. Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht. Wollte einfach nur mal frische Luft schnuppern.“

„Veränderung kann sehr hilfreich sein“, entgegnete Sabrina. „Und frische Luft gibt es hier in Hülle und Fülle.“

Mark betrachtete sie nachdenklich, während sie das Bett glatt strich. Sah man ihm die Trennung so deutlich an? Oder was meinte sie mit ihrer Äußerung?

***

Nachdem das Ehepaar die Verfolgung aufgeben musste, kehrte es nach einer Weile ins Wohnhaus zurück. Die Zeichnungen hatten die Männer zuvor noch in einer Tasche verstaut. Auch konnten Rolf und Gerda dort nichts anderes entdecken, das ihnen irgendwelche Hinweise lieferte.

„Na, das ist doch mal ein Netter“, äußerte Gerda hingerissen und meinte damit den Neuankömmling.

„Abwarten und Tee trinken“, erwiderte Rolf abwiegelnd.

„Schön wär’s“, murmelte Gerda und blieb beobachtend an der Wand „stehen“.

„Was meinst du?“ Rolf betrachtete ebenfalls den Neuankömmling.

„Tee trinken und dazu ein schönes Stückchen Kuchen mit Sahne. Da läuft mir doch glatt das Wasser im Mund zusammen.“

Rolf lachte. „Kenne ich nur zu gut, doch alles nur Einbildung, meine Liebe, alles nur Einbildung.“

„Aber du musst doch zugeben, dass es ganz gut anfing?“

„Du meinst, dass es, wenn sich unsere Tochter fast den Hals bricht, romantisch ist?“

„Natürlich nicht. Aber er zeigte sich ritterlich. Ist doch ein vielversprechender Anfang.“

„Frauen!“, schimpfte Rolf. „Du lässt dich auch sofort von einem bisschen Sexappeal einfangen. Ich jedenfalls werde ihn mir genau unter die Lupe nehmen. Guck ihn dir doch an. So einer macht üblicherweise auf den Malediven Urlaub, und wenn in Deutschland, dann bestimmt eher auf Sylt.“

„Puh, bist du versnobt. Warum sollte er nicht hier Urlaub machen? Bei uns ist es doch gediegen.“

„Ja, gediegen, das stimmt. Aber gediegen und teures Cabrio passen nicht zusammen.“

Gerda gab nicht so leicht auf. „Vielleicht wäre er der richtige Mann für Sabrina. Er scheint finanziell abgesichert zu sein, ist jung, durchtrainiert und sieht zudem auch noch fantastisch aus. Er könnte auf sie aufpassen und ihr ein schönes Leben bieten.“

Rolf sah sie verwundert an. „Was ist denn mit dir los? So kenn ich dich gar nicht. Was ist aus ‚unabhängig‘ und ‚man braucht keinen Mann, um glücklich zu sein‘ geworden?

„Ach, du siehst doch, welchen Gefahren unsere Tochter ausgesetzt ist. Allein mit einer Ferienpension.“

Rolf blickte sie besorgt an. Seiner Frau schien es wirklich nicht gut zu gehen. Wo war ihr Kampfgeist, ihre grenzenlose Energie? Täuschte er sich oder war ihre Erscheinung noch schemenhafter geworden als sonst?

„Geht es dir nicht gut, mein Schatz?“, fragte nun Rolf.

„Ich fühle mich müde, wenn ich über all diese Dinge nachdenke. Wie sollen wir unsere Tochter schützen? Wir können doch nicht einmal unser Zuhause verlassen? Ein Mann im Haus wäre schon beruhigend.“ Gerda blickte zu Mark. „Und wenn er Schriftsteller ist und die Abgeschiedenheit sucht, ist er hier genau richtig. Sollte es zwischen den beiden funken, könnte ich endlich beruhigt sterben.“

„Sei nicht albern. Du bist bereits tot.“

„Ach, ja, stimmt.“ Gerda starrte vor sich hin.

„Orko hat einen Narren an ihm gefressen“, lenkte Rolf ein, der sich jetzt wirklich Sorgen machte.

Der Hund lag nun zu Marks Füßen, der an dem kleinen Tisch saß und seinen Laptop aufgebaut hatte. Als hätte Orko seinen Namen vernommen, hob er den Kopf und wedelte kurz verhalten mit dem Schwanz.

Mark streichelte ihn geistesabwesend.

„Au Backe, ob Mark uns wahrnimmt?“ Gerda schaute prüfend zu ihm hinüber.

„Nein, er hat auf Orkos Verhalten automatisch reagiert. Ich glaube nicht, dass er sein Handeln überhaupt selbst registriert hat.“

In diesem Moment zückte Mark sein Smartphone, schaltete es ein und entsperrte es.

„Kein Empfang!“ Er stand auf und ging zum Fenster. Prüfend hielt er es hoch. „Orko, habt ihr WLAN?“ Er schaute auf den Hund herab und lächelte. „Na, komm! Das wollen wir mal von deinem entzückenden Frauchen erfahren.“ Er öffnete die Tür und machte eine einladende Handbewegung.

„Darf ich bitten, Orko? – Du zuerst.“

Und schon schlitterte der Hund die Treppe hinab.

Rolf richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Gerda. „Du solltest dich ausruhen. Du siehst so, so – ich weiß nicht, so komisch aus.“

„Was?“ Gerda fuhr zusammen. „Wie, komisch?“

„Na, komisch, so anders eben.“

Sie rauschte ins Schlafzimmer zum Spiegel und blickte hinein. Unwillkürlich wich sie vor Überraschung zurück.

***

Dicke graue Wolken hingen am ostfriesischen Himmel. Unterschiedliche Nuancierungen von hell bis dunkelgrau grenzten die Formen ab. Mehrere Schichten waren erkennbar, die der Sonne an diesem Tag keine Chance geben würden.

Die ständige Brise machte es den beiden Radfahrern nicht leicht, die als Einzige über den Deich am Benser Tief Richtung Norden strampelten. Die Strickmütze, tief ins Gesicht gezogen, schloss mit dem Rand der heute überflüssigen Sonnenbrille ab. Doch Iwan war so daran gewöhnt, sie zu tragen, dass er sich ohne sie unsicher und durchschaut fühlte.

Er hielt den Blick gesenkt und achtete auf den schmalen Pfad, als ihn plötzlich etwas am Kopf traf und er fast in Antons Fahrrad gefahren wäre, der vor ihm bisher das Tempo vorgegeben hatte. Doch nun bremste er schlagartig ab. Er sprang vom Rad und stürzte seiner davoneilenden Truckercap nach, die ihren Weg bereits fortsetzte, nachdem sie von Iwans Stirn abgeprallt war.

Während Anton sich bemühte, sie wieder einzufangen, schimpfte Iwan laut: „Lass die blöde Kappe, die fliegt dir sowieso wieder weg. Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dir eine vernünftige Mütze kaufen?“

Anton ignorierte ihn und hechtete wie ein Torwart der Kopfbedeckung hinterher, die im Wind Kapriolen schlagend den Heimweg antrat. Doch gleich darauf hatte er sie unter sich begraben. Innerlich triumphierend nahm er sie an sich, streifte den Schmutz ab und drückte sie fest auf seinen Kopf.

„Können wir jetzt endlich weiter?“, zeterte Iwan.

Anton erwiderte lieber nichts, sondern trat nur in die Pedale. Mit seinem Gefährten war nicht gut Kirschen essen, wenn er gereizt war. Aber so eine Kappe hatte er schon lange haben wollen, darauf wollte er nicht verzichten. Er fand, dass er damit cool aussah. Und wenn er erst wieder zu Hause war …

Nur, wo war eigentlich sein Zuhause?

Bensersiel rückte immer näher. Sie überwanden die Umgehungsstraße, indem sie durch eine Unterführung radelten. Als sie an der anderen Seite herauskamen, erfasste die nächste Böe erneut Antons Kappe und wehte sie zurück über die Entlastungsstraße.

Anton wollte schon erneut vom Rad springen, als Iwan ihn zurückhielt: „Du lässt jetzt die Scheißkappe, hast du verstanden? Verdammt! Wir sind doch nicht im Kindergarten!!!“

Traurig sah Anton der Kopfbedeckung hinterher, wie sie auf der anderen Seite der Straße im Nichts verschwand.

Vielleicht konnte er später noch einmal hierherfahren und sie suchen, hoffte er.

„So ein Mist! Jetzt müssen wir nach Aurich fahren, um eine Mütze zu kaufen. Wir können hier nicht riskieren, dass man auf uns aufmerksam wird. Du blöder Idiot!“

Iwan steigerte sich in seine Wut hinein.

„Wir könnten mit der Bahn nach Oldenburg fahren. Das ist eine große Stadt, da merkt sich niemand unsere Gesichter“, warf Anton vorsichtig ein.

Iwan guckte ihn schräg von der Seite an. Keine schlechte Idee, dachte er sich, wollte es aber nicht zugeben. Außerdem wäre es gar nicht so übel, auch in jener Gegend ortskundig zu werden. Man konnte ja nie wissen …

„Dann sehen wir uns heute noch die Abfahrtzeiten am Bahnhof in Esens an. Aber erst einmal will ich den Hafen erkunden. Los! Abmarsch!“, kommandierte Iwan.

Anton trat in die Pedale, und schon bald darauf erreichten sie den Küstenort. Unschlüssig blieben sie auf der Brücke der Hauptstraße stehen und überlegten, welche Einfahrt sie zuerst nehmen sollten. Entschieden sich dann für die rechte Seite. Kurz darauf durchfuhren sie eines der Sieltore, die nur bei Sturmfluten geschlossen werden.

Am Kai lagen gut festgezurrt die Fähren nach Langeoog, während die Bauarbeiten am neuen Fähranleger lautstark vonstattengingen.

Noch waren keine Boote im Yachthafen zu sehen, doch schon bald sollte die Saison beginnen.

***

Kaum hatte Mark das WLAN-Passwort eingegeben, überschlugen sich die Mitteilungstöne seines Smartphones.

„Du lieber Himmel!!!“, rief Mark aus. „Du entschuldigst mich?“, und wandte sich, schon ganz in Gedanken, ab.

Sabrina nickte, blickte hinab zum Hund und sagte streng: „Du bleibst schön hier, mein Lieber.“

Mark drehte sich um: „Ist das dein Ernst?“

Verdutzt schaute sie ihn an, dann lachte sie. „Ich meinte Orko.“

„Ja, klar.“ Er grinste schief und verließ die Küche. Gleich darauf lugte er jedoch wieder durch die Tür. „Sag mal, wäre es möglich, bei dir zu essen? Ich zahle auch dafür.“

Das nimmt so langsam merkwürdige Züge an, dachte Sabrina. Insgeheim war sie allerdings sehr froh, ein wenig hinzuverdienen zu können.

„Wenn du mit Hausmannskost zufrieden bist?“

„Sehr gerne.“ Mark strahlte sie an und sprang dann, eine Stufe überspringend, die Treppe nach oben.

In seinem Zimmer nahm er sich die Nachrichten vor, die sein Smartphone überfluteten.

Seine Eltern erkundigten sich, ob er gut angekommen sei und eine schöne Unterkunft gefunden habe. „Schick uns mal ein paar Fotos. Wir waren doch auch schon so lange nicht mehr da“, baten sie.

Flink tippte Mark ein Lebenszeichen und schoss ein Foto aus dem Fenster, das er der Nachricht beifügte.

Eine Mail kam aus seinem Büro von seiner Mitarbeiterin, die eine Anfrage seines Auftraggebers weiterleitete und sich besorgt erkundigte, ob er im Outback Ostfriesia überhaupt mit der modernen Zivilisation verbunden sei.

Sogleich beantwortete er die Nachricht und versicherte, dass er sich alsbald mit dem Auftraggeber in Verbindung setzen würde.

Zwölf Anrufe in Abwesenheit stammten durchweg von Olga. Drei Sprachnachrichten hatte sie hinterlassen. Missmutig löschte er sie ungehört.

Nein, von ihr ließ er sich nicht die Laune verderben. Er hatte gerade angefangen, nicht mehr an sie zu denken. Natürlich war das nun vorbei.

Er ging zum Fenster und starrte blicklos hinaus. Bilder stiegen vor seinem inneren Auge auf. Bilder von romantischen Augenblicken, die sie miteinander verbracht hatten und die dann äußerst leidenschaftlich endeten. Ein Feuerwerk der Gefühle. Er war Wachs in ihren Händen.

Er presste die Kiefer so fest aufeinander, dass seine Kaumuskeln hervortraten und sein Gesicht noch kantiger machten.

Entschlossen drehte er sich um, straffte seine Schultern und atmete tief ein. Abstand! Er brauchte erst einmal Abstand von dieser Frau. Die Gefahr, wieder schwach zu werden, war durchaus berechtigt, denn er hatte wieder ganz deutlich die Sehnsucht nach ihrem Körper gefühlt.

Was er nicht spürte, war, dass sich Gerda und Rolf noch in der Wohnung aufhielten und ihn beobachteten.

„Ich sag doch, mit dem stimmt was nicht!“, flüsterte Rolf seiner Frau zu.

Gerda, noch immer verstört, schaute nur besorgt zu ihm hinüber.

Mark suchte in den Kontakten eine Nummer heraus und wählte sie. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es eine gute Zeit war, um das Telefonat zu führen. Später Vormittag. Perfekt.

„Foster hier. Sie baten um Rückruf“, eröffnete Mark das Gespräch. – „Sicher. Kein Problem. Ich denke, dass ich fristgerecht fertig bin.“ Er lauschte in den Hörer und erwiderte dann: „Es wäre aber auch wichtig, dass ich vorher noch einen Probelauf starten dürfte. – Ist die entsprechende Abteilung darüber bereits informiert?“ Konzentriert lauschte er der Antwort. – „Wunderbar! Ich melde mich dann, wenn es so weit ist. Auf Wiederhören.“

Er legte das Smartphone auf den Tisch, packte die Kleidungsstücke aus und verstaute sie. Anschließend ging er schon wieder vergnügt nach unten.

„Schriftsteller ist er jedenfalls nicht.“ Rolf wollte Mark schon folgen. Doch Gerda hielt ihn zurück. „Gönn mir eine Pause.“

***

„Ja, natürlich. Wir werden schon herausbekommen, was mit diesem Mark Foster los ist.“ Rolf bewegte sich wieder auf seine Frau zu und betrachtete sie erneut prüfend.

„Etwas sehr Merkwürdiges ist gerade geschehen, Rolf.“

Wieder wurde ihr Bild durchscheinender.

„Du siehst wirklich nicht gut aus. Was kann ich für dich tun?“ Rolf war bestürzt.

„Am liebsten würde ich mich hinlegen oder wenigstens hinsetzen. Ich fühle mich so schwach.“

„Versuch es doch mal. Vielleicht geht das.“

Gerda blickte sich um, schaute ins Schlafzimmer, doch dann entschied sie sich dagegen, das Bett auszuprobieren. Denn dort stand der Spiegel genau gegenüber.

Sie steuerte das Ostfriesensofa an, das an der Wand gegenüber dem Tisch stand. Der große Wunsch, sich dort auszustrecken, und die Erinnerung an alte Zeiten schienen tatsächlich zu bewirken, dass Rolf sie dort in einer liegenden Position ausmachen konnte.

„Wunderbar!“, rief er enthusiastisch. „Es klappt.“

„Ja, tatsächlich.“ Gerda bemühte sich, sich nicht zu bewegen, um diesen Zustand zu erhalten.

Rolf betrachtete sie fasziniert eine Weile, dann wagte er sich an ihre Seite. „Wie fühlst du dich jetzt?“

„Besser. Meine Energie scheint sich wieder gleichmäßiger in meinem ‚Körper‘ zu verteilen. Ich weiß nicht, wie ich es anders erklären kann. Warte nur noch einen Augenblick, dann muss ich dir etwas sagen.“

Gerdas Stimme wurde zunehmend lebhafter.

Rolf atmete erleichtert auf. Was ja nicht möglich war, aber zumindest hatte er diesen Eindruck.

Schneller als gedacht, richtete sich Gerda auf, blieb aber noch in einer sitzenden Position.

„Vorhin“, begann sie übergangslos, „als ich in den Spiegel sah – weißt du noch?“

„Ja, sicher!“

„Da war etwas sehr Merkwürdiges!“ Gerda sah Rolf an und überlegte, wie sie ihm es am besten beibringen könnte.

„Schieß los! Spann mich nicht so auf die Folter. Was war so merkwürdig?“

„Meine Eltern waren da drin und winkten mir zu!“

„Was?“

„Ja, meine verstorbenen Eltern waren im Spiegel und, hinter ihnen nur schemenhaft zu sehen, die ganze Verwandtschaft, glaub ich. So schnell konnte ich sie nicht erkennen.“

„Ist ja ein Ding. Und sie winkten dir zu?“

„Ja. Ich war ganz schön erschrocken, kann ich dir sagen. Danach fühlte ich mich noch schwächer.“

Rolf sah den Stuhl an und versuchte sich zu setzen. Auch ihn übermannte nun eine eigenartige Schwäche.

„Wie hast du das gemacht, dass du liegen konntest?“, fragte Rolf und ließ den Stuhl nicht aus den Augen.

„Ich habe es mir ganz doll gewünscht und mich an die Zeiten damals erinnert, wie es sich anfühlte, wenn ich mich hingelegt hatte.“

„Okay, ich probiere es.“ Es dauerte einen Augenblick, und dann nahm Gerda ihn sitzend auf dem Stuhl ihr gegenüber wahr.

„Toll!“, rief sie. „Es funktioniert.“

„Ja, das brauchte ich aber auch gerade. Deine Nachricht ist irgendwie umwerfend. Wenn man bedenkt, dass wir schon vier Jahre tot sind und in dieser Zeit noch nie Kontakt zu anderen Verstorbenen hatten. Wir hatten uns schon damit abgefunden, dass wir beide hier alleine sind. Jetzt das.“ Rolf schien seinen Kopf in seine Hände zu stützen. Dann richtete er sich wieder auf. „Was hast du noch gesehen? Waren sie einfach nur da und winkten dir zu?“

Gerda schien zu überlegen und sich die Situation noch einmal vor „Augen“ zu führen. „Ich blickte in den Spiegel, weil du sagtest, ich sehe so anders aus. Ein Reflex aus alten Zeiten, denn ich habe mich in diesen Jahren noch nie im Spiegel sehen können. Auch diesmal nicht, aber da waren plötzlich meine Eltern. Es war, als würde ich durch ein Tor, oder nein, eher wie in einen Fernseher schauen und dort eine andere Welt sehen, die aber keine Formen drumherum hatte. Unweit waren meine Eltern zu sehen und weiter hinten eine Ansammlung von Menschen, die ich nur schemenhaft wahrnahm, wusste aber, dass sie meine Verwandten waren. Meine Eltern konnte ich dagegen deutlich sehen. Sie lächelten mir freudig entgegen und winkten. Ja, sie freuten sich aufrichtig, mich zu sehen. Dabei haben sie sich im wahren Leben immer viel Sorgen um mich gemacht und haben mich nie verstanden. Wie du weißt, hatten wir oft Meinungsverschiedenheiten. Aber nun war so viel Liebe in ihnen.“

Gerda richtete sich auf und schwang ihre Beine, die jetzt wieder deutlicher wahrnehmbar waren, zu Boden. Es schien, als sei ihre Energie zurückgekehrt.

Rolf sah ein wenig verwirrt aus. Er wusste noch nichts damit anzufangen. Welche andere Welt gab es da noch?

In diesen Jahren hatten sie sich nie diese Frage gestellt. Sie waren nur verwundert, dass sie offenbar als Geister an das Haus gebunden waren. Ganz anders, als sie sich jemals den Tod vorgestellt hatten. Als sie sich daran gewöhnten und sich ganz offensichtlich keine Veränderung einstellte, weder ein Engel auftauchte noch irgendwo ein helles Licht zu sehen war, dem sie hätten folgen können, fanden sie sich mit dieser Situation ab.

Gerda begab sich tatendurstig und furchtlos erneut vor dem Spiegel. Doch außer dem Spiegelbild der Wohnung war nichts Weiteres zu sehen.

„Nichts! Rolf, gar nichts. Aber ich habe mir das doch nicht eingebildet.“

***

Sabrina war gerade dabei, ihrer besten Freundin Janna eine Textnachricht zu tippen, als sich die Tür öffnete und Mark hindurchlugte.

„Stör ich?“

Orko sprang freudig wedelnd auf, rannte zu ihm und stupste die Tür mit der Schnauze vollends auf. Dann warf er sich ihm praktisch in die Arme.

Fast wäre Mark gestrauchelt. „Ho ho, nicht so stürmisch, Alter!“ Doch sein Gesicht strahlte. In der Tiefe seiner Seele hatte er sich schon immer so einen ergebenen Freund gewünscht.

Seine Eltern, obwohl sie ein Häuschen am Stadtrand besaßen, hielten nichts von Haustieren. Der einzige Versuch, ihm einen Hamster zu schenken, endete sehr rasch, als die Eltern bemerkten, dass er mit ihm nichts anfangen konnte. Wenn man sich einen Hund wünscht, ist ein Hamster ein ungeeigneter Ersatz. Doch sie sahen darin den Beweis des mangelnden Verantwortungsgefühls und setzten sich durch.

Seine Freizeitaktivitäten gestalteten sie ihm aber so interessant, dass er schon bald nicht mehr an einen Hund dachte.

Sabrina schaute verwirrt auf und fragte: „Entschuldige, was sagtest du?“

„Stör ich?“

„Nein, überhaupt nicht. Ich kann auch später meiner Freundin schreiben. – Was gibt es?“

„Freundin oder Freund?“, fragte Mark interessiert.

„Freundin! Wenn du es genau wissen willst, hatte ich keinen Freund mehr, seit …“ Sie schluckte, und ein Schatten huschte über ihr Gesicht. Doch dann fuhr sie forsch weiter: „… seit etwa vier Jahren.“

„Vier Jahre? Du lieber Himmel, dann musst du ja ausgehungert … äh, sorry. Hat dir denn nie ein Freund gefehlt?“

„Du meinst Sex? Dazu braucht man doch keinen festen Freund.“ Sabrina gab sich sehr cool. Sie hatte bereits zu viel gesagt. Er sollte nicht denken, dass sie keine Gelegenheit dazu gehabt hätte. – Na ja, hatte sie auch nicht, oder besser gesagt, diejenigen, die sich dazu anboten … Oh nein. Auf keinen Fall! Doch das würde sie ihm nicht auf die Nase binden.

„Also, was wolltest du eigentlich?“, lenkte sie ihn von seinem prüfenden Blick ab.

„Könnte ich wohl so um drei Uhr Mittagessen bekommen? Ich möchte gerne nach Bensersiel fahren, am Strand ein wenig spazieren gehen und Nordseeluft schnuppern.“

Sabrina warf einen Blick auf die alte Küchenuhr an der Wand und machte sich blitzartig Gedanken über das mögliche Menü. Wenn sie sich beeilte, könnte sie noch schnell etwas einkaufen fahren. „Was schwebt dir denn so vor?“

„Egal, ich lass mich von deiner Hausmannskost überraschen“, antwortete Mark erleichtert und fügte hinzu: „Prima, ich freu mich. Dann bis später.“ Er tätschelte Orko über den Kopf und verließ die Küche.

Sabrina löschte den bisher geschriebenen Text an Janna. Der Austausch musste warten. Sie schnappte sich ihre Jacke, das Portemonnaie und lief zum Schuppen. Zeitgleich hörte sie vor dem Haus den Motor starten und das Auto abfahren.

Sie öffnete die Tür und rief: „Mist, das Rad ist mit dem Russen unterwegs.“ Sie schaltete das Licht ein und ging weiter hinein. Dort standen noch zwei Räder, die schon lange nicht mehr von Feriengästen benutzt worden waren. Die meisten brachten ihre eigenen Fahrräder mit. Immer häufiger sogar E-Bikes. Von Spinnweben und Staub bedeckt blieb die Farbe des Rahmens zunächst ein Rätsel. Mit spitzen Fingern zog Sabrina das erste Rad ein wenig hervor.

„Platten! Das war ja zu erwarten! So ein verdammter Mist“, schimpfte sie laut und trampelte mit den Füßen auf der Stelle herum, während Orko in den Ecken herumschnüffelte.

„Riechst du was?“, wandte sie sich an ihren Begleiter. Jetzt fehlte nur noch, dass er eine Ratte aufschrecken würde. Sie schüttelte sich bei der Vorstellung.

„Komm schnell!“ Rasch schloss sie die Tür und ging zurück in die Küche.

Sie öffnete ihren Vorratsraum und starrte auf die praktisch leeren Regale. „Jetzt sitzen wir ganz schön in der Patsche, Orko.“ Sie würde es nicht rechtzeitig schaffen, den Einkauf zu Fuß zu erledigen und zu kochen. Die fette und schwere Kost, die sie für die beiden Russen eingekauft hatte, mochte sie Mark nicht zumuten.

Eine einsame Packung Spagetti bot sich ihr dar. Sie nahm sie an sich und überlegte, was sie dazu reichen könnte. Ihr Blick fiel auf die angebrochene Flasche Olivenöl. „Spagetti mit Bärlauchpesto, das ist es, Orko.“ Sie lachte befreit auf. „Dazu einen Salat aus frischen Gartenkräutern!“

Kurze Zeit später suchte sie im Garten nach geeigneten Gewächsen. In der einen Hand einen Durchschlag, der ihre Ernte aufnehmen sollte, und in der anderen ein Messer. Und so wanderten Bärlauch für das Pesto, Giersch, junge Brennnessel, Löwenzahnblätter und eine Handvoll Gänseblümchen in den Behälter, den sie dann auf dem Terrassentisch abstellte, damit sämtliche Käfer und andere Insekten den Weg in die Freiheit nahmen, bevor sie den Salat weiterverarbeitete.

Nun hatte sie also schon zwei Mahlzeiten für unterschiedliche Uhrzeiten vorzubereiten.

Sie schaltete das Küchenradio ein, pfiff lautstark die Oldies aus dem heimischen Sender mit und machte sich vergnügt ans Werk.

***

Pünktlich um Viertel vor drei hörte Sabrina die Haustür ins Schloss fallen. Gleich darauf ein entspannter Mark, der ganz selbstverständlich die Tür zur Küche öffnete.

„Bin wieder da. Gehe nur kurz nach oben, mir die Hände waschen.“ Er schnüffelte in die Luft. „Gibt es gleich was zu essen?“ Offenbar konnte er nichts dergleichen ausmachen.

„Ja. Kann sofort losgehen.“

„Oh! Prima“, aber er dachte, da bin ich ja mal gespannt. Was kann man kochen, das nach nichts riecht? Doch er grinste sie nur an und verschwand.

Dem Geräusch nach zu urteilen, nahm er die Treppe erneut, indem er eine Stufe übersprang. Auf dem Rückweg schien er sogar aus einer gewissen Höhe herabzuspringen. Das laute Aufstampfen verriet ihn.

„Welche Stufe?“, fragte darum Sabrina als Erstes, als er hereinkam, ohne sich vom Herd umzudrehen.

„Was meinst du?“

„Von welcher Stufe aus bist du gesprungen?“

Er lachte ertappt. „Von der dritten.“

„Nur zwei übersprungen? Feigling!“

Verblüfft schaute er sie an.

„Komm, setz dich. Es gibt Spagetti mit Bärlauchpesto und frischen Gartenkräutersalat“, verkündete sie fast stolz.

„Bist du Italienerin?“

„Wie kommst du denn darauf? Nein, ich bin hier geboren. Okay, meine Eltern waren keine Ostfriesen, aber deutschstämmig.“

„Na ja, wenn das Hausmannskost ist, müsstest du Italienerin sein.“

Sabrina wurde rot.

„Sorry, ich hatte nicht viel Auswahl im Haus, und mein Fahrrad ist noch unterwegs mit den Gästen.“

„Ach, du meinst die beiden zwielichtigen Gestalten, die gerade auf den Hof gefahren sind? – Das sind deine Gäste?“

Sabrina wurde noch röter. „Ja, ich kann mir leider meine Gäste nicht aussuchen“, erwiderte sie schroffer als beabsichtigt.

„Entschuldigung. Es geht mich nichts an, aber sie machen mir keinen guten Eindruck.“

„Das sagt der Richtige“, murmelte Rolf ungehört. Gerda war auch sichtlich empört, dass er sich so über die Mahlzeit lustig machte. Sie war noch gerade so stolz auf ihre Tochter gewesen, wie sie praktisch aus nichts ein Mittagessen gezaubert hatte.

Den Tisch hatte sie auch liebevoll gedeckt und sogar eines von den Kristallgläsern aus der Erbschaft der Urgroßmutter hingestellt. Dazu die mit Wasser gefüllte Kristallkaraffe, und eine Haushaltskerze hatte sie auch noch im Sicherungskasten gefunden. Die für den Notfall, falls mal der Strom ausfiel. In dem kleinen Kerzenständer, den sie als Andenken aus Mexiko mitgebracht hatte, sah sie angezündet sogar richtig hübsch aus, fand Gerda.

Mark nahm den ersten Bissen der aufgewickelten Spagetti und sah Sabrina bewundernd an. „Hmmm! Lecker“, tönte es etwas undeutlich aus seinem vollen Mund.

Sabrina freute sich sichtlich über das Lob und war sofort versöhnlicher gestimmt.

„Danke. – Du hast ja recht. Mir sind die beiden auch nicht geheuer. Aber was soll ich machen? Ich brauche das Geld.“ Sabrinas Stimme wurde immer leiser und verschämt brach sie ab.

„Magst du dich zu mir setzen?“, fragte Mark sanft. „Es wäre für mich gemütlicher. Ich nehme an, du hast schon gegessen, oder?“

„Ja, sicher“, stotterte sie und blickte zur Seite.

„Vielleicht schaffst du trotzdem noch ein bisschen?“ Aufmunternd sah er sie an, und Sabrina fühlte sich durchschaut.

„Joooo, ein bisschen könnte ich sicher vertragen.“ Sie nahm sich einen Teller und tat sich auf.

„Der Salat ist ja köstlich“ Mark schien begeistert zu sein. „Wo hast du das Rezept her und die Kräuter?“

„Meine Mutter kannte sich gut mit Wildkräutern aus und hat es mir beigebracht.“ Sabrina biss sich auf die Lippen. Noch nie hatte sie gegenüber einem Fremden ihre verstorbenen Eltern erwähnt.

„Wächst alles hier draußen“, beeilte sie sich zu sagen. „Ich bin auch sehr froh, dass du hier bist“, fügte sie offen hinzu. „Mit diesen beiden da drüben“, sie wies mit dem Kopf zu den Ferienwohnungen im Hof, „ist mir nicht ganz wohl zumute. Sie sind so distanzlos und marschieren hier rein und raus, wie es ihnen in den Sinn kommt.“

„Oh, das hab ich auch gerade gemacht.“

„Nein, nein, bei dir ist das etwas anderes.“

„Vielen Dank.“ Mark deutete eine Verbeugung an.

„Nein, wirklich! Orko liebt dich, das allein ist schon eine Empfehlung. Du solltest mal sehen, wie er sich bei denen da aufführt. Am liebsten würde er ihnen an die Gurgel springen.“

„Gut, dass du so einen Beschützer hast.“ Mark wurde sehr ernst. Und gut, dass ich nun da bin, dachte er.

„Siehst du, Rolf, ich hatte doch recht!“, jubelte Gerda, denn obwohl unerklärlich, hatte das Ehepaar die letzten Gedanken von Mark verstanden.

***

Am Himmelreich ist die Hölle los

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