Читать книгу Oblomow - Иван Гончаров, Иван Александрович Гончаров - Страница 1
Erster Theil
I
ОглавлениеAuf der Gorochowajastraße, in einem der großen Häuser, dessen Bevölkerung für eine ganze Kreisstadt ausgereicht hätte, lag des Morgens Ilja Iljitsch Oblomow in seiner Wohnung auf dem Sofa. Das war ein etwa zweiunddreißigjähriger Mann von mittlerem Wuchs und angenehmen Äußern, mit dunkelgrauen Augen, die über die Wände und Zimmerdecke sorglos streiften und jenes unbestimmte Sinnen ausdrückten, welches darauf hinwies, daß ihn nichts beschäftigte und nichts beunruhigte. Die Sorglosigkeit gieng vom Gesicht auf die Stellung des ganzen Körpers und selbst auf die Schlafrockfalten über. Manchmal trübte sich sein Blick durch einen Anflug von Müdigkeit oder Langeweile. Aber weder die Müdigkeit noch die Langeweile konnten von seinem Gesicht auch nur für einen Augenblick die Weichheit vertreiben, die der herrschende und grundlegende Ausdruck nicht nur seines Gesichtes, sondern seiner ganzen Seele war. Diese Seele leuchtete so offen hell aus den Augen, dem Lächeln und einer jeden Kopf- und Handbewegung. Ein flüchtig beobachtender, theilnahmsloser Mensch würde Oblomow nur im Vorübergehen anblicken und sagen: »Das ist gewiß ein guter, einfacher Kerl!« Ein tieferer und sympathischerer Mensch würde sein Gesicht lange betrachten und dann lächelnd, in angenehmes Sinnen vertieft, fortgehen.
Ilja Iljitschs Gesichtsfarbe war weder roth, noch dunkel, noch ausgesprochen blaß, sondern unbestimmt, und sie erschien vielleicht deswegen so, weil Oblomow gar nicht im Verhältnis zu seinem Alter aufgedunsen war: sei es aus Mangel an Bewegung oder an Luft oder vielleicht an beidem. Überhaupt erschien sein Körper, nach der matten, zu weißen Färbung des Halses, den kleinen weichen Händen und den schlaffen Schultern zu urtheilen, für einen Mann zu sehr verzärtelt. Seine Bewegungen wurden, selbst wenn er erregt war, durch eine Sanftheit und eine der Grazie nicht entbehrende Trägheit gedämpft. Wenn ihm eine Sorgenwolke aus der Seele aufs Antlitz glitt, umzog sich sein Blick, auf der Stirn erschienen Falten, und es begann ein Spiel des Zweifels, der Trauer, des Schreckens; doch diese Unruhe erstarrte selten in der Form einer bestimmten Idee und verwandelte sich noch seltener in ein Vorhaben. Die ganze Erregung löste sich in einen Seufzer auf und erstarb in einer Apathie und einem Hindämmern.
Wie gut paßte Oblomows Hausanzug zu seinen ruhigen Gesichtszügen und seinem verzärtelten Körper! Er trug einen Schlafrock aus persischem Stoffe, einen echten morgenländischen Schlafrock – ohne die geringste Anlehnung an Europa, ohne Quasten, ohne Sammt, ohne Taille – der so weit war, daß Oblomow sich zweimal hineinwickeln konnte. Nach der unveränderlichen asiatischen Mode erweiterten sich die Ärmel von den Fingern zur Schulter immer mehr und mehr. Trotzdem dieser Schlafrock seine ursprüngliche Frische eingebüßt hatte und seinen früheren, natürlichen Glanz stellenweise durch einen erworbenen ersetzt hatte, behielt er doch noch die Lebhaftigkeit der morgenländischen Farbe und die Dauerhaftigkeit des Gewebes bei.
Der Schlafrock hatte in Oblomows Augen eine Menge unschätzbarer Eigenschaften: er war weich und schmiegsam; man fühlte ihn kaum auf sich; er paßte sich, gleich einem gehorsamen Sclaven, den geringsten Bewegungen des Körpers an.
Oblomow gieng zu Hause immer ohne Cravatte und ohne Weste herum, denn er liebte die Bequemlichkeit und Freiheit. Er trug lange, weiche und breite Pantoffel; wenn er seine Füße vom Bett auf den Fußboden herabgleiten ließ, schlüpfte er ohne hinzuschauen unfehlbar in beide Pantoffel auf einmal.
Das Liegen war für Ilja Iljitsch weder eine Nothwendigkeit, wie für einen Kranken oder einen Schläfrigen, noch eine Zufälligkeit, wie für einen Ermüdeten, noch ein Vergnügen, wie für einen Faulen: es war sein normaler Zustand. Wenn er zu Hause war – und er war fast immer zu Hause – lag er stets in dem Raum, in welchem wir ihn angetroffen haben, der ihm als Schlaf-, Arbeits- und Empfangszimmer diente. Er besaß noch drei Zimmer, doch er schaute selten hinein, höchstens des Morgens – aber auch nicht jeden Tag – wenn sein Diener das Arbeitszimmer fegte, was nicht täglich geschah. In jenen Zimmern steckte das Möbel in Überzügen und die Stores waren herabgelassen.
Das Zimmer, in welchem Ilja Iljitsch lag, erschien auf den ersten Blick sehr schön eingerichtet. Es standen darin zwei mit Seide überzogene Sofas, ein Secretär aus Mahagoniholz und ein schöner Wandschirm mit gestickten, in der Natur niemals vorkommenden Vögeln und Früchten. Es gab darin auch seidene Vorhänge, Teppiche, ein paar Bilder, Bronzen, Porzellan und eine Menge hübscher Kleinigkeiten. Doch das erfahrene Auge eines Menschen von gutem Geschmack würde auf den ersten flüchtigen Blick aus allem, was da war, nur den Wunsch herauslesen, das Decorum der unvermeidlichen Anstandsregeln so gut es gieng zu wahren, um sie nur los zu werden. Oblomow war bei der Einrichtung seines Arbeitszimmers sicherlich nur von dieser Absicht geleitet worden. Ein verfeinerter Geschmack hätte sich nicht mit diesen schweren, ungraziösen Mahagonisesseln und den wackligen Etagéren begnügt. Die Lehne des einen Sofa hatte sich gesenkt und das aufgeklebte Holz hatte sich stellenweise gelöst.
Die Bilder, Vasen und Kleinigkeiten trugen denselben Charakter.
Doch der Eigenthümer selbst betrachtete die Einrichtung seines Arbeitszimmers so kalt und zerstreut, als fragte er mit den Augen: »Wer hat das alles hergeschleppt und hineingestellt?« Auf dieses kühle Verhalten Oblomows seinem Eigenthum gegenüber und vielleicht auch auf das noch kühlere Verhalten seines Dieners Sachar demselben Gegenstand gegenüber war es zurückzuführen, daß der Zustand des Arbeitszimmers bei genauerer Untersuchung durch die darin herrschende Nachlässigkeit und Verwahrlosung verblüffte. Auf den Wänden, bei den Bildern hieng staubiges Spinngewebe in Form von Gewinden; statt die Gegenstände wiederzugeben, konnten die Spiegel eher als Tafeln dienen, auf deren Staub man irgendwelche Notizen aufzeichnen konnte. Die Teppiche waren fleckig. Auf dem Sofa lag ein vergessenes Handtuch; es kam selten vor, daß auf dem Tische nicht ein Teller mit einem Salzfasse und einem abgenagten Knochen nach dem gestrigen Abendbrot zurückgeblieben war und keine Brotkrumen herumlagen. Wenn dieser Teller und die am Bett lehnende, soeben zu Ende gerauchte Pfeife, oder deren im Bett liegender Eigenthümer nicht wären, könnte man glauben, es wohne hier niemand – so verstaubt, verblichen und überhaupt so ohne jede lebendige Spur einer menschlichen Anwesenheit war alles. Auf den Etagéren lagen zwar zwei, drei aufgeschlagene Bücher und trieb sich eine Zeitung herum und auf dem Secretär stand auch ein Tintenfaß mit Federn, aber die aufgedeckten Seiten der Bücher waren staubig und vergilbt; man sah, daß man sie schon längst fortgeworfen hatte; die Zeitung wies ein vorjähriges Datum auf, und wenn man die Feder ins Tintenfaß stecken wollte, würden höchstens erschrockene, summende Fliegen herausschwirren.
Ilja Iljitsch wachte gegen seine Gewohnheit sehr früh, um acht Uhr, auf. Er war durch irgend etwas sehr in Anspruch genommen. Auf seinem Gesicht drückten sich abwechselnd bald Angst, bald Traurigkeit, bald Ärger aus. Man sah, daß in seinem Innern sich ein Kampf abspielte und daß der Verstand ihm noch nicht zu Hilfe gekommen war.
Oblomow hatte nämlich am vorhergehenden Tage einen unangenehmen Brief von seinem Dorfschulzen erhalten. Man kann sich denken, von was für Unannehmlichkeiten ein Dorfschulze schreiben kann: von Mißernte, Zahlungsrückständen, Verringerungen der Einnahmen etc. Trotzdem der Dorfschulze im vorigen und vorvorigen Jahre seinem Herrn genau ebensolche Briefe geschrieben hatte, wirkte dieser letzte Brief ebenso stark, wie jede unangenehme Überraschung.
War es denn etwas Leichtes? Es stand ja bevor, über die Wege zur Anwendung irgendwelcher Maßregeln nachzudenken. Übrigens muß man der Sorgsamkeit Ilja Iljitschs seinen Geschäften gegenüber Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er hatte gleich nach dem ersten unangenehmen Brief seines Dorfschulzen vor ein paar Jahren damit begonnen, im Geiste den Plan verschiedener Änderungen und Verbesserungen in der Verwaltung seines Gutes auszuarbeiten. In diesem Plane wurden verschiedene neue ökonomische, polizeiliche und noch andere Maßregeln in Aussicht gestellt. Doch der Plan war noch lange nicht ganz ausgearbeitet, und die unangenehmen Briefe des Dorfschulzen wiederholten sich alljährlich, trieben ihn zur Thätigkeit an und störten folglich seine Ruhe. Oblomow erkannte die Nothwendigkeit, etwas Entscheidendes zu beginnen.
Er hatte sich gleich beim Erwachen vorgenommen, aufzustehen, sich zu waschen und nachdem er Thee getrunken hatte, gründlich nachzudenken, manches in Erwägung zu ziehen, zu notieren und sich überhaupt der Sache ganz zu widmen. Er lag eine halbe Stunde lang da und quälte sich mit diesem Vorsatze ab; doch dann überlegte er sich, daß er das alles auch nach dem Frühstück thun konnte, daß er den Thee wie immer liegend trinken würde, umsomehr, als diese Stellung zum Nachdenken ebensogut geeignet war. Das that er auch. Nach dem Thee hatte er sich schon auf seinem Lager aufgerichtet und wäre beinahe aufgestanden; er hatte sogar begonnen, auf die Pantoffel blickend, den einen Fuß vom Bette zu ihnen herabgleiten zu lassen, doch dann zog er ihn gleich wieder hinauf.
Es schlug halb Zehn, Ilja Iljitsch raffte sich auf.
»Was soll denn das, wirklich?« sagte er laut und ärgerlich. »Man muß ja ein Gewissen haben; es ist Zeit, mit der Arbeit zu beginnen! Wenn man sich gehen läßt, dann . . .«
– Sachar! – schrie er.
Im Zimmer, das nur durch einen kleinen Corridor von Ilja Iljitschs Arbeitszimmer getrennt war, hörte man zuerst etwas, wie das Brummen eines Kettenhundes und dann das Geräusch von irgendwo herabspringenden Füße. Das war Sachar, der von der Ofenbank herabsprang, auf welcher er gewöhnlich seine Zeit vor sich hindröselnd verbrachte.
Ins Zimmer trat ein älterer Mann in einem grauen Rock mit einem Loch unter dem Arm und einem daraus hervorschauenden Hemdzipfel, in einer grauen Weste mit Messingknöpfen, mit einem Schädel, der nackt wie ein Knie war, und einem breiten, dichten, dunkelblond und grau melierten Backenbart, dessen jede Hälfte für drei Bärte ausreichen würde.
Sachar machte keine Versuche, nicht nur das ihm von Gott verliehene Äußere, sondern auch die von ihm im Dorf getragene Kleidung zu ändern. Seine Anzüge wurden ihm nach dem Modell, das er sich aus dem Dorfe mitgebracht hatte, genäht. Der graue Rock und die Weste gefielen ihm auch darum, weil er in dieser halbmilitärischen Kleidung eine schwache Erinnerung an die Livrée sah, die er einst trug, als er die verstorbenen Herrschaften in die Kirche oder bei Visiten begleitete; die Livrée war aber in seiner Erinnerung das einzige Symbol der Würde des Hauses Oblomow. Nichts erinnerte den Alten mehr an das wohlige, ruhige, herrschaftliche Leben im entlegenen Dorfe. Die alten Herrschaften waren gestorben, die Familienporträts waren zu Hause geblieben und lagen wohl irgendwo auf dem Dachboden herum; die Überlieferung von der alten Lebensweise und der Vornehmheit der Familie verschwand mit der Zeit oder lebte nur in der Erinnerung weniger im Dorfe zurückgebliebener Greise. Darum war der graue Rock Sachar so theuer; darin, wie auch in einigen sich im Gesichte und in den Manieren des Herrn erhaltenen Merkmalen, die an seine Eltern erinnerten, und in seinen Launen, über die er zwar im Geiste und laut brummte, die er aber in seinem Innern als die Äußerung des herrschaftlichen Willens und Rechtes achtete, sah er schwache Überreste der dahingeschwundenen Majestät. Ohne diese Launen fühlte er keinen Herrn über sich; ohne sie machte nichts seine Jugend, das Dorf, das sie längst verlassen hatten, und die Erzählungen über diese alte Familie auferstehen. Das Haus Oblomow war einst reich und in seiner Heimat berühmt gewesen, doch dann verarmte es, Gott weiß weshalb, verkümmerte und verlor sich endlich unmerklich unter den jüngeren Adelsgeschlechtern. Nur die ergrauten Diener des Hauses verwahrten und übergaben einander das treue Angedenken an die Vergangenheit, das sie wie ein Heiligthum hochhielten. – Darum liebte Sachar so seinen grauen Rock. Vielleicht war ihm auch sein Backenbart darum so theuer, weil er in seiner Kindheit viele alte Diener mit dieser alterthümlichen, aristokratischen Barttracht gesehen hatte.
In seine Gedanken versunken, bemerkte Ilja Iljitsch Sachar lange Zeit nicht. Sachar stand schweigend vor ihm. Endlich räusperte er sich.
– Was hast Du? – fragte Ilja Iljitsch.
– Sie haben mich ja gerufen!
– Ich habe Dich gerufen? Warum habe ich Dich denn gerufen – ich weiß es nicht mehr! – antwortete er und streckte sich. – Geh vorläufig in Dein Zimmer, und ich werde mich erinnern.
Sachar gieng, und Ilja Iljitsch blieb liegen und dachte wieder über den verfluchten Brief nach.
Es vergieng eine Viertelstunde.
»Nun es ist genug zu liegen,« sagte er; »man muß ja aufstehen . . Ich werde übrigens den Brief des Dorfschulzen noch einmal aufmerksam durchlesen und werde dann aufstehen. Sachar!«
Wieder derselbe Sprung und ein heftigeres Brummen. Sachar kam herein, und Oblomow versenkte sich wieder in seine Gedanken. Sachar blieb etwa zwei Minuten stehen, indem er den Herrn ungnädig ein wenig von der Seite anblickte und trat endlich zur Thüre.
– Wohin denn? – fragte plötzlich Oblomow.
– Sie sagen mir nichts, warum soll ich denn unnütz dastehen? – krächzte Sachar in Ermangelung einer andern Stimme, die er, wie er sagte, als er mit dem alten Herrn auf die Jagd fuhr, und ihm ein heftiger Wind in den Hals blies, verloren hatte. Er stand halb abgewendet in der Mitte des Zimmers und blickte Oblomow immer von der Seite an.
– Fallen Dir denn Deine Füße ab, wenn Du stehen bleibst? Du siehst, ich habe Sorgen – warte also! Bist Du denn zu wenig gelegen? Suche den Brief, den ich gestern vom Dorfschulzen bekommen habe. Wo hast Du ihn hingegeben?
– Was für ein Brief? Ich habe keinen Brief gesehen – sagte Sachar.
– Du hast ihn ja dem Briefträger abgenommen, es war ein so schmutziger Brief.
– Woher soll ich denn wissen, wo Sie ihn hingelegt haben? – sprach Sachar, über die Papiere und die verschiedenen auf dem Tische liegenden Sachen mit der Hand fahrend.
– Du weißt nie etwas. Schau dort im Korb nach! Oder ist er vielleicht hinter das Sofa gefallen? Die Lehne da am Sofa ist noch immer nicht repariert; warum holst Du nicht den Tischler und läßt es machen? Du hast sie ja zerbrochen.
– Ich hab sie nicht zerbrochen, – antwortete Sachar; – sie ist von selbst zerbrochen; sie kann ja nicht ewig halten, sie muß ja auch einmal zerbrechen.
Ilja Iljitsch hielt es nicht für nothwendig, das Gegentheil zu beweisen.
– Hast Du ihn schon gefunden? – fragte er nur.
– Hier sind Briefe.
– Das sind andere.
– Dann gibtʼs keine mehr, – antwortete Sachar.
– Also gut, gehʼ! – sagte Ilja Iljitsch ungeduldig; – ich werde aufstehen und ihn selbst finden.
Sachar gieng in sein Zimmer, doch so wie er sich mit den Händen gegen die Ofenbank stemmte, um hinaufzuspringen, hörte er wieder die eiligen Rufe: »Sachar, Sachar!«
– Ach Du mein Gott! – brummte Sachar, sich wieder ins Arbeitszimmer begebend; »was das für eine Qual ist? Wenn doch mein Tod bald käme!«
– Was wollen Sie? – sagte er, sich mit der einen Hand an der Zimmerthür haltend, und blickte Oblomow zum Zeichen seiner Ungnade so sehr von der Seite an, daß er ihn mit dem halben Auge zu sehen bekam, während sein Herr nur die eine ungeheure Backenbarthälfte sah, welche die Erwartung hervorrief, aus ihr würden zwei, drei Vögel herausfliegen.
– Das Taschentuch, geschwind! Das könntest Du selbst wissen; siehst Du denn nicht! – bemerkte Ilja Iljitsch streng.
Sachar äußerte keine besondere Unzufriedenheit oder Verwunderung bei diesem Befehl und Vorwurf des Herrn, da er wohl von seinem Standpunkt aus beides sehr natürlich fand.
– Wer weiß, wo das Taschentuch ist! – brummte er, indem er eine Runde durch das Zimmer machte und jeden Stuhl betastete, obgleich man auch so sehen konnte, daß auf den Stühlen nichts lag.
– Sie verlieren alles! – bemerkte er, die Thür in den Salon öffnend, um nachzuschauen, ob das Gesuchte sich nicht dort befand.
– Wohin? Suche hier; ich war seit vorgestern nicht drin. So beeile Dich doch! – sagte Ilja Iljitsch.
– Wo ist das Taschentuch? Das Taschentuch ist nicht da! – erwiderte Sachar achselzuckend und in alle Winkel schauend. – Da ist es ja, – krächzte er plötzlich zornig; – unter Ihnen! Da schaut ein Zipfel heraus. Sie liegen selbst auf dem Taschentuch und fragen darnach!
Und Sachar wandte sich ohne eine Antwort abzuwarten der Thür zu. Oblomow war ein wenig verlegen geworden. Er fand schnell einen neuen Vorwand, Sachar im Unrecht erscheinen zu lassen.
– Wie rein Du hier alles hältst! Mein Gott, wie schmutzig und staubig es ist! Da, da, schau mal in die Ecken hinein – Du thust gar nichts!
– Ich thu nichts . . . – begann Sachar mit gekränkter Stimme; ich gebe mir so viel Mühe, mir ist es um mein Leben nicht zu schade, ich staube ab und fege fast jeden Tag . . .
Er zeigte auf die Mitte des Fußbodens und auf den Tisch hin, auf dem Oblomow zu Mittag aß.
– Da, da, – sagte er. Alles ist ausgefegt und zusammengeräumt, wie zu einer Hochzeit . . . Was wollen Sie noch?
– Und was ist das? – unter brach ihn Ilja Iljitsch, auf die Wände und den Plafond zeigend: und das? und das? – Er wies auf das seit gestern herumliegende Handtuch und auf den auf dem Tisch vergessenen Teller, worauf eine Brotschnitte lag, hin.
– Nun gut, das werde ich abräumen, – sagte Sachar herablassend und nahm den Teller.
– Nur das! Und der Staub an den Wänden und das Spinngewebe? – fragte Oblomow.
– Das räume ich zu Ostern zusammen; dann putze ich die Heiligenbilder und nehme das Spinngewebe herab . .
– Und wann staubst Du die Bücher und die andern Bilder ab? . . .
– Das mache ich vor Weihnachten: dann schaue ich mit Anisja alle Schränke durch. Wann soll ich denn jetzt zusammenräumen? Sie sitzen immer zu Hause.
– Ich gehe manchmal ins Theater und auf Besuch; dann . . .
– Wie kann man denn bei Nacht zusammenräumen!
Oblomow blickte ihn vorwurfsvoll an, schüttelte den Kopf und seufzte, während Sachar gleichgiltig durch das Fenster blickte und gleichfalls seufzte. Der Herr schien zu denken: »Bruder, in dir steckt ja noch mehr von einem Oblomow, als in mir selbst,« und Sachar dachte fast: »Du lügst! Du kannst nur hochtrabende und rührende Worte sagen, aber der Staub und das Spinngewebe gehen Dich im Grunde nichts an.«
– Verstehst Du, – sagte Ilja Iljitsch, daß durch den Staub Motten entstehen? Ich sehe manchmal sogar eine Wanze an der Wand! – Ich habe auch Flöhe! – erwiderte Sachar gleichgiltig.
– Ist denn das schön? Das ist ja Schmutz!
Sachar schmunzelte über das ganze Gesicht, so daß das Grinsen selbst die Brauen und den Backenbart erfaßte, der sich seitwärts auseinanderschob, und ein rother Fleck sich über das ganze Gesicht vom Hals bis auf die Stirn hinauf ausdehnte.
– Ist es denn meine Schuld, daß es auf der Welt Wanzen gibt? – sagte er mit naivem Erstaunen; – habʼ denn ich sie ausgedacht?
– Das kommt durch die Unreinlichkeit, – unterbrach ihn Oblomow. – Was denkst Du Dir immer aus?
– Ich habe auch die Unreinlichkeit nicht ausgedacht.
– Bei Dir laufen in der Nacht Mäuse herum – ich höre es.
– Ich habe auch die Mäuse nicht ausgedacht. Solche Geschöpfe, wie Mäuse, Katzen und Wanzen, gibt es überall viel.
– Warum gibt es denn bei andern Leuten weder Motten noch Wanzen?
Sachars Gesicht drückte Ungläubigkeit oder besser gesagt ruhige Zuversicht aus, daß so etwas nicht vorkommt.
– Bei mir gibtʼs immer viel davon, – sagte er eigensinnig, – man kann nicht auf jede Wanze aufpassen, man kann ihr in ihre Ritze nicht nachkriechen.
Und dabei dachte er wohl im stillen: »was wäre das auch für ein Schlafen ohne Wanzen?«
– Fege aus, nimm den Mist aus den Winkeln heraus – dann wird nichts da sein, – belehrte ihn Oblomow.
– Man räumt auf, und morgen ist alles wieder voll, – sagte Sachar.
– Es wird nicht voll sein, – unterbrach ihn der Herr, – das darf nicht sein.
– Es wird voll sein, ich weiß es, – gab der Diener nicht nach.
– Und wenn es so ist, dann fege wieder aus.
– Was? Ich soll jeden Tag in alle Winkel hineinschauen? – fragte Sachar, – was ist denn das für ein Leben? Dann soll Gott lieber meine Seele holen!
– Warum ist denn bei andern Leuten rein? – entgegnete Oblomow. – Schau mal zum Clavierstimmer vis-á-vis hinüber: es ist eine Freude das zu sehen, und sie haben nur ein einziges Mädchen . . .
– Und wo sollen diese Deutschen einen Mist hernehmen? – erwiderte plötzlich Sachar. – Schauen Sie sich einmal an, wie sie leben! Die ganze Familie nagt die ganze Woche an einem einzigen Knochen. Der Rock geht von der Schulter des Vaters auf den Sohn über und vom Sohn wieder auf den Vater. Die Frau und die Töchter tragen kurze Kleider, und verstecken immer ihre Füße, wie die Gänse . . . Wo sollen sie einen Mist hernehmen? Bei ihnen gibtʼs das nicht, daß ganze Haufen von abgetragenen, alten Kleidern jahrelang in den Schränken liegen oder sich im Winter eine ganze Ecke voll Brotrinden ansammelt, wie bei uns. Sie lassen nicht einmal eine Rinde unnütz herumliegen; sie machen sich daraus Zwieback und essen das zum Bier!
Sachar spuckte sogar aus, während er von einer so knauserigen Lebensweise sprach.
– Du brauchst mir gar nichts zu erzählen! – antwortete Ilja Iljitsch, – räume lieber auf.
– Ich würde ja manchmal aufräumen, aber Sie lassen es ja selbst nicht dazu kommen, – sagte Sachar.
– Jetzt fängst Du wieder damit an! Ich bin immer im Wege!
– Natürlich istʼs so; Sie sitzen immer zu Hause; wie soll man da aufräumen? Gehen Sie für den ganzen Tag fort, dann räume ich auf.
– Was Du Dir da ausgedacht hast – ich soll fortgehn! Gehʼ Du lieber in Dein Zimmer.
– Aber wirklich! – Sachar gab nicht nach – gehen Sie doch heute fort, dann würde ich mit Anisja alles aufräumen. Wir würden aber auch zu zweit nicht fertig werden; man müßte noch Frauen aufnehmen und alles aufwaschen.
– Aber, was das für Einfälle sind! – Frauen aufzunehmen! Gehʼ in Dein Zimmer, – sagte Ilja Iljitsch.
Er bereute schon mit Sachar dieses Gespräch angefangen zu haben. Er vergaß immer, daß man bei der geringsten Berührung dieses zarten Gegenstandes in endlose Scherereien hineingerieth. Oblomow war ja für die Reinlichkeit, doch er wünschte, daß es unmerklich, von selbst geschehn sollte; Sachar fieng aber immer eine lange Discussion an, sowie man von ihm verlangte, er sollte den Staub ausfegen und die Fußböden waschen, und so weiter. Er bewies in solchen Fällen die Nothwendigkeit eines großen Rummels im Hause, da er sehr gut wußte, daß der bloße Gedanke daran seinem Herrn Entsetzen verursachte.
Sachar gieng und Oblomow versenkte sich in seine Gedanken. Nach ein paar Minuten schlug es wieder halb.
»Was ist das?« sagte Ilja Iljitsch erschrocken, – »es ist gleich elf Uhr, und ich bin noch nicht aufgestanden und habe mich noch immer nicht gewaschen? Sachar, Sachar!«
»Ach Du mein Gott! Was denn!« – ertönte es im Vorzimmer und dann folgte der bekannte Sprung.
– Ist alles zum Waschen vorbereitet? – fragte Oblomow.
– Schon längst! – antwortete Sachar. – Warum stehen Sie nicht auf?
– Warum sagst Du denn nicht, daß alles vorbereitet ist? Ich wäre schon längst aufgestanden. Gehʼ, ich komme gleich nach. Ich habe zu thun, ich muß schreiben.
Sachar gieng hinaus, kam aber nach einer Weile mit einem ganz beschriebenen und fettigen Heft und mit ebensolchen Papierfetzen zurück.
– Da, wenn Sie schreiben werden, haben Sie die Güte, bei der Gelegenheit auch die Rechnungen durchzusehen; man muß sie bezahlen.
– Welche Rechnungen? Was muß man bezahlen? – fragte Iljitsch unzufrieden.
– Vom Fleischhauer, vom Gemüsenhändler, von der Wäscherin, vom Bäcker; alle bitten um Geld.
– Man hat immer Geldsorgen! – brummte Ilja Iljitsch. Warum gibst Du mir denn die Rechnungen nicht allmählig, sondern alle auf einmal?
– Sie haben mich ja immer damit fortgejagt: ich sollte nur morgen kommen . . .
– Nun, und kann man es denn nicht auch jetzt auf morgen verschieben?
– Nein! Sie bestehen darauf und geben nichts mehr auf Borg. Heute ist der erste.
– Ach! – sagte Oblomow niedergeschlagen, – neue Sorgen! Nun, was stehst Du da? Legʼs auf den Tisch. Ich werde gleich aufstehen, mich waschen und nachschauen. – Es ist also alles zum Waschen vorbereitet?
– Ja!
– Nun, und jetzt . . .
Er begann sich ächzend auf dem Bette aufzurichten, um aufzustehen.
– Ich habe vergessen Ihnen zu sagen, – begann Sachar— früher, als Sie noch geschlafen haben, hat der Verwalter den Hausbesorger geschickt. Er sagt, daß wir durchaus ausziehen müssen . . . Die Wohnung ist vergeben.
– Nun also! Wenn sie vergeben ist, werden wir natürlich ausziehn. Warum gibst Du mir keine Ruhʼ? Du sprichst zu mir schon das drittemal davon.
– Man gibt auch mir keine Ruhʼ.
– Sagʼ, daß wir die Wohnung räumen werden.
– Sie sagen, Sie haben es schon vor einem Monat versprochen, räumen aber noch immer nicht die Wohnung; sie sagen, »wir werden es der Polizei anzeigen.«
– Sollen sieʼs anzeigen! – sagte Oblomow entschlossen; wir räumen die Wohnung von selbst, wenn es wärmer wird, so in drei Wochen.
– Wieso in drei Wochen! Der Verwalter sagt, daß in zwei Wochen die Arbeiter kommen und alles niederreißen. . . Er sagt: »übersiedeln Sie morgen oder übermorgen . . .«
– Aber das ist zu schnell, morgen! Was ihnen alles einfällt; vielleicht werden sie es sofort befehlen! Unterstehʼ Dich nicht, mich an die Wohnung zu erinnern. Ich hab es Dir schon einmal verboten, und Du fängst wieder an. Nimm Dich in acht.
– Was soll ich denn thun? erwiderte Sachar.
– Was Du thun sollst? Solche Ausreden gebrauchst Du! – antwortete Ilja Iljitsch. – Das frägst Du mich! Was geht das mich an? Komm mir nicht damit, sondern richte alles wie Du willst so ein, daß wir nur nicht zu übersiedeln brauchen. Kannst Du das denn nicht für Deinen Herrn thun!
– Wie soll ichs denn einrichten, Väterchen, Ilja Iljitsch? – begann Sachar mit sanfterem Krächzen, – das Haus gehört ja nicht mir, wie sollte man denn nicht aus einem fremden Hause ausziehen, wenn man fortgejagt wird? Wenn es mein Haus wäre, würde ich mit dem größten Vergnügen . . .
– Kann man sie denn nicht irgendwie überreden? Du weist darauf hin, daß wir schon lange hier wohnen und pünktlich zahlen.
– Das habe ich schon probiert, – sagte Sachar.
– Was haben sie denn geantwortet? – Was sie geantwortet haben? Sie wiederholen immer das eine: »Übersiedeln Sie,« sagen sie, »wir müssen die Wohnung ändern,« sie wollen aus der Doctorwohnung und aus dieser da zur Hochzeit des Hausherrnsohnes eine einzige große Wohnung machen.
– Ach du mein Gott! – sagte Oblomow ärgerlich, – es gibt solche Esel, welche heiraten!
Er drehte sich auf den Rücken um.
– Sie sollten an den Hausherrn schreiben, gnädiger Herr, – sagte Sachar, – dann würde er Sie vielleicht in Ruhʼ lassen und würde zuerst jene Wohnung niederreißen lassen.
Sachar zeigte dabei mit der Hand irgendwo hin nach rechts.
– Nun gut, wenn ich aufgestanden bin, werde ich schreiben . . . Gehʼ in Dein Zimmer, und ich werde darüber nachdenken. Du kannst nichts übernehmen, – fügte er hinzu. Ich muß mich auch um dieses ekelhafte Zeug selbst kümmern!
Sachar gieng, und Oblomow begann nachzudenken.
Doch er war in Verlegenheit, worüber er nachdenken sollte: über den Brief des Dorfschulzen, über die Übersiedlung in eine neue Wohnung, oder sollte er mit den Rechnungen beginnen? Der Andrang der Sorgen machte ihn verwirrt, und er lag immer noch da, indem er sich von der einen Seite auf die andere wälzte. Man hörte nur ab und zu zusammenhanglose Ausrufe: »Ach Du mein Gott! Das Leben macht sich fühlbar, es erreicht einen überall.«
Es ist unbestimmbar, wie lange er noch in dieser Unschlüssigkeit verharrt wäre, jetzt ertönte aber im Vorzimmer ein Läuten.
»Jemand kommt schon!« – sagte Oblomow, sich in den Schlafrock einwickelnd, »und ich bin noch nicht aufgestanden. – Das ist eine Schande! Wer kommt denn so früh?«
Und er blieb liegen und blickte neugierig auf die Thür.