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01. Wie der Traum von einem Heim auf See entstand
ОглавлениеDie Anzeige im Hamburger Abendblatt nahm sich eher bescheiden aus. Mit Bestürzung und tiefer Trauern wurde der Tod von Gertrude Baltenhoff angezeigt, so jedenfalls stand es geschrieben, und dann kamen die Namen von sieben trauernden Angehörigen, wobei aus der Anzeige nicht ersichtlich war, wie die Verbindung zur Verstorbenen war. Es hieß dann, dass die Trauerfeier im engsten Familienkreis stattfinden würde Und ganz zum Schluss gab es noch den Namen des Bestattungsinstituts. Es interessierte außer dem "engsten Familien- und Bekanntenkreis" kaum einen Menschen, dass Frau Baltenhoff immerhin 71 Jahre alt geworden war, was in der heutigen Zeit kein sehr hohes Alter war, so jedenfalls sagt man. Die wenigsten wussten mit dem Namen Baltenhoff etwas anzufangen, schon gar nicht mit einer Gertrude Baltenhoff. Es gab einige wenige frühere Betriebskollegen, die sich an "die Baltenhoff" erinnerten, und es war die Ehefrau ihres ehemaligen Chefs, die die Anzeige sah, und die den Namen schon gehört einmal hatte. Sie machte ihren Mann, Gustav Rastenberger, auf die Anzeige aufmerksam.
Sie war im Elisabethstift gestorben, wo sie in einem Zimmer mit einer anderen Seniorin, die geistig nicht mehr ganz auf der Höhe gewesen war, die letzten zwei Jahre zugebracht hatte. Gertrude brauchte für ihr Sterben fast vier Wochen. Die Heimleitung hatte mehrfach den "nächsten" Angehörigen, einen Neffen, angerufen und darauf hingewiesen, dass es der Dame Baltenhoff sehr schlecht gehe, und man müsse mit ihrem baldigen Ableben rechnen. Weder der angesprochene Neffe noch sonst ein Mensch mit Ausnahme des Pflegepersonals und ihres ehemaligen Chefs hatten sich blicken lassen. Was den Chef, Herrn Gustav Rastenberger, anging, so war er ein einziges Mal gekommen. Das war, als Frau Baltenhoff ihren 70. Geburtstag gefeiert hatte, allein, bereits sehr krank und müde. Im Zimmer hatte es nach Schweiß und Urin gerochen. Es war keine richtige Feier gewesen. Die Heimleitung hatte einen Kuchen hingestellt, es gab auch einen armseligen Blumenstrauß. Das war alles gewesen. Und so war sie ein Jahr später gestorben, ruhig gehalten und versehen mit starken Schmerzmitteln.
Sie hatte als Sekretärin für den Finanzmakler Rastenberger gearbeitet, und sie war mit Erreichen des 63. Lebensjahres aus dem aktiven Leben ausgeschieden. Der Chef, ein Gustav Rastenberger, hatte sie noch würdevoll und in Anwesenheit der wenigen Kollegen feierlich verabschiedet. Er hatte noch gefragt, ob sie im Kreise ihrer Familie die letzten Lebensjahre verbringen würde. Da hatte er von ihr erfahren, dass sie außer Neffen und Nichten keine weitere Familie hatte, aber sie komme zurecht. Sie sei noch ganz rüstig, sie sei gesund, und sie werde viel reisen, wozu sie früher keine Zeit gehabt hatte. Der Chef und die vier Kolleginnen und Kollegen hatten sich von ihr verabschiedet - und das war es dann gewesen. Der Chef hatte eine tüchtige Nachfolgerin gefunden, und doch vermisste er die stille Art der Baltenhoff, ohne es sich vielleicht richtig bewusst zu sein.
Gustav Rastenberger hatte die Baltenhoff immer mal aufsuchen wollen, denn er hatte sie als tüchtige Mitarbeiterin geschätzt. Er hatte seinen Besuch immer wieder verschieben müssen, weil immer etwas Geschäftliches dazwischen gekommen war. So hatte er einige Jahre nach ihrem Ausscheiden erfahren, dass sie in das Elisabethstift gezogen war. Das hatte er für eine sehr vernünftige Entscheidung gehalten, denn im Heim würde sie sicherlich umsorgt werden, und sie dürfte dort gute Gesellschaft haben.
Als er endlich herausgefunden hatte, wo sich das Elisabethstift überhaupt befand, und als seine neue Sekretärin ihn diskret auf das Datum des 70. Geburtstags der Baltenhoff hingewiesen hatte, hatte er sich aufgerafft, er hatte sich freigemacht und er hatte sie besucht. Er hatte sie als angenehme Bürokraft in Erinnerung, und ihr zu gratulieren hielt er für eine Pflicht. Mit einem Blumenstrauß und einer Schachtel Pralinen war er aufgetaucht, Beides hatte die neue Sekretärin rechtzeitig gekauft. Er war in das Zimmer gekommen, das ein wenig nach Kohl, abgestandenem Urin und altem Schweiß gerochen hatte, und er hatte auf die beiden Betten geschaut.
Wer um Himmels willen war seine einst so tüchtige Sekretärin gewesen? Er hatte sie schließlich an ihren Augen und an ihrer Nase erkannt. Sie hatte ihn angeschaut, aber sie hatte nichts gesagt. Völlig erschüttert hatte er sie nach ein paar belanglosen Worten fast fluchtartig verlassen. Er hatte dann eine der Pflegerinnen gesprochen, die er zufällig im Flur angetroffen hatte, und er hatte gefragt, wie es Frau Baltenhoff gehe - eine ganz törichte Frage, wie er sich selbst eingestand.
"Sie macht nicht mehr lange”, hatte die Pflegerin gesagt, was sie eigentlich nicht hätte sagen sollen. "Und wer sind Sie? Einer ihrer Neffen? Wir versuchen seit einiger Zeit, ihre Angehörigen zu erreichen."
Gustav Rastenberger schüttelte den Kopf. Nein, er gehöre nicht zu den Angehörigen, die er auch nicht kenne.
Er erzählte seiner Frau Annegret, dass er seine Sekretärin, die Baltenhoff, fast nicht mehr wiedererkannt habe, und dass sie unter unwürdigen Umständen im Heim dahinvegetieren würde, anders könne er es nicht bezeichnen. Von ihrer einstigen zupackenden Persönlichkeit sei eigentlich nichts mehr übrig geblieben, meinte er. "Nein, so etwas brauchen wir nicht, so etwas wollen wir nicht für uns”, sagte er ganz aufgebracht zu Annegret und er meinte damit die eigene Unterbringung in einem Heim. "Diese Art alt zu werden, ist nichts für uns”, betonte er. Natürlich war ihm bewusst, dass man das Altern nicht ausblenden könne. Er brauchte ja nur in den Spiegel zu schauen um zu erkennen, dass die Faltenlandschaft im Gesicht nichts mehr mit dem Gesicht zu tun hatte, mit dem er Annegret imponiert hatte.
"Darüber sollten wir reden, denn wir werden alt”, entgegnete Annegret, und sie sagte fast vorwurfsvoll weiter: "Darüber reden? Aber du hast nie Zeit, und wenn du zu Hause bis, dann ist dein Kopf immer noch voller geschäftlicher Dinge. Du liest die Zeitungen, ich schaue mir die Nachrichten im Fernsehen an, und dann gehen wir zu Bett. Zeit zu reden? Haben wir nicht." Sie sagte das ruhig, denn in Wahrheit hatte sie sich damit abgefunden, dass es nicht mehr viele Gemeinsamkeiten gab. Gustav lächelte seine Frau an und meinte, ja, man solle darüber reden, gewiss. Und dann vergaß er es, weil er tatsächlich geschäftlich sehr viel zu tun hatte, und das Geschäftliche war eben wichtiger als über das Alter zu reden.
Annegret hatte keine dringenden, geschäftlichen Verpflichtungen, und ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen waren minimal. Als junge Frau hatte sie als Arzthelferin gearbeitet. Nachdem Gustav jedoch die Villa in Harburg gekauft hatte und als dann das nötige Personal eingestellt worden war, musste sie zu Hause bleiben. Die abseits gelegene Villa konnte man nicht unbeaufsichtigt lassen, und das Personal auch nicht. Jahr für Jahr kamen weitere wertvolle Bilder ins Haus, teure Teppiche, Schmuck und Kunstgegenstände, die ganz einfach nicht allein gelassen werden konnten. Zunächst war es ja ganz gut, nicht an bestimmte Arbeitszeiten gebunden zu sein. Aber Faulenzen war Annegrets Sache auch nicht. Ja, sie begriff, dass Gustav Millionen verdiente, und mehr und mehr kaufte er nicht nur teure Teppiche und Möbel, er kaufte Häuser, Häuserzeilen, und je mehr er kaufte, umso mehr verdiente er, und umso weniger wusste er, was er damit machen sollte.
Annegret kümmerte sich um vielfältigen Blumen in dem parkähnlichen Garten, mehr aus Pflichtgefühl als aus Leidenschaft, Geranien vielleicht ausgenommen. Sie besuchte gelegentlich Ehefrauen und Kollegen ihres Mannes, aber auch das war Pflicht, denn die meisten Ehefrauen mochte sie nicht. "Dumme Puten", so nannte sie sie, leere Hüllen waren das für sie. Sie begleitete ihren Mann zu gesellschaftlichen Veranstaltungen, die anfielen, und sie trug hierzu die neueste Garderobe, die sie im Grund gar nicht interessierte, die aber ihrem Mann wichtig erschien. Mit zunehmendem Alter hatte sie das Gefühl einer wachsenden inneren Leere, und besorgt fragte sie sich, wie das Alter für sie und Gustav aussehen würde. Manchmal kam ihr auch der Gedanke, dass sie im Alter vielleicht allein sein könnte, umgeben von nichts als von leeren Hüllen.
Sie sprach mit Gustav darüber, der auch zuhörte, der aber meinte, man könne doch jetzt nicht alles aufgeben. Er nahm eine kostbare Vase in die Hand, schaute sie an und fragte:
"Kannst du diese schöne Vase in der fast perfekten Umgebung aufgeben?
Sie lächelte, dann war sie sehr ernst, als sie entgegnete: "Ja, das kann ich."
Annegret hatte nur sehr wenige Freunde, mit denen sie sich austauschen konnte, und diese waren weit weg, und in Wahrheit waren es eher gute Bekannte, nicht Freunde. Sie verkehrte mit ihnen schriftlich, meist per e-Mail. Gelegentlich sprach man telefonisch miteinander. Es gab Tage, manchmal auch Wochen, da fühlte sich Annegret in einem goldenen Käfig und völlig isoliert. Die gesellschaftlichen Ereignisse, die es durchaus gab, waren kein Ausgleich, auch ihre Mitgliedschaft in einem Wohltätigkeitsverein war kein Ausgleich. Einmal pro Woche fuhr sie ins Hallenbad, das war irgendwie auch unbefriedigend. Sie tat das ihrer Figur zuliebe, die gar nicht so schlecht war. Ja, sie war eine sportliche, frische Erscheinung gewesen, und das war sie nach Ansicht ihres Mannes und der Bekannten immer noch.
*
Bettina Dallbeg und Horst Karenski, sie waren Kommissare der Hamburger Polizei, kamen in das Heim für schwer erziehbare Jugendliche oder werdende junge Männer. Es war nicht das erste Mal, dass sie dort aufkreuzten, um dort für Ruhe und Ordnung zu sorgen, was sie ungern taten. Die meisten Jugendlichen dort waren "schlecht", so drückte sich Kommissarin Dallbeg aus, und es war schwer, sie in geordneten oder doch überschaubaren Bahnen zu halten. Viele von ihnen kamen aus anderen Heimen, einige hatte man auf der Straße gefunden, und es gab welche, die man aus ungeordneten Familienverhältnissen herausgeholt und hierher gebracht hatte.
Gegenwärtig gab es dort 14 männliche Jugendliche unterschiedlichen Alters, die aus sehr verschiedenen Gründen hier untergebracht worden waren. Überwiegend wurden die Insassen pauschal zu den schwer erziehbaren Kleinkriminellen gerechnet, die irgendwann festgenommen worden waren und die das Gericht oder auch die Staatsanwaltschaft hier untergebracht hatte. Das Alter der Jugendlichen reichte von 14 bis 18 Jahren, und das Ziel ist es, die jungen Leute über gezielte Ausbildungsmaßnahmen zu einem besseren Leben zu führen, zumindest zu einem geordneten Leben in einer Berufswelt, in der vor allem Leistung zählt. Die Erfolgsquote war ausgesprochen bescheiden, und es gab Kommunalpolitiker, die ein ganz anderes Vorgehen vorschlugen und immer wieder auch durchsetzen wollten. Es hieß, diese jungen Leute seien eine Gefahr für die Gesellschaft und für die "normalen" jungen Leute. Das Heim hatte noch ein anderes Problem: die Finanzierung. Jahr für Jahr musste um das Budget gekämpft werden, und oft hatte es so ausgesehen, als müsse das Heim schließen.
Das Heim hatte den prosaischen Namen "Zielbewusst", und es hieß ganz allgemein, dass das Heim eine sehr sinnvolle Einrichtung für gestrauchelte und vernachlässigte Jugendliche sei. Sinnvoll oder nicht, die Polizei wurde immer wieder gerufen, weil dort Dinge passierten, die nicht passieren durften, und das rangierte von Diebstahl bis zur Prügelei, von sexueller Vergewaltigung und von Drogendelikten bis hin zu Überfällen von jugendlichen Banden, und immer wieder verschwanden junge Leute, die oft mit großem Aufwand und unterschiedlichem Erfolg gesucht werden mussten. Es kam dabei immer wieder vor, dass Jugendliche verschwunden blieben.
Die Kommissare sprachen bei Herrn Hermann Hattener vor, dem gegenwärtigen Leiter dieser Einrichtung. Herr Hattener hatte vor wenigen Stunden die Polizei angerufen, er hatte gesagt, dass "der Kortez" wieder einmal ausgerissen sei und dass er eine große Verwüstung angerichtet habe mit einem geschätzten Schaden von gewiss um die € 100.000. Was noch schlimmer sei, so sagte Herr Hattener, seien die Verletzungen von zwei Ausbildern. Kortez habe die beiden Ausbilder krankenhausreif geschlagen.
"Ich habe den Notdienst alarmieren müssen, und meine Mitarbeiter wurden ins Krankenhaus gebracht - ins Eppendorfer Krankenhaus. Soweit ich von den Ärzten hörte, sind sie inzwischen ansprechbar, einer von ihnen dürfte morgen entlassen werden können."
"Was war die Ursache, und was der Anlass dieser Verwüstung?" fragte Kommissar Karenski.
Herr Hattener zuckte die Achseln, er entgegnete: "So genau kann ich es Ihnen nicht sagen. Aber ich habe so meine Ideen, und darauf können wir ja noch zurückkommen."
Kommissarin Dallbeg machte sich Notizen, ihr Kollege hörte zu und stellte, wo zweckdienlich, die detaillierten Fragen. So arbeiteten sie meistens: er sprach, sie schrieb. Er gehörte zu den Menschen, die sehr genau hinsahen, hinhörten und der die entsprechenden Fragen zu stellen wusste. Er sei pingelig, hieß es oft in Kollegenkreisen. Aber diese Pingeligkeit hatte sich in seinem Beruf, den er gern ausübte, oft ausgezahlt.
"Schauen wir uns den Schaden einmal an”, schlug Frau Dallbeg vor, womit der Heimleiter einverstanden war. Sie begaben sich in die Schreinerwerkstatt des Heims, in der tatsächlich ein großes Durcheinander herrschte. Werkzeuge lagen überall da, wie sie nicht hingehörten, ein Schrank war buchstäblich zersplittert. Dass dort ein wüster Kampf stattgefunden hatte, war nicht zu übersehen. Kommissar Karenski machte eine Reihe von Fotoaufnahmen. Dann gingen sie in einen Klassenraum, in dem es kaum einen Stuhl gab, der unbeschädigt geblieben war, und drei der Tische waren völlig demoliert. Kommissar Karenski machte weitere Aufnahmen, aber er sagte, die Spurensicherung würde eine genauere Untersuchung durchführen müssen, man solle nichts anrühren. Das gelt auch für die Werkstatt.
"Wer hat das hier angerichtet? Das war doch nicht nur eine Person?" fragte die Kommissarin, obgleich der Heimleiter bereits telefonisch einen Namen genannt hatte. Herr Hattener unterdrückte ganz offensichtlich seine Erregung. Verkniffen antwortete er:
"Das war wieder einmal dieser Siegfried Kortez, und nicht zum ersten Mal! Und noch etwas, soweit ich weiß, war er allein. Er ist immer allein."
Frau Dallbeg erinnerte sich an den Namen. Es war ja kein häufiger Name, und sie wusste, dass dieser Jugendliche bereits mehrfach aufgefallen und somit aktenkundig war. Mindestens zweimal, wenn nicht öfters, war er von der Straße aufgegriffen worden.
"Dieser Kortez hat das hier ganz allein angerichtet?" fragte Kommissar Karenski, wobei er den Heimleiter anschaute. Er fuhr fort: "War er allein? Waren andere Jugendliche beteiligt?"
"Das weiß ich nicht. Was ich vorfand waren die beiden verletzten Ausbilder, der Kortez war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Sonst ist niemand verschwunden."
"Wie haben Sie von dieser Verwüstung erfahren?" wollte Kommissar Karenski noch wissen. Es sei einer der Schüler gewesen, antwortete Herr Hattener, der einen anderen Ausbilder alarmiert habe, und der wiederum habe ihn, Herrn Hattener, geholt.
"Dieser Kortez kam vor knapp einem Jahr zu uns, obwohl ich dem Amt gesagt habe, dass er gefährlich sei, wie die Aktenlage es deutlich gemacht hatte. Das hatte ich auch der Polizei gesagt, das war vor ein paar Wochen gewesen, als der Kortez wieder einmal verschwunden war. Aber man hat sich über meine Bedenken hinweggesetzt. Schon nach der ersten Woche war mir klar, dass der Kortez eingesperrt gehört."
Herr Hattener machte ein wütendes Gesicht. "Der Junge schlägt um sich, ohne dass ein Grund zu erkennen wäre. Schüler wie Lehrer können ein Lied davon singen. Die üblichen Methoden, junge Leute zur Raison zu bringen, funktionieren hier nicht. Er ist ein bösartiger Krimineller, und wenn da nicht bald was passiert, ist er ein Killer."
Kommissar Karenski sagte nicht viel. Er hatte von dem Jungen noch nie etwas gehört. Er wollte allerdings die Personalunterlagen des Jungen sehen.
Herr Hattener führte die Beamten in sein Büro, und es dauerte nicht lange, da hatte er aus einem Panzerschrank einen recht umfangreichen Ordner herausgeholt.
"Hier ist alles drin. Für keinen unserer Insassen haben wir so umfangreiche Akten anlegen müssen. Auch dort, wo er vorher war, hatte es nur Ärger gegeben. Er riss aus, er stahl, er prügelte sich, und so geht es immer weiter. Wir haben mit dem Jugendamt zusammengearbeitet, zweimal schickte dass Amt Psychiater. Einen von ihnen hat der bösartige Junge verprügelt."
Kommissar Karenski blätterte eher flüchtig in dem Ordner, in dem er auch eine psychologische Studie fand. Er nahm sich vor, das Dokument mitzunehmen und zu gegebener Zeit genauer zu lesen.
Als alles gesagt zu sein schien, holte Herr Hattener einen Chip aus seiner Schublade und reichte ihn zögernd dem Kommissar Karenski.
"Das dürfte Sie interessieren”, erklärte Herr Hattener. "Diesen Chip habe ich gefunden - bei den Unterlagen eines der beiden Ausbilder, die jetzt in Krankenhaus sind. Es ist Herr Alfons Zerbin, bei dem ich den Chip fand. Auf dem Chip sind Pornobilder und kurze Videos aus der homosexuellen Szene zu sehen, ziemlich krass, wenn Sie mich fragen."
"Nun, davon dürfte es sicherlich noch mehr geben”, meinte Kommissarin Dallbeg gelassen. Sie fuhr fort: "So etwas findet man mühelos im Internet."
"Ja, gut möglich”, meinte Herr Hattener. "Aber dieser Chip zeigt den Kortez, und wie es aussieht, sind die meisten Bilder innerhalb des letzten Jahres gemacht worden."
"Das ist allerdings interessant”, kam es aus der Kommissarin.
Ihr Kollege Karenski schaute den Heimleiter nachdenklich an und sagte langsam: "Damit erscheint dieser Vorfall in einem anderen Licht." Dann fragte er:
"Haben Sie sich den Chip angesehen?"
Herr Hattener schien ein wenig verunsichert, dann entgegnete er, dass er sich den Chip angesehen habe. Er fügte hinzu: "Ja, und um ganz ehrlich zu sein, ich habe den Schreibtisch des Herrn Alfons Zerbin durchsucht, denn gerüchteweise war zu hören gewesen, dass er pädophilie Neigungen habe. Das waren Gerüchte, und als er nun ins Krankenhaus kam, habe ich mir erlaubt, der Sache einmal nachzugehen."
"Haben Sie den Verdacht auch dem Jugendamt mitgeteilt?" fragte der Kommissar. Nein, das habe er nicht getan, denn den Chip habe er erst seit ein paar Stunden.
*
Ein Ergebnis dieser Besprechung im Heim führte zur Befragung aller Heiminsassen, der Jugendlichen wie auch der Ausbilder und des sonstigen Personals. Das war eine sehr mühselige und teilweise unerfreuliche Befragung. Vor allem zwei der Jugendlichen verhielten sich der Polizei ausgesprochen feindlich gegenüber. Ganz abgesehen davon brachte die Befragung so gut wie gar nichts, was zur Ergreifung von Siegfried Kortez geführt hätte. Dann gaben die Kommissare Dallbeg und Karenski den Fall weiter an die "Sitte", allerdings blieben sie weiter mit der Suche nach Kortez befasst - natürlich in enger Zusammenarbeit mit der "Sitte".
Kommissar Karenski nahm sich die Zeit, sich das psychologische Gutachten genauer anzusehen. Kortez wurde als gefühlsarmer Junge beschrieben, bei dem man die üblichen menschlichen Regungen wie Mitgefühl, Zuneigung und Abneigung kaum feststellen könne. Dem Psychologen sei er äußerst ablehnend und feindselig gegenüber aufgetreten, er habe weitestgehend geschwiegen. Besonders auffallend sei gewesen, dass der Kortez sich weder über das Heim, dessen Erzieher oder dessen Mitschüler geäußert habe. Man hatte Beschwerden oder Anschuldigungen gegen das Heim erwartet, aber da war nichts. Auf alle Fragen in dieser Richtung hatte Kortez geschwiegen.
Ein weiteres Ergebnis der Besprechung im Heim war gewesen, dass der Jugendliche Siegfried Kortez zur Fahndung ausgeschrieben wurde. Aber er war und blieb verschwunden. Man hatte seine Fingerabdrücke, aber sie tauchten nirgendwo auf. Es gab sogar ein Foto, das veröffentlicht werden konnte. Es gab sogar einige Personen, die behaupteten, den Kortez gesehen zu haben, aber das waren eher irreführende Behauptungen gewesen. Man befragte viele Obdachlose, man suchte die typischen Ecken der Stricher auf, man befasste sich mit den kleinen Drogenhändlern, die meistens der Polizei bekannt waren, aber von einem Siegfried Kortez war nichts festzustellen.
Nun hatte die Polizei noch andere, wichtige Dinge zu tun, Dinge, die vielleicht wichtiger und dringender waren als ein verschwundener, minderjähriger Krimineller, und so geriet dieser Kortez mehr und mehr in den Hintergrund, wenn auch nicht in Vergessenheit. Was den pornografischen Chip betraf, so gingen die Ermittlungen weiter. Dieser Kortez war, das ergaben die Bilder auf dem Chip, missbraucht worden, und offensichtlich war er Opfer von Sadisten, die Freude empfanden, Kinder und Jugendliche zu quälen. Darüber hatte die Sitte genügend Unterlagen, aber sie führten nicht zu dem Kortez.
Etwas mehr als ein Jahr später fand man den Kortez in Berlin Tiergarten inmitten einer Gruppe von Obdachlosen, die dort in einer der Polizei gut bekannten Ecke kampierten. Es hatte wieder einmal eine schlaue Initiative von Anwohnern gegeben, diese angeblich schändliche Ecke zu bereinigen, und die Polizei stürmte das Lager der Obdachlosen. So etwas ist nie eine sehr beliebte Aufgabe für die Beamten, denn es kommt dabei immer auch zu Handgreiflichkeiten, so auch dieses Mal. Ein sehr schlanker Jugendlicher von mehr als 1.80 m Höhe, der sich besonders aggressiv gegen die Vertreibung der Obdachlosen wehrte, wurde festgenommen und sehr bald wusste man, dass das der Gesuchte Siegfried Kortez war. Er hatte bei der Festnahme mehrere Tausend € bei sich gehabt, über deren Herkunft er beharrlich schwieg.
Hier in Berlin war der Kortez noch nicht weiter aufgefallen, und man leitete eine Überführung nach Hamburg ein, denn in Hamburg wurde er gesucht. Dieser Jugendliche entwischte den Beamten bei der Überführung, wobei nie ganz geklärt werden konnte, was da eigentlich passiert war. Der junge Mann war jedenfalls verschwunden. Wieder wurde er zur Fahndung ausgeschrieben, wieder ergab sich zunächst nichts.
Man fand seine Spur einige Monate später in Frankfurt. Auch da hielt er sich unter Obdachlosen auf, und er schien immer etwas Geld zu haben. Kumpel, derer man habhaft werden konnten, sagten, dass der Korty ein paar Gönner habe, und dann deale er. Er habe immer etwas Stoff, auch teure Sachen, hieß es. Immerhin fand man heraus, dass Korty ein Einzelgänger war. Er gehörte keiner Bande oder Gang an oder war sonst wie vernetzt, und wenn es, namentlich in Frankfurt, Berlin oder Hamburg Kämpfe zwischen Gruppen krimineller Elemente gab, war dieser Korty - soweit man wusste - nicht oder nur sehr selten dabei.
Man erwischte Korty in München in einer Sauna. Wegen eines Diebstahls bekam er eine sechsmonatige Haftstrafe im Jugendgefängnis. Er beteuerte zwar, er habe nicht geklaut, aber die Indizien sprachen gegen ihn, handfeste Beweise allerdings lagen nicht vor. Nach vier Monaten wurde er wieder mit allerlei Ermahnungen entlassen. Sein Betragen in der Jugend-JVA war unauffällig gewesen, und von Gewalttätigkeiten mit oder gegen Mithäftlinge war nichts zu spüren gewesen. Auch das soziale Verhalten Mitgefangenen gegenüber war unauffällig gewesen, wenngleich das Personal bestätigte, dass der junge Mann ein Einzelgänger sei, er habe keinen nennenswerten Kontakt zu seinen Mithäftlingen gehabt. Da er mit seinen 16 Jahren minderjährig war, wurde er nach der Haftstrafe dem Jugendamt übergeben, und von dort verschwand er wieder.
Eines Tages zeigte ein Mann mittleren Alters in Hamburg einen jungen Mann an, der ihn bestohlen haben sollte. Nach einem kleinen Schmuseabenteuer mit dem jungen Mann vermisste er sein Handy, sein Geld und eine goldene Kette. Er beschrieb den Täter, den er in St Georg auf der Straße getroffen habe, und den er mit in seine kleine Wohnung genommen habe. Man fand Spuren des Täters, und wusste sehr bald, wer der Schuldige war - es war nicht Siegfried Kortez gewesen, wie man schnell festgestellt hatte, wie man aber zeitweise vermutet hatte.
Man stellte bei dieser Gelegenheit auch fest, dass Kortez wieder in Hamburg war. Kommissar Karl Müller, der sich in der Szene recht gut auskannte, wusste bald, dass Kortez auf und von der Straße lebte, keinen festen Wohnsitz hatte, als Stricher unterwegs war und vermutlich auch mit Drogen handelte, was allerdings nicht bewiesen werden konnte. Bei einer Schlägerei wurden fünf junge Männer und jugendliche Obdachlose festgenommen, unter ihnen auch Kortez. Sie alle wurde in Gewahrsam genommen und am folgenden Tag verhört.
Kommissar Müller war bei der Vernehmung dabei, und es stellte sich rasch heraus, dass dieser Kortez, mit seinen inzwischen 17 Jahren noch nicht volljährig war, und dass er offensichtlich nicht zu der Gruppe der anderen vier Typen gehörte, die alle um die 25 Jahre alt oder älter waren. Wie einer der Festgenommenen aussagte, habe man dem Kortie eins auswischen wollen - was immer das heißen mochte. Kortez selbst schwieg sich aus.
Kommissar Müller kannte die Akte Kortez, und er musste feststellen, dass dieser junge Mann in letzter Zeit vielleicht nicht unbedingt sanft geworden war, aber er hatte sich vermutlich besser unter Kontrolle, was Gewaltausbrüche betraf. Er war offensichtlich nicht mehr das "wilde Tier" als das er noch vor ein paar Jahren bezeichnet worden war. Aber der Kommissar kannte auch das Sprichwort: Einmal gefangen, immer gefangen. Wie immer dieser Kortez sich entwickeln haben mochte, er war in der merkwürdigen Welt der kleinen Dealer, der miesen Stricher und der Obdachlosen gefangen. Kommissar Müller wusste auch aus den Unterlagen, dass dieser Kortez weder eine Grundschulausbildung noch eine berufliche Ausbildung hatte. Die vorhandenen Fotos, von denen zwei auch als Fahndungsphotos gedient hatten, zeigten einen sehr schlanken, gut aussehenden und gut gebauten jungen Menschen.
Kommissar Müller kannte auch die einschlägigen Pornonetzwerke und Pornoblogs, wo Fotos und Videoclips sehr fragwürdiger Art zu sehen waren. Der gut aussehende Kortez war oft zu sehen, oft in Lederkleidung, meistens als ein junge Mann, der von älteren Ledermännern dominiert wurde. Das Vorhandensein dieser Blogs brachte Kortez dem Beamten nicht näher. Das lag nicht zuletzt auch daran, dass Kommissar Müller in dieser merkwürdigen und anrüchigen Szene nicht zu Hause war.
Bei einer Kaffeepause im Amt erzählte Kommissar Müller seiner Kollegin Grete Rumte von diesem Kortez, und er meinte, dass junge Menschen wie dieser Kortez "Typen der Gosse" seien, die auch in der Gosse enden würden. Grete zuckte mit den Schultern. "Ich frage mich, wie entstehen Typen wie dein Kortez. Vielleicht musste er als Kleinkind sich immer gegen andere Kinder oder Menschen verteidigen. Vielleicht lernte er früh, dass Aggression die beste Verteidigung ist. Aber du magst recht haben, wenn du sagst, dass er in der Gosse enden wird. Ich wüsste auch nicht, wie er das vermeiden könnte."
Kommissar Müller lächelte seine Kollegin an und meinte, an ihr sei gewiss ein Psychologe verloren gegangen, was beide als Witz auffassten und herzlich lachen mussten.
Der Polizeibeamte Müller, inzwischen avanciert zum Hauptkommissar, war noch einmal mit dem Fall Kortez befasst, als der junge Mann, gerade volljährig, Opfer und vielleicht Mittäter einer wüsten Schlägerei auf dem Altonaer Bahnhofsgelände und einem daraus resultierenden Bahnunglück wurde. Soweit es die Ermittlung zutage brachten, hatte in der Nacht zum Sonntag eine Bande konkurrierender Kleindealer es auf den Kortez abgesehen, wobei nicht klar wurde, was da passiert war und vor allem warum es im Einzelnen zu dieser Prügelei gekommen war. Der junge Mann war schwer verletzt in ein Krankenhaus gebracht worden, er war während der ersten beiden Wochen nicht vernehmungsfähig gewesen, und als er das war, hielt er den Mund.
Wie Hauptkommissar Müller und die übrigen Ermittler aufgrund der bisherigen Ermittlungen herausfanden, war das Opfer auf die Bahngleise gestoßen worden. Dafür gab es Zeugen. Mehr noch, man hatte auch Verletzungen am Körper des Opfers gefunden, die ohne jeden Zweifel von Messerstichen herrührten. Wie auch das Krankenhaus bestätigte, war der junge Mann mehrfach in den Unterleib gestochen worden, und er trug auch linksseitig eine vom Messer herrührende Gesichtsverletzung davon. Ein Messer hatte man auf den Gleisen gefunden, aber sie war keiner Person zuzuordnen. Die heranrollende Zug hatte wohl ein Übriges getan, man hatte dem jungen Mann rechts den Arm und das Bein abnehmen müssen. Für die Beamten gab es keinen Zweifel: das schwerverletzte Opfer war Siegfried Kortez.
Der Beamte Müller hatte mehrere Gespräche mit dem behandelnden Arzt, denn er wollte herausfinden, wie man den jungen Mann dazu bringen könnte, sich mitzuteilen. Auf alle Fragen des Hauptkommissars schwieg der Kortez. Er schaute ihn an, manchmal drehte er den Kopf einfach zur Seite und schloss die Augen. Hauptkommissar Müller wollte wissen, was auf dem Bahnhof passiert war, und er wollte die Schuldigen dem Staatsanwalt vorführen. Der Arzt konnte auch nicht weiter helfen, denn auch er hatte keinen Dialog mit dem Patienten. Bislang war der Beamte auf die Aussagen der anderen Verdächtigen angewiesen, von denen man drei hatte festnehmen können, aber das half ihm nicht besonders weiter.
*
Man darf Träume haben - diese vier Worte schienen das Lebensmotto von Hans Greffe zu sein, das aber täuschte, denn so einfach stellte er sich sein Leben nicht vor. Er hatte Träume, gewiss, aber er war kein verträumter Mensch, der in einer Welt außerhalb der Realität lebte. Der 30-jährige Hans war Betriebswirt, er schrieb gelegentlich Artikel und vor allem war er aus Begeisterung Fotograf. Als Fotograf wurde er auch bei Liebhabern als der Mann bekannt, der mit seinen Bildern die verborgene Seele des Menschen ausdrücken könne, so stand es im Klappentext des Bildbandes, das er herausgegeben hatte. Er konnte natürlich nicht in das Innere des Menschen schauen. Aber seine Fotos faszinierten die Betrachter. Schaute man sich seine Fotos genau an, so hatte man auch als unbefangener Betrachter das Gefühl, als sehe man sehr viel mehr als nur ein Gesicht oder ein Boot oder eine Landschaft.
Hans war mit seinen mehr als 1.90 m recht groß, sehr kräftig gebaut, muskulös und breitschultrig. Er hatte ein rundes Gesicht, tief liegende braune Augen und leicht gelocktes, braunes Haar, das meist sehr kurz geschnitten war. Wenn er lachte, zeigten sich an den Wangen Grübchen - aber er schien nicht oft zu lachen. Meist sehr ernsthaft beobachtete er das, was um ihn herum geschah, und wenn ihn "etwas" faszinierte, so fotografierte er. Er hatte meistens drei Apparate sehr unterschiedlicher Größe bei sich, mit denen er Aufnahmen machte. "Etwas" - das waren in der Regel Menschen, die auf die eine oder andere Art mit der unmittelbaren Umgebung verschmolzen und eine Einheit bildeten, oder Menschen, die auffielen, weil sie anders waren. Es waren nicht immer schöne Menschen in schönen Landschaften, die Hans fotografierte, aber die Fotos waren am Ende immer attraktiv. Man schaute hin - und man sah die armselige Gestalt, die in einer Mülltonne herumfischte, eine Gestalt, die man normalerweise nicht sehen würde. Man sah einen eher schäbigen Straßenmusikanten, man sah aber auch flüchtige Gestalten im Bahnhof der U-Bahn, oder Arbeiter bei der Arbeit. Fast immer war auch Wasser zu sehen, Wasser der Alster oder der Elbe, oder auch weiter draußen die wilden Wasser der See.
Viele Bilder zeigten sehr oft eine fast schon intime Verbindung von Mensch und Wasser. Hans war Hamburger, und seit frühester Jugend liebte er das Wasser, das er sich mit unterschiedlichen Booten zu erobern suchte. Mit einem Paddelboot hatte es angefangen, zuletzt hatte er mit seinem Freund und Partner eine Motor-Segelyacht gehabt, mit der die beiden Freunde Touren im Atlantik und im Mittelmeer unternommen hatten. Der Fotoapparat war immer dabei gewesen. Die vielen Bilder hatte Hans schließlich, wieder zu Hause angekommen, bearbeitet, sortiert, und so war ein erstes, viel gelobtes Buch herausgekommen, ein Bildband, aus dem die Menschen, die immer Mittelpunkt waren, zu den Lesern zu sprechen schienen. Sosehr der Bildband auch gelobt wurde, Hans wurde davon nicht reich.
Wenn Jemand gesagt hätte, Hans sei ein Künstler, er hätte - was sehr selten tatsächlich passierte - laut gelacht. Er fühlte sich nicht als Künstler. Er war eher ein Kapitalist, und politisch neigte er den Liberalen zu, ganz einfach, weil das die Leute waren, die gegen zu viele Regeln angingen. Und wenn er knapp bei Kasse war, so sah er zu, dass er zu Geld kam - nicht über die Arbeitsagentur, nicht über das Sozialamt, er hätte sich geschämt, diese Stellen aufzusuchen. Er war recht gut vernetzt, und Jobs waren, zumindest für ihn, immer zu haben.
Die Freundschaft und Partnerschaft mit Erwin war recht traurig zu Ende gegangen, die Yacht hatte verkauft werden müssen, und Hans hatte zunächst nicht gewusst, was er mit sich anfangen sollte. Er war Fotograf, und Motive gab es immer, aber Hans war in der ersten Zeit ohne Freund und ohne Boot innerlich gleichgültig, plan- und ziellos gewesen. Die lange Sterben des Freundes hatte Wunden hinterlassen, die nur sehr langsam heilten. Erwin war ihm wichtig gewesen, und nun gab es ihn nicht mehr. Es war Krebs gewesen, und als man ihn angerufen hatte, dass es zu Ende gehe, hatte er noch Abschied nehmen können. Es war ein Händedruck gewesen, ein Streicheln über die Wangen und die Stirn, nicht mehr. Die Familie hatte den toten Erwin für sich reklamiert. Er war dann eingeäschert und anonym beigesetzt worden. Was für Hans blieb waren die Erinnerungen und einige Fotos, die er sehr oft vor sich auf den Nachttisch legte, um mit ihnen zu träumen.
Vielleicht würde er sich eine kleine Yacht kaufen, denn er wollte durchaus wieder aufs Wasser. Vielleicht sollte er eine Weile in Hamburg bleiben, um Hamburg und die manchmal recht geheimnisvolle Welt der Hamburger Menschen zu erobern. Vielleicht sollte er versuchen, wieder einen Freund und Partner zu finden, der mit ihm zumindest einen Teil des Lebens teilen könnte. Eine Frau? Vor mehr als 10 Jahren hatte er herausgefunden, dass eine Partnerschaft mit einer Frau nicht funktionieren konnte. Die Erkenntnis war nicht leicht gewesen, aber er hatte sie akzeptieren müssen.
Hans war damals 16 Jahre alt gewesen, als seine Mutter ihn in den Armen eines anderen Mannes erwischte. Die Mutter, Gerlinde Greffe, hatte Hans aus dem Haus geworfen, und sie hatte laut und unmissverständlich dem Jungen zu verstehen gegeben, dass er zu Hause unerwünscht sei. Tatsächlich hatte er die erste Zeit auf der Straße verbracht, ehe ihn seine ältere Schwester, die damals bereits eine eigene Wohnung gehabt hatte, zu sich geholt hatte. Hildegard, so hatte die Schwester geheißen, hatte dafür gesorgt, dass er sein Abitur machte, und sie hatte ihn auch zum Studium gedrängt, das er mit Hilfe eines Stipendiums mit einem Diplom auch zu Ende gebracht hatte. Weder den Vater, noch die Mutter Gerlinde, noch den "großen" Bruder Mathias, hatte er seitdem wiedergesehen.
Hildegard hatte sich seinetwegen mit den Eltern zerstritten, und sie hatte ihnen die schwersten Vorwürfe gemacht. Die Auseinandersetzungen eskalierten damals so sehr, dass Hildegard ziemlich bald dem Elternhaus den Rücken gekehrt hatte, sie hatte jede Bindung und Verbindung abgebrochen. Hildegard, die ihn gestützt hatte wie nach ihr Erwin, war an einem Unterleibsleiden gestorben.
Was sollte er jetzt tun? Vielleicht - vielleicht, sollte er dieses oder jenes tun, so genau wusste er nicht, was er tun sollte, um einen Partner zu finden, oder zumindest um sich selbst zu finden. Den Trennungsschmerz hatte er in Wahrheit noch nicht ganz überwunden, aber es gab gegenwärtig keinen Menschen, dem er sich ganz öffnen wollte oder konnte. Und so suchte er Abwechslung im Club, in der Sauna, in der Gym, aber so richtig wollte das nicht helfen. Ein flüchtiges Erlebnis, mochte es noch so gut sein, half nicht über die Leere hinweg, die er gegenwärtig fühlte.
Hans fand vorübergehend Arbeit in "seinem" Verlag als Übersetzer; es war der Verlag, der auch seinen Bildband veröffentlicht hatte, und mit dem er über einen zweiten Band verhandelte. Die Verlagsleitung hatte Hans gern genommen, denn er war tüchtig, und er hatte einen vorzeigbaren Lebenslauf, nicht nur wegen der Fotos. Hans hatte das Gymnasium besucht, er hatte an der Hamburger Universität sein Diplom als Betriebswirt gemacht, er hatte sogar als Betriebswirt für einige Monate in einer kleineren Reederei gearbeitet, ehe er sich mit seinem Freund Erwin und mit einer Yacht auf die Meere begeben hatte. Hans konnte sich in sechs Sprachen gut unterhalten, was ihm als Fotograf und im Verlag sehr half.
Aber Hans hatte auch noch andere Talente, die man nicht vermutete: er war Meister im Kampfsport, und während seines Studiums war ihm dieser martialische Sport so etwas wie ein Ausgleich gewesen. Das war er immer noch, und in letzter Zeit war er oft im Club bei verschiedenen Arten des Kampfsports zu sehen. Dabei war Hans nicht an irgendwelchen Titeln oder Gürteln interessiert. Er wollte sich ganz einfach mit seinen Partnern körperlich auseinandersetzen, sich an ihnen messen, mit ihnen schwitzen - und deren Nähe fühlen.
In diesen Tagen bereitete sich Hans wieder einmal auf eine kleine Reise, eher einen Ausflug, vor. Es sollte nur eine Fahrt bis nach Cuxhaven, und nur eine verlängerte Wochenendfahrt, sein. Ein ehemaliger Kommilitone wollte die Tour und hatte Begleitung gesucht, Hans hatte eingewilligt - warum auch nicht? Bei den Reisevorbereitungen zeigte sich, dass Hans gründlich sein konnte und nur wenig dem Zufall überließ. Es war nur eine kleine und an sich unbedeutende Tour, aber auch da könnte es Überraschungen geben, die vielleicht vermeidbar waren. Walter, so hieß der ehemalige Kommilitone, war ganz anders als Hans, nicht nur, was die äußere Erscheinung betraf. Walter war mittelgroß, eher schmächtig, und beruflich sehr ehrgeizig. Er hatte promoviert, und er arbeitete bei einem Logistikunternehmen bereits in führender Position. Eine Leidenschaft teilte er mit Hans: Wasser.
Hans freute sich auf diese kleine Fahrt, denn sie war eine willkommene Abwechslung - von was?. Eine Antwort hatte er nicht. Es spielte eigentlich keine Rolle, dass der ehemalige Studienkollege nicht der ideale Partner war - aber er war ein angenehmer Mensch, der viel lachte, der stets viel zu erzählen hatte und der auch mit seinem beruflichen Erfolg nicht hinter dem Berg hielt, wie man so sagt. Er war stolz, dass er etwas erreicht hatte. Für Hans kam eine enge und intime Partnerschaft mit ihm nicht infrage, denn dieser junge Mann war nicht schwul. Hans fand ihn nett, das war alles.
*
Gustav Rastenberger hatte vor mehr als einem Jahr, es war nach dem unerwarteten Herzinfarkt gewesen, und nachdem er bereits seinen Job an den Nagel gehängt hatte, mit seiner Frau Annegret einmal eine Ausstellung im Hamburger Schifffahrtsmuseum besucht, die auch Fotos von Hans Greffe gezeigt hatte. Es waren vor allem drei Fotos, die ihn und Annegret genauer hinschauen ließen, und alle drei Fotos waren in Häfen oder doch in Hafennähe aufgenommen worden: Hamburg, Piräus und Ponta Delgada. Im Grunde sagten ihm Reisefotos nicht sehr viel, aber diese drei Bilder strahlten etwas aus, was ihn nahezu fesselte. Sie zeigten eine Harmonie zwischen Wasser, schützenden Gebäuden und Menschen. Das war also vor mehr als einem Jahr gewesen. Die ausdrucksvollen Fotos hatten weder er noch Annegret nicht vergessen, wohl aber den Namen "Hans Greffe".
Vor einer Woche hatte seine Frau ihren 70-jährigen Geburtstag gefeiert, zu dem Gustav im "Atlantik" eingeladen hatte. Annegret Rastenberger, eine sehr bescheidene und stille Frau, hatte in Wahrheit keine Lust zu dieser Geburtstagsfeier mit Empfang in dem teuren Hotel gehabt, aber sie - und vor allem ihr Mann - waren "in der guten Gesellschaft" ganz einfach zu gut bekannt, und sie hatten nicht vor, sich den Trubel einer Geburtstagsfeier ins Haus zu holen. Also gab es den Empfang außer Haus. Das war es nicht allein. Gustav war während seiner beruflichen Zeit in der Finanzwelt gut bekannt und vernetzt gewesen. Freunde und Bekannte von damals nutzten die Gelegenheit, sich mit "wichtigen" Leuten zu treffen, um über Kurse zu reden und darüber zu spekulieren, wo man etwas Geld gewinnbringend anlegen könnte. Gustav, der mit Schiffen und mit Immobilien sagenhaft viel Geld gemacht hatte, galt als Kapazität, dessen Nähe man suchte.
Gustav, gelernter Bankkaufmann, hatte sich als Finanzmakler einen international bekannten Namen gemacht, und nebenbei hatte er sich ein Vermögen erworben, mit dem er vermutlich nicht so richtig umgehen konnte, das zumindest behauptete seine Frau. Er hatte im Laufe seiner Berufsjahre gelernt, wie man Geld macht, und er konnte auch gut erklären, wie man Geld gut anlegen sollte. Aber sonst? Er hatte allerdings eine Leidenschaft: Schiffe und das Meer, und einen Teil seines Vermögens hatte er unter anderem in Schiffen angelegt, nicht in Containerschiffen, sondern in Kreuzfahrtschiffen mittlerer Größe. Der Containerschifffahrt hatte er nie ganz getraut, denn nur zu schnell schufen Investoren Überkapazitäten, und das gab riesige Verluste Statt dessen hatte er nennenswerte Anteile an einigen Schiffen und an einer Reederei, und das brachte Geld.
Und nun? Außer einer recht ordentlichen Dividende hatte er nichts davon, und er konnte seine Träume nicht richtig ausleben - Träume: das waren Fahrten auf einem der Schiffe. Daneben hatte er viel Geld in Immobilien angelegt, die insgesamt gesehen gegenwärtig eine bessere Rendite erwirtschafteten als die Schiffe. Mehr als einmal hatte Annegret:
"Wo bleiben wir, wenn wir älter werden, wenn wir ganz einfach ohne Pflege nicht mehr auskommen?"
Gustav zuckte mit den Schultern. Er würde am liebsten in der Villa bleiben - wo sonst?
Gustav hatte im Grunde immer nur gearbeitet, mehr als 14 Stunden am Tag, und das sieben Tage in der Woche. In der ersten Zeit ihrer Ehe hatte Annegret Probleme gehabt, das Gefühl zu haben verheiratet zu sein, und doch keinen Ehemann und Partner zu haben. Sie hatte sich erst um die Wohnung in Hamburg und später um das sehr große Haus in Harburg gekümmert, sie hatte dafür gesorgt, dass der Garten in Ordnung war.
Ihren eigentlichen Beruf hatte sich nicht wieder aufgenommen. Sie hatte dann angefangen, Privatunterricht in Englisch, Geschichte und Mathematik zu geben. Schüler unterschiedlichen Alters, die Hilfe brauchten, gab es genug. Das hatte sie vor einigen Jahren wieder aufgegeben, denn sie hatte genug von dem, was sie ein "leeres Leben" nannte, die Schüler füllten die Leere nicht aus. Und um ehrlich zu sein: sie wollte weg von diesem Gefängnis. Sie wollte nicht den Garten, nicht die Blumenbeete, nicht das riesige Haus, nicht die Angestellten und auf keinen Fall die tägliche Langeweile. Das Haus war wie eine Insel - kein interessanter Mensch kam. Das Problem war ganz einfach, dass dieser Palast sie von Freunden und Nachbarn entfernt hatte. Das Haus stand ein wenig isoliert wie auch die Nachbarhäuser. Man kam nicht im Supermarkt zusammen, man traf sich nicht in der Apotheke, und die paar Nachbarn rechts und links waren jüngere Menschen, die ganz andere Interessen hatten, denen das gesellschaftliche Leben, das Annegret meiden wollte, sehr wichtig war. Ja, es gab kulturelle Ereignisse, wobei ihr kein Mensch sagen konnte, was Kultur war. Ja, sie hörte gern Musik, ja, sie betrachtete sich gern Bilde, aber alles das, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Gustav und Annegret hatten keine Kinder, und er hatte keine Lust und keine Neigung, sein Vermögen irgendwelchen entfernten Verwandten zu vermachen, die weder er noch sie kannten oder nur kaum kannten. Beide wurden nicht jünger, fanden Beide, und es war ihrer Meinung nach höchste Zeit, endlich einmal richtig zu leben, und ihr Leben vernünftig zu einem Abschluss zu bringen. Es hatte dann auch nicht lange gedauert, da hatte sie die Initiativer ergriffen, und das bereits vor ihrem 70. Geburtstag. Sie hatte Gustav zur Rede gestellt und ihm gesagt, entweder gebe er seinen Beruf auf, um mit ihr einen gemeinsamen Lebensabend zu verbringen, oder sie werde ihn verlassen. Er war damals gerade 67 Jahre alt geworden, sie war ein knappes Jahr älter als er. Er hatte sie fassungslos angesehen, und nach einer Woche hatte er tatsächlich gesagt, er werde den Job aufgeben, man habe genug Geld. Tatsächlich gab er den Job nach knapp zwei weiteren Jahren auf, sehr zum Erstaunen das Welt der Finanziers, und sehr zur Freude von Annegret. Als Gustav ihr seine Entscheidung bei einem Glas Wein sagte, starrte sie ihn eine ganze Weile an, dann umarmte sie ihn.
"Ich liebe dich”, kam es ganz spontan aus ihr, und Gustav sah, dass ihr die Tränen gekommen waren.
Annegret und die Ärzte begrüßten Gustavs Entscheidung, denn Gustav war nicht gesund. Er hatte inzwischen zweimal einen Herzinfarkt gehabt, die Klinik hatte ihm mehrere Stents eingesetzt, und er hatte einen Herzschrittmacher, nachdem er einige Male ganz einfach umgekippt war. Gustav hatte es damals geschickt verstanden, seine gesundheitlichen Probleme vor der beruflichen Mitwelt zu verbergen, was ihm auch gelungen war. Aber Annegret hatte er nichts vormachen können. Daher schien nun alle Welt überrascht zu sein, als Gustav laut und deutlich sagte: "Das war's!" Es dauerte keine acht Wochen, dann war sein Arbeitsplatz geräumt, und er hatte alle geschäftlichen Verbindungen und Bindungen übergeben oder gekappt, soweit es ihn betraf und soweit es machbar war. Fiel ihm die Entscheidung schwer? Wenn er danach gefragt wurde, zuckte er mit den Schultern. Nein, richtig schwer war ihm die Entscheidung nicht gefallen, was ihn selbst sehr überraschte.
Annegret und er hatten zunächst daran gedacht, sich ein schönes Haus in Spanien zu erwerben, um dort die letzten Jahre zu verbringen. Sie hatten sogar Verbindung mit einem Makler aufgenommen, der ihnen interessante Objekte unterbreitete. Vielleicht - Gustav und Annegret hatten lange Diskussionen, dann entschieden sie sich dagegen, denn, so sagte Annegret: sie würde ein paradiesisch schönes Haus in Harburg mit einem vergleichsweise schönen Haus in Spanien vertauschen, und nichts würde sich für sie ändern, vom Klima einmal abgesehen. In Harburg oder in Spanien, man sei in einer luxuriösen Insel isoliert, mit oder ohne Wasser drum herum.
Dann wieder hatten die Rastenberger an ausgedehnte Reisen gedacht. Das war keine neue Idee, denn sie hatten bereits zum wiederholten Male teure und schöne Reisen auf Kreuzfahrtschiffen gemacht, was weder ihn noch Annegret so richtig zufrieden gestellt hatte. Auch die Kreuzfahrtschiffe, in die er Geld gesteckt hatte, waren - so erkannte er - genauso wie alle Kreuzfahrtschiffe, auch wenn sie nicht zu den Megalinern gehörten. Pro Schiff gab es 500 bis 2.500 Passagiere an Bord, man legte in sehenswerten Häfen an, man machte Massenausflüge, man wurde zwischen den Häfen auf See bespaßt, und dann ging es wieder nach Hause. Annegret war der Meinung, dass die Abfolge der Spaßerlebnisse einen Teil der Persönlichkeit zerstöre. Als sie das Gustav sagte, lachte er, aber im Grunde musste er ihr zustimmen. Den Lebensabend auf Kreuzfahrtschiffe zu verbringen, war nicht unbedingt seine Vorstellung von einem Leben.
Na ja, er und Annegret würden wohl in ein Seniorenheim "für Bessergestellte" gehen, um von dort aus so oft wie möglich auszubrechen, dachten sie nicht nur, sondern sie sprachen auch darüber. Gustav schreckte davor zurück. Das Bild, das sich ihm beim Besuch der Gertrude Baltenhoff gezeigt hatte, war noch in guter Erinnerung. Ihm war, als könne er immer noch die Mischung von Schweiß und Urin riechen. Der Gedanke, in ein Heim zu gehen, um dort so langsam einzugehen, schreckte ihn. Man wäre dort umgeben von alten Menschen, die nur auf den Tod warten würden. Aber der alternative Gedanke, allein in der großen Villa mit seiner Frau zu sein, abhängig von Angestellten und Pflegepersonal, war auch erschreckend. Am Ende würde das Personal ihn und seine Frau beherrschen. Ganz abgesehen davon war das Haus viel zu groß. In ein paar Jahren würde es kaum noch möglich sein, alle Räume zu besuchen oder draußen den Garten zu genießen. Um das zu tun, würden er und Annegret Hilfe benötigen.
Zufällig fiel Annegret ein Bild auf, das in einer der besseren Illustrierten für ein Miteinander von Jung und Alt warb. Das Bild zeigte eine völlig verschrumpelte, alte Frau, daneben eine junge, völlig faltenlose Frau. Die Jüngere hielt die Hand der Alten, und unter dem Bild stand etwas von Liebe und Güte und Glück.
"Welch eine Lüge!" kam es aus Annegret. Gustav, der in einer Zeitung die neueste politische Lage studierte, schaute auf, dann lachte er.
Dann hatten die Beiden die fast schon verwegene Idee gehabt, selbst ein Schiff zu kaufen, um ferne Länder kennenzulernen - oder ganz einfach irgendwo vor Anker zu gehen, wo es schön war und wo die Sonne schien - vielleicht in der Karibik, vielleicht auch anderswo. Ein Schiff - ja, aber das könnte im Idealfall ein schwimmendes Seniorenheim sein. Warum eigentlich nicht? Vielleicht ließe sich das auch mit einer Art Tourismus "einer ganz anderen Art" verbinden. Auf der einen Seite würde man vielleicht nicht allein sein, und man habe sich andererseits doch so etwas wie eine Unabhängigkeit bewahrt.
Der Gedanke, schließlich ein eigenes Schiff, sozusagen ein schwimmendes Seniorenheim, zu kaufen, ließ die Rastenberger nicht mehr los. Sie gingen mit dem Gedanken ins Bett, und sie wachten am nächsten Morgen mit dem Gedanken auch wieder auf. Sie sprachen kaum noch von etwas anderem als von einem Schiff. Das Geld war dafür reichlich vorhanden, warum also nicht? Und wenn es sich als Fehler herausstellen sollte, könnte man das Schiff ja wieder verkaufen.
Die Rastenberger kauften sich tatsächlich eine riesige Luxusyacht, die sich ein russischer Milliardär in Hamburg hatte bauen lassen. Bevor diese große Yacht überhaupt in See stechen konnte, war der Milliardär gestorben, und seine Erben wollten nicht das Boot haben, sondern sie hatten Geld sehen wollen. Gustav und Annegret, die davon über die Werft gehört hatten, hatten die Yacht für € 650.000 gekauft. Den Unterlagen nach war die Yacht mit 200 Luxuskabinen und großen Salons ausgestattet, und für Gustav sah es so aus, als hatte das Schiff ursprünglich so etwas wie ein Spielkasino sein sollen. Gewiss, das Schiff war "sündhaft teuer", so drückte sich Annegret aus. Aber war es nicht der erste Schritt zu einem Traum? Außerdem war der Preis ein "Schnäppchenpreis", wie ein Vertreter der Werft sagte.
Gustav und Annegret fuhren zur Werft, die das Schiff gegen eine handfeste Gebühr "geparkt" hatte, und sie Beide waren sehr erschrocken, als ihnen das große Schiff buchstäblich entgegensah. Das war keine Yacht, wie auch der Werftmanager grinsend bestätigte. Das das ein mittelgroßes, seetüchtiges Passagierschiff, ein Kreuzfahrtschiff kleinerer Größe. Sie besichtigten das Schiff, das heißt, sie gingen an Bord und besahen sich den ungeheuren Luxus in den Kabinen und Sälen. Eine Luxuskabine allein war so ausgestattet wie normalerweise eine gute Zwei- oder Dreizimmerwohnung, und alles von bester Qualität. Sie hörten sich auch Einzelheiten zu den technischen Daten an, die sie in Wahrheit nicht richtig verstanden. Sie verstanden lediglich, dass sie für einen Haufen Geld ein wirklich gutes Schiff erstanden hatten, Hatten sie das gewollt?
Ziemlich unsicher kehrten sie in ihre Villa in Harburg zurück, wo sich die Beiden erst einmal zu einem guten Schluck Wein hinsetzten.
"Und was machen wir jetzt?" Annegret schaute Gustav an. Sie hatten das Schiff - "was aber machen wir damit? Ich fürchte, dass das eine Nummer zu groß für uns ist”, fügte Annegret zaghaft hinzu. Dann lachte sie wie schon lange nicht mehr. Schließlich sagte sie: "Ich glaube, wir haben vor uns ein Abenteuer. Einfach toll!" Erst grinste Gustav. Er freute sich über ihr Lachen - dann musste er auch lachen.
"Wir sollten uns mit einem Menschen unterhalten, der genauso blöd träumt wie wir”, erklärte Gustav, immer noch lachend. Denn für ihn war es ein Traum, ein schwimmendes Seniorenheim zu haben, und er war im Grunde ganz froh, dass Annegret den Traum auch mit ihm teilen wollte, auch wenn sie gegenwärtig etwas ängstlich zu sein schien.
"Ja, wir sollten uns einmal mit einem Menschen unterhalten, der uns verstehen würde”, bestätigte Annegret. Gustav dachte noch ein wenig weiter. Er hielt den Traum nicht nur für eine gute Idee, sondern auch für eine gewinnbringende Idee, obgleich der Gewinn bestenfalls eine Art Nebenprodukt darstellen sollte.
"Ich glaube, ich sollte mich einmal mit den Chefingenieur der Werft unterhalten”, sagte Gustav, und er nahm sich vor, das gleich für den nächsten Tag vorzusehen.
"Nein”, kam es prompt von Annegret, "nein. Ich denke, wir sollten uns mit einem Menschen unterhalten, der nicht unbedingt ein Technokrat ist, sondern ein Mensch mit einiger Phantasie."
Gustav war damit einverstanden, aber wo würde man solch einen Menschen finden?
*
Es war Annegret, die auf einmal einen guten, einen zündenden Gedanken hatte, mit dem sich Gustav auch sofort anfreundete. Sie hatte auf dem Empfang zu Annegrets Geburtstag neben vielen zum Teil sehr wertvollen Geschenken einen Bildband bekommen, der etwas mit Yachten und Seefahrten zu tun hatte. Das Buch hatte sie seinerzeit beiseite gelegt mit der Absicht, es in Ruhe durchzulesen, und dabei war es damals geblieben. Sie nahm jetzt das Buch zur Hand. Der Verfasser war ein gewisser Hans Greffe, las sie. Als sie den Namen gesehen hatte, war ihr auch die Fotoausstellung eingefallen, die ihr Mann und sie vor vielleicht einem Jahr oder zwei Jahren besucht hatten.
"Warum sollten wir diesen Mann nicht mal kennenlernen?" fragte Annegret. Sie fuhr fort: "Wir brauchen im Augenblick keinen Ingenieur, sondern einen Menschen mit Fantasie, der unsere Gedanken nachvollziehen kann." Sie war eine mittelgroße, rundliche Frau, die normalerweise wenig sagte, aber sehr oft zu lächeln wusste. Ihr Lächeln wirkte mal verschmitzt, mal einladend, mal auch nur höflich, aber dieses Lächeln machte sie ganz einfach sympathisch. Dabei versuchte sie, stets im Hintergrund zu bleiben. Gustav wusste, dass das nicht gespielt war. Annegret war ein wenig menschenscheu, und am liebsten war sie zu Hause, malte ein wenig, hörte Musik, nähte gelegentlich, oder unterhielt sich mit den wenigen Besuchern und Freunden, die ins Haus kamen. Das hieß aber nicht, dass sie allein irgendwo in einer isolierten Villa leben wollte. Nein, sie wollte aus dem Fenster sehen können, sie wollte Menschen sehen - allerdings ohne ihnen zu nahe zu kommen. So war Annegret, und das war die Frau, die er mal geliebt hatte, und die er immer noch sehr gern hatte, die er immer noch liebte. Ein Lebern ohne sie war für ihn kaum denkbar, und das machte ihm auch Angst. Denn sie waren nun in einem Alter, in dem man ans Sterben denkt.
"Und dann?" fragte Gustav. Er schaute sie mit seinen blassblauen Augen fragend an. Er war groß, sehr viel größer als sie, dazu recht kräftig und zupackend. Er ging auf Menschen zu, vor allem dann, wenn er etwas von ihnen wollte.
"Weißt du, ich glaube, er versteht etwas von Schiffen, denn die Fotos zeigen meistens Menschen in Häfen - und welche Häfen? Die scheint er doch mit einem Schiff angelaufen zu haben. Und ich erinnere mich dunkel, dass er die Bilder auf einer Reise gemacht hatte, als er mit seiner eigenen Yacht unterwegs gewesen war”, sagte sie. "Das kann man bestimmt in seinem Buch genauer erfahren."
Gustav musste grinsen. Seine Frau hatte manchmal die richtigen Ideen. Ja, stimmte er zu, man sollte sich vielleicht mit dem Mann namens Greffe unterhalten, unverbindlich natürlich. Und wenn das Gespräch zu nichts führen würde, könne er sich auch mit einigen Fachleuten der Werft unterhalten, dachte er. Jedenfalls war es ein Versuch wert.
Gustav surfte im Internet, dort fand er auch den Namen Hans Greffe, und er erfuhr, dass dieser noch recht junge Mann zwei Fotobände herausgegeben hatte, und er konnte auch eine Kurzbiografie lesen, die allerdings nicht viel sagte außer, dass der Verfasser sich mit Reisen befasse, die er mit eigener Yacht durchführe. Was Gustav im Internet nicht entdecken konnte, war eine Kontaktadresse.
Gustav erfuhr die Anschrift des Herrn Greffe wenn auch nicht so ohne weiteres, von "seiner" Buchhandlung Thiede. Buchhandlung Thiede war natürlich nicht "seine" Buchhandlung, aber das war der Buchladen, in dem seine Frau gelegentlich Bücher einkaufte. Nette Leute waren das, hatte Annegret immer wieder versichert, und das konnte er auch bestätigen. Nett oder nicht, die Buchhandlung Thiede, Gustav sprach mit Frau Thiede selbst, wollte die Anschrift von Herrn Greffe nicht preisgeben, war aber bereit, ein Treffen mit ihm zu arrangieren, was sie auch tat .
Nur vier Tage später fand das Treffen in der Buchhandlung statt, denn der gewünschte Hans Greffe war in dieser Zeit nicht auf Reisen, wie sich herausstellte. Frau Thiede empfing die Rastenberger sehr freundlich und wies auf den großen Mann hin, der an einem der Regale stand und in einem Buch herumblätterte. Gustav war natürlich nicht allein gekommen, Annegret hatte mitkommen wollen, womit Gustav sehr einverstanden gewesen war. Gustav ging gleich auf den großen Mann zu. Er begrüßte ihn und stellte seine Frau und sich kurz vor. Er sagte dann gleich, er habe das Fotobuch über Reisen und über einige Schönheiten von Häfen gekauft, er nehme sich den Bildband immer wieder vor, und er habe den Verfasser einmal kennenlernen wollen. Dass er sich den Bildband immer wieder vorgenommen hatte, was nicht ganz richtig, aber was hätte er zur Einführung sagen sollen? Annegret hatte den Bildband allerdings in den letzten Tagen recht oft vorgenommen, denn sie wollte nicht unvorbereitet am Gespräch teilnehmen.
Mit dem Namen Gustav Rastenberger konnte Hans Greffe nach einiger Überlegung sogar etwas anfangen. Er wusste, dass sich Herr Rastenberger als Finanzberater ein gutes Vermögen, ein sehr gutes sogar, gemacht hatte, und er wusste auch, dass Herr Rastenberger sich aus dem Berufsleben zurückgezogen hatte. Das war in fast allen Medien zu lesen gewesen, und das hatte Hans auch aus dem Internet erfahren, in dem er vor dem Treffen gesurft hatte. Mehr hatte Hans nicht wissen wollen, denn er hatte sich nicht für die Vergangenheit des Herrn Rastenberger interessiert, wenngleich er ein wenig neugierig auf das Gespräch war. Es war diese Neugier gewesen, die ihn hatte zu dem Gespräch einwilligen lassen.
"Nun haben Sie mich kennengelernt”, sagte Hans, wobei er den Mund leicht zu einem Lächeln verzog, als er fortfuhr: "Und nun?" Annegret musterte das Gesicht des jungen Mannes, und sie fand, dass es ein sympathisches Gesicht war. Da war keine Falschheit oder Hinterlist zu entdecken. Gustav lächelte ebenso andeutungsweise zurück, dann sagte er:
"Wir fragten uns, ob Sie die Häfen, die Sie uns auf den Fotos präsentieren, per Schiff aufgesucht haben, und mehr noch: Haben Sie ein Boot oder eine Yacht?"
"Ja, ich hatte mit meine eigenen Yacht die Reisen gemacht”, antwortete Hans ein wenig erstaunt, "aber die Yacht ist inzwischen verkauft worden. Ich suche jetzt erneut ein Boot, habe mich aber noch nicht entschieden. Ich habe keine besondere Eile damit." Wollten diese reichen Leute nur wissen, ob er ein Boot habe? Oder wollten sie eine Tour mit ihm machen? Oder wollten sie ihm ein Boot verkaufen? Diese reichen, älteren Leute vor ihm machten auf ihn einen sehr netten und vor allem einen sehr normalen Eindruck, einen ausgesprochen sympathischen Eindruck sogar. Aber warum wollten sie ihn kennenlernen? Über was sollte man reden?
Gustav schaute seine Frau an, die ihm aufmunternd zunickte. Er erwiderte ihren Blick, dann wandte er sich erneut Hans zu und sagte: "Nun, wir haben eine Yacht gekauft - Megayacht heißt es wohl, und wir suchen einen Menschen, der weiß, was man damit machen kann."
Hans schaute die beiden alten Leute verdutzt an, dann musste er lachen. Nein, es war kein verletzendes Lachen. Aber vor ihm saß ein älteres Ehepaar, das sich eine Yacht gekauft hatte und nicht wusste, was man mit dem "Spielzeug" tun könnte. Es war eine absurde Situation.
Ehe Hans etwas sagen konnte, holte Gustav seine Brieftasche aus der Jackentasche und entnahm ihr ein postkartengroßes Foto der Yacht., das er Hans reichte. Hans betrachtete sich das Foto, das ein erstaunlich schnittiges Schiff mit fünf Decks zeigte, eine ganze Weile.
"Das ist keine Yacht”, brummte Hans, und er fügte hinzu: "Das ist eher ein Passagierschiff der obersten Luxusklasse, vielleicht ein Kreuzfahrtschiff, ein schwimmendes Kasino vielleicht. Das ist das, was Sie Ihre Yacht nennen?"
Gustav warf ebenfalls, nicht zum ersten Mal, einen Blick auf das Foto. Dann grinste er Hans an sagte: "Ja, es ist mehr als eine Yacht, das ist uns bewusst. Das ist ein elegantes Monster von Yacht, oder ein kleines Kreuzfahrtschiff oder was auch immer. Und nun, wenn Sie ein paar Minuten Zeit für uns haben, erzähle ich Ihnen von unserem Traum." Die nette Frau Thiede wies auf eine Sitzecke hin, denn sie mochte gespürt haben, dass die Besucher ein längeres Gesprächen haben könnten.
Hans und die Rastenberger setzten sich. Gustav schaute seine Frau an, dann begann er ganz einfach und deutete darauf hin, dass seine Frau und er nun so langsam zu alt seien, ihr Haus und Garten vernünftig zu bewirtschaften. Sie würden mehr und mehr zusätzliches Personal benötigen, um den alten Standard aufrecht zu erhalten. Was wäre die Alternative? Ein Seniorenheim - oder so etwas ähnliches, was eben auf dem Markt vorhanden sei? Und das sei für sie nicht besonders attraktiv.
"Wir habe keine großen Erfahrungen mit Seniorenheimen gesammelt, aber das bisschen, was wir gesehen haben und was wir wissen, gefällt uns nicht."
Frau Thiede unterbrach erneut das Gespräch und schlug vor, sie könnten sich im kleinen Nebenraum unterhalten, dort könne man sich bequem hinsetzen, denn das Kommen und Gehen von Kunden könnte hier vielleicht stören. Das Angebot wurde dankend angenommen. Kaum saßen sie, nahm Gustav das Gespräch wieder auf.
"Wir haben uns hier in Hamburg und Umgebung einige Heime angesehen”, erklärte Gustav. "Ich gebe zu, es gab einige sehr gute und entsprechend teure Heime, die uns durchaus beeindruckten. Aber sie waren unserer Auffassung nach nicht so gut, dass wir dort die nächsten fünf oder zehn Jahre verbringen möchten. Stellen Sie sich vor, Sie sind umgeben von Leuten, die alle darauf warten, eines Tages möglichst schmerzfrei und wohlbehütet zu sterben. In so einem Heim sind keine jungen Leute, die noch eine Zukunft für sich haben. Alles konzentriert sich auf das Sterben, und das ist ein grässlicher Gedanke."
Gustav grinste Hans an, dann fuhr er fort: "Bereits recht früh haben wir an Schiffe und Schiffsreisen gedacht. Wir hatten verschiedene Kreuzfahrten unternommen, aber diese Massenveranstaltungen sind nichts für uns. Außerdem hat jede Reise einen Anfang und ein Ende. Wir haben allerdings auch ältere Menschen auf diesen Schiffen getroffen, die ihr Alter an Bord verbringen wollen, wie sie sagten - in der Masse. Und da kam uns die Idee, eine Megayacht oder ein Minikreuzfahrtschiff zu kaufen und so einzurichten, dass es die Funktionen eines Heims wahrnehmen kann, dass uns fremde Länder und bescheidene Abenteuer bringt, auf dem auch Menschen wie wir unterkommen können. Aber wir denken, dass auch normale Touristen eingebunden werden können. Wie das nun genau funktionieren kann, darüber kann man nachdenken Wir haben nun dieses Schiff, und wir meinen, unser Traum ließe sich mit diesem Schiff verwirklichen."
Gustav holte tief Luft, dann fuhr er langsam fort: "Ich kann mir das Ganze auch als ein kleines Geschäft vorstellen, obwohl Gewinnmaximierung bei unseren Überlegungen keine Priorität hat: Ein Seniorenheim auf dem Wasser, ein schwimmendes Heim, und dazu vielleicht auch ein paar Touristen oder Passagiere für kürzere Zeit - was auch immer. Das ist ein Traum, gewiss, der sich vielleicht - in Teilen - verwirklichen lässt. Das Endziel wäre vielleicht so etwas wie ein Mehrgenerationenheim auf See."
Hans lehnte sich zurück. Er schaute die beiden älteren Menschen an, dann fragte er:
"Das klingt einleuchtend, auch wenn es ein Traum zu sein scheint. Sie erzählen mir von ihrem Traum - warum?"
Gustav musste lachen. Schließlich wurde er sehr ernst und beugte sich etwas vor, als er erklärte:
"Meine Frau und ich, wir suchen für die Verwirklichung unseres Traumes einen Partner, der uns versteht, den wir verstehen, der eine Liebe zum Wasser und zu Schiffen hat und der gerne reist, und der auch fähig ist, mit uns den Traum zu verwirklichen Ich möchte mit Ihnen als Partner ein Unternehmen gründen, eine echte Partnerschaft, vertraglich abgesichert. Der Unternehmenszweck wäre das "Zuhause auf See" oder "ein Heim auf See" für uns und für Menschen, die so etwas brauchen oder wollen, die ähnlich denken und die auch ähnliche Träume haben. Und um es klar zu sagen: ich suche keinen Kapitän. Ich suche ganz einfach einen Menschen, der uns hilft, den Traum Wirklichkeit werden zu lassen." Gustav machte eine kleine Pause, dann fügte er hinzu: "Unser Traum klingt verrückt, aber bei einer Bevölkerung in Deutschland von mehr als 80 Millionen sind wir sicher nicht die einzigen, die so einen Traum haben.
Hans war sprachlos. Als Gustav Rastenberger ihn über die Buchhandlung zu einem Gespräch gebeten hatte, war er der Einladung gefolgt, die er im Zusammenhang mit seinem Fotoalbum gesehen hatte. Was der Mann ihm aber jetzt sagte, war etwas ganz anderes.
"Wie kommen Sie gerade auf mich? Denn Sie brauchen einen Fachmann, einen Experten, der sich mit diesen Dingen bereits auseinandergesetzt hat. Ich verstehe weder etwas von Seniorenheimen noch von dieser Art Geschäft, das Ihnen vorschwebt."
Gustav nickte. Er antwortete: "Wir haben Ihre Fotos gesehen, die uns ganz einfach sagen, dass auch Sie träumen können, dass Sie Fantasie haben, im positiven Sinne natürlich. Das ist natürlich nicht alles. Sie arbeiten als freier Mitarbeiter für einen Verlag, der auch Ihr Album herausgebracht hat. Und Sie verstehen etwas vom Wasser und Schiffen - gewiss, Ihre Schiffe sind kleine Schiffe, aber Sie verstehen mehr von Schiffen als wir. Hinzu kommt, dass ich mir gut vorstellen kann, dass Sie in der Lage sind, die Idee auch umzusetzen, und mehr noch: Sie sind immerhin Betriebswirt mit einem Prädikatsexamen der hiesigen Universität. Das alles zusammen finden wir so interessant, dass wir mit Ihnen über unseren Traum reden wollten, und das ist es, was wir jetzt tun. Fachleute können wir engagieren, und ich denke dabei auch an Ingenieure und Seeleute. Und was die Finanzen betrifft, so bin ich selbst Fachmann genug."
Gustav machte eine kleine Pause, dann fuhr er fort: "Ich schlage vor, dass wir uns in anderer Umgebung noch einmal unterhalten. Meine Frau und ich, wir würden Sie gerne zu uns nach Hause zum Dinner einladen. Könnten wir Sie dazu überreden?"
Hans musste wieder lachen. Gustav hatte diese Einladung so nett präsentiert, er hatte Schwierigkeiten, sie abzulehnen, und das tat er auch nicht. Er wollte mehr von dem ungewöhnlichen Traum des alten Paares hören, der zumindest aus dem Rahmen fiel, der aber realisiert werden könnte. Und so verabredeten sie sich bereits für den nächsten Abend in der Villa der Rastenberger, die sich in bester Lage in Harburg befand.
*
Hans Greffe fuhr mit einem Mietwagen zu den Rastenberger. Er hatte kein eigenes Auto, denn er war in den letzten paar Jahren viel zu oft unterwegs gewesen. Ein eigenes Auto wäre viel zu teuer gewesen, ganz abgesehen davon, war er nicht unbedingt ein Liebhaber von Autos. Ein Auto musste gepflegt werden, es musste gewartet werden, und vor allem es musste auch gefahren werden. Für ihn war ein Auto ein Nutzgegenstand, den er mietete, wann immer das erforderlich zu sein schien.
Hans war wie immer sehr salopp mit Jeans und Pulli bekleidet, und seine Schuhe waren gewiss geputzt, hatten aber bereits bessere Tage gesehen. Er war nun einmal kein Mensch, der besonders auf Förmlichkeiten zu achten brauchte, und was die Mode betraf, so war sie ihm gleichgültig. Er hatte seine Aktentasche dabei, in der er seinen Laptop verstaut hatte. Er hatte keine Ahnung, ob er das Gerät überhaupt brauchen würde. Aber sollte etwas festgelegt oder zu Papier gebracht werden, so hatte er das Gerät dabei. Und er hatte, wie meistens, einen seiner Fotoapparate dabei.
Das Abendessen bei den Rastenberger war hervorragend, anders konnte Hans, der im Grunde kein besonderer Feinschmecker war, es nicht bezeichnen. Dazu wurde Wein gereicht, allerdings zog Hans Wasser vor, denn er war mit dem Wagen gekommen und wollte daher nüchtern bleiben. Zwei jüngere, weibliche Haushaltshilfen bedienten ganz dezent, freundlich und gekonnt. Hans fragte sich, wie seine Gastgeber in dieser Umgebung nicht alt werden wollten. Hier gab es alles, hier gab es Personal, und für Geld ließe sich alles haben, auch gute Pfleger und angenehme Begleiter.
Während des Essens sprachen sie über Fotografien im allgemeinen und über die Kreuzfahrten, die die Rastenberger bis jetzt unternommen hatten. Ja, die Kreuzfahrten waren schon interessante Erlebnisse gewesen, erklärte Annegret, sagte aber auch, dass ihr diese vielen Menschen nicht besonders gefallen hätten. Alles sei darauf ausgerichtet gewesen, den Menschen in der Masse Spaß zu bringen.
"Leider bin ich so etwas wie eine Spaßbremse”, gestand sie, "und dann sind solche organisierten Späße nicht das Richtige für mich. Ich weiß nie, wann ich lachen soll. Und diese Abfolge von Späßen berauben mit meiner eigenen Individualität. Das will ich nicht."
Gustav berichtete auch von seinen Investitionen in Schiffen, er besaß sogar nennenswerte Anteile an zwei Kreuzfahrtschiffen. Warum er in sie investiert hatte, konnte er nicht genau sagen außer, dass Schiffe so etwas wie seine Leidenschaft seien, auch wenn er beruflich etwas ganz anderes gemacht hatte. Natürlich waren diese Investitionen auch gewinnbringend, was für ihn schließlich entscheidend gewesen war. Während Containerschiffe gegenwärtig zum Teil wegen der niedrigen Charterraten nicht profitabel seien, dürften Kreuzfahrtschaffe gute Gewinne abwerfen, und das würde sich in naher Zukunft auch nicht ändern, erklärte Gustav. "Zehn Jahre vielleicht noch, dann könnte der Markt kippen”, sinnierte Gustav.
Die Rastenberger und ihr Gast gingen hinüber in den geschmackvoll eingerichteten Raum, den Annegret "unseren Salon" nannte. Gustav war kein Mensch, der sich lange bitten ließ. Kaum saßen sie in bequemen Sesseln, da holte er einen Hefter, dem er einige Papiere entnahm.
"Das hier sind die Unterlagen des Schiffes "Traum". Ja, wir haben das Schiff "Traum" genannt, denn es ist das, was Annegret und ich uns erträumten, womit wir übrigens noch nicht ganz fertig sind. Die technischen Daten sind alle hier. Was die Ausstattung angeht mit 200 großen Suiten und einem riesigen Bereich, der sich "owners area" nennt, so sind das nicht unsere Vorstellungen. Nach unseren vorläufigen Vorstellungen sollten wir höchstens 12 Suiten haben, einschließlich eine Suite für Annegret und mich, dann vielleicht um die 50 Doppelkabinen und vielleicht 100 Einzelkabinen. Das sind unfertige Ideen, die alle geändert werden können. Wir kommen dann auf rund 200 bis 400 Gäste, vielleicht können wir auf etwas mehr kommen. Dann hatte der Voreigentümer eine Besatzung von 180 Personen vorgesehen. Ich bin mir da nicht so sicher, denn mir scheint die Zahl viel zu hoch zu sein. Schließlich gibt es noch verschiedene Räume, in denen man sich aufhalten kann - aber darüber sollte man sich später unterhalten. Nun, meine und Annegrets Ideen sind bestenfalls Anhaltspunkte, mehr nicht. Ich dachte mir, mit irgendetwas muss man ja anfangen."
Gustav holte eine tabellarische, technische Darstellung aus dem Hefter und erklärte: "Das Schiff ist fast vollautomatisch, weshalb man nach Ansicht der Werft eine Besatzung von höchstens 50 bis 80 Mann braucht, wenn überhaupt, das aber hängt auch davon ab, wie das Schiff letztendlich aussehen wird und wofür es gebraucht wird. Es gibt einen Hybridantrieb, so ziemlich das Neueste, was es auf dem Markt gibt, sagte man uns. Für Bedienung, Steuerung und Wartung braucht man Fachleute. Man sagte mir, dass ich mit 4 oder 5 Mann dafür auskommen sollte. Schließlich braucht man noch Elektriker und Schiffsmechaniker, um den Betrieb aufrecht zu erhalten."
Gustav schaute Hans lächelnd an, der bis her noch nichts gesagt hatte. Mit Recht vermutete er, dass Gustav noch mehr zu sagen hatte. Gustav fuhr fort: "Der Zeitplan? Ich habe in Abstimmung mit der Werft für den Umbau und die anschließende Phase der Tests und behördlichen Zustimmungen 12 bis 14 Monate veranschlagt, das heißt, das ist eine sehr grobe Schätzung. In dieser Zeit müsste auch das Personal gefunden und eingestellt werden. Ich muss zugeben, dass meine Frau und ich am liebsten bereits in einer Woche auf das Schiff ziehen würden, aber das ist leider nicht realistisch." Gustav seufzte, dann sagte er noch: "In Wahrheit weiß ich nicht so recht, wie es weitergehen soll, weil mein Wissen viel zu lückenhaft ist. Außerdem glaube ich nicht, dass ich all das, was getan werden muss, richtig überwachen kann. Ich brauche dafür einen Manager."
Gustav schwieg, er schaute abwechselnd Annegret und Hans an. Dann fuhr er fort: "Natürlich könnte ich ein Beratungsunternehmen, einen Consultant, einschalten, oder ich könnte über die Werft Fachleute engagieren, die unseren Traum umsetzen könnten." Gustav schien unsicher zu sein. "Dann hätte ich einen Haufen Technokraten um mich, die mir fremd sind, und das gefällt weder meiner Frau noch mir. Vor allem wollen wir keine Technokraten. Wir wollen Leute, mit - so soll ich sagen - mit Herzblut dabei sind." Gustav steckte die Unterlagen wieder weg, und dann fügte er hinzu: "Mit Beratern oder Managementunternehmen habe ich nicht immer gute Erfahrungen gemacht, vor allem nicht im Immobilienbereich."
"Nun, Sie verstehen von diesen technischen und behördlichen Anforderungen sicherlich mehr als Annegret und ich”, räumte Gustav ein. "Aber nun kommt mein Vorschlag an Sie, und ich bitte Sie, ihn sich erst einmal anzuhören. Sie, Annegret und ich bilden eine GmbH mit einem eingetragenen Anfangskapital von € 250.000,-. 45 % des Kapitals kommt von Annegret, 45 % von mir, und 10 % von Ihnen. Ihren Anteil würden wir als eine Art vorgezogenen Bonus zahlen, das heißt, dass Sie faktisch keine Zahlung zu leisten haben. Die Gesellschaft startet mit einem Betriebskapital oder einem anfänglichen Umlaufvermögen von € 1 Million, das Geld befindet sich auf einem Sonderkonto, zu dem der Geschäftsführer Zugang hat, und aus dem alle anfänglichen Zahlungen für den Umbau, für die Personalgewinnung und für betrieblichen Ausgaben gedeckt werden."
Gustav erwärmte sich mehr und mehr bei dem Gedanken an seinen "Traum". Er sagte weiter: "Diese Gesellschaft namens "Traum GmbH" bestellt einen Geschäftsführer, und dazu würden wir Sie gern gewinnen. Als Mitgesellschafter und Geschäftsführer gehört es zu Ihren Aufgaben, den Umbau des Schiffes zu planen und umzusetzen, das Schiff technisch und personell optimal auszustatten, die Passagiere anzuwerben und den Betrieb, das heißt die erste Reise, in 12 bis 14 Monaten nach der Eintragung der GmbH in das Handelsregister zu beginnen. Wenn Sie Mitarbeiter, so zum Beispiel eine oder mehrere erfahrene Bürokräfte, benötigen, so stellen Sie sie ab sofort und nach Bedarf ein." Gustav holte tief Luft, dann fuhr er fort: "Ich nehme an, dass ich von Geld und Geldgeschäften etwas mehr verstehe als Sie, so stehe ich Ihnen als dem Geschäftsführer beratend zur Seite, wobei ich mich ganz im Hintergrund halten werde, denn in Wahrheit bin ich Rentner, und ich will im Grunde nichts mehr mit der Welt zu tu haben, die während meiner Berufszeit auch meine Welt gewesen war. Jetzt will ich mich meiner Frau widmen und wir hoffen, dass sie und ich unseren Traum in nicht zu ferner Zukunft genießen können."
Es gab eine längere Gesprächspause, dann sagte Hans:
"Ich bin überwältigt von dem, was Sie sagen, was Sie mir anbieten. Ich muss ganz ehrlich bekennen, dass ich von Geschäften dieser Art so gut wie nichts verstehe. Mehr noch, ich weiß noch nicht einmal, was genau eine GmbH ist, und was Behörden angeht, so habe ich immer einen großen Bogen um diese Dinger gemacht."
Annegret hatte bis jetzt nichts gesagt. Nun aber meinte sie ganz ruhig:
"Wir sind nicht ganz davon überzeugt, dass Sie nicht wissen, was eine GmbH ist, denn Sie studierten Betriebswirtschaft. Sie untertreiben, vielleicht mit Absicht. Aber das ist gar nicht so wichtig. Wir sind aber davon überzeugt, dass Sie unseren Traum verstehen, und dass Sie selbst auch gelegentlich ein phantasiebegabter Träumer sind. Und so stelle ich mir vor, dass wir gemeinsam den Traum Wirklichkeit werden lassen können. Wir allein schaffen es nicht, aber mit Ihnen schaffen wir es, so stellen wir es uns vor."
Hans schüttelte den Kopf, dann lachte er und sagte: "Ihnen kann ich wohl nichts vormachen."
Dann wurde er wieder ernst und meinte schließlich, dass er über diesen Vorschlag nachzudenken habe. Er habe noch nie eine vergleichbare Führungsposition gehabt Er habe einmal in einem festen Beschäftigungsverhältnis gestanden, aber das habe ihm nicht gefallen. Und dann meinte Hans noch: "Den Job zu machen, den Sie umrissen, würde mich schon reizen, wenn ich ehrlich bin, und ich denke auch, dass ich irgendetwas erreichen könnte. Aber ich brauche Zeit, um nachzudenken." Und dann fuhr Hans sehr nachdenklich fort: "Sie investieren in Ihren Traum gute zwei Millionen € oder mehr, das ist eine ganze Menge Geld. Das - und mein Gehalt - stellt doch ein großes Risiko dar. Ist Ihnen Ihr Traum so viel wert?"
"Ja, das ist er”, war Gustavs sofortige Antwort. "Gut, denken Sie nach”, sagte Gustav noch. Er schob Hans den Hefter zu und sagte weiter: "Das, was ich Ihnen gesagt habe, steht hier drin, Sie können es nachlesen. Ist es unbescheiden von mir wenn ich Sie bitte, mir in spätestens zwei Tagen das Ergebnis Ihrer Überlegungen mitzuteilen? Wir könnten uns hier wieder treffen, wenn Sie damit einverstanden sind."
Hans war damit einverstanden, was er auch sagte.
*
Hans konnte kaum schlafen, denn das Gespräch mit den netten Rastenberger ging ihm immer wieder durch den Kopf. Gegen Mitternacht stand er auf, holte sich die Unterlagen von Gustav und las sie durch. Kaum war er damit fertig, las er einige Stellen noch einmal durch um sicherzugehen, dass er richtig gelesen hatte. Dann legte er sich wieder ins Bett, aber der Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen. Der Vorschlag der Rastenberger war phantastisch. Damit wäre nicht nur seine wirtschaftliche Zukunft gesichert, was ihm noch gar nicht einmal so wichtig zu sein schien, sondern er könnte auch das planend und gestaltend tun, was er am liebsten tun würde: die sieben Weltmeere bereisen. Natürlich dürfte es Risiken geben, aber nichts ist ohne Risiko. Er befasste sich Stunde um Stunde mit den verschiedenen Aspekten des Risikos, aber er fand schließlich, dass die Risiken überschaubar zu sein schienen, obgleich er sie nicht beziffern konnte. Es gab noch eine Frage: Die Rastenberger würden eine phantastische Summe in Millionenhöhe ausgeben - für was? Für einen angenehmen Lebensabend? Sie waren ältere Leute - würden sie zumindest am Ende der Planungs- und Bauphase noch da sein? Verrückt waren die beiden Alten gewiss nicht.
Am nächsten Vormittag fuhr er erst einmal zum Verlag, nur um zu sagen, dass er wieder unterwegs sei, das hieß: er wollte fotografieren und sei für eine ganze Weile nicht verfügbar. Dann ging er ein wenig ziellos erst durch die Innenstadt, dann zur Alster, und schließlich an die Elbe. Natürlich hatte er seine Fotoapparate dabei, und natürlich fand er "im Vorbeigehen" etwas Interessantes zum Fotografieren. Aber er war mit seinen Gedanken nicht richtig dabei. Er fühlte sich abgelenkt. Es war März, beginnender Frühling, und es gab bereits Menschen, die das bisschen Sonne genießen wollten, aber es dauerte doch eine ganze Weile, ehe er den "Objekten" die nötige Aufmerksamkeit schenkte.
Sein erstes Fotomotiv fand Hans an der Alster, ein in einer alten Decke eingewickelter Mensch liegend auf einer Bank. War dieser Mensch eine Frau oder ein Mann? Hans schaute genauer hin. Es war eine Frau, deren faltenreiches Gesicht kaum als das Gesicht einer Frau erkennbar war. Sie mochte gespürt haben, dass einer der Passanten stehen geblieben war, denn sie richtete sich auf und schaute Hans fragend an. Sie hatte ein altes Gesicht, was aber nichts heißen mochte. Menschen im Elend sehen oft alt aus, wusste Hans.
Hans lächelte sie an und fragte, ob sie die ganze Nacht hier gewesen war.
"Wer will das wissen?" kam es aus der Gestalt.
"Ich frage mich nur, ob es nicht zu kalt gewesen war - ich meine, der Winter ist zwar vorbei, aber nachts ist es noch immer sehr kalt."
Die Alte brummte, dann sagte sie, Hans solle verschwinden, er störe nur. Hans machte ein ernstes Gesicht und nickte.
Hans verließ die Frau, allerdings hatte er einige Fotos gemacht, und er nahm sich vor, sich diese sehr genau anzuschauen, vielleicht könne er einige der Bilder gut verwerten. "Licht und Schatten" dürfte das passende Motto für eine kleine Sammlung von Fotos sein, die das Schöne und das Hässliche nebeneinander zeigen. Vielleicht könnte er seinen Verlag dafür interessieren. Es fing zu regnen an. Was würde die Frau auf der Bank tun? fragte er sich. Er wollte es wissen. Er eilte den ganzen Weg zurück bis zur Bank, auf der die Frau gelegen hatte - sie war nicht mehr da.
Es war später Nachmittag, als er zur Clubsauna in St. Georg ging. Seit seine Freundschaft zu Ende gegangen war, hatte er den Club und die dazugehörende Sauna öfter als sonst aufgesucht - gewiss nicht täglich, aber doch oft genug, um sich zu entspannen, um auf andere Gedanken zu kommen. Dabei mied er die schrillen Typen, die exaltierten Typen die immer der Ansicht waren, man müsse sich "outen". Hans machte kein Geheimnis aus seinem "Anderssein", aber er ging damit nicht hausieren.
Er blieb dort recht lange, ehe er mit der U-Bahn zu Hohe Luft fuhr, und von dort zu den Grindelhochhäusern ging, wo er im vierten Stock in einem der Häuser wohnte. Es war ein kleines Apartment, sehr spartanisch möbliert, aber das genügte ihm. Er war so oft unterwegs gewesen, sodass ihm eine größere Wohnung mit vielen Kostbarkeiten nur Last gewesen wäre, von den Kosten einmal ganz abgesehen. Als Erwin noch lebte, hatte er - mit ihm - eine wesentlich größere und schöne Wohnung in Othmarschen gehabt. Die hatte er aufgegeben, und was zu verkaufen gewesen war, hatte er verkauft. Was geblieben war, hatte Platz in einem Karton gefunden. Mehr, und vor allem Schnick-Schnack, brauchte Hans nicht.
Das Grindelviertel, in dem Hans wohnte, war einst, in der Zeit von etwa 1905 bis nach dem 1. Weilkrieg, ein Zentrum des jüdischen Lebens gewesen, vor allem in den Bereichen Kultur und Bildung. Hans hatte sich immer wieder vorgenommen, mehr darüber zu erfahren, aber er war davon abgekommen, denn für genauere Nachforschungen fehlte ihm die Zeit und auch das Geld. Und jetzt gab es wieder einen Grund, seine Neugier zu zügeln - das Angebot der Rastenberger war nun dazwischen gekommen.
Am nächsten Vormittag rief er Gustav Rastenberger an und erklärte, dass er Gefallen an der Traum-Idee gefunden habe, und er würde sich sehr gern noch einmal darüber unterhalten. Es war unverkennbar, dass Gustav sich über die Entscheidung von Hans freute, und als Hans sich am frühen Abend in dessen Villa einfand, schien es für einen Augenblick, als würde Gustav den jüngeren Mann in die Arme nehmen, was er aber nicht tat. Auch Annegret freute sich, Hans wieder zu sehen und zu erfahren, dass er an dem Projekt "Traum" interessiert sei.
"Sie haben sich richtig entschieden”, erklärte Annegret mit einem Lächeln. Als Hans sie fragend anschaute, sagte sie weiter: "Der Traum ist es wert, gelebt zu werden."
Während des Abendessen begannen sie bereits, sehr konkrete Pläne zu diskutieren, die zeigten, dass sich Gustav und Annegret schon seit langer Zeit mit dem Projekt "Traum" befasst hatten. Gustav würde am nächsten Tag mit seinem Anwalt die nötigen rechtlichen Schritte besprechen und einleiten, um zum einen die Partnerschaft vertraglich abzusichern, und um die richtigen Schritte zur Gründung und Eintragung einer GmbH zu tun. Zu diesem Zweck müsste Hans ihm seine Daten angeben, vor allem Geburtsdatum, Wohnort, und dergleichen mehr. Er würde in der Bank ein Sonderkonto einrichten, aus dem alle anfallenden Kosten abzudecken seien und zu dem Hans Vollmacht erhalten würde. Gustav betonte, dass er nicht mit Krediten operieren werde, denn es seien genügend Eigenmittel vorhanden, die er kurzfristig aus Anlagen herausziehen würde. Kredite würde das ganze "Traumprojekt" nur teurer machen.
Hans seinerseits würde die Hamburger Werft aufsuchen, die das Schiff gebaut hatte und wo das Schiff auch lag, um das Schiff zu besichtigen und um Möglichkeiten und Kosten des Umbaus zu besprechen.
"Das sind alles Details”, meinte Annegret, "aber wann fangen wir an? Wann ist Tag 1?"
"Das war heute”, antwortete Gustav. Hans musste lachen. Das Projekt "Traum" hatte begonnen, ab jetzt musste er intensiv arbeiten.
Es war spät, als Hans die Rastenberger verließ. Gustav und Annegret waren noch nicht müde, sie saßen noch eine ganze Weile im sogenannten Salon. Sie konnten noch nicht schlafen, sie waren viel zu sehr freudig erregt.
"Jetzt gibt es kein Zurück”, meinte Annegret, und sie lachte. Sie freute sich auf die Verwirklichung des Projektes. Das Schiff für die Senioren sei immer noch besser als ein Seniorenheim, es sei auch besser, als dieses Haus mit dem Grundstück zu behalten. Alleine könnten sie das Haus nicht in Ordnung halten, und immer auf fremde Hilfe angewiesen zu sein sei auch nicht gerade lustig. Zur Zeit beschäftigten sie fünf fest angestellte Hilfen, drei im Haus, zwei im Garten. Sie hatten ordentliche Verträge, Steuern und Sozialabgaben mussten abgeführt werden. Annegret nahm sich vor, sich mit den Angestellten zusammenzusetzen, um ihnen die Pläne mitzuteilen.
*
Herbert Vandelt war eine große, eindrucksvolle Erscheinung. Er war gewiss um die 1.90 m groß, sehr schlank, stets äußerst sorgfältig und elegant gekleidet. Alles an ihm war von einer sorgfältigen Eleganz, das fing mit der Frisur seiner weißblonden Haare an und hörte bei den Schuhen auf, die so aussahen, als seien sie zum ersten Mal in Gebrach genommen worden. Sehr beeindruckend war auch seine tiefe Stimme, er sprach langsam, einprägsam und die banalsten Dinge klangen aus seinem Mund immer sehr wichtig.
Auf Empfängen und Gesellschaften am Rande von Kongressen war Herbert stets eine gefragte Figur. Damen und Herren suchten Gespräche mit ihm, denn er vermittelte immer den Eindruck, als höre er gut zu, als gebe es nichts Wichtigeres als das, was der Gesprächspartner gerade zu sagen hatte. Herbert Vandelt galt in der Geschäftswelt als einflussreicher Türöffner, als Lobbyist erster Klasse. Er kannte "Gott und die Welt", wie man so sagte, und er hatte seine Freunde in fast allen wichtigen Schlüsselpositionen und Gremien. Brauchte man seine Unterstützung bei schwierigen Kreditverhandlungen, oder bei der Zusammenlegung oder Zerschlagungen von Firmenteilen, so war er der richtige Mann. Gewiss, er hatte seinen Preis, aber das waren die Ergebnisse auch wert. Es sah auch so aus, als sei er stets gut informiert, aber er stand auch in dem Ruf, diskret zu sein.
Es schien in der Wirtschaft Mode geworden zu sein, gestandene, gut gehende Unternehmen zu untersuchen, um einige Geschäftsbereiche auszugliedern. Da hieß es, dass zum Beispiel der gesamte Transportbereich auszugliedern sei, oder dass sogar Teile der Mitarbeiter in einer neuen Firma zusammengefasst werden sollen, um dann wieder an die alten Produktionsstätten "ausgeliehen" zu werden. Bei diesen Machenschaften wurde kurzfristig viel Geld verdient - bei den Managern, denn es gab neue, gut dotierte Managementpositionen. Mittel- und vor allem langfristig führte so etwas sehr oft zum Ruin. Das gehobene Management hatte Vorteile, das mittlere und untere Management sowie die meisten Arbeiter und Angestellten zahlten die Zeche, und viele verloren den Job. Es gab dabei auch steuerliche Vorteile, vor allem, wenn Verluste geschrieben wurden. Dann zahlte der Fiskus die Zeche ganz oder teilweise.
Herbert war Spezialist solcher Machenschaften, und er verdiente gut daran. Fragte man nach seinem Beruf, so antwortete er, er sei Firmengründer. Er war nicht Unternehmensgründer, denn meistens blieb das Unternehmen bestehen, das aber plötzlich in zwei oder drei Firmen aufgeteilt wurde Herbert war natürlich bestens vernetzt, was die führende Wirtschaft und die Politik betraf. Er kannte natürlich auch Gustav Rastenberger - es war so etwas wie eine Pflicht, solch einen millionenschweren Menschen zu kennen. Und so traf man sich bis zu Gustavs Ausscheiden in verschiedenen Ausschüssen, tauschte Neuigkeiten aus, wenn es denn welche gab. Gustav war, was seine Geschäfte bis zu seinem Ausscheiden betraf, sehr "zugeknöpft", und es war nie einfach, gute Informationen aus ihm herauszuholen. Und doch, oder vielleicht gerade deshalb pflegte Herbert die gute Beziehung zu Gustav.
Das hörte auch nicht ganz auf, als Gustav sich vollends aus dem aktiven Wirtschaftsleben zurückgezogen hatte. Auch im Ruhestand war Gustav "millionenschwer", und das viele Geld, für das Herbert viele gute Ideen hatte, existierte noch. So kam es, dass Herbert gelegentlich nach Harburg fuhr, ganz einfach, um sich nach Gustavs Wohnbefinden zu erkundigen. Natürlich sprach man da auch über die fortlaufenden Änderungen in Politik und Wirtschaft, über Zusammenbrüche, über Neugründungen, und gelegentlich fragte Herbert indirekt und gewiss nicht aufdringlich, was Gustav denn mit seinem Geld vorhabe.
"Aufessen”, hatte Gustav lachend geantwortet, und mehr konnte Herbert nicht auf ihm herauslocken. Aber so schnell war Herbert nicht zu entmutigen.
Herbert wusste, wohin Gustav einen großen Teil des Vermögens gesteckt hatte: Immobilien und Schiffe, und dann gab es auch noch einigen Streubesitz. Herbert wusste, dass Gustav mit seinen Investitionen in der Passagierschifffahrt gutes Geld verdiente, dass jedoch die Immobilien nicht ganz so gut liefen, was vielleicht daran lag, dass eine Managementfirma die Immobilien verwaltete und damit "den Rahm abschöpfte", so dachte Herbert. Und vor ein paar Tagen hatte er gehört, dass es auf den Konten von Gustav einige Bewegungen gab, für die es offensichtlich nicht keine vernünftige Erklärung gab.
Eines Abends kam Herbert - nach vorheriger Anmeldung - zu den Rastenberger in Harburg
"Ich gratuliere”, erklärte Herbert sehr bald nach der Begrüßung. Auf Gustavs Frage, was der Grund für dieses Gratulieren sei, antwortete Herbert: "Sie haben sich eine große Yacht gekauft!"
Gustav, etwas überrascht, lud erst einmal zu einem gemütlichen Schluck Wein ein, dann setzten sie sich in den Salon - Gustav, Annegret und Herbert. Dann erst reagierte Gustav auf das, was Herbert indirekt gefragt hatte.
"Ja, eine Yacht - eigentlich ist sie etwas groß geraten für uns alte Leute, aber es ist doch ein schönes Boot. Meine Frau und ich meinen, dass wir mit dem Boot einige Touren machen könnten, mit entsprechender Besatzung und vielleicht Gästen natürlich." Mehr erfuhr Herbert nicht, aber er mochte nicht recht glauben, dass sich Gustav nur zum privaten Vergnügen so ein Schmuckstück gekauft hatte. Nun, er war sich sicher, mehr darüber zu erfahren, wenn nicht jetzt und von Gustav, so doch von der Reederei oder der Werft - und im Übrigen hatte er Zeit.
Herbert erzählte mit einigem Vergnügen von den Schwierigkeiten in der Autobranche, und die Schwierigkeiten hatten zunehmend auch mit der Umwelt und der Umweltverschmutzung zu tun. Er erzählte mit einer amüsanten Leichtigkeit, als würde er die großen Bosse der Autoindustrie persönlich kennen - vielleicht tat er das sogar, vermutete Annegret. Gustav hörte zu, gelegentlich sagte er auch ein Wort dazu. Noch vor drei oder vier Jahren hätte ihn das Gerede interessiert, jetzt nicht mehr.