Genossen!

Genossen!
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Genosse kommt von genießen! Sich emphatisch als Genosse anzusprechen mag etwas aus der Mode gekommen zu sein. Dabei ist diese Beziehung eine der fruchtbarsten, intensivsten und handlungsmächtigsten überhaupt – wenngleich nicht ungefährlich.
Jodi Dean schreibt die bislang fehlende Theorie des Genossen und greift dabei auf viele kulturelle und historische Beispiele zurück, von Zetkin bis Obama, von Lubitsch bis Sartre. Sie ruft die Linken auf, die Möglichkeit spontaner, unorganisierter Veränderung aus dem Alltag heraus nicht zu überschätzen. Denn nur als Genossen vermögen wir in den Weltenlauf einzugreifen – und das ist in Zeiten des Neoliberalismus und Klimawandels dringender denn je.
Der Begriff «Genosse» entstand im 16. Jahrhundert und bezeichnete zunächst Soldaten, die eine Baracke teilten. Im politischen Kontext ist er eine ebenso symbolische wie praktische Figur und bedeutet gleichermaßen Freude und Disziplin. Man muss sich nicht unbedingt mögen, um eine Ideologie zu teilen, gemeinsam zu handeln und sich solidarisch zu unterstützen.
Genossen können allerdings auch zu schlimmsten Feinden werden, und viele ihrer Gemeinschaften münden in Resignation, Abdriften oder im Ausschluss. Aber bestenfalls können sie große Kraft und Enthusiasmus entfalten, jenseits von restriktiver Vereinnahmung.

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Jodi Dean. Genossen!

1. WIE AUS UNTERSTÜTZERN GENOSSEN WERDEN

Von Überlebenden und Systemen

Wie aus Unterstützern Genossen werden

2. DER GENERISCHE GENOSSE

Die Genossin

Der schwarze Genosse

Die These vom Schwarzen Gürtel

Die Negativität von »Genosse«

3. VIER THESEN ZUM KONZEPT GENOSSE

Erste These: »Genosse« benennt ein Verhältnis, das sich auszeichnet durch Gleichheit, Gleichstellung und Solidarität. Für Kommunisten sind diese Gleichheit, Gleichstellung und Solidarität utopisch, denn sie durchbrechen die Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft

Zweite These: Jeder kann, aber nicht alle können Genosse sein

Allgemein statt einmalig

Dritte These: Das Individuum (als Sitz der Identität) ist der »Andere« des Genossen

Vierte These: Die Beziehung zwischen Genossen ist vermittelt durch die Treue zu einer Wahrheit. Praktiken der Genossenschaftlichkeit materialisieren diese Treue und verankern die Wahrheit in der Welt

4. MEIN GENOSSE BIST DU NICHT

Der Ausschluss

Der Austritt

Die Abkehr

Das Ende der Welt

Danksagung

Anmerkungen

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In seiner letzten Rede beim alljährlichen Galadinner der Hauptstadt-Korrespondenten in Washington, D.C. nahm Präsident Barack Obama den Senator Bernie Sanders mehrfach scherzhaft aufs Korn. Sanders führte im Frühsommer 2016 einen überraschend starken Vorwahlkampf gegen die aussichtsreichste Präsidentschaftskandidatin der Demokratischen Partei, die ehemalige Außenministerin Hillary Clinton. Nach einigen Freundlichkeiten für Prominente und Politiker kam Obama auf Sanders zu sprechen:

Das »Phänomen Bernie«, und vor allem seine Anziehungskraft auf junge Leute, hat viele überrascht. Mich nicht, ich verstehe das. Erst kürzlich sprach mich eine junge Frau an und sagte, sie habe es satt, dass die Politiker ihren Träumen ständig im Weg stünden. Als hätten wir unsere 17-jährige Malia dieses Jahr vielleicht zum Burning Man-Festival fahren lassen. (Gelächter.) Undenkbar. (Gelächter.) Bernie hätte sie womöglich fahren lassen. (Gelächter.) Wir aber nicht. (Gelächter.)

.....

Carl Schmitt charakterisiert den Liberalismus bekanntermaßen als das Ersetzen der Politik durch Ethik und Wirtschaft.29 Vergleichen wir nun die Politikverdrängung, die dem Neoliberalismus eigen ist: Da wären individualisierte Selbstfindung, Selbstmanagement, Eigenständigkeit, Ichbezogenheit und – gleichzeitig – ausschlaggebende unpersönliche Prozesse, Kreisläufe und Systeme. Wir haben verantwortliche Individuen, die verantwortlich gemacht und als Zentren autonomer Entscheidung dargestellt werden; und wir haben Individuen, die mit ausweglosen Situationen konfrontiert sind, auf die sie keinerlei Einfluss haben. Die neoliberale Verdrängung der Politik manifestiert sich nicht in Ethik und Wirtschaft, sondern zwischen den Polen »Überlebende« und »Systeme«. Erstere kämpfen um ein Überleben in unwürdigen Verhältnissen, anstatt gegen diese Verhältnisse vorzugehen und sie umzugestalten. Bei Letzteren handelt es sich um Systeme und »Hyperobjekte« (oftmals Gegenstände einer gegenwärtigen oder künftigen Ästhetik), die uns einschränken – Dinge also, die wir sehen und darstellen, vorhersagen und wohl auch beklagen, aber nicht beeinflussen können.30

Verwundbarkeit ist für Überlebende kein Abstraktum. Einige schätzen sie letztlich sogar und leiten ihr Selbstbild daraus ab, dass sie es trotz aller Widrigkeiten schaffen, zu überleben. Die Soziologin Jennifer Silva interviewte eine Reihe von Arbeiterjugendlichen in Massachusetts und Virginia.31 Viele betonten ihre Eigenständigkeit, auf die sie setzten, weil die Erfahrung sie lehrte, dass Andere sie wahrscheinlich immer wieder im Stich lassen oder hintergehen würden. Wenn es ums Überleben geht, könnten sie nur auf sich selbst zählen. Einige haben Krankheiten oder Drogenabhängigkeit erlebt, andere mussten zerrüttete Familien oder gewaltsame Beziehungen überwinden. In ihren Augen ist der Überlebenskampf das Kernmerkmal einer als würdevoll und heldenhaft imaginierten Identität, die sich nur selbst erschaffen kann.

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