Literaturstreit und Bocksgesang

Literaturstreit und Bocksgesang
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Nach dem Literaturstreit um Christa Wolf kommt es im vereinten Deutschland zu einem tiefgreifenden Wandel im Verhältnis von literarischer Autorschaft und öffentlicher Meinung.
Mauerfall und Wiedervereinigung haben die Produktion von Literatur grundlegend verändert. Neue Formen der Erzeugung von medialer Aufmerksamkeit lassen das alte Modell kritischer Öffentlichkeit zunehmend fragwürdig erscheinen. An die Stelle von literarischer Autorschaft als moralischer Instanz tritt der Skandalautor, der durch intervenierende Texte den Kultur- und Medienbetrieb provoziert und stört. Jürgen Brokoff fragt nach ästhetischen Formen und politischen Funktionen dieser Interventionen im öffentlichen Meinungsbildungsprozess. Am Beispiel von Christa Wolfs Erzählung «Was bleibt» und Botho Strauß` Essay «Anschwellender Bocksgesang» analysiert er die Verschlingung von Literatur und Politik im vereinten Deutschland und verknüpft auf neue Weise Aspekte der Literaturästhetik und Textinterpretation mit Fragen der Meinungsforschung.

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Jürgen Brokoff. Literaturstreit und Bocksgesang

Inhalt

I. Einleitung: Literarische Autorschaft und intellektuelle politische Öffentlichkeit

II. Ein Anfang und ein Ende der deutschen Nachkriegsliteratur. 1. 1947 – Westdeutsche Neubestimmungen literarischer Autorschaft und öffentlicher Meinungsbildung

2. 1990 – Christa Wolfs Erzählung Was bleibt, der deutsch-deutsche Literaturstreit und ein Strukturwandel der Öffentlichkeit

3. Nach 1990 – Folgen für das Verhältnis von Literatur und Öffentlichkeit

III. »Das Wort ist gefallen: Rechts.« Literarische Autorschaft und öffentliche Meinung nach dem deutsch-deutschen Literaturstreit. 1. Botho Strauß’ Essay Anschwellender Bocksgesang im Kontext des öffentlichen Meinungsstreits

Themen

Gesellschaft

Politik

Intellektuelle und Massenmedien

2. »Jenes ›Rechte‹, um das der Streit noch geht« – Strauß und kein Ende

IV. Ausblick: Literatur und Öffentlichkeit einer »geschwätzig plappernden Spezies«

Anmerkungen

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Kleine Schriften zur literarischen

Ästhetik und Hermeneutik

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Für den hier interessierenden Zusammenhang ist es wichtig, dass die Spiegel-Reportage, die Strauß vorab eine negative Haltung zur aktuellen Flüchtlingshilfe zugeschrieben hatte, zum diskursiven Kontext der Glosse Der letzte Deutsche gehört. Sie bildet gewissermaßen den Schreibanlass für die Glosse, die gemäß den Gesetzen der Gattung in Form eines spöttischen Kommentars auf politische oder publizistische Ereignisse reagiert. In dieser Glosse, die die zwei Wochen zuvor erschienene Reportage mit keinem Wort erwähnt, nimmt Strauß nun in der Tat kritisch zu aktuellen Fragen von Flucht und Migration Stellung. Er macht sich dabei, wie er selbst schreibt, zur »komischen Figur« (124): Er sei der »letzte Deutsche« (122), der als verbliebenes »Subjekt der Überlieferung« (123) fest daran glaube, »Hüter und Pfleger der Nation in ihrer ideellen Gestalt zu sein« (124). Ungeachtet der vom Autor selbst eingestandenen und vom Feuilleton durchweg ignorierten Komik, die auch im ironisierten Anspruch besteht, »immer von irgendwas ein Letzter sein zu wollen« (122), provoziert und stimuliert Strauß sein Publikum durch Reizwörter. So schreibt er, dass er lieber »in einem aussterbenden Volk« leben möchte als in einem, »das aus vorwiegend ökonomisch-demographischen Spekulationen mit fremden Völkern aufgemischt, verjüngt wird« (123). Er beklagt den in der öffentlichen Diskussion zu verzeichnenden Raub der »Souveränität, dagegen zu sein« (123) und fragt danach, ob »den Deutschen Besseres passieren [könne], als in ihrem Land eine kräftige Minderheit zu werden« (ebd.). Und er thematisiert eine seiner Ansicht nach verbreitete »Sorge« (124) über die »Flutung des Landes mit Fremden« (ebd.) und kritisiert die von ihm beobachtete Haltung der »Selbstaufgabe« (ebd.), derzufolge »endlich Schluss sein [wird] mit der Nation und einschließlich einer Nationalliteratur« (ebd.).

Es ist nicht zu entscheiden, ob die mit den zitierten Formulierungen verbundene politische Positionierung, die auch sprachkritisch zu analysieren sein wird, auf eine seit Längerem bestehende Haltung des Autors schließen lässt, wie viele seiner Gegner und Kritiker annehmen, oder ob sie durch die Reportage erst angestoßen wurde. Es wäre nicht das erste Mal, dass die öffentliche Markierung als Rechtspopulist, Antidemokrat oder Ausländerfeind zu einer nachträglichen Bestätigung der Vorwürfe durch die davon Betroffenen führt.[14] Unabhängig von dieser Frage aber, die nur sozialpsychologisch beantwortet werden kann, sind an die Beurteilung der Glosse – und der causa Strauß insgesamt – in textanalytischer Hinsicht zwei Mindestanforderungen zu stellen.

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