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Tot oder lebendig
25. Mai 1944.
Die Jagd auf Marschall Tito
Edition Zeitpunkte
Impressum:
Titel des Buches: „Tot oder lebendig. 25. Mai 1944. Die Jagd auf Marschall Tito“.
Erscheinungsjahr: 2021.
Inhaltlich Verantwortlicher:
Edition Zeitpunkte
Kai Althoetmar
Am Heiden Weyher 2
53902 Bad Münstereifel
Deutschland
Text: © Kai Althoetmar.
Titelfoto: Titos Stab in Drvar. Foto: Max J. Slade, Imperial War Museum (gemeinfrei).
Verlag und Autor folgen der bis 1996 allgemeingültigen und bewährten deutschen Rechtschreibung.
Die Recherchen zu diesem Buch erfolgten eigenfinanziert und ohne Zuwendungen oder Vergünstigungen Dritter.
1. Der Vorabend. Schach und Fallschirmseide
Seit Tagen war es unruhig. Gerüchte, Meldungen gingen um. Immer neue überraschende Züge in diesem Schachspiel aus Information und Desinformation machte irgendwer. Mal warfen die Deutschen falsche Köder, dann wieder fielen Häppchen wahrer Nachrichten ab. Würde er „Tiger“ so ein Futter zuwerfen, der Hund würde neurotisch, der treue Elsäßer, sein geliebter Schäferhund, den er den Deutschen abgenommen hatte. Jetzt lag das treue Tier in der Baracke und döste.
Was sollte er noch glauben? Er, der Marschall, der Führer im Volksbefreiungskampf, die Hoffnung Hunderttausender von Kämpfern in seinen Reihen, Millionen jugoslawischer Männer und Frauen, die keinen König, keinen Hitler und keinen Poglavnik über sich wollten. Heute abend würde es wohl nichts mit seinem geliebten Schachspiel. Edvard muß warten, Edvard Kardelj, sein Freund, mit dem er sonst in Bastasi König und Dame kreuzte, in jenem anderen Höhlenversteck bei dem trostlosen Bauerndorf, sechs Kilometer von hier.
Unten im Tal steht der Jeep, mit dem er und Edvard gekommen sind. Heute abend würden sie bleiben und hier übernachten. Heute abend ist Feiern angesagt, hier in Drvar, seinem Hauptquartier, dem Zentrum, von dem das kommende, das neue Jugoslawien ausgehen soll. Morgen würde er 52 sein. Die meiste Zeit davon Kampf, Untertauchen, Durchhalten. Beobachten, hinhören, mißtrauisch bleiben, sich bedeckt halten, das hat ihn überleben lassen, in der Diktatur des Königs, in Moskau im Exil, im Krieg. Diesem verdammten Krieg der Deutschen. Dem Krieg, der die große Chance ist.
Er zieht die Vorhänge aus Fallschirmseide beiseite, schaut durch das Fenster über die Veranda hinweg. Hinter seinem Schreibtisch, an der Holzwand der Baracke, hängt eine britische Militärkarte Jugoslawiens. Er hat genau im Kopf, wo seine Leute stehen und wo der Feind steht. Er blickt in den frühen Abendhimmel und ins Tal. Durch die Berge ziehen kurze Gewitter, das Flüßchen Unac rauscht durch das Tal. Unten zwitschern noch die Vögel aus Gebüsch und Gesträuch, wie von Vivaldi komponiert. Noch einmal öffnet sich der Wolkenvorhang für letzte Garben der wegdämmernden Frühlingssonne. Ist etwas im Anzug? Er, der Marschall, weiß nicht, was kommt.
2. Nach Drvar
Am Waldrand warnen rote Schilder: „Vorsicht, Minen!“ Im Wald arbeiten Holzfäller mit Rückepferden. Der blaue Kleinbus, in den wir uns in Bosnisch Petrovac mit Rucksäcken, Zelt, Campinggeschirr und allerhand in Mostar erworbenen Souvenirs, Honigtöpfen, Sirupflaschen und hausgemachten Schnäpsen gequetscht haben, verbindet Banja Luka mit Bosnisch Grahovo. Bei der Fahrt hinauf ist mir, als müsse ich irgendwie mit Armen und Beinen Schubhilfe leisten, den Berg hinunter meldet sich vor jeder Kurve mindestens ein Fuß, der mit auf die Bremse treten will. Beim Dorf Koluniæ fesselt eine Partisanengedenkstätte meine Aufmerksamkeit. Eine Steintafel listet die toten Tito-Kämpfer auf. Das Jahr 1943 ragt als Sterbejahr heraus. Das Steinrelief, eingefaßt von einem Mäuerchen, zeigt im Hintergrund Zivilisten, im Vordergrund Partisanen, die auf behelmte deutsche Soldaten schießen. Die Deutschen haben Panzer und Halbkettenfahrzeuge, die Partisanen nur Gewehre. Der rote Stern ist verwittert. Zum sozialistischen Realismus lassen sich auch die zerschossenen Häuser im Ort zählen. Zerstört im letzten jugoslawischen Bürgerkrieg, gewissermaßen dem Rückspiel zu 1941-45. Über die Wiesen zieht ein Schäfer mit Hund und Herde.
Am Rückspiegel des Fahrers baumelt ein gelber hölzerner Weihnachtsbaum in Scherenschnittoptik. In der linken Hälfte hat die Windschutzscheibe Risse, rechts noch keine. Vor Oštrelj, auf 1.030 Meter Höhe, wieder ein Schild. „Vorsicht, Steinschlag!“ Das Dorf ist fast völlig verwaist. Parallel zur Paßstraße verläuft die alte Steinbeisbahn, die Prijedor mit Knin verband. Der bayerische Unternehmer Otto Steinbeis exportierte von 1902 bis 1918 per Schmalspurbahn Holz aus dem waldreichen k.u.k.-Bosnien. Der Zug, den Tito und seine Partisanen noch im Krieg nutzten, steht einsam unter einer Holzüberdachung im Wald. Aus dem Radio tönt Hardrockmusik.
Drvar. Das einzige Hotel im Ort, ein rosarot gestrichener Kasten mit Wellblech überdachter Terrasse, ist auf Tage ausgebucht. Eine Hochzeitsgesellschaft hat sich im „Drvar“ einquartiert. Der Rezeptionist beschreibt uns den Weg zu einer anderen Unterkunft, der Titova folgen, vor der Tankstelle links hoch auf die M 14.2., immer die Ausfallstraße entlang, bis zur nächsten Tankstelle. „Madeira“ heiße das Restaurant, der Wirt habe ein paar Zimmer.
3. Der Angriff beginnt
Hügelland, Berg und Tal, wo man hinschaut: die Ausläufer des 1.706 Meter hohen Lunjevaèa, das Jasenovac-Gebirge im Norden. In allen anderen Himmelsrichtungen rahmen wellige Hügel wie Ausbuchtungen einer hingeworfenen Decke den abgelegenen Ort ein. Nur drei unzulängliche Straßen und eine Schmalspurbahn führen aus dem Niemandsland der näheren Umgebung in das bosnische 2.000-Seelen-Städtchen. Es lebt von der Holzwirtschaft. Die meisten Menschen arbeiten, wenn kein Krieg ist, im Sägewerk oder in der Zellstoffabrik. Die Bombardierungen der Deutschen haben den Großteil der Einwohner fliehen lassen. Im Mai 1944 leben nur noch rund 200 Menschen in Drvar. Jetzt aber ist die Stadt wieder voller junger Gesichter. Es sind die zahlreichen Teilnehmer des antifaschistischen Jugendkongresses, der in den vergangenen Tagen hier stattfand.
Im Ort werden die letzten Vorbereitungen zur Feier von Titos 52. Geburtstag getroffen. Die Deutschen wissen nichts von diesem Umstand. Eine Kennkarte bei der Zagreber Polizei weist den 12. März 1892 als Geburtstag des Josip Broz aus. Quellen des italienischen Innenministeriums verweisen auf den 7. Mai als Geburtstag. Wegen der geplanten Feier ist Broz, Kampf- und Parteiname Tito, in der Dämmerung mit seinem Genossen Edvard Kardelj aus Bastasi gekommen, wo sie - was die Deutschen nicht wissen - versteckt den Tag verbringen. Mit dem Slowenen Kardelj, 34, Lehrer, intellektueller Nickelbrillenträger, Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ), des engsten Machtzirkels der Partisanen, arbeitet Tito dort in einer anderen Höhle. Eine Kompanie des Begleitbataillons, das das Partisanenhauptquartier schützt, ist in der Nähe stationiert.
Am Abend des 24. Mai 1944 gibt Tito einen Empfang für die engsten Mitarbeiter seines Stabes und die Vertreter der Militärmissionen der Briten, Amerikaner und Sowjets. Darunter sind Randolph Churchill, der Sohn Winston Churchills, der Amerikaner Colonel George Kraigher, Abgesandter von General Ira Clarence Eaker, Oberbefehlshaber der Alliierten Luftstreitkräfte des Mittelmeeres, und sein Landsmann Lieutenant Robert Crawford, der den nächsten Tag nicht überleben wird.
Die Stabsleute und Missionsangehörigen sitzen gesellig bei einem Festessen zusammen, anschließend wartet eine Filmvorführung. Gezeigt wird „Soja“, ein mit dem Stalinpreis dekorierter Film über die sowjetische Partisanin Soja Kosmodemjanskaja, die 1941 im Alter von 18 Jahren von den deutschen Besatzern in Rußland hingerichtet wurde. Die Nacht bleibt Tito ausnahmsweise im Hauptquartier der Partisanen und kehrt nicht nach Bastasi zurück. Die Feierlichkeiten zu seinem Geburtstag am nächsten Tag erfordern schon früh seine Anwesenheit. Er schläft in einer der beiden Holzbaracken vor dem Eingang zur Höhle. Sein Schäferhund „Tiger“ und Davorjanka Paunoviæ, genannt Zdenka, 23, eine temperamentvolle Serbin, sind mit ihm in der Hütte. Zdenka ist seine Sekretärin - und seine Geliebte.
Die Baracke steht neben einer zweiten gegenüber dem Eingang der natürlichen Höhle, die versteckt im Berghang liegt, der die Stadt von Norden überragt. Eine meterbreite Naturspalte im Fels führt vom Tal etwa 25 Höhenmeter zur Öffnung der Höhle hinauf. In der Mitte der Spalte ergießt sich in der regnerischen Jahreszeit und während der Schneeschmelze ein Bach wasserfallartig ins Tal hinab und fließt in den Unac. Vor der Höhle hat die Ingenieurbrigade einen Holzboden mit Planken, eine Veranda mit Brüstung und ein paar Treppenstufen gelegt.
Die beiden Baracken sind mit Blattwerk und Zweigen getarnt, als hinge wallendes Efeu herab. Das Haus, das Tito zuvor in der Stadt belegt hatte, mußte er aufgeben. Wegen der Gefahr deutscher Luftangriffe. Für seine Arbeit bekam er eine Baracke. Der Eingang hat statt einer Tür eine Brustwehr. Die Wände sind aus zwei Doppellagen Baumstämmen. Zwischen den Lagen ist Sand einen halben Meter hoch eingefüllt. Auf einem Tisch stehen mehrere Feldfernsprecher, eine Funkapparatur und zwei Schreibmaschinen. In dem anderen Raum sind sechs Feldbetten aufgebaut. In den Regalen reihen sich Aktenordner und Kartons. In den Räumen sind Mäntel, Mützen, Karten, Geschirr verteilt. Eine Reihe von Panzerlampen gibt in der Dunkelheit notdürftig Licht.1
In den beiden Baracken trifft Tito sich oft mit seinem Stab. Bei Luftangriffen ziehen sie sich in die Höhle zurück. Das Baracken-Höhlen-Provisorium ist das Hauptquartier des Oberkommandos der Volksbefreiungsarmee und des Politbüros der KPJ. Unmittelbar davor stehen drei mit Maschinenpistolen bewaffnete Wachposten, zwei weitere unterhalb im Tal bei den Truppenunterkünften. Von der Veranda reicht der Blick über ganz Drvar, das Unactal und die Hügellandschaft.
Noch am Abend geht ein Anruf der 6. Proletarischen Brigade der Tito-Partisanen beim diensthabenden Offizier in Drvar ein. Der Anrufer erklärt, es sei auf dem Hilfsflugplatz in Bihaæ, 80 Kilometer nordwestlich von Drvar, eine größere Zahl deutscher Flugzeuge gelandet. Der Offizier erhält den Auftrag, alle Dienststellen in Drvar zu verständigen, daß am nächsten Tag mit einer stärkeren Bombardierung des Städtchens zu rechnen sei. Die Zivilbevölkerung soll noch vor Morgengrauen den Ort verlassen und sich in den Unterständen in der Umgebung in Sicherheit bringen. Einige Stellen erreicht die Nachricht, andere nicht. Der diensthabende Offizier in Drvar versäumt es, die Nachricht an Tito und den Obersten Stab weiterzugeben. Mit einem deutschen Luftlandeunternehmen rechnet in der Höhle bis zuletzt niemand.2
Die Nacht ist ruhig. Tito, sein engster Kreis, seine Gäste haben nichts für nächtelange Sauforgien übrig. Disziplin zählt mehr als alles andere, der Ernstfall kam schon oft ohne Vorwarnung. An diesem Morgen des 25. Mai 1944, direkt bei Tagesanbruch, ist er wieder da.
Tito wird früh geweckt, er bekommt alles von Beginn an mit. „Am frühen Morgen des 25. Mai weckte mich mein Begleiter, der sich auf Posten befand und meldete mir die Beobachtung einiger Flugzeuge über dem Dinarischen Gebirge.“ So die Worte des Partisanenführers, wie er den Beginn des deutschen Überfalls erlebte, der Operation „Rösselsprung“. Es war das Jahr 1974, als Tito einer Delegation aus der Stadt Drvar auf deren Bitte seine Erinnerungen an den 25. Mai 1944 schilderte. Am 1. Juni 1974 erschienen sie in der jugoslawischen Tageszeitung Borba (deutsch: „Der Kampf“), der Parteizeitung der KPJ. Der Warn- und Beobachtungsdienst der Partisanen hat dem Obersten Stab kurz vor halb sieben Uhr morgens den Anflug der deutschen Bomber gemeldet. Die Nachricht macht auch in der Stadt die Runde.
Tito tritt aus der Baracke auf die Veranda. „Durch das Fernglas erkannte ich einige sehr schnelle Flugzeuge, ich glaube, es waren Focke-Wulf. Mir war sofort etwas verdächtig. Ich fragte mich, warum sie dort über den Dinariden fliegen. Es sah so aus, als wollten sie die Ankunft der Flugzeuge unserer Verbündeten verhindern, die uns häufig Hilfe brachten: etwas Nahrung, Waffen und so weiter. Denn erst 1944 begannen die westlichen Verbündeten, uns mit Flugzeugen Hilfe zu schicken, und danach begannen auch die sowjetischen Waffenlieferungen.“
Durch den Talkessel dröhnt Flugzeuglärm. Bomben detonieren, Maschinengewehre rattern aus der Luft, Flugmotoren jaulen. Die Deutschen, die über Drvar in der Luft sind, wollen keinen britischen Nachschub behindern. Sie haben Größeres vor.
4. Kriegsberichter auf Feindflug
Drvar, 6.30 Uhr. Zwei „Würger“, Focke-Wulf-Jäger Fw 190 mit Bordkanonen, gefolgt von 15 Ju 87, einmotorigen Junkers-Kampfflugzeugen, die auf den Erd- und Sturzkampf spezialisiert sind, greifen Ziele in der Stadt und vermeintliche Flugabwehrstellungen an. Mit im Anflug sind italienische Caprioni Ca 314 und Fiat Cr 42 sowie deutsche Heinkel He 46. Bomben fallen, MGs rattern. Gegenwehr vom Boden kommt kaum. Die Jäger zerstören die Funkstation des Obersten Stabes und unterbrechen die Telefonverbindungen. Nur die zum 5. Bosnischen Korps und zur 1. Proletarischen Division bleiben intakt. Aus dem Tal quillen Wolken von Staub und Rauch gen Himmel. Im 30 Kilometer entfernten Bosnisch Petrovac (Bosanski Petrovac) zerstören weitere deutsche Bomber den von den Aufständischen gehaltenen Flugplatz. Die 7. SS-Freiwilligen-Gebirgs-Division „Prinz Eugen“ riegelt unterdessen - unbemerkt von der alliierten Luftaufklärung - alle Verbindungswege nach Drvar ab.
Noch bevor die Bombardements beendet sind, taucht über der Stadt gegen 7.00 Uhr die erste Welle Ju 52-Maschinen auf. In 1.700 Meter Höhe überfliegen die dreimotorigen Junkers-Frachtflugzeuge den vor Drvar liegenden Höhenzug. Dann gehen sie mit gedrosseltem Motor auf eine Absprunghöhe von 120 bis 150 Meter hinab. An Bord: Soldaten des SS-Fallschirmjäger-Bataillons 500. Ihr Auftrag: Marschall Tito schnappen.
Der Ablauf ist durchstudiert: Absprung, Landung, den Schirm lösen, die abgeworfenen Waffen aufnehmen, orientieren und sammeln an den vorbezeichneten Treffpunkten. Soweit der Plan. Die Fallschirmspringer sind seit 3.30 Uhr früh wach. Um 4.30 Uhr standen sie in der Dunkelheit gefechtsbereit auf dem Flugplatz Großbetschkerek (Zrenjanin) in der serbischen Wojwodina. Die Ju 52 des Transportgeschwaders 4 waren auf der Startbahn hintereinander gereiht. Kommandeur Kurt Rybka sagte noch letzte anspornende Worte. Die SS-Männer sangen das Fallschirmjägerlied: „Rot scheint die Sonne, fertig gemacht. Wer weiß, ob sie morgen für uns auch noch lacht. Werft an die Motoren, schiebt Vollgas hinein. Startet los, flieget ab, heute geht es zum Feind. An die Maschinen, an die Maschinen. Kamerad, da gibt es kein zurück. Fern im Osten stehen dunkle Wolken. Komm' mit und zage nicht, komm' mit.“ Dann gingen sie an Bord. Um 4.50 Uhr hoben die Maschinen ab. Zwei Stunden ging der Flug gen Südwesten.
Zur „Rösselsprung“-Truppe gehören nicht weniger als 13 deutsche „Berichter“, wie Reporter damals genannt wurden. Die deutsche Propaganda verspricht sich von der Operation einen ähnlichen Coup wie vom Unternehmen „Eiche“, der Befreiungsaktion für den gestürzten italienischen Duce Benito Mussolini am 12. September 1943 im Gebirgsmassiv Gran Sasso in den Abruzzen. Acht der 13 Reporter kommen vom Luftwaffe-Kriegsberichter-Zug 19, einer vom Luftwaffe-Kriegsberichter-Zug 11, vier sind von der SS-PK-Standarte, die als Propagandakompanie dem Armeeoberkommando untersteht und für das Propagandaministerium Kriegsberichte erstellt. Aus dem 19. Zug begleiten nur die Leutnants Viktor Schuller und Hans Jochen Karnath mit Gleitern die Truppe in den Bodenkampf, Karnath als Fotograf, Schuller als Wortreporter. Die anderen sechs - darunter der Wortberichter Leutnant Dr. Heinz Schwitzke und der Fotograf Leutnant Krempl an Bord einer Caproni Ca 314 - bleiben an Bord der Maschinen. Krempl, „kehrte vom Feindflug nicht zurück“, heißt es später in den Einsatzberichten. Die Leutnants Mücke - als Reporter - und Borgstädt - als Wochenschau-Kameramann - sind an Bord eines Ju 87-Sturzkampfbombers, Feldwebel Brieke fotografiert aus einer Heinkel He 46, Unteroffizier Eichler kommentiert für das Radio aus einer Dornier Do 17. Zwei Reporter aus der SS-PK-Standarte, der Fotograf Adolf Kunzmann und der Wortberichter Adalbert Callewaert, springen mit den Fallschirmjägern ab. Zwei weitere, der Fotograf Walter Henisch und der Reporter Fritz Blume, landen mit Gleitseglern. Auch Wilhelm Baitz, ein Zeichner von Zug 11, sitzt in einem der Segler.3
Kriegsberichter Schwitzke, der das Unternehmen nur aus der Luft begleitet, schreibt: „Nach festgesetztem Minutenprogramm waren wir mit den Verbänden heute in der ersten Frühe sozusagen über der Hauptstadt des Bandenreiches, die sich noch schläfrig in den rosigen Strahlen der Morgensonne dehnte.“ Schwitzke läßt in seiner Militärprosa „Kampf- und Schlachtflieger“ sich hinabstürzen und hinaufwinden, „wie Mückenschwärme“ tanzend. „Aus dem Tal dampfte in riesigen Wolken Staub und Qualm herauf, hinter dessen dunklem Vorhang die Feuer glimmen.“ In der letzten Angriffswelle auf Drvar fliegt Schwitzke bei den Kampfbombern mit, die „warfen unsere Bomben in die schmale Gebäudereihe an der Straße. Dann aber kurbelten wir den Kranz der Berge entlang, um mit den Bordwaffen den Widerstand in den Stellungen niederzuhalten“.
Die Ju 52, die auch als Bomber genutzt werden, verringern ihre Geschwindigkeit auf 150 Stundenkilometer und gehen auf bis zu 120 Meter hinab. Sie „öffneten ihre Luken“, so Schwitzke, „und schütteten an Schirmen aus ihnen die Männer, die binnen Kurzem, zu Gruppen zusammengeschlossen über die Felder vorgingen“. Es folgen die Gleiter, die sich aus ihren Schleppflugzeugen ausklinken. „Und ohne lange leise zu segeln, stellten sie sich plötzlich auf die Nase, entfalteten ebenfalls einen Fallschirm hinter sich und rutschten sausend durch den Dunst hindurch fast senkrecht zur Erde, rings die Stadt umschließend.“ Für den Kriegsberichter ist aus der Luft nicht zu erkennen, was genau sich am Boden abspielt. Das Gegenfeuer der Partisanen entgeht ihm nicht. „Da schossen MGs, dort versuchte leichte Flak in die letzten Gleiter hineinzuhalten.“ Schon bald haben die deutschen Kampfflieger vier der sechs Flak-Maschinengewehre ausgeschaltet.4
An Bord der Ju 52 von Kommandeur SS-Hauptsturmführer Kurt Rybka ist auch der SS-Untersturmführer Peter Renold, einer der wenigen Schweizer, die als Freiwillige in der Waffen-SS dienen. Er ist von der Nachrichtenschule Metz abkommandiert und soll mit anderen die Funk- und Telefonanlagen der Partisanen ausschalten.
Renold verfaßt später einen ausführlichen Bericht über das Unternehmen „Rösselsprung“. Texte mit Renolds Rückschau erschienen im August 1977 in Der Deutsche Fallschirmjäger, dem Mitteilungsblatt des Bundes Deutscher Fallschirmjäger e.V. unter dem Titel „Rösselsprung nach Drvar“ und in Der Freiwillige, einer von 1956 bis 2014 erschienenen Zeitschrift für ehemalige Angehörige der Waffen-SS unter dem Titel „Luftlandeaktion gegen Titos Hauptquartier 1944“.
Renold sitzt nervös in der Ju 52, die einen Lastensegler DS 210 im Schlepptau hat, und wartet auf den Absprung. „An meinem Gurtzeug befanden sich eine Luftwaffentragtasche mit Karten, Schreibzug, Sprengmittel, MPi mit Ersatzmagazin und Pistole.“ Der knapp 20jährige macht mit einer Minox-Kamera Fotos vom Lauf des Unac und von anderen Flugzeugen mit Lastenseglern. „Wir waren voller Anspannung. Unser Absetzer, ein Feldwebel und Kretateilnehmer der Luftwaffe, übertrug seine Ruhe und Gelassenheit auch auf uns.“ Die Fallschirmspringer gehen von Bord, ehe die Segler ausgeklinkt werden. Der Absprung verläuft glatt, der Schirm öffnet sich. Die Windverhältnisse sind günstig. Bis zur Bodenlandung vergehen höchstens 15 Sekunden. Die Männer um Rybka landen an einer Straße direkt am Ort, befreien sich aus dem Gurtzeug und bewaffnen sich. Renold: „Die Lastensegler steuerten eine Landefläche an. Es sah zunächst alles gut und geordnet aus, als doch plötzlich eine wilde Schießerei begann. Unsere Gruppe hatte kaum Widerstand, und wir gaben uns gegenseitig Feuerschutz.“
Die gelandeten deutschen Truppen setzen Leuchtsignale, um für die Bomberpiloten die Stellungen der Partisanen zu markieren. Kriegsberichter Schwitzke beobachtet, daß die Luftlandetruppen Terrain erobern. „Als wir nach geraumer Zeit abfliegen, erkennen wir, daß dieselbe Gruppe, die noch eben sichernd von Haus zu Haus sprang, aufrecht den Feldweg entlangschreitet.“ Damit endet der Bericht des Luftwaffenreporters. Schwitzke dreht mit der Ju 52 ab. Seine Betrachtungen aus der Luft sollen sich als allzu siegesgewisse Ferndiagnose erweisen.5
5. „Dem Bandenstaat mitten ins Herz“
Im Frühjahr 1944 hat Titos Volksbefreiungsarmee bereits über 300.000 Partisanen unter Waffen, darunter viele Frauen. Titos Heer ist aufgeteilt in elf Armeekorps, bestehend aus 39 Divisionen und etlichen unabhängigen Brigaden. Während die Deutschen Städte und Garnisonen sowie die wichtigen Eisenbahnlinien und Fernstraßen kontrollieren, beherrschen die Tito-Partisanen das zumeist bergige Hinterland. Bis Ende März 1944 haben die Deutschen sechs Divisionen vom Balkan abziehen müssen: zwei, um sie in Italien den Angloamerikanern entgegenzuwerfen, vier für die Besetzung Ungarns.
Ziel der deutschen Operation ist die Gefangennahme oder Tötung Titos. Wenn möglich, soll die gesamte Kommandostruktur der Jugoslawischen Volksbefreiungsarmee zerschlagen werden. „Rösselsprung“ ist die letzte von sieben Offensiven, die die Achsenmächte gegen die Partisanenarmee führen. Die Operation geht daher auch als „Siebte Offensive“ in die Kriegsgeschichte ein.
„Dem Bandenstaat mitten ins Herz. Überraschende Landeaktion ins Zentrum bosnischen Bandenwiderstandes“. Unter dieser Überschrift verfaßt Leutnant Dr. Heinz Schwitzke vom Luftwaffen-Kriegsberichterzug 19 einen ersten Report über die Operation „Rösselsprung“. Der hohnsprechende Tonfall des Berichts kontrastiert auffallend zum Ernst dessen, was die deutschen Fallschirmjäger am Boden erwartet. Über die von Tito kontrollierten Gebiete schreibt Schwitzke: „Viel Zusammenhängendes hat nie existiert von der so stolzen großserbisch-jugoslawisch-bolschewistischen Bandenrepublik. Aber ein kleines Stück des Landes, oder vielmehr des Gebirges hat sie trotzdem besessen: es liegt abseits jeder großen Siedlung, abseits bedeutender Straßen, mitten in der unendlichen Einsamkeit des Velebit-Gebirges. Dort hat sich die Meute zwischen den bis zu 2.000 Metern aufsteigenden Bergen in jene Talkassel eingenistet, die - wie man nun will - natürliche Festungen oder aber ein natürliches Gefängnis waren.“ Über die Abhängigkeit der „Bandenrepublik“ von britischen Abwürfen über Bosnien schreibt er: „Dort auch genoß sie das Glück, Staats- und Weltpolitik zu spielen, mit ein paar Eisenbahnwagen auf einer kleinen Strecke hin und her zu fahren, sich von der englisch-sowjetischen Rivalität ausgiebig zu nähren und hin und wieder, besonders nachts, lieben Besuch zu empfangen: Besuch, der sie mit dem Segen von Kleidern, Nahrungsmitteln und einigen abgelegten Waffen aus der Luft leider nicht immer ausreichend überschüttete.“
Der Bericht läßt sich auch darüber aus, warum Titos Partisanen das Velebit-Gebirge unter ihre Kontrolle bringen konnten. Schuld gibt Schwitzke Italien und seiner Besatzungspolitik auf dem Balkan - nicht aber erst der Absetzung des Duce vom 25. Juli 1943, der anschließenden Machtübernahme durch Marschall Pietro Badoglio und dem Ausscheiden der Italiener aus dem Krieg nach dem Waffenstillstand mit den West-Alliierten vom 3. September 1943, dem in den folgenden Wochen die deutsche Besetzung Italiens folgte. Noch unter Benito Mussolini ließ Italiens Kampf gegen die Tito-Partisanen aus deutscher Sicht zu wünschen übrig. „Über das Velebit-Gebirge nämlich läuft die Grenze zwischen Bosnien und Dalmatien, lief die Grenze zwischen deutscher und italienischer Militärhoheit. Und die militärischen Dienststellen im Küstenland, in deren Herzen schon die Frucht des Badoglio-Verrates langsam keimte, wünschten keine deutschen Säuberungsaktionen in ihrem Bereich, und sie unternahmen erst recht keine eigenen. So allerdings konnten sich die dunklen Existenzen hier wohlfühlen.“6
6. Spione und Verräter
Titos Hauptquartier in Drvar haben die Deutschen durch intensive Funkaufklärung ermittelt. Seit 1942 interessieren sie sich mehr und mehr für die Funkanlagen, mit denen der britische Geheimdienst zunächst die Stäbe der serbischen Tschetniks unter General Draa Mihailoviæ versorgte. Als auch Titos Leute die Anlagen in die Finger bekamen, wurde es brenzliger: Die alliierte Luftwaffe erhielt per Funk Informationen über Truppenbewegungen der Achsenmächte - damit ließen sich gezielte Bombardements planen.
Im Sommer 1943 war die in Saloniki stationierte Nachrichtenaufklärungsabteilung 4 der Deutschen nach Belgrad verlegt worden und widmete sich unter der Leitung von Hauptmann Wollny der Überwachung und Entschlüsselung der Funksprüche der Partisanen. „Nach wenigen Monaten konnte praktisch der größte Teil des Funkverkehrs des Obersten Stabes entschlüsselt werden, ohne daß dies den deutschen Abhörspezialisten große Probleme bereitete“, schreibt der deutsche Militärhistoriker Romedio Graf von Thun-Hohenstein in seiner Studie „Rösselsprung“. „Schwierig war dagegen die Einpeilung der jeweiligen Standorte, weil die Partisanenverbände äußerst beweglich waren und die Peilung von ‘erdmagnetischen Störungen’ erschwert wurde.“7
Mit Kreuzpeilungen verschiedener Empfangsstationen war es Ende Februar 1944 dennoch gelungen, Titos Hauptquartier zu lokalisieren. Die in der Region tätigen Front-Aufklärungs-Kommandos 111 und 201 der deutschen Abwehr verifizierten die Angaben im März 1944. Weitere Informationen von Zuträgern wie Geheimer Feldpolizei, Feldkommandantur, Sicherheitsdienst (SD) und Spitzeln sowie anschließend abgehörter Funkverkehr ließen keinen Zweifel mehr, wo Tito steckte. Allerletzte Bedenken zerstreute ein Mitte Mai 1944 abgefangenes Telegramm des jugoslawischen Militärattachés in Washington an seinen Gegenpart in Kairo. Der Funkspruch erwähnte Drvar als Titos Sitz. Den exakten Aufenthaltsort fanden die deutschen Funkaufklärer aber nicht heraus.
Seit dem 22. Januar 1944 war Tito mit seinem Stab in der Stadt. Die Partisanen in Drvar hielten schon länger einen Angriff der Deutschen auf ihr Zentrum für möglich, jedoch nicht aus der Luft. Zur Sicherung wurden Gräben ausgehoben und getarnte MG-Nester eingerichtet. Fitzroy Maclean, der Leiter der britischen Militärmission in Drvar, sah die Konzentration der Partisanenführung in dem bosnischen Bergstädtchen, kritisch. Der britische Militärhistoriker David Greentree skizziert dessen Sicht in seinem Buch „Knight's Move. The Hunt for Marshal Tito 1944“ so: „Maclean wurde beunruhigt, daß die Zunahme der Größe der Hauptquartiere, die jetzt die exekutiven und administrativen Organe der neuen provisorischen Regierung einbezogen, dazu sogar Tänzer aus Zagreb, die Mobilität und Sicherheit beeinträchtigten. Er spürte, daß die Deutschen immer in der Lage sein würden, ein überwältigendes Gewicht von Truppen und Waffen zu konzentrieren, um Tito zum Abzug zu zwingen.“ Tito verlangte Waffen zur Verteidigung: Minen, Geschütze, sogar Panzer. Greentree: „Argumentierend, daß Partisanenkräfte ihre Mobilität bewahren sollten, riet Maclean von dieser Herangehensweise ab und plädierte dafür, den Feind anderswo beschäftigt zu halten.“8 Um die Verteidigungsfähigkeit der Partisanen war es eher schlecht bestellt. Größere Kampfverbände hatte Tito in Drvar nicht stationiert - er wollte sie nicht direkt vor seinem Hauptquartier haben.
Im Frühjahr 1944 war dem Obersten Stab die Gefahr eines handstreichartigen deutschen Überfalls durchaus bewußt. Aber was war an den Gerüchten und Warnungen tatsächlich dran? Zuletzt kursierte auch noch ein abgefangener Plan, die Deutschen wollten mit Ski fahrenden Gebirgsjägern der 1. Gebirgs-Division Drvar angreifen. Anfang März 1944 berief der Stab, nachdem er Informationen über einen deutschen Angriff erhalten hatte, die 2. Brigade der 6. Lika-Division „Nikola Tesla“ - Teil des 1. Proletarischen Korps unter dem Kommando des Serben Koèa Popoviæ - zum Schutz der militärischen und zivilen Stellen nach Drvar. Am 28. April 1944 wurde die Brigade wieder abberufen und durch die 3. Lika-Brigade ersetzt. Und die wurde wiederum am 15. Mai 1944 aufgrund einer Falschmeldung aus der Stadt herausgezogen und als Divisionsreserve in das zwölf Kilometer westlich von Drvar gelegene Gebiet bei Trubar verlegt.
Damit hing sehr viel von Titos Begleitbataillon ab. Jeweils ein Zug des Bataillons mußte in voller Kampfmontur mit griffbereiten Waffen schlafen. Wecken war um fünf Uhr früh, auch für die Angehörigen der politischen Organisationen, damit jeder noch vor Sonnenaufgang - und damit vor etwaigen deutschen Luftangriffen - seine Stellung beziehen konnte.9 Militärische Übungen zur Abwehr eines Luftlandeangriffs kamen den Partisanen nicht in den Sinn.
Der 1970 früh verstorbene deutsche Historiker Karl-Dieter Wolff, der in seiner Studie „Das Unternehmen ‘Rösselsprung’“ auch zahlreiche jugoslawische Quellen ausschöpft, geht mit der Verteidigungsstrategie der Partisanen hart ins Gericht: „Der Ausbau tief gestaffelter Verteidigungslinien, die die gelandeten feindlichen Truppen bis zum Eintreffen eigener Verstärkungen an der Eroberung des Hauptquartiers hätten hindern können, war bis auf unwesentliche Schanzarbeiten unterblieben. Die taktisch unkluge Anordnung der Truppen um Drvar war ebenso schwerwiegend wie das Fehlen jeglicher operativer Reserven in unmittelbarer Nähe der Höhle und der Unterkünfte des Obersten Stabes. Die im Augenblick der Landung für die Verteidigung des Hauptquartiers verfügbaren Truppen waren völlig unzureichend.“10
Die Deutschen hatten ihre Luftaufklärung über dem Gebiet der Bosnischen Krajina, dem Nordwesten Bosniens, intensiviert. Die bei Banja Luka - damals auch Weina Luka genannt - auf dem Flugplatz Zaluani stationierten Maschinen der „Abteilung für Nahaufklärung“ überflogen die Region fast täglich, um gegnerische Truppenkonzentrationen auszumachen, Stärke und Verteilung der Partisanen zu ermitteln und Luftaufnahmen von Drvar zu machen. Der deutschen Luftaufklärung war nicht verborgen geblieben, daß es in und um Drvar Markierungen für Luftlandungen gab - ein sicheres Indiz für alliierte Versorgungsflüge und Absprungplätze. Am 19. Mai 1944, sechs Tage vor der Operation, unternahm ein in Banja Luka gestartetes Flugzeug der Nah-Aufklärungs-Staffel Kroatien einen Aufklärungsflug. Der Fotograf in der Maschine vom Typ Henschel Hs 126 machte Luftbilder von Stadt und Umgebung. Die Partisanen registrierten das. Ins Partisanengebiet eingeschleuste Agenten berichteten ebenfalls von den Landemarkierungen.11
Die Auswertung der Bilder gestaltete sich aber schwierig. Die Auswerter taten sich schwer, Hauptquartiere und Kommandoposten der Partisanen zu lokalisieren. Nahe des Friedhofs von Drvar identifizierten sie drei Stellungen von Flugabwehrgeschützen und zogen daraus einen für die Deutschen fatalen Schluß: daß Titos Kommando seinen Sitz vermutlich in der Nähe des Friedhofs habe. Der Bereich am Friedhof wurde daher zum zentralen Zielpunkt. Ein weiteres Bilddetail begründete eine zweite Annahme: Etwas, das wie Radioantennen aussah, führte zu der Vermutung, daß es sich um das Kommunikationszentrum der Partisanenführung handeln müsse. Die Höhle in der Bergflanke indes, von der die Deutschen nichts wußten, war auf den Bildern nicht auszumachen. Und von Titos nächtlichem Ausweichquartier in Bastasi hatten die deutschen Aufklärer ebenfalls keine Ahnung.
Um ein Haar hätte die britische Abwehr das Unternehmen vereitelt. Gleich dreimal hatte deren Funkaufklärung in Bletchley Park, 70 Kilometer nordwestlich von London, durch die Entschlüsselung des deutschen Funkverkehrs von einer in Bälde anstehenden Operation erfahren. Am 18. Mai 1944 dechiffrierten die Briten einen Befehl der II. Gruppe des Luftlandegeschwaders 1, am folgenden Tag Gleitflugzeuge vom Flugplatz Sarajewo-Butmir nach Zirklach in der Oberkrain (Cerklje na Gorenjskem) zu verlegen. Am 21. Mai 1944 wurde ein Funkspruch dekodiert, daß die Sturzkampfflieger der I. Gruppe des Schlachtgeschwaders 2 sich bis 23. Mai 1944 mit ihren Maschinen von Rumänien nach Pleso bei Zagreb aufmachen sollten - „für einen befristeten Einsatz ab 25. Mai“. Ebenfalls am 21. Mai 1944 transkribierten die britischen Funkdetektive die Weisung der deutschen Luftraumkontrolleure aus Zagreb an die Flugplatzaufseher in Banja Luka, diese sollten „Unterkünfte für 200 Mann bereitstellen“. Tags darauf verwies ein abgefangener Funkspruch des deutschen Fliegerführers Kroatien auf eine Operation mit dem Decknamen „Rösselsprung“, ohne daß man in Bletchley Park sich darauf einen Reim zu machen wußte. Und es ging noch weiter: Am gleichen Tag dechiffrierten die Briten einen Befehl des deutschen Jagdführers Balkan, die II. Gruppe des Jagdgeschwaders 51 „Mölders“ für einen fünftägigen Sondereinsatz nach Zagreb zu verlegen. Zuletzt, am 24. Mai 1944, entschlüsselte die britische Funkaufklärung einen früheren Befehl, wonach die IV. Gruppe des Jagdgeschwaders 27 bis zum Abend des 23. Mai 1944 in Zagreb-Lucko sein sollte - „zur Verwendung bei zeitlich befristeten Operationen“. Dank der endgültigen Entschlüsselung der deutschen „Enigma“-Chiffriermaschine im Dezember 1942 hatten die Briten etliche Balkan-Puzzlestücke - aber sie ergaben kein Bild. In keinem der abgefangenen und entschlüsselten Funksprüche tauchten Hinweise auf Fallschirmjäger, Infanterie, Tito oder sein Hauptquartier auf. Und selbst wenn Bletchley Park die „Rösselsprung“-Pläne enttarnt hätte - um das Geheimnis zu schützen, daß die Briten „Enigma“ geknackt hatten, wurden die entschlüsselten Informationen nur an Armeehauptquartiere weitergegeben, nie aber an untergeordnete Stellen und schon gar nicht an eine Militärmission, die im Hinterland des Feindes operierte.12
Die Code- und Chiffren-Experten der Government Code and Cypher School, die die deutsche Rotor-Chiffriermaschine „Enigma“ geknackt hatten, verfügten über keine Anhaltspunkte zu Ort und Umfang der Operation. Erst drei Tage vor der Operation, am 22. Mai 1944, tat sich etwas: Als ein deutsches Aufklärungsflugzeug, ein Fieseler „Storch“, eine halbe Stunde lang in etwa 600 Meter Höhe über Drvar kreiste, zog die britische Militärmission bei Tito ihre Schlüsse. Oberstleutnant Vivian Street, der den in Kairo weilenden Brigadier Fitzroy Maclean vertrat und den Flieger beobachtet hatte, erwartete einen schweren Luftangriff auf das Städtchen am Unac. Tito warnte er vor der Gefahr eines baldigen Luftangriffs. Vorsorglich verlegte er das Hauptquartier der britischen Militärmission in das Einzelgehöft Prnjavor einen Kilometer südwestlich der Stadt. Die Amerikaner taten es ihm gleich und zogen nach Trniniæ Brijeg um, einen Kilometer südlich der Stadt. Die Russen blieben an ihrem Platz. Vier Gruppen von Titos Begleitbataillon wurden zum Schutz der Militärmissionen abgeordnet. Die Partisanen interpretierten die sich häufenden deutschen Aufklärungsflüge ebenfalls falsch. Sie nahmen an, daß die Flieger Ziele für spätere Bombardements ausmachen würden. Dennoch verstärkten sie ihre Sicherungs- und Verteidigungsmaßnahmen. An einen deutschen Überfall mit Fallschirmspringern und Gleitseglern glaubten sie nicht - denn so etwas hatte es im Kampf gegen die Tito-Partisanen noch nie gegeben.
Titos Stab hielt ein deutsches Bombardement aus der Luft oder eine Bodenoffensive zwar für möglich, generell aber für wenig wahrscheinlich oder gar unmittelbar bevorstehend. Die verstärkte deutsche Luftaufklärung veranlaßte die oberste Führung aber, zwei Gruppen mit je drei Flugabwehr-MGs aufzustellen. Die bei Drvar stationierte Brigade stellte die Mannschaften. Viel ausrichten konnten sie nicht, weil es an schwerem Gerät, vor allem jeglicher Flak-Artillerie, fehlte. Die Gruppen konzentrierten sich auf den Schutz der Höhle und das Unactal. An einer primitiven Alarmvorkehrung fehlte es auch nicht. In einen der Berghänge hinein errichteten die Partisanen ein Gestell mit einer zweckentfremdeten Kirchenglocke. Bei Luftalarm wurde kräftig gebimmelt.
Es war der „Fall Tetariæ“, der Tito hellhörig machte. Ein Mann namens Tetariæ, der von dem bei Drvar stationierten 1. Proletarischen Korps desertiert war, lief zu den Deutschen über. Als Angehöriger der Intendantur des Korps konnte er Informationen über Tito, das Begleitbataillon, die Wachen und die Stärke der im Raum Drvar vorhandenen Kräfte liefern. Sein Pech: Er fiel den Partisanen bald darauf wieder in die Hände. Die verhörten ihn am 27. März 1944 scharf und schlußfolgerten, daß die Deutschen etwas planten. Tetariæ gab zu, dem Feind bis Mitte März 1944 Informationen über Tito, das Begleitbataillon und Stützpunkte und Stärke der Partisanen im Raum Drvar geliefert zu haben. Nachdem Tetariæ sein Wissen preisgegeben hatte, erschossen ihn die Partisanen.
Tito wurde mißtrauisch und hielt sich fortan viel in Bastasi auf. Sein Stabschef Arso Jovanoviæ wiegelte ab - ein Angriff mit Fallschirmjägern sei nicht wahrscheinlich. Tetariæs Geständnis erhärtete den Verdacht, den zuvor bereits ein Zuträger der Partisanen aufgeworfen hatte. Ein Unteroffizier namens Anton Serajnik mit Decknamen „Tone“, der im Stab der 188. Infanterie-Division in der für Feindlage und Abwehr zuständigen Abteilung Ic als Dolmetscher arbeitete, fungierte als Quelle. Der auf militärhistorische Monographien spezialisierte Autor Rüdiger Franz schreibt in „Kampfauftrag: ‘Bewährung’. Das SS-Fallschirmjäger-Bataillon 500/600“, Serajnik „hatte in Erfahrung gebracht, daß ein deutsches Unternehmen gegen Tito unmittelbar bevorstand. Den Ort und genauen Zeitpunkt konnte er zwar nicht nennen, ließ aber trotzdem seine Informationen durch Vertrauensleute der Nachrichtenabteilung der Partisanen ihrem Chef Tomaciæ zukommen. Der wiederum unterrichte Tito und seinen Obersten Stab“.13
Der Verdacht verfestigte sich weiter. Karl-Dieter Wolff schreibt in seiner militärhistorischen Studie: „Am 4. Mai erbeutete die der 4. Division angehörende 11. Kozara-Brigade bei einem Sabotageunternehmen gegen einen Zug mit deutschen Wehrmachtsangehörigen ein Dokument, dem eine Skizze von Drvar beigefügt war. Beide enthielten detaillierte Angaben über die genaue Lage aller militärischen und zivilen Organisationen in diesem Ort sowie Einzelheiten über die Militärmissionen der Alliierten, die Sicherungsvorkehrungen des Obersten Stabes und schließlich Hinweise auf eine möglichst wirkungsvolle Bombardierung des Hauptquartiers.“14 In Titos Nachrichtenzentrum war man sich einig: Die Deutschen wissen genug, um jederzeit losschlagen zu können. Die Alarmstimmung legte sich jedoch wieder, als Nachrichtentrupps der Partisanen Mitte Mai 1944 zuerst meldeten, die alliierte Luftwaffe habe die bei Zagreb stationierten deutschen Segelflugzeuge zerstört, und dann aus Banja Luka die Neuigkeit kundtaten, die Deutschen hätten ihre Vorbereitungen für einen Angriff auf das Tito-Hauptquartier eingestellt. Beide Meldungen erwiesen sich als fake news.
In den Tagen vor dem 25. Mai 1944 horchte Titos Abwehr nochmals auf: Deutsche Truppenverstärkungen rund um die Garnisonsstädte Bihaæ, Knin, Jajce und Banja Luka sowie Truppenbewegungen Richtung Drvar wurden registriert. Am 18. Mai 1944 informierte das 5. Bosnische Korps der Partisanen seine 39. Krajina-Division darüber, daß deutsche Truppen von Bihaæ - damals im Deutschen auch Wihatsch genannt - in Richtung des Flugplatzes bei Bosnisch Petrovac vorrückten. Drei Tage später warnte die 4. Krajina-Division ihre Untereinheiten, daß der Feind von Bihaæ und Knin auf Drvar und Bosnisch Petrovac vormarschieren könnte.15
Kleinere Verlegungen, um Verkehrsknotenpunkte wieder freizukämpfen, waren jedoch an der Tagesordnung. Erst als das Hin und Her deutscher Truppen immer mehr wurde, insbesondere im Raum Bihaæ, fragten sich Titos Nachrichtenoffiziere, was das bedeute. Wieder kam man zu einem Trugschluß: Ziel der Deutschen sei der von den Partisanen gehaltene Flugplatz bei Bosnisch Petrovac, 30 Kilometer nördlich von Drvar. Mit einem konzentrischen Angriff rechnete Titos Stab nicht.16
Drei Tage darauf, am 21. Mai 1944, meldete der Stab der 4. Krajina-Division des 5. Bosnischen Korps, wie es 1955 in der Rückschau der Zeitung Borba heißt, „daß der Feind die Absicht hat, von Knin und Bihaæ aus in Richtung Drvar und Petrovac vorzugehen“. Die unterstellten Brigaden wurden gewarnt: „Seid wachsam und errichtet Hinterhalte auf Haupt- und Nebenstraßen.“17 Mit einer großen Umfassungsaktion der Deutschen rechnete aber niemand - zumal die Deutschen falsche Fährten legten.
Am 23. Mai 1944 ging in Bihaæ „das Gerücht um, jetzt solle Tito gefangen werden“, wie es später im Bericht des XV. Gebirgs-Korps heißt. „Aus einer Gefangenenvernehmung geht hervor, daß im Stabe Titos der Angriffstag bekannt gewesen sei.“18 Am nächsten Tag, Mittwoch, den 24. Mai 1944, erreichte Titos Stab die Meldung, daß auf einem Behelfsflugplatz bei Bihaæ eine größere Zahl deutscher Flugzeuge gelandet sei. Weil der Stab eine umfassende Bombardierung Drvars für möglich hielt, sollte die Zivilbevölkerung Drvar noch vor Anbruch des nächsten Tages verlassen. Mit einem Luftlandeunternehmen rechnete Titos innerster Machtzirkel immer noch nicht.
Generaloberst Lothar Rendulic, Kommandeur der 2. Panzerarmee in Jugoslawien und im April 1944 zum Generaloberst befördert, hatte sich mit dem Stab ein Ablenkungsmanöver einfallen lassen. Im Vorfeld des Angriffs ließ der kroatischstämmige Österreicher militärische Operationen gegen den Verbindungsweg von Bihaæ nach Vrhovine - ein kroatisches Dorf 50 Kilometer westlich von Bihaæ - führen. Die Täuschung gelang aber nur zum Teil. Die Partisanen führten kleinere Einheiten an die bedrohte Westseite, beließen ihre in der Nähe von Drvar konzentrierten sechs Divisionen aber größtenteils, wo sie waren.
Hätten die Briten und die Partisanen wissen müssen statt nur ahnen zu können, daß ein deutscher Luftlandeangriff erfolgen würde? Die Informationen liefen bei verschiedenen Stellen ein, nicht bei einer Zentrale. Manche Informationen erreichten Bletchley Park und Kairo, andere die britische Basis im süditalienischen Bari, wieder andere blieben in Drvar. Im wesentlichen hielt die deutsche Geheimhaltung dicht. Den alles zunichte machenden Verrat gab es nicht, das zwingende verräterische Indiz auch nicht. Die Deutschen verwischten den Zusammenhang ihrer verschiedenen Vorbereitungsmaßnahmen gut. David Greentree zitiert in „Knight's Move“ den britischen Historiker und Maclean-Biographen Frank McLynn mit der Aussage, es habe genügend einzelne Berichte gegeben, um das Puzzle zu komplettieren, aber es habe kein einzelnes Hauptquartier über alle vorhandenen Informationen verfügt. McLynn meint: „Eine einzelne Person, die im Besitz all diesen Materials gewesen wäre, das Bari und Bletchley aus Jugoslawien erreichte, hätte gewußt, daß der Angriff kommen würde. Aber eine solche Person gab es nicht.“19
7. Europa in Brand setzen. Wie der Krieg nach Jugoslawien kam
Der Krieg auf dem Balkan hatte viele Väter. War es Mussolini, der seinen Traum von einem neuen italienischen Mittelmeerimperium auslebte und nach der Annexion Albaniens mit neun Divisionen Griechenland angriff, war es Hitler, der ihm dort auf Zuruf zur Seite sprang und kurz darauf Jugoslawien brutal unterwarf, so war es Churchill, der mit seiner Politik 1940, als der Krieg zeitweilig nur ein Duell zwischen Großbritannien und Deutschland war, den Balkan planmäßig in Brand setzte. „To set Europe alight“ - Europa in Brand setzen, so nannte der britische Kriegspremier seine Idee, Angriffe gegen die Achsenmächte von außen wie von innen zu organisieren, Aufstände in den von Italien und Deutschland besetzten Ländern, dazu Koalitionen, auch unorthodoxe, überraschende Bündnisse gegen Hitler-Deutschland. So beschrieb Churchill seine Politik gegenüber dem US-Sondergesandten William Donovan, dem späteren Leiter des US-Militärgeheimdienstes Office of Strategic Services (OSS), den US-Präsident Franklin Delano Roosevelt 1940 nach Großbritannien und Südosteuropa geschickt hatte.20 Donovan meldete am 19. Januar 1941 an Roosevelt, die Briten seien entschlossen, den Krieg in Südosteuropa massiv auszuweiten. Churchills Strategie „hat immer darauf gesetzt, eine östliche Front zu schaffen, wenn möglich, um den Feind im Blockadekreis stärker einzuschnüren und zu erschöpfen“.21 Am 23. Januar 1941 tauchte Roosevelts Sondergesandter in Belgrad auf. Seine Mission: Jugoslawien, das nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstandene Reich der Südslawen, dessen Kernland Serbien auf der Seite der Entente gefochten hatte und 1918 territorial fürstlich belohnt worden war, auf die Seite der Westmächte zu ziehen. Vor allem Serbien galt als eine Stütze der Versailler Nachkriegsordnung. In Belgrad traf Donovan Prinzregent Paul (Pavle) und drohte, so der Mannheimer Geschichtswissenschaftler Stefan Scheil, „Jugoslawien unangenehme Konsequenzen für die Zeit nach dem alliierten Sieg an, sollte das Land den Durchmarsch deutscher Truppen gestatten“.22
Der Regent und seine Regierung jedoch verfolgten einen Kurs der Neutralität. Noch hatten die Achsenmächte nichts gefordert, was Jugoslawiens Integrität bedroht hätte, nicht einmal Durchmarschrechte. Wirtschaftlich war Jugoslawien eng mit dem Deutschen Reich verbunden. „Mehr als die Hälfte des jugoslawischen Außenhandelsvolumens entfiel auf das Geschäft mit dem Deutschen Reich“ schreibt der Münchner Historiker Karl Hnilicka in seinem 1970 erschienenen militärhistorischen Buch „Das Ende auf dem Balkan 1944/45“. Im politischen und wirtschaftlichen Bereich habe es keine Reibungsflächen zwischen Jugoslawien und Deutschland gegeben. „Wenn dieses gute Verhältnis trotzdem getrübt wurde, so lag dies an dem deutsch-italienischen Bündnis sowie an der betont frankreichfreundlichen Einstellung des serbischen Offizierskorps.“23 Und so traf Donovan mit seinen gegen Berlin gerichteten Avancen in Kreisen des serbischen Militärs, vor allem bei der Luftwaffe, auf offene Ohren.
Griechenland war die britische Operationszone, um Italien ins Visier nehmen zu können und um Hitler eine Front im Südosten aufzuzwingen. Griechenland, möglichst auch Jugoslawien sollten im Kampf gegen Nazi-Deutschland ins Feuer geworfen werden. Edward Wood, der 1. Earl of Halifax, 1938 bis 1940 unter dem auf Beschwichtigung und Deeskalation setzenden britischen Premier Neville Chamberlain Außenminister, unter Churchill britischer Botschafter in den USA, rechtfertigte am 25. April 1941 in Atlanta (Georgia) vor der Atlanta Bar Association die Intervention der Briten in Griechenland: „Wir wußten, daß Hitler bemüht war, Kämpfe auf dem Balkan zu vermeiden, um den stetigen Strom an Gütern aus diesen Ländern nicht zu unterbrechen, die so wichtig für ihn sind. Die Tatsache, daß ein Feind eine bestimmte Aktion vermeiden will, ist allgemein ein guter Grund dafür, ihn zu dieser Aktion zu zwingen.“24 Hitler bestätigte das am 4. Mai 1941. Es sei richtig, wenn Halifax erkläre, „daß es nicht die deutsche Absicht gewesen war, auf dem Balkan einen Krieg herbeizuführen“.
Seit dem deutsch-sowjetischen Angriff auf Polen im September 1939, dem Zangengriff deutscher und slowakischer Truppen von Westen, Süden, Nordosten und der Ostsee aus und - 16 Tage später - sowjetischer Einheiten von Osten aus, lief der Krieg ungünstig für die Westmächte. Polen wurde trotz Beistandsgarantie von Frankreich und Großbritannien militärisch praktisch im Stich gelassen, das Rennen um Norwegen und seine Eisenerz- und Nickelvorräte gewannen die Deutschen mit knapper Not. Der Blitzsieg der Wehrmacht in Frankreich nahm den Briten ihren bis dato wichtigsten Verbündeten. Winston Churchill, der Chamberlain am 10. Mai 1940, zugleich Beginn des deutschen Westfeldzugs, abgelöst hatte, konnte den Krieg jetzt nur noch nach Südosteuropa tragen. Die Ersatzschlachtfelder Skandinavien und Belgien waren ausgefallen. Bereits im September 1939 hatte Frankreich eruiert, wie die rumänischen Öllieferungen ins Deutsche Reich sabotiert werden könnten. Erwogen wurde eine Sperrung der Donau. Der französische Oberbefehlshaber Maurice Gustave Gamelin, schreibt der churchillkritische und der linken Mainstream-Geschichtsdeutung abgeneigte Historiker Stefan Scheil, „schwelgte im März 1940 bereits in der Aussicht auf eine Balkanfront, in der sich 100 Divisionen aus Jugoslawien, Rumänien, Griechenland und der Türkei für den alliierten Kriegseinsatz einspannen lassen würden“.25 Winston Churchill selbst schreibt in seinem 1953 mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichneten Epos „Der Zweite Weltkrieg“ über seine Balkanpolitik: „Wenn auf die Entrollung unserer Fahne hin Jugoslawien, Griechenland und die Türkei zu gemeinsamen Handeln ausholten, dann schien es uns möglich, daß Hitler für den Augenblick vom Balkan ablassen könnte oder sich zumindest mit unserer zusammengefaßten Kraft in so schwere Kämpfe verwickelt sähe, daß sich der Balkan zum Hauptkriegsschauplatz ausweitete. Wir wußten damals noch nicht, wie sehr er sich bereits auf die gigantische Invasion Rußlands festgelegt hatte. Wäre uns das bekannt gewesen, hätten wir für den Erfolg unserer Politik größere Hoffnung gehegt.“26
Die Lunte ans Pulverfaß Balkan hatte bereits Italien gelegt, als es nach einem Sechs-Tage-Feldzug im April 1939 zunächst Albanien annektierte, das bereits zuvor ein Satellitenstaat Roms war. Von Albanien aus überfielen die Truppen des Duce am 28. Oktober 1940 Griechenland - das sich militärisch eng mit den Briten eingelassen hatte. Hitler war von Mussolini über dessen Pläne nicht informiert worden. Bereits am 10. Juni 1940 war Italien an der Seite Deutschlands in den Krieg eingetreten - wozu der „Stahlpakt“ - die Achse Berlin-Rom - es verpflichtet hatte. Die Briten hatten in Griechenland zwischenzeitlich erste Truppenkontingente stationiert, am Ende über 50.000 Mann. Hitler wollte, daß Griechenland aus dem Krieg herausgehalten werde, „wenigstens soweit gegenüber den Achsenstaaten verpflichtet werden, daß das Land nicht auf der Gegenseite in den Krieg eintrat“, so Stefan Scheil.27 Italien fürchtete als Verbündeter Deutschlands Angriffe britischer Bomber und Kriegsschiffe. Scheil skizziert die Situation aus italienischer Sicht: „Die Benutzung einzelner griechischer Häfen und Stützpunkte zu Angriffen gegen Italien war ein nicht unwahrscheinliches Szenario. Dem gedachte man in Rom nun durch eine Besetzung der griechischen Westküste zuvorzukommen. Dieser Plan war prinzipiell weniger ungewöhnlich, als er auf den ersten Blick erscheinen könnte. Zu besetzen, was vielleicht zur Gefahr werden könnte, entsprach etwa der gängigen Praxis der englischen Politik, vorwiegend im Mittelmeerraum und im Nahen Osten. 1941 wurde das damals französische Syrien gegen den Widerstand der dortigen Truppen besetzt, bald darauf traf es mit Persien sogar einen neutralen Staat. Er wurde wegen der Gefahr politischen Mißverhaltens gleichzeitig von der Roten Armee und Streitkräften des Westens besetzt, damit Ölförderung und Waffentransfer störungsfrei ablaufen konnten.“28
Mit der erfolgreichen Gegenwehr der griechischen Armee hatte Benito Mussolini nicht gerechnet. Er mußte Hitler um Truppenhilfe bitten. Die griechische Armee erwies sich als unerwartet zäh. Mehr noch: Schon Mitte November 1940 war das besetzte griechische Gebiet befreit, und die Griechen drangen nach Albanien vor. Im Winter 1940/41 fror der Krieg ein, im Frühjahr 1941 gingen die Italiener nochmals in die Offensive - ohne Erfolg. Karl Hnilicka urteilt: „Wenn der Krieg Italiens gegen Griechenland etwas offenbarte, dann die Tatsache, wie wenig der italienische Bundesgenosse leisten konnte.“29 Der deutschen Führung schwante schon frühzeitig, in welches militärische Abenteuer Mussolini sie hineinzog. Am 1. Februar 1941 hielt Major Christian Clemm von Hohenberg, deutscher Militärattaché in Athen, vor Hitler einen Immediatvortrag zur Griechenlandkrise. Clemms These: Ein deutscher Feldzug gegen Griechenland könne vermieden werden, einflußreiche Kreise in Athen wünschten den Austritt aus dem Krieg, bislang stünden nur ein paar schwache Einheiten der britischen Luftwaffe auf griechischem Boden. Hitler ließ wissen, er habe sich noch nicht entschieden. Als er Clemm verabschiedete, deutete er auf einer Balkankarte auf Albanien und sagte: „Und das alles wegen dieses Drecks da! Greife ich ein, so wird die Welt von mir sagen, daß ich ein kleines tapferes Volk, das ebenso wie die Finnen seine Freiheit verteidigt, hinterrücks überfallen habe. Greife ich aber nicht ein, so fallen die Italiener ab.“30
Zwischen Deutschland und Großbritannien entwickelte sich ein Rennen um die diplomatische Gunst Jugoslawiens. Hitler schrieb an Mussolini, für „die Freundschaft Jugoslawiens darf uns kein Opfer zu groß sein“. Stefan Scheil hält in „Balkanfront 1941“ fest: „In diesem Sinne versuchte die deutsche Regierung vieles, um Jugoslawien in irgendeiner Form zum Beitritt zum Dreimächtepakt zu bewegen, zur Not ohne Verpflichtungen und ergänzt von weiteren Zugeständnissen.“31 Bis dahin waren der Allianz aus Deutschland, Italien und Japan nur Kleinstaaten wie Rumänien, Ungarn und Bulgarien beigetreten. Ein Beitritt Jugoslawiens, wenigstens eine stabile Neutralität des Landes, galten Berlin als Garant, daß auf dem Balkan eine weitere Front hätte vermieden werden können. Churchill hingegen spekulierte in einem Brief an seinen Außenminister Anthony Eden darauf, daß ein auf die britische Seite gezogenes Jugoslawien die Italiener in Albanien angreifen könne.32 An Roosevelt schrieb er am 10. März 1941 nach einem Treffen mit Donovan in London: „Was Jugoslawien zu diesem kritischen Zeitpunkt tun wird, ist von ausschlaggebender Bedeutung. Eine derartige militärische Chance hat sich noch keinem Land geboten. Falls sie den Italienern in den Rücken fallen, ist nicht abschätzbar, was sich in ein paar Wochen abspielen könnte...“33 In seinem Opus Magnum „Der Zweite Weltkrieg“ schrieb der britische Premier später: „Es lag klar auf der Hand, daß sich Jugoslawien in aussichtsloser Lage befand, wenn die beteiligten Staaten nicht ohne Verzug eine gemeinsame Front bildeten.“ Jugoslawien, Griechenland und die zaudernde Türkei waren damit gemeint. „Nur die bereits erwähnte Möglichkeit bot sich Jugoslawien immer noch, nämlich ein tödlicher Stoß gegen den ungeschützten Rücken der geschwächten italienischen Armee in Albanien. Wenn es schnell handelte, mochte es einen überwältigenden Sieg für sich buchen; und während sein eigenes Gebiet einem Einfall von Norden her offen lag, mochte es sich in den Besitz großer Massen von Munition und sonstiger Ausrüstung setzen, die ihm die Möglichkeit zur Führung eines Guerillakrieges im Gebirge gaben, der seine einzige Hoffnung bildete. Es wäre ein glänzender Schachzug gewesen, der auf dem ganzen Balkan seine Rückwirkungen gehabt hätte.“34 Jugoslawien war nur eine Schachfigur, die geopfert werden sollte. Es bedarf nicht des Wissens um den Fortgang des Krieges im allgemeinen und des Jugoslawien-Feldzugs der Achsenmächte im besonderen, um vorherzusehen, daß mit in Albanien erbeuteter „Munition und sonstiger Ausrüstung“ für die wenig schlagkräftige und ethnisch fragmentierte Südslawen-Armee kein Krieg gegen Wehrmacht und Verbündete zu gewinnen war und daß deren „Einfall von Norden her“ einen Blitzsieg der Achse bedeuten würde, als wäre es ein zweiter Durchmarsch durch das Großherzogtum Luxemburg.
Churchills Hoffnung sollte sich zunächst nicht erfüllen. Die jugoslawische Regierung wollte ihr Land aus dem Krieg heraushalten. Teile Jugoslawiens fürchteten die Deutschen und wollten an der Seite der Briten in den Krieg eintreten, der andere Teil war deutschfreundlicher oder zog eine abwägende, neutrale Schaukelpolitik vor. Prinzregent Paul, seiner Erziehung, seinen familiären Bindungen und seinen politischen Überzeugen nach eher anglophil, war für Appeasement. In der Bredouille knüpfte Paul bei der Suche nach Unterstützern im Juni 1940 sogar diplomatische Beziehungen mit der Sowjetunion, „das die Karadjordjeviæs bis dahin als ein Land des Antichristen angesehen hatten“, wie der slowenisch-italienische Historiker Joe Pirjevec in seiner Biographie „Tito“ schreibt. „Moskau verlangte zwar im November 1940 und erneut Mitte Januar 1941 von Berlin, die Kriegszone nicht auf den Balkan auszuweiten, und informierte darüber auch die jugoslawische Regierung, viel mehr aber konnte sie nicht tun.“35 Am 4. März 1941 reiste Paul insgeheim nach Berchtesgaden und besuchte Hitler in dessen Privatwohnsitz „Berghof“ in Obersalzberg. Der Prinz verpflichtete sich mündlich, sein Land werde wie zuvor Ungarn, Rumänien, die Slowakei und Bulgarien dem Pakt der Achsenmächte beitreten.
In London und Belgrad spannten die Briten derweil weiter an ihren Fäden. Am 21. März 1941 richtete Sir Roland Campbell, der britische Botschafter in der jugoslawischen Hauptstadt, an das Londoner Foreign Office eine Anfrage, ob die Regierung Churchill einem Staatsstreich in Belgrad zustimmen und eine neue jugoslawische Regierung unterstützen würde. Am Montag, dem 24. März 1941, erhielt Campbell die volle Genehmigung Londons, alle erforderlichen subversiven Maßnahmen in Jugoslawien zu unterstützen.36
„Da Deutschland alle jugoslawischen Forderungen erfüllte, die dem Vertrag lediglich Symbolcharakter ohne militärische Folgen geben sollten, trat Jugoslawien am 25. März 1941 tatsächlich dem Dreimächtepakt bei, in einer von deutscher Seite bewußt bombastisch arrangierten Zeremonie“, schreibt Stefan Scheil.37 Im Schloß Belvedere in Wien unterzeichneten Ministerpräsident Dragiša Cvetkoviæ und Außenminister Aleksandar Cincar-Markoviæ um 12.00 Uhr den Vertrag. Für die Achsenmächte taten dies die Außenminister Joachim von Ribbentrop und Graf Galeazzo Ciano sowie der japanische Botschafter in Berlin, Oshima Hiroshi, dessen Berichte die Alliierten regelmäßig abhörten. Das Abkommen gefiel weiten Teilen der serbischen Bevölkerung nicht. Nationalistische Kreise, die für ein Großserbien eintraten, Kommunisten und die orthodoxe Kirche bildeten die seltsame Allianz, die auf den Straßen Belgrads die Wut auf die Regierung Cvetkoviæ schürte. Zwei Tage später folgte die Geschichte dann doch dem britischen Drehbuch. In Belgrad wurde geputscht.
William Donovan hatte bei seinem Belgrad-Besuch den serbischen Luftwaffengeneral Dušan Simoviæ getroffen und ihm ein Telegramm Roosevelts überbracht, das zu nicht näher benannten Aktionen und dazu aufrief, sich nicht „überrennen“ zu lassen. Donovan stritt später ab, im Hauptquartier der Luftwaffe zum Putsch angestiftet zu haben. Sein ihm durchaus gewogener Biograph, der britische Journalist und Historiker Anthony Cave Brown, glaubte dem nicht. In der Donovan-Biographie „The Last Hero. Wild Bill Donovan“ heißt es: „Donovan stritt immer ab, Simoviæ irgendwelche Zusicherungen gegeben zu habe. Trotzdem konnten die Protagonisten dieser Ansicht Beweise vorlegen, die jeden vernünftigen Zweifel daran ausschließen, daß Donovan Feuer an die Lunte gelegt hat, die zu Simoviæs Staatsstreich führte - jenem Staatsstreich, der zu Hitlers Einmarsch in Jugoslawien und Griechenland und zur Verschiebung des Unternehmens Barbarossa führte.“38 Im März 1941 schickte Benjamin Sumner Welles, der stellvertretende Außenminister der damals offiziell noch neutralen USA, an Belgrad die Warnung hinterher, weder direkt noch indirekt Deutschland zu unterstützen. Stattdessen solle sich Jugoslawien auf die britische Seite stellen.
In der Nacht vom 26. auf den 27. März 1941 putschten serbische Fliegeroffiziere, angestachelt von Agenten des britischen Auslandsgeheimdienstes, gegen die mehr neutrale als pro-deutsche Regierung Dragiša Cvetkoviæ in Belgrad. Dušan Simoviæ war auch deren Verständigungsbereitschaft gegenüber Kroatien ein Dorn im Auge. Schon länger intrigierte er dagegen. Als eigentlicher Motor des Putsches im serbischen Offizierskorps gilt jedoch der General Boris Mirkovic. Er war es, der am 27. März 1941 den Staatsstreich durchführte, den Prinzregenten und das Kabinett Cvetkoviæ absetzte und den minderjährigen König Peter (Petar) II. einsetzte.
8. In Drvar
In meinem Notizbuch halte ich meinen ersten Eindruck über Drvar fest: „Potthäßliche Stadt“. In der flirrenden Juli-Mittagshitze schleppen wir uns schwerbeladen zum Restaurant „Madeira“ hoch, als ginge es zum Gipfel der Vulkaninsel. Auf dem Weg verwerfe ich die Idee, unser Zelt an diesem schulfreien Samstag doch einfach hinter dem Schulgebäude aufzuschlagen. Der „Madeira“-Wirt zeigt uns die Zimmer, radebrecht gezwungen auf Englisch. Der nächste defätistische Notizbucheintrag wird lauten: „Hotel wie aus ‘Psycho’. Zimmer vermutlich zuletzt vor Krieg vermietet.“ Auch der Wirt trägt, als er nach meiner Kladde verlangt, etwas ein, eine Zahl. Wir sind uns aber schnell einig, daß 30 und nicht 40 Euro für zwei Nächte in seiner ostigen Rumpelkammer unterm Dachfirst eine Top-Offerte sind, die nur der Leidensfähigkeit meiner beiden jungen Begleiter auf dieser Balkan-Parforcetour zu verdanken ist und gewiß so schnell nicht wiederkehren wird.
Am Abend sind wir die einzigen, die in der Gaststube essen. Drei Einheimische kehren im Laufe der Stunden ein, ein jeder beläßt es bei einem Getränk. Die zahllosen Fliegen sind immer da. Am nächsten Morgen baut der Wirt auf dem Parkplatz einen ehrfurchtgebietenden elektrischen Grill auf, in dem sich ein saftiger Hammel dreht. Fett tropft, zischt und spritzt. Das kastrierte Schaf ist für die Hochzeitsgesellschaft in der Stadt ausersehen. Vom Balkon beobachten wir zwei Polizisten, die die Ausfallstraße nach Bosnisch Grahovo kontrollieren. Meist stehen sie nur im Schatten herum oder löffeln Suppe. Winken sie Autos heraus, sind es die mit „HR“-Kennzeichen. Hrvatska, der alte Erzfeind. Drvar ist - demographisch - Domäne bosnischer Serben. Zur kroatischen Grenze sind es nur zwölf Kilometer.
Drvar, 475 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, ist heute eine Kleinstadt der Föderation Bosnien und Herzegowina, der Entität der muslimischen Bosniaken und der hiesigen Kroaten. Die Grenze zur anderen Entität des Staates Bosnien-Herzegowina, der Republik Srpska, verläuft zehn Kilometer nördlich. Die meisten der etwa 7.000 Einwohner Drvars sind Serben, keine zehn Prozent sind Kroaten, gerade elf Bewohner sind Bosniaken. So war es vor dem Bosnienkrieg, so ist es heute. Nur hatte Drvar 1991 noch 17.500 Einwohner.
Nachdem im April 1992 der Krieg ausgebrochen war, kontrollierten bosnische Serben die Stadt. Im August 1995 nahmen kroatische Einheiten Drvar ein. Tausende Serben flohen oder wurden von den Kroaten vertrieben. Kroaten waren in Drvar plötzlich in der Mehrheit, das Städtchen wurde zur Geisterstadt. Die Stadt und der Kanton wurden mit dem Dayton-Abkommen November 1995 der Föderation Bosnien und Herzegowina zugeschlagen. In der Folge siedelten sich etwa 10.000 bosnische Kroaten in Drvar an. Die ethnischen Konflikte aber gingen weiter. Als im Oktober 1996 350 Serben in ihre Häuser zurückkehren wollten, vereitelten das die kroatischen Einwohner. Ein halbes Jahr später zerstörten die Kroaten in der Stadt vormals von Serben bewohnte Häuser. Die vertriebenen Serben gaben aber nicht auf. Der nächste Rückkehrversuch folgte 1998 - begleitet von Plünderungen und Gewalt. Zwei Menschen starben. Die NATO-Schutztruppe SFOR sorgte für Ruhe, viele Serben konnten nun wieder zurückkehren. Der Ort lebt wie gehabt von Land- und Forstwirtschaft - und den schmalen Renten der Alten. Arbeit haben nur wenige. Beträgt die Arbeitslosenrate in ganz Bosnien-Herzegowina 40 Prozent, sind es in Drvar 80 Prozent. Das Krankenhaus, einst überregional von Bedeutung, hat genauso dichtgemacht wie die Zellulosefabrik. Der Anschluß der Schmalspurbahn nach Prijedor, Jajce und zur kroatischen Grenze nach Kaldrma wurde in Etappen bereits bis 1978 stillgelegt.
Die Abendsonne taucht die Wolkentürme in Rosé, am Morgen dräuen die Wolken schwarz. Birkenblätter rascheln, ein Hahn kräht, auf der Stromleitung singt und pfeift eine Mehlschwalbe, hinterm Gasthaus grasen Ziegen eine Weide ab. So klein die Häuser am Stadtrand mit ihren roten Ziegeldächern sind, haben sie fast alle Obst- und Gemüsegärten. In manchen Gärten summt es aus Bienenkästen. Drvar schmiegt sich ins Tal der Unac, gesäumt von welligem Hügelland, Häuser wie von Riesen hineingewürfelt, dann die dicht bewaldeten Berge. Der kirchturmhohe Schornstein der verlassenen Zellulosefabrik und der Zehn-Meter-Turm im verwaisten Freibad bestimmen das Panorama.
In der Innenstadt fallen die vielen zerstörten oder beschädigten Gebäude auf. Verkohlte Balken, Gewehreinschüsse an den Außenwänden. Die Ulica Titova rumpeln allerhand Rostlauben aus den 1980er Jahren herunter, Jugo-Fiat, Skoda, VW Käfer, Audi 100, Ford Fiesta und Ford Escort. Auf dem Markt ist zu besichtigen, was Chinas Plastikindustrie zu fertigen imstande ist. Manche Läden haben auf, in den wenigsten sind Kunden. Wettbüros kobern um die, die sich für Fußballexperten halten. Am Eingang der Post warnt ein Aufkleber, man solle nicht mit Pistole eintreten. Von den baufälligen Balkonen starren Anwohner am Sonntagmittag auf die Straße, als wäre die Landung einer Kompanie Fallschirmjäger oder eine Tito-Parade angekündigt.
In der Ulica 25. Mai, einer Nebenstraße der Titova, haben sich Parteibüros und eines für „Mikrokrediti“ angesiedelt. Eine Straße weiter erinnert die Ulica 27. Jula in Jugo-Nostalgie an den „Tag der antifaschistischen Erhebung in den sozialistischen Republiken Kroatien und Bosnien-Herzegowina“, den ersten kommunistischen Aufstand gegen Ustascha und Achsenmächte in Groß-Kroatien 1941. Der 27. Juli war auch der Tag der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung an Serbien 1914 nach der Ermordung von Thronfolger Franz Ferdinand und Frau Sophie. Aber der ist nicht gemeint, auch wenn alles mit allem zusammenhängt.
9. Tito - tot oder lebendig
Schon mehrmals wäre Tito den Deutschen bei ihren Offensiven und allerlei geplanten Kommandoaktionen beinahe in die Hände oder gar zum Opfer gefallen. Den Partisanen war es aber bisher immer gelungen, durch ihren eigenen Nachrichtendienst von den Plänen der Deutschen zu erfahren und sich rechtzeitig davonzumachen. Das sollte den Besatzern dieses Mal nicht wieder passieren. „Die deutsche militärische Führung im Südosten beschloß daher, anstelle großräumiger Umfassungsaktionen oder isolierter Sabotageunternehmen durch eine Kombination von Umfassungsangriff und gleichzeitig erfolgendem Fallschirmjägereinsatz den Obersten Stab auszuschalten“, schreibt der Militärhistoriker Karl-Dieter Wolff in seiner Studie „Das Unternehmen ‘Rösselsprung’“.39 Titos Hauptquartier sollte ausgehoben werden.
Jeder der Fallschirmspringer hat zuvor ein Foto von Tito gezeigt bekommen. Fahndungsplakate lobten schon längere Zeit „100.000 Reichsmark in Gold“ für den aus, der Tito den Deutschen ausliefert, tot oder lebendig. Dead or alive sollte Tito gefangen werden. Das Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) vermerkt: „Für den Fall, daß es gelingen sollte, der Person Titos habhaft zu werden, hatte der Führer schon früher angeordnet, dies geheim zu halten. Auf diese Weise sollte verhindert werden, daß die Engländer sich dann wieder Mihailoviæ zuwandten.“40
Der Angriff mußte überraschend erfolgen. Zuerst sollte das Fallschirmjägerbataillon „unter starkem Einsatz der eigenen Luftwaffe und Inkaufnahme jeden Risikos abgesetzt werden“. Die „rücksichtslose Entblößung anderer Gebiete“ wurde in Kauf genommen. Der weitere Auftrag liest sich im OKW-Tagebuch so: „Anschließend sollten starke, schnell bewegliche Kampfgruppen (mit Teilen möglichst auch in Volltarnung) auf den größeren Durchgangsstraßen konzentrisch in das Bandenzentrum vorgetrieben werden, um diese Straßen freizukämpfen, straßengebundene schwere Waffen und Trosse der Banden und erreichbare Lager zu vernichten und die abgesprungene bzw. in Volltarnung eingesetzte eigene Truppe zu entsetzen.“41 Zugleich sollten sie die in der Umgebung von Drvar liegenden Tito-Verbände in Abwehrkämpfe verwickeln und so daran hindern, Tito zur Hilfe zu kommen.
Den Plan hatte Maximilian Reichsfreiherr von und zu Weichs an der Glonn, Oberbefehlshaber (OB) Südost und OB der Heeresgruppen E in Griechenland und F in Jugoslawien, entwickelt. Laut seiner Weisung sollte die 2. Panzer-Armee „unter möglichster Wahrung der taktischen Überraschung mit starken Kräften in den Raum Bugojno - Jajce - Banja Luka - Prijedor - Bihaæ - Knin hineinstoßen und die Führungsorganisation Titos in Unordnung bringen, um sodann in freier Jagd die aufgespaltenen Gruppen bis zur völligen Erschöpfung zu jagen und zu zerschlagen“, wie es im OKW-Tagebuch heißt.42 Von Weichs war vermutlich auch der Ideengeber für das Unternehmen „Rösselsprung“. In den 1950er-Jahren kursierten in Jugoslawien - so in einer Artikelserie der serbischen Zeitung Borba, die 1941 in Uice als Partisanenblatt gegründet worden war - Berichte, Hitler selbst habe befohlen, Tito handstreichartig auszuschalten. Belege dafür fanden sich nie.43
Am 5. Mai 1944 wies von Weichs das Armeeoberkommando der 2. Panzer-Armee unter Generaloberst Lothar Rendulic an, die Operation vorzubereiten: Umfassung und Zerschlagung der in und um Drvar positionierten Tito-Truppen. Eingeplant wurden eingangs das XV. Gebirgs-Korps unter Infanteriegeneral Ernst von Leyser, Teile der zum V. SS-Gebirgs-Korps zählenden 7. SS-Freiwilligen-Gebirgs-Division „Prinz Eugen“, nämlich das SS-Gebirgsjäger-Regiment 13, das zum Heer gehörende motorisierte Grenadier-Regiment 92 und die Panzer-Abteilung 202 der 2. Panzer-Armee, beide aus der Reserve des OB Südost, das 1. Regiment der Division „Brandenburg“ (ohne I. Bataillon), verstärkt durch eine kroatische Freiwilligenkompanie, eine regimentsstarke Kampfgruppe der 373. (kroatischen) Infanterie-Division mit dem Stab, das II. und III. Bataillon des Grenadier-Regiments 384 sowie die Aufklärungs-Abteilung 373.44
Als von Weichs am 5. Mai 1944 Rendulics Plan an das Oberkommando der Wehrmacht übermittelte, bat er zusätzlich noch um Überlassung der Aufklärungsabteilung der 1. Gebirgs-Division aus der OKW-Reserve und um weitere Einheiten der „Brandenburger“-Division. Zugleich erbat er das SS-Fallschirmjäger-Bataillon 500.
Während das OKW die Gebirgsaufklärer für den Einsatz sofort freigab, gab es bei den Fallschirmjägern ein Problem. SS-Reichsführer Heinrich Himmler hatte das Bataillon für einen Gebirgseinsatz in Slowenien eingeplant - „ein Säuberungsunternehmen in der Oberkrain“, wie es im OKW-Kriegstagebuch heißt.45 Auf Bitten der Armeeführung gab er die Einheit jedoch frei. Adolf Hitler bekam die Pläne vom OKW vorgelegt und zeigte sich begeistert. Er stellte klar, was höchste Priorität habe: „den Hauptstab Tito zu stellen und nach Möglichkeit zu zerschlagen“.46 Genau dazu sollte das SS-Fallschirmjäger-Bataillon 500 eingesetzt werden.
Die mit der Planung befaßten Militärführer waren sich darüber klar, daß Erfolg oder Mißerfolg des Kommandounternehmens in erster Linie von den Luftlandetruppen abhingen, in zweiter Linie vom XV. Gebirgs-Korps. Das Korps sollte mit fünf motorisierten Kampfgruppen sämtliche Zugänge nach Drvar abriegeln, die Partisanenverbände im Raum Drvar binden und niederkämpfen und danach das SS-Bataillon entsetzen.
Seit Herbst 1941 lagen die deutschen Truppen mit jugoslawischen Partisanen im Kampf, erst mit den königstreuen Tschetniks unter General Draa Mihailoviæ, dann mehr und mehr mit Titos kommunistischer Guerilla. „Die Lage auf dem jugoslawischen Kriegsschauplatz im April 1944 zeichnete sich einerseits durch permanente Abwehrkämpfe in Dalmatien, Montenegro und Albanien gegen Partisanenverbände und alliierte Kommandounternehmen aus, während es andererseits den Deutschen in Serbien, Kroatien und Bosnien gelungen war, Titos Verbände nördlich und westlich der Drina zurückzudrängen“, analysiert Romedio Graf von Thun-Hohenstein.47 Karl-Dieter Wolff umreißt die größere Bedeutung der Operation: „Die militärische Gesamtsituation im Frühjahr 1944 erforderte gerade auch auf dem Balkan eine entscheidende militärische Aktion gegen die kommunistischen Aufständischen, um die Ausweitung des Südostens zu einem regulären Kriegsschauplatz zu verhindern. Es war notwendig, diese Aktion möglichst schnell durchzuführen, da eine durch einen derartigen militärischen Erfolg gestärkte deutsche Position in Südosteuropa Voraussetzung für die Bündnistreue Rumäniens und Bulgariens wie auch für die weitere neutrale Haltung der Türkei war.“48 Zudem mußten die Deutschen immer noch eine Landung der westlichen Alliierten an der Adriaküste befürchten - und ein Zusammengehen von deren Truppen mit den Partisanen.
„Rösselsprung“ war ein Kommandounternehmen, „mit dem die Initiative seit längerer Zeit zum ersten Mal wieder auf die deutsche Seite überging“, wie es im Tagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht heißt.49 „Der Zeitpunkt hierfür war außerordentlich günstig, da die Tito-Bewegung infolge des gescheiterten Vorstoßes nach Serbien und der (auch in den anderen Schwerpunktgebieten des Kampfes gegen die Besatzungsmacht) erlittenen Rückschläge eine bedeutende Minderung an Macht und Ansehen erfahren hatte“, so der Chef der Heeresabteilung im Wehrmachtsführungsstab des OKW, Horst Freiherr Treusch von Buttlar-Brandenfeld. „Eine erfolgreiche deutsche Aktion mußte sie gerade jetzt empfindlich treffen und der deutschen Führung eine angesichts der gespannten großen Lage sehr erwünschte Entlastung schaffen.“50
Längst waren Titos Truppen im Land zu weit verstreut, als daß eine „großräumige Umfassungsoperation“ Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. So war beim Wehrmachtsführungsstab die Idee entstanden, „überraschend in den von ihm beherrschten Zentralraum einzudringen und seine Führungsorgane (einschließlich der ausländischen Militärmissionen) zu zerschlagen oder mindestens vorübergehend lahmzulegen; es war nicht ausgeschlossen, daß es hierbei gelingen würde, der Person Titos habhaft zu werden“, heißt es im OKW-Kriegstagebuch.51
Fast wäre die Operation in die Hände von Himmlers James-Bond-Verschnitt Otto Skorzeny gefallen. Der österreichische Offizier der Waffen-SS und Spezialist für waghalsige Kommandounternehmen hatte im Frühjahr 1944 im Auftrag Hitlers vom OKW den Befehl erhalten, den Unterschlupf Titos aufzuspüren, dessen Hauptquartier zu zerstören und den Partisanenführer gefangenzunehmen. Skorzeny war seit April 1943 im Reichssicherheitshauptamt Leiter der Abteilung VI-S (Schulung und Widerstandsbekämpfung), die auch Sabotage- und Kommandounternehmen ausheckte. Die Abteilung konkurrierte mit der Spezialeinheit „Brandenburg“ der Abwehr. Im Januar 1944 entstand in Skorzenys Abteilung unter dem Codenamen „Theodor“ der Plan, Tito zu kidnappen. Der mit der Operation betraute SS-Hauptsturmführer Rupert Mandl, ein Balkanexperte, stand in engem Kontakt mit kroatischen „Spionage-Gangs“, die mit Waffen, Geld und drahtlosen Funkgeräten ausgerüstet wurden.52 Im April 1944 traf Skorzeny in Belgrad ein.
„Wo aber hielt Tito sich versteckt? Ich hatte keine Ahnung. Jugoslawien mit seinem gebirgigen und bewaldeten Gelände eignete sich hervorragend für Partisanenkämpfe“, schreibt Skorzeny in seinen Kriegserinnerungen mit dem Titel „Meine Kommandounternehmen“. „Die Informationen, die mir von den entsprechenden Stellen der Abwehr und des SD übermittelt wurden, waren ungenau und widersprachen sich.“53
Skorzeny flog nach Belgrad und fuhr kurzerhand im Mercedes mit zwei Unteroffizieren quer durchs Partisanengebiet von Belgrad nach Zagreb, damals Agram, und organisierte seinen eigenen Nachrichtendienst mit Hilfe von Angehörigen des SS-Jagdverbandes „Südost“. Vier Wochen war Skorzeny dazu vor allem in Bosnien unterwegs. „Die Kommandeure der deutschen Garnisonen waren äußerst erstaunt, uns nach dieser Reise unversehrt zu sehen: Die Straßen, die wir genommen hatten, wurden von Partisanen kontrolliert. Mir begegneten tatsächlich einige Gruppen bärtiger Partisanen, das Gewehr unter dem Arm. Wir hatten auch unsere Maschinenpistolen am Boden des Wagens - unsichtbar von außen, aber den Sicherungsflügel auf ‘Feuer’ eingestellt“, berichtet Skorzeny in seinen Memoiren. „Mir wurde sofort klar, daß wir damit eine Unvorsichtigkeit begangen hatten, die üble Folgen hätte haben können: ‘Tito entführt Skorzeny!’, eine schöne Schlagzeile für den Daily Mirror im Mai 1944!“54
Zurück in Berlin erfuhr der Mussolini-Befreier Mitte Mai 1944, wo Tito steckte. Skorzeny erfuhr all die Informationen, die der aus dem 1. Proletarischen Korps ausgebüxte Deserteur Tetariæ ausgeplaudert hatte. Titos Hauptquartier befände sich in einer Höhle in einem schroffen Abhang mit Blick auf Drvar, bewacht von einem 350 Mann starken Bataillon, mit 6.000 Mann unter Waffen in der Umgebung, soll der Überläufer verraten haben. Wo genau aber die angebliche Höhle sich befinden sollte, wurde von den Deutschen nicht geklärt.
Skorzeny hielt von einem Großangriff auf Drvar nichts. Er war auch überzeugt, daß die Partisanen bereits mit einem Angriff rechneten.55 Offenbar hatte er ein besseres Überrumpelungsmanöver im Hinterkopf: Er selbst wollte mit einem Trupp als Partisanen verkleideter Spezialkräfte Tito in seinem Hauptquartier hochnehmen.56 An den Erfolg einer derart groß angelegten Operation, wie es der „Rösselsprung“ wurde, glaubte Skorzeny nicht. Der Österreicher war sich sicher: Zu viele lose Mundwerke zu vieler Beteiligter plapperten im Vorfeld zu viel aus.
Der Österreicher schickte seinen Stabschef, Hauptsturmführer Adrian von Fölkersam, zu Ernst von Leyser, den Kommandierenden General des XV. Gebirgs-Korps, nach Banja Luka, um die Operation „Rösselsprung“ anzukündigen. Als Skorzeny sich schon wieder Richtung Balkan aufmachen wollte, erschien von Fölkersam in Friedenthal, dem Standort von Skorzenys Sonderverband „zur besonderen Verwendung“, und brachte schlechte Kunde. „‘Da stimmt etwas nicht!’, sagte von Fölkersam. ‘Der General hat mich sehr kühl empfangen, und ich glaube nicht, daß wir mit seiner Unterstützung bei diesem Einsatz rechnen können!’”57 Eine Funkmeldung aus Zagreb brachte Klarheit: Das XV. Korps bereitete einen eigenen Einsatz gegen das Hauptquartier Titos vor. General Rendulic und Generalfeldmarschall von Weichs hatten Pläne, in denen der schillernde Österreicher keine Rolle spielte. Skorzeny und seine z.b.V.-Truppe waren aus dem Spiel. Erst im September 1944 kam das SS-Fallschirmjäger-Bataillon 500 unter das Kommando des schillernden Österreichers.
10. Bruchlandung. Lastensegler im Pech
Die frühen Morgenstunden des 25. Mai 1944. Die SS-Gleitertruppen haben sich noch vor Sonnenaufgang auf die Lastensegler verteilt. Je neun Soldaten scharen sich auf den Flugplätzen Zagreb-Luèko und Zirklach zu den Gleiterpiloten. Jeder Pilot sitzt unter einer Klapphaube, jeweils neun Soldaten hocken hinter ihm auf einer gepolsterten Bank mit Haltegriffen. Der Rumpf besteht aus geschweißtem Stahlrohrfachwerk mit Stoffbespannung. Um 5.55 Uhr, als das erste Tageslicht durchbricht, werfen die Piloten der Schleppflugzeuge ihre Maschinen an. An das Führerhauptquartier wird das Codewort durchgegeben: „Rainer rollt an“.58 Die Schleppflugzeuge rumpeln mit ihren schwerbeladenen Seglern über die Startbahn. Einer nach dem anderen hebt mit einem Gleiter im Schlepptau ab. Die Gleiter werfen ihre Fahrgestelle am Ende der Startbahn ab. Landen sollen sie auf dreifach gefederten Gleitkufen aus Holz. Die Schleppflieger ziehen ihre Fracht in Höhen von gut 3.000 Metern. Richtung Südosten folgen sie erst der Save, dann dem Unac. Unter ihnen liegen Karstlandschaft, Schluchten, teils zerstörte Dörfer, Wiesen und unbestellte Äcker. Ein Teil der Flieger nimmt während des Fluges US-amerikanische Jagdflugzeuge wahr, die US-Bomber beim Anflug auf die Ölfelder und Raffinerien von Ploești nach Rumänien begleiten. Die Jäger bemerken die Schleppflieger nicht oder reagieren nicht.59
Neben dem Fotografen Hans Jochen Karnath ist Viktor Schuller einer der wenigen deutschen Kriegsreporter, der die Operation auch am Boden begleiten soll. An Bord der Lastensegler sind auch schwerere Waffen: Flammenwerfer, schwere MGs und Mörser, sogenannte „Ofenrohre“. Im Anflug auf Drvar preschen die Schlacht- und Sturzkampfflieger an den Schleppmaschinen mit den Seglern vorbei und bombardieren den Talkessel.
Schullers späterer sechsseitiger Bericht trägt den treffenden Titel „Der Griff ins Wespennest“. Der Leutnant ist an Bord einer der Lastensegler. „07.05 Uhr: Die Schleppseile werden ausgeklinkt. Wie Papierschlangen flattern sie am Schwanzende der abdrehenden Schleppmaschinen, als wollten sie Abschied winken.“ Schullers Bericht ist persönlich, ein Minutenprotokoll, das nicht den Gegner lächerlich zu machen sucht, sondern den Lesern der Zeitungen und Zeitschriften im Reich ein packendes Zeugnis des Geschehens liefern soll. „Der Flugzeugführer ruft: Wir stürzen! Ich glaube, es ist mehr ein Fallen, ein Absacken, ein rasend schnelles Fahrstuhlfahren, das kein Ende nehmen will. Jetzt jault der Wind im höchsten Diskant durch alle Fugen.“ Der Höhenmesser fällt in rasender Geschwindigkeit. Berghänge, „das qualmende Dorf“, die Menschen am Boden - alles nimmt Form an. Die meisten Gleiterpiloten öffnen die Bremsfallschirme, um den steilen Abstieg abzumildern. „Dann kracht es, dann schüttelt es, daß die behelmten Köpfe aneinander scheppern. Einer schreit: Raus!“60
Die Mehrzahl der Partisanen am Boden ist zunächst wie gelähmt. Für jeden der Tito-Kämpfer ist es der erste Einsatz gegen Luftlandetruppen. Die allerwenigsten von ihnen haben schon mal einen Lastensegler gesehen. Die Partisanen sehen einen Lastensegler nach dem anderen steil über Drvar niedergehen. Sie glauben, die Segler seien alle von den noch intakten Flak-MGs abgeschossen worden, und führen wahre Freudentänze auf. Schon bald erfassen sie aber die Situation richtig und feuern aus ihren erhöhten Stellungen auf die gelandeten Deutschen in das Tal hinein.
Die Verluste des SS-Bataillons bei der Landung sind erheblich. Etliche Fallschirmjäger fallen dem Abwehrfeuer der Partisanen oder den Angriffen der eigenen Luftwaffe zum Opfer oder verletzen sich bei der Landung. Staub und Rauch, den die deutschen Bomber mit ihren Abwürfen auf das Stadtzentrum aufgewirbelt haben, erschweren den Gleiterpiloten die Sicht. Von den Lastenseglern werden drei bei der Landung zerstört, andere schon in der Luft von den Flak-MGs getroffen. Wieder andere erreichen nicht die vorgesehenen Landzonen, weil sie zu früh ausgeklinkt werden.
Fatal verläuft die Landung für den Gleiter, den Unteroffizier Werner Schubert steuert. An Bord sind Soldaten der Gruppe „Panther“. Schubert wird beim Niederstürzen des Seglers tödlich getroffen, bevor er den Bremsfallschirm lösen kann. Der Gleiter kracht in die Landezone, überschlägt sich, die ganze Besatzung stirbt. Auch einer der Gleitsegler mit Soldaten der „Stürmer“-Gruppe überschlägt sich bei der Landung, die meisten Soldaten kommen um. Obergefreiter Kielmann, Pilot der III. Gruppe des Luftlandegeschwaders 1 (LLG1) mit Männern der Gruppe „Draufgänger“ an Bord, schafft es zwar, den Gleitflieger zu landen. Sekunden später jedoch wird er von Partisanenfeuer tödlich getroffen.61
Böse ergeht es auch dem Gleiter, den Oberleutnant Friedrich Bredenbeck von der III. Gruppe des LLG1 steuert. Im Gleiter sitzen SS-Obersturmführer Richard Schäfer und acht Männer der von ihm kommandierten Gruppe „Beisser“. Schon zehn Kilometer vor Erreichen der Landezone klinkt der Lastensegler aus, vermutlich weil er vom Boden aus beschossen wird. Bei Bastasi kommt er zu Boden. Ganz in der Nähe ist eine Kompanie von Titos Begleitbataillon stationiert, die das Tagesversteck des Partisanenführers sichert. Titos Leibgarde ist schnell zur Stelle. Die gesamte Besatzung des Gleiters wird im Nu von den Partisanen niedergemäht.
Drei weitere Gleitsegler - darunter die zweite „Beisser“-Gruppe - lösen sich zu früh vom Schleppflugzeug und weichen vom Landeziel ab. Zwischen Bastasi und Drvar kommen sie im engen Tal des Unac nieder. Von der geplanten Landezone trennen sie fünf Kilometer. Die drei Besatzungen stoßen auf eine weitere verdutzte Partisanengruppe. Ein kurzes Gefecht mit Handfeuerwaffen und Handgranaten geht zugunsten der Deutschen aus. Die 30 SS-Männer machen 70 Gefangene, die sie aneinandergefesselt im Gänsemarsch nach Drvar führen. Ein beteiligter Fallschirmjäger wird in Rüdiger Franz' Buch „Kampfauftrag: ‘Bewährung’“ mit den Worten zitiert: „Die nicht fielen, ergaben sich dann, daher die hohe Zahl an Gefangenen [...].“ Immer wieder „mußten wir zu den mitlaufenden Gefangenen aus Hütten (Bauernhöfe kann man zu diesen Katen nicht sagen) neue herausholen. Bei etwas mehr Courage hätten die uns so in Gefechte verwickeln können, daß wir kaum unser Ziel hätten erreichen können!“62 Nach zwei Stunden taucht die Gruppe mit den gefangenen Partisanen im Schlepptau beim eigentlichen Ziel auf: „Warschau“. Den Luftbildern nach müßte dies eine Funkstation sein. Tatsächlich verbirgt sich dahinter eine Wetterstation der Amerikaner.
30 der 34 Gleitergruppen landen in den vorgesehenen Zonen - wenngleich nicht immer sicher oder verlustfrei. Gleiterpilot Leutnant Hans Sieg von der II. Gruppe des LLG1 soll mit den Männern der Gruppe „Panther“ nahe der „Zitadelle“, dem mutmaßlichen Stabsquartier der Partisanen, landen. 160 Mann in 16 Gleitern hat er unter seinem Kommando. Sieg löst den Bremsfallschirm erst im letzten Moment und knallt mit der Besatzung fast gegen eine Friedhofsmauer. Sämtliche Luken und Hauben fliegen weg. Sofort schlägt den Gelandeten MG- und Gewehrfeuer entgegen. Ein weiterer Gleiter bricht sich bei der Landung an der Friedhofsmauer die Steuerbordtragfläche ab. Die Männer springen heraus und werfen sich über die Mauer. Dort stellen sie bald fest, daß die „Zitadelle“, das angebliche Hauptquartier des Tito-Stabs, nur ein ordinärer Kleinstadtfriedhof auf einem Hügel ist - die Luftbildauswerter haben sich auf verhängnisvolle Weise geirrt. Das einzige, was die deutschen Soldaten finden, sind ein paar Flak-MGs der Partisanen. Die Bedienungsmannschaften sind unter dem deutschen Bombardement geflohen.63 Einige der gelandeten Fallschirmjäger setzen den fliehenden Partisanen nach und werden im Nahkampf niedergemacht.64
7.07 Uhr. Weitere Besatzungen zwängen sich aus den Lastenseglern, werfen sich ins Gras. „Vereinzelt zirpen Geschosse durch die Halme“, schreibt Viktor Schuller. „Maschinenpistolen bellen zurück, jetzt auch ein 1. MG“. Schullers Flugzeugführer, „ein blutjunger Unteroffizier“, schiebt sich Handgranaten hinter das Koppel. Aus dem Piloten wird im Nu ein Infanterist. Schuller beobachtet die Segler, die noch in der Luft sind. „Einer nimmt einen halben Obstbaum mit, der andere rutscht den Hang hinauf und bremst mit der Nase, daß es splittert.“ Aus den Seglern springen SS-Soldaten, „zerren ihre Waffen hinterher“, sammeln sich. „Unerhörte Bilder drängen sich hier in Minuten zusammen“, schreibt Kriegsreporter Schuller. „Dieses Landen der Segler, das Herausstürzen verwegener Gestalten mit den schußbereiten Waffen in der Faust, wie ein Spuk am hellichten Morgen in grüngefleckten Jacken mit dem Tarnnetz vor dem Gesicht. Einige Feuerstöße - dann krempeln sie sich die Ärmel hoch.“65
11. Streng geheim. Plan und Vorbereitung
Die Vorsichtsmaßnahmen der Deutschen, die Operation vor dem Feind geheimzuhalten, waren von Beginn an streng. Auf die Bereitstellung nichtdeutscher Formationen wurde fast ganz verzichtet. Kroatische Soldaten und selbst die Volksdeutschen der 7. SS-Freiwilligen-Gebirgs-Division „Prinz Eugen“ galten als Sicherheitsrisiko, weil sie unvermeidlich Kontakt mit der Zivilbevölkerung hatten. Die Soldaten der „Prinz Eugen“ stammten fast alle aus Kroatien, Serbien oder Rumänien. In der kroatischen 373. Infanterie-Division wußte nur das deutsche Führungspersonal von dem geplanten Einsatz. Vor allem in den Reihen übergelaufener Partisanen, die auf Seiten der Achsenmächte dienten, vermutete die deutsche Führung eingesickerte Spitzel.
Die Luftlandetruppen waren bereits Anfang März 1944 von Südfrankreich nach Jugoslawien verlegt worden. Hitler hatte schon im Juni 1943 einen Befehl zur Bekämpfung der Aufständischen in Kroatien erteilt. Zweieinhalb Monate blieben die Luftlandesoldaten damit auf Feldflugplätzen kaserniert. Die Lastensegler wurden erst am Tag vor dem Abflug in die unmittelbare Nähe der Ausgangsflughäfen verlegt. Auch die motorisierten Verbände erreichten ihre Ausgangsstellungen erst im letzten Augenblick.