Читать книгу Spaziergang zum Dschungelkönig. Reisestories aus vier Kontinenten - Kai Althoetmar - Страница 1
ОглавлениеKai Althoetmar
Spaziergang zum
Dschungelkönig
Reisestories aus vier Kontinenten
Nature Press
Aus dem Inhalt:
1. Kleines Dschungelbuch in vier Tagen. Zu Fuß auf Tigersuche in Indiens Kardamombergen.
2. Blut, Schweiß und Hyänen. Unter Löwentötern. Leben in einem Massai-Dorf.
3. Kerzen für den Teufel. Guatemala. Zur Karwoche im Land der Mayas.
4. Die Wiedertäufer von Upper Barton Creek. Zu Ostern bei ultraorthodoxen Mennoniten im Urwald von Belize.
5. Malawi Secondary Road. Im Geisterwald von Nkhotakota.
6. Letzte Ausfahrt Schwarzes Meer. Unterwegs im Donaudelta.
7. Sonne, Durst und Sterne. Neunzig Kilometer zu Fuß durch Namibias Fish River Canyon.
8. Hundert Kilometer Einsamkeit. Mit dem Kanu auf dem Oranje im Süden Namibias.
9. Auf der Suche nach Kunta Kinte. In Juffure im westafrikanischen Gambia ist die Zeit der Sklaverei noch präsent.
10. Expedition Tonkin. Auf der Suche nach Vietnams letzten Stumpfnasenaffen.
11. In Adebars Reich. Unterwegs in Kroatiens Save-Auen.
12. Rußland in einem Zug. Mit der Transsib von Moskau bis zum Baikalsee.
13. Grand Canyon auf badische Art. Durch die Wutachschlucht im Südschwarzwald.
14. Intifada Road. Mit Rad und Bus durchs Heilige Land.
15. Wildschwein, Bär, Viper & Co.: Wo Natururlauber in Europa mit riskanten Kollisionen rechnen müssen.
Kleines Dschungelbuch in vier Tagen
Zu Fuß auf Tigersuche in Indiens Kardamombergen
Im alten Indien pflegten die Maharadschas und kolonialen Großwildjäger auf dem Rücken eines Elefanten auf Tigerjagd zu gehen. Heute ist der Elefant ein Land Rover, Jeep oder indischer Tata, der in den Reservaten von Kanha, Ranthambore oder Corbett zur Tigerpirsch vorrückt, die Schüsse sind Schnappschüsse und machen nur klick und klack.
In einem abgelegenen Winkel Südindiens, im Periyar Tiger Reserve in den Kardamombergen der Western Ghats im Osten des Bundesstaates Kerala, gibt es noch zwei weitere Varianten. Erstens: Man fährt mit einem Ausflugsdampfer für eine Handvoll Rupien gemütlich mit einer Limo in der Hand über den Periyarsee und hält von Bord nach wildem Getier Ausschau. Dieses Unternehmen betört vor allem Indiens Honeymooner, und so sind die Schiffe voll mit jungen, fröhlichen indischen Paaren. Wer die zweistündige Törn ein paarmal macht, sieht garantiert wilde Elefanten, mit etwas Glück auch Büffel und Asiatische Wildhunde und bei der zweitausendsten Rundfahrt eventuell den Schatten eines Tigerschwanzes. Variante eins verheißt Bequemlichkeit und Sicherheit. Nur trügt der Schein wie so oft. Im September 2009 bekam ein nagelneues Ausflugsboot Schlagseite und versank, als sich am Ufer eine Elefantenherde zeigte und viele Passagiere zum Public Viewing just in dem Moment auf eine Bootsseite stürzten, als der Kahn eine tigerzahnscharfe Kurve fuhr. 45 Tote wurden gezählt, bis auf zwei alles Inder, die meisten Frauen und Kinder. Etwa zwanzig Passagiere überlebten den Ausflug.
Von einer weiteren Variante, dem Tiger auf die Spur zu kommen, hatten wir zufällig nach einer trockenen Fußes überstandenen Bootsfahrt erfahren: der „Periyar Tiger Trail“, der nahe der Ortschaft Thekkady im Periyar Wildlife Sanctuary startet. „Trail“ heißt hier Fußmarsch durch Dschungel und Grasland, organisiert von Keralas Forstverwaltung. Der Ausflug dauert zwei, drei oder, wenn keine anderen Interessenten da sind, auch ausnahmsweise vier Tage. Außer mir und Kerstin, die sonst eher auf Shiva-Tempel und Buddha-Statuen abonniert ist, gibt es keine Interessenten.
Schon am nächsten Vormittag ist Aufbruch. Vier Stunden sollen es zum ersten Rastlager sein. Wir passieren den Periyarsee, den Stausee, aus dem ertrunkene Bäume surrealistisch ihre Stämme hockrecken. Reiher staksen am Ufer. Im Wald huschen schwarze Nilgiri-Languren durchs Geäst, ein Sambar-Hirsch, Leibgericht des Bengaltigers, kreuzt den Weg. Fünf Mann begleiten uns, vier davon sind Träger, Köche und Fährtenleser. Und Bodyguards. Denn im Wald warten neben Elefanten und Dschungelrindern auf jeden Besucher auch Leoparden, Lippenbären, Asiatische Wildhunde, Königskobras und Pythons. Und Shir Khan, der König des Dschungels. Rudyard Kiplings ganze Dschungelbuchbesetzung leistet ihm in Periyar Gesellschaft: 62 Säugetierarten, viele endemisch oder gefährdet, 315 Vogelarten, 45 Reptilien-, 27 Amphibien-, 38 Fisch- und allein 112 Schmetterlingarten.
Tanghan, der Fünfte im Bunde, ist unser Anführer. Der 31jährige hat Politik studiert und vor zwei Wochen geheiratet. Im Dschungel zählt die Politik nicht. Hier gilt nur fressen und gefressen werden. Tanghans khakifarbene, knitterfreie Forstmannsuniform mit Koppel und Schulterabzeichen strahlt militärischen Zack aus, eine Aura von Ernst und Disziplin, die es im Dschungel zu wahren gilt, damit den westlichen Rucksacktouristen kein Malheur widerfährt. Er ist unser Leibwächter. Er wird fast jeden Moment sein Jagdgewehr am Mann haben, ein chinesisches Modell, Jahrgang 1975, zwölf Schuß, das reicht zur Not, um eine ganze Büffel- oder Elefanten-Stampede zu bewältigen.
Tanghan ist ein sehr bedächtiger Typ, aufmerksam, umsichtig, ein stets freundlicher, aber ernster Charakter mit Understatement. Er erzählt mir von den indischen Tragödien, von der Ermordung Gandhis, er meint die Indira Gandhis 1984, vom Giftgasunglück in Bhopal und anderen Katastrophen. Wie sich denn die deutsche Einheit so mache, will er wissen. Ich gebe eine abfällige Einschätzung, damit Indien im bilateralen Katastrophenvergleich nicht zu schlecht abschneidet, und frage: Wie steht es um die Wiedervereinigung von Indien und Pakistan? Der Forstmann winkt ab. „Zu viele Fanatiker.“
Im Urwald kommt uns ein Troß Tiger-Touristen entgegen. Sie hatten das Rendezvous für eine Nacht mit dem König des Dschungels gebucht. Jetzt sind sie gefrustet. Shir Khan ist nicht erschienen. Nicht mal Elefanten haben sich blicken lassen. Nichts als pugmarks, Tatzenabdrücke von einem Tigerweibchen und ihren Jungen.
Eine Wildschweinrotte rennt vor uns durch eine Furt, der Keiler voran. Schon nach einer Stunde machen die vier Träger Feuer. It's tea time. Die Briten haben hier mit ihrem way of life gründlich gewirkt. Zur Einstimmung werden „Tiger“-Kekse gereicht. Was die Feldküche noch zu bieten hat, steckt in den Kochtöpfen, die die Träger auf dem Kopf balancieren: Bohnen, Linsen, Kürbis, Kohl, Möhren, Reis, Obst.
Die Jagd in Periyar ist strikt verboten, Wilderei wird hart geahndet. Tanghan und seine Männer sind auch deshalb mit uns unterwegs, um nach Spuren von Wilderern Ausschau zu halten. Allein in den ersten fünf Jahren des Projekts „Tiger Trail“ wurden mehr als 85 Wilddiebe gefaßt, darunter vier Elfenbeinjäger.
Auch unsere vier Träger waren früher Schmuggler und Wilderer, wie Generationen vor ihnen. Früher haben sie Tiere gejagt, Bäume gefällt, Teak, Sandelholz, Rosenholz, und Zimtbäume entrindet. Sie sind die Ureinwohner, Peryiar ist ihr Wohnzimmer. Ihre Profession ist die Natur, sie kennen jede Pflanze, jedes Tier, jeden Trampelpfad, jeden Ameisenhaufen. Sie haben sonst nichts gelernt. Die Dschungelausflüge machen ihnen sichtlich Spaß. Das Englisch der meisten Träger beschränkt sich auf wiederkehrende Versatzstücke wie „good morning“, „tea, yes?“ und „tiger dangerous“. No problem, wir verstehen uns auch so, zu viel Gerede verscheucht nur das Wild.
Die Forstverwaltung war klug: Sie hat die Wilderer umgedreht. 23 von dreißig nahmen das Angebot an. Was sie zuvor aus der Natur nahmen, das sollten sie fortan schützen. Nicht auf der payroll des Hehlers, der Elfenbein, bush meat und Edelhölzer verschiebt, stehen sie länger, sondern auf der der Forstverwaltung. Und die verdient an unsereins.
Im Vergleich zum früheren Schmugglerleben ist der Verdienst der Aussteiger gering. Umgerechnet knapp hundert Euro verdienen sie im Monat. Dafür sind ihnen nicht mehr Ranger und Polizei auf den Fersen. Allein unser Fährtenleser hatte es vor seiner Bekehrung auf achtzehn Strafverfahren wegen Wilderei gebracht. Frei von Gefahren wurde ihr Dschungelleben nicht. Einer der 23 wurde 2002, als er im Periyar-Park Elfenbeinjäger verfolgte, von einem Elefanten getötet.
Nur eins mußten die Konvertiten noch lernen: Kochen. Ihre Ehefrauen haben sie von Wilddieb auf Dschungelkoch umgeschult. Das gelang beim einen mehr, beim anderen weniger. Mit ihren dunkelgrünen Tarnanzügen, ihren Baseballkappen, Kopftüchern und schwarzen Schnauzern sehen sie noch immer wie Piraten oder Banditen aus.
Der Periyarsee ist 26 Quadratkilometer groß und sternförmig verzweigt. Er entstand 1895, als die Briten den Periyarfluß am Mullaperyiardamm aufstauten, um Teile des Nachbarstaates Tamil Nadu zu bewässern. Periyar ist einer der wenigen indischen Parks mit echtem Dschungel. Schon 1934 wurde die Seelandschaft Wildschutzgebiet, 1978 wurden insgesamt 777 Quadratkilometer zum Tiger-Reservat erklärt, 1982 machte man Periyars Kernzone zum Nationalpark, 1998 wurde der Tiger-Pfad eingerichtet. Vierzig Familien ernährt das Projekt heute direkt. „Das Ziel ist nicht Gewinnmaximierung“, sagt Tanghan. „Das Ziel ist der Schutz der Wildnis.“
Die Landschaft der Cardamom Hills besteht zum Teil aus immergrünem oder halbimmergrünem tropischem Regenwald mit bis zu fünfzig Meter hohen Bäumen, zum Teil aus Laubfeuchtwald und Grasland. Wir sind in 900 bis 1.800 Meter Höhe unterwegs. Der Park setzt sich aus drei Zonen zusammen, konzentrischen Ringen. Außen ist Touristenzone. Darin liegt der Schiffsanleger, das Periyar Guest House, die Straße, viel Wald. Kurzwanderungen beschränken sich auf diesen Teil. Der zweite Ring ist die Pufferzone. Im Inneren liegt die 350 Quadratkilometer große Kernzone, das Herz des Dschungels.
Auf einer Anhöhe gibt es unter einer hellblauen Zeltplane Mittag: Reis, Gemüse und knackiges Fladenbrot aus Urdbohnenmehl. Tanghan erzählt: In Periyar seien etwa vierzig Tiger unterwegs. Tiger kann man anhand der Tatzenspuren zählen. Jeder Abdruck ist unterschiedlich und verrät Geschlecht, Alter und Größe des Tiers. Wegen der dichten Vegetation braucht man sehr großes Glück, um einen Tiger zu sehen. Die allerwenigsten Touristen haben dieses Glück.
In der Dämmerung wandern wir am See entlang. Die Abendsonne verpaßt dem Grasland einen Orangestich. Die Bühne der Fauna füllt sich. Drei junge Fischadler kreisen über dem stillen See, aus dem Wald dringt Affengebrüll, in der Etappe zähle ich 25 Wildschweine, aus sicherer Entferung starren uns sieben Gaure an, Dschungelrinder, groß wie Kaffernbüffel. Wir laufen durch brusthohes Gras, am Seeufer ist es sumpfig. Tanghans Walkie-Talkie knarzt. Ein Kollege meldet, am anderen Ufer seien Elefanten gesehen worden. Tanghan muß, wollen wir Tiger, Elefant & Co. auf die Spur kommen, auf dem Laufenden sein. Und tunlichst sollten wir die großkalibrigen Tiere sehen, bevor sie uns sehen, zumindest, wenn sie Junge dabei haben, schlecht gelaunt sind und der Fluchtweg für das Tier so blöd verstellt ist wie bei Feuer der Notausgang in einem schlampig geführten Kaufhaus.
Der Tiger Trail ist vollkaskofreie Zone. Stattdessen gibt es Regeln, Regeln, Regeln. Regel eins: auf die Begleiter hören. Regel zwei: von wilden Tieren Abstand halten. Drittens: still sein. Und dann noch: kein Alkohol, kein Parfum, keine Musik, keine helle Kleidung. Allerstrengstens verboten: in der Dunkelheit herumlaufen, und sei es nur im Camp. Und falls doch mal etwas passiert, ist der Veranstalter aus dem Schneider. Vor dem Start hatten wir eine Erklärung zu unterschreiben, daß wir auf alle Schadenersatzansprüche verzichten.
Auf dem Weg zum Nachtlager entdecken wir in einem fort tierische Hinterlassenschaften. Erst den Stachel eines Stachelschweins, dann einen Elefantenknochen, dann Bärenköttel. Schließlich eine Tigerspur. Die Kunst der vier Träger, Fährten zu lesen, steht der der Buschleute im südlichen Afrika in nichts nach. Sie riechen offenbar jeden Elefantenfurz auf zehn Kilometern und können sagen, welches Tier vor 33 Jahren welchen Grashalm umgeknickt hat. Der Tatzenabdruck ist zwei oder drei Tage alt. Der Abdruck verrät, daß sich Shir Khan, der Dschungelkönig, hin und wieder auch in der Touristenzone aufhält, in der Pufferzone sowieso. Tanghan erzählt, es sei vor einer Weile einmal ein Tiger abends auf der tagsüber gut bevölkerten Straße zum Schiffsableger unterwegs gewesen. Für westliche Reisende mag das ein Aufreger sein, für Einheimische ist das normal. Sie wissen, daß Tiger nicht die Straßenverkehrsordnung lesen.
Auf einer Anhöhe bauen die Träger das Nachtlager auf. Geschlossenes Zelt für den weißen Mann und seine Frau, offener Zeltunterstand für das Servicepersonal. Zwei werden nachts immer Wache halten. Das Feuer muß immer anbleiben. Einer der Träger bereitet das Dinner zu: Reis und Gemüse. Unser Angebot, in der Dschungelküche mitzutun, wird nicht gutgeheißen. Die Rollen sind klar verteilt. Wir sind Gast, nicht Koch oder Kellner. Wir tragen nur unser persönliches Gepäck, kein Zelt, keinen Schlafsack, kein Geschirr. Wir spülen nicht ab. Wir halten nicht Wache. Wir bauen nicht einmal das Zelt auf. Immerhin, wir reisen ohne Sänfte, Nilpferdpeitsche und Tropenhelm. Vielleicht erleben wir noch den Tag, an dem indische Globetrotter in der Schnee-Eifel auf Wildkatzenpirsch oder in der Lausitz auf Wolfsentdeckungsreise gehen, angeführt vom Revierförster, mit ein paar Ein-Euro-Jobbern oder Ex-Sträflingen als Trägern im Schlepptau, Aldis Dosenfutter im Marschgepäck.
Wir schlafen schlecht, denn den harten Boden sind wir nicht gewohnt. Am Morgen knarzt das Funkgerät wieder. „Walkie-talkie, calling tiger, calling three tiger.“ Nein, kein Tigeralarm, der Kollege am anderen Ende nennt sich bloß „drei Tiger“. Britischer Humor eben.
Dichter Wald und Graslandschaft wechseln sich ab. Lianen hängen wie armdicke Spaghetti von den Bäumen. In Reihe folgen wir den Trampelpfaden durch den Laubwald, Tanghan wie eine Gänsemama vorneweg, das Gewehr geschultert oder im Anschlag, die Träger mit ihren Pötten und Pappkartons auf dem Kopf hinterher. Ein Nashornvogel, ein Malabar-Hornvogel, beobachtet uns. Lag da ein Grinsen auf seinem Schnabel?
Als wir aus dem Wald kommen, sehen wir in der Graslandschaft Familie Elefant auf uns zutrotten, eine kleine Elefantenparade, einer hinter dem anderen, wie bei Walt Disney. Die Rüssel schlackern unaufhörlich hin und her, wie aus guter Laune oder Übermut. Tatsächlich aber reißen die Dickhäuter Gras aus und futtern ganz zeitgemäß im Gehen. Dahinter müht sich das Elefantenkalb um Anschluß. Es hat sichtlich Probleme, im Takt der Eltern zu fressen und gleichzeitig Schritt zu halten. Wir ziehen uns an den Waldrand bis auf siebzig oder achtzig Meter zurück. Gunman Tanghan ist längst nervös, da knackt es hinter uns im Wald. Nach einem verirrten Wildschweinferkel hört sich das aber nicht an. Familie Elefant ist schon ganz Ohr, legt einen Stoßzahn zu und ergreift zügig die Flucht. Die grauen Riesen haben kapiert, daß da was im Busch ist. Zehn Meter hinter uns taucht ein paar Schrecksekunden später aus dem Dickicht ein Wildrind mit Kalb auf. Als Mutter und Kind uns bemerken, flüchten sie. Nur wir fliehen nicht.
Bevor ein Elefant einen Menschen attackiert, gibt er gewöhnlich erst Warnsignale oder greift zum Schein an. Eine Touristin kam im November 2009 in Periyar mit Rippenbrüchen, einem Schlüsselbeinbruch und dem Schrecken davon, als eine Elefantenkuh sie angriff. Die Frau und ihr Partner waren mit einem einzelnen, unbewaffneten Führer auf einer Halbtageswanderung in der Touristenzone unterwegs, als sie eine Herde von 55 Elefanten aus etwa hundert Metern Distanz beobachteten. Beim Rückzug durch den Wald tauchte die Elefantendame unvermittelt auf und stürmte in Richtung der drei. Der Führer schrie „run!“ und floh mit dem anderen Mann, während die Frau sich ins Gebüsch kauerte. Die Elefantenkuh ließ von den Flüchtenden ab, entdeckte die Frau und schlug mit dem Rüssel nach ihr. Das Tier soll sogar versucht haben, sie zu erdrücken, wie die Frau später berichtete. Weil sie sich in Embryostellung in einer Mulde zusammengerollt habe, sei sie mit dem Leben davongekommen. Zoologen würden sagen, daß die gereizte Elefantendame nur eine Verwarnung ausgesprochen habe.
Andere Urlauber kamen in Indien weniger glimpflich davon. Im August 2009 wurde eine 65jährige Französin im Nilgiris District in Tamil Nadu auf einer Safari von einem Elefanten getötet. Eine wilde Elefantenkuh und ihr Kalb hatten sich vom Fotoblitzlicht gestört gefühlt und attackierten den offenen Jeep. Das Muttertier erschlug die Französin mit ihrem Rüssel. Im April 2009 hielt eine Gruppe Touristen im Kaziranga-Nationalpark nach Vögeln und Primaten Ausschau, als ein Elefant sie attackierte. Acht konnten sich in Sicherheit bringen, ein 60jähriger holländischer Tourist stolperte und wurde von dem Tier zu Tode getrampelt.
Zusammenstöße mit Tigern sind seltener. Im Februar 1985 wurde ein britischer Ornithologe bei der Wildbeobachtung im Corbett-Nationalpark von einem Tiger getötet. Im Mai 2004 gab es einen spektakulären Tigerangriff in Kaziranga, der - weil gefilmt - als YouTube-Video um die Welt ging. Ranger des Assam Forest Departments waren auf dem Rücken von fünf Arbeitselefanten auf der Suche nach einer Tigerin, die zwei Stück Vieh gerissen hatte. Der Trupp entdeckte das Weibchen, ein Schuß aus dem Betäubungsgewehr verfehlte es. Aus der Deckung eines Reisfeldes sprang die wütende Katze plötzlich vier Meter hoch auf den Kopf eines Elefanten und attackierte den Mahut mit einem Prankenschlag und ihren gefährlichen Kieferzähnen. Die Raubkatze verletzte Hand und Arm des Mahuts schwer, die Elefantenkuh wich zurück, und das Tigerweibchen landete wieder auf dem Boden. Der Mahut und der hinter ihm sitzende Schütze fielen ins Gras. Die tapfere Elefantenkuh hielt die brüllende Tigerin mit ihrem linken Fuß und dem Rüssel eine halbe Minute lang auf den Boden gedrückt und rettete so die beiden Inder vor dem Tod, bevor die Tigerin entweichen konnte. Der 25jährige Mahut verlor drei Finger.
Verglichen mit dem Blutzoll, den Einheimische entrichten, sind die tragischen Zusammenstöße von Touristen mit Tieren in Indien eine Quantité négligeable. Allein in Assam töten Elefanten jedes Jahr Dutzende Inder. In den Sundarban-Sümpfen an der Grenze zwischen Indien und Bangladesch erlegen menschenfressende Tiger jedes Jahr schätzungsweise fünfzig bis 250 Menschen. Die rund 500 Raubkatzen dort haben ihre Scheu vor dem Menschen weitgehend verloren und greifen nicht nur Holzfäller, Fischer und Honigsammler in den Mangrovenwäldern an, sondern auch die Einwohner in angrenzenden Dörfern, selbst in Hütten und Ställen.
Schon am Mittag schlagen wir unser Nachtcamp an einem Bach auf. Später wird Tanghan dort einen Python im Wasser entdecken, was er mir aber erst am nächsten Tag beichtet. Das kommt meiner Schlangenphobie entgegen. Auch Kerstin starrt bei der morgendlichen Katzenwäsche am Bach auf die Schlange Ka, in unserer Dschungelbuchversion nur ein harmloser Zwergpython. Ich spüle meine Zähne lieber mit Tee. Die Präsenz der Elefanten, die in etwa fünfzig Meter Entfernung um unser Lager herumlungern und trompeten, läßt sich nicht verheimlichen. Der Wind hat ihnen unseren Geruch in die Rüsselspitze getragen. Am Nachmittag nähern wir uns der Bande von der anderen Windseite, entdecken am See zuerst Dschungelrinder und Wildschweine, dann eine Versammlung von zwölf Elefanten. Einige duschen mit Sand, andere mit Wasser. Zwei Bullen kämpfen miteinander. Manchmal enden die Rangkämpfe für die Tiere tödlich, wie Funde von Elefantenkadavern im Park zeigen. Solange die Tiere ihre Hackordnung klären, rauchen wir gemütlich von Hand gerollte Beedis, filterlose indische Billigzigaretten. Einer der Träger bringt uns Kaffee ins Gelände.
Auf dem Rückweg sinkt mein linker Fuß in Brackwasser ein. Ruck, zuck hat sich ein Blutegel an der Wade angedockt. Die Blutegel sind die eigentliche Plage dieses Dschungels, vor allem in der Regenzeit. An Mücken mangelt es auch nicht. Die Malaria ist in Periyar aber ausgerottet. Wo der Boden feucht ist, sind Tierspuren gut lesbar. Einer der Träger entdeckt eine Tigerspur. Die ist von gestern. An einem Baum entdecken wir Kratzspuren: wieder der Tiger. So schärft Shir Khan seine Krallen. Wo er wohl sein mag?
Über dem Camp liegt eine Kakophonie aus Vogelstimmen, Bachplätschern und Hindi. Früher hatten hier die Wilderer ihr Lager. Noushad, der Fährtenleser, der seinen Namen wie „No shot“ ausspricht, was wie eine Verheißung klingt, daß kein Schuß fallen wird, schreibt etwas in sein Dschungelbuch. Er führt Statistik. Er notiert die Zahl der Elefanten, Büffel und anderer Spezies, als zwei junge Dickhäuter aufdringlich werden. Eineinhalb seien die jungen Elefanten, sagt Noushad. In dem Alter sind sie etwas rauflustig. Er verscheucht sie aus der Nähe des Lagers, auf Hindi ruft er ihnen „Viel Glück!“ hinterher.
In den Breitengraden des Dschungels wird es früh dunkel. Tags ist es um die 25 Grad warm, nachts kaum zehn Grad kälter, die Luft ist schwül. Das Feuer schützt uns vor ungebetenem vierbeinigem Besuch. Die Träger schüren es mächtig, schlagen meterhohe Funken aus der Glut, richten lange Äste im Feuer wie eine Fackel auf. In etwa hundert Meter Entfernung haben sich wieder Elefanten gesammelt. Sie trompeten. Wir sind ihnen im Weg. Unser Camp steht auf ihrem Trampelpfad.
Bei Gemüsesuppe erzählt Tanghan, während der letzten vier Dschungeltouren habe er keine Elefanten gesehen. Ich frage ihn nach anderen tierischen Begegnungen. Er hat in seinem Leben bislang vier Tiger in Periyar gesehen, außerdem einen toten. Tiger haben gute Augen und riechen selbst das Haarwaschmittel von voriger Woche auf Kilometer. Sie gehen uns aus dem Weg.
Indien ist das tigerreichste Land der Erde. Die Weltnaturschutzunion (IUCN) schätzt die Zahl der Bengaltiger in freier Wildbahn auf etwa 2.500, die meisten davon streifen durch Indien, die übrigen durch Nepal, Bangladesch und Bhutan. Andere Schätzungen sind pessimistischer. Um 1900 lebten noch rund 40.000 Indische Tiger auf dem Subkontinent. Jagd, Wilderei und der Verlust von Lebensraum brachten den Königstiger, wie er auch genannt wird, an den Rand der Ausrottung. Tigerjagd war einst der Sport der Könige, später auch kolonialer Bonzen, vor allem der Briten. 1972 gab es nur noch rund 2.000 Bengaltiger. Regierung und die Umweltstiftung WWF starteten 1973 das „Projekt Tiger“. Reservate und Nationaparks wurden gegründet, die Tigerjagd war da erst zwei Jahre verboten.
Wo Shir Khan sein Reservat verläßt und Ziegen oder Kühe reißt, zahlt die Regierung heute Entschädigung. Nur menschentötende Tiger werden in seltenen Fällen getötet oder für Zoos gefangen. Heute gilt der Indische Tiger als gerettet. In anderen Teilen Asiens wurden verwandte Unterarten ausgelöscht: in den 1940er Jahren des vorigen Jahrhunderts der Bali-Tiger, in den 1970ern der Kaspische Tiger, in den 1980ern der Java-Tiger, in den 1990er Jahren der Südchinesische Tiger.
Balu, der Bär, ist nicht in Gefahr. Auch er lebt in Peryiar: etwa hundert Lippenbären, die hier endemisch sind. Die Bären sehen ganz schlecht, gerade mal sechs Meter weit, sagt Tanghan. Weil sie Krallen wie Faultiere haben, heißen sie im Englischen „Faultierbären“. Sie fressen Honig, Insekten und Aas und sind für uns keine Gefahr, solange wir nicht anfangen, die Jungen zu herzen, die die Mutter auf dem Rücken trägt. Manchmal sind die Lippenbären besoffen im Urwald unterwegs, wenn sie sich an den gärenden Früchten des Mahua-Baumes berauscht haben.
Fast tausend indische Elefanten gibt es in Periyar. Auch Elefanten, sagt Tanghan, sehen miserabel, vielleicht zwanzig Meter weit, dafür riechen und hören sie ausgezeichnet. Indische Elefanten lieben dichte, hügelige Wälder wie die Periyars. Außerhalb der Wildschutzgebiete gibt es öfters Randale, wenn Elefanten Getreidefelder plündern.
Auch jede Menge Kobras hat Tanghan auf seinen Wanderungen gesehen. Die soll man nicht provozieren, sagt er. Die Königskobra ist bis zu fünf Meter lang - die längste Giftschlange der Welt. Sie lebt vor allem im Dschungel und hat großen Appetit auf andere Schlangen. Ihre kleinere Schwester, die Brillenschlange oder Kobra, hält sich als Kulturfolgerin gerne in Menschennähe auf. Anders als manche Viper ist sie nicht von Natur aus aggressiv, sonst wären Indiens Teepflücker, in deren Plantagen sie oft gesehen wird, wohl bald ausgestorben. Bißunfälle, oft mit Todesfolge, gibt es in Indien dennoch jedes Jahr einige Tausende.
Vor allem die Giftschlangen und die Elefanten machen das Restrisiko aus, das jede Wanderung wie eine schwarze Wolke begleitet. Ein Pfau oder ein Mungo wären eine gute Zeltwache. Sie werden selbst mit Kobras fertig. Fünfzig giftige Schlangenarten gibt es in Indien. Vor allem die verschiedenen Grubenottern und Vipern kommen fast überall vor. In Periyar sind rund dreißig Schlangenarten unterwegs, darunter auch „fliegende Schlangen“ - Schmuckbaumnattern, die von Baum zu Baum gleiten können.
Bei einem Biß sei „first aid“ gefragt, meint Tanghan lapidar. Ich versage mir die Nachfrage, was das - einen Tagesmarsch vom nächsten Telefon oder Auto entfernt - konkret heißen soll. Schon Balu, der Bär, hatte in Walt Disneys Film empfohlen: „Probier's mal mit Gemütlichkeit.“ Ich berichte von einem Franzosen und seinem Sohn, mit dem wir, weil es der Zufall so wollte, zwei Tage zuvor eine dreistündige geführte Wanderung durch die Touristenzone unternommen hatten. Der Sohn, etwa acht Jahre alt, hielt sich die meiste Zeit abseits vom Forstführer und stocherte mit einem Stock ständig in allen möglichen Erdlöchern, Ameisenhaufen, Baumstümpfen und hohlen Bäumstämmen herum. Sein Vater hatte daran nichts zu beanstanden. Ich war mir fast sicher, es sei nur eine Frage der Zeit, bis der Junge eine Kobra oder eine andere Schlange aus einem Loch aufstöbern würde. Tanghan nickt verständig. Er sei nur ungern mit Gruppen von fünf Touristen unterwegs. Aus Sicherheitsgründen, sagt er. Je mehr Touristen, desto mehr Fälle von Disziplinlosigkeit und riskante Situationen.
Ich liege im Zelt. Zwei Quadratmeter Zivilisation oder wenigstens der Anschein davon. Es ist spät, die Stimmen der anderen wabern durch die Nacht. Die Inder singen am Lagerfeuer ein Lied, es klingt wie ein Kirchenlied. Zwei der Träger sind Hindus, einer Christ, einer Muslim. Ginge es nach ihnen, wären Indien und Pakistan noch eins und müßten keine Atomwaffen aufeinander richten. Dann weht ein deutsches Kinderlied sanft durch den Dschungel. „Lalelu, nur der Mann im Mond schaut zu.“ Eine vertraute Stimme. „Dann kommt auch der Sandmann, leis' tritt er ins Haus...“ Über dem Kunststoffzelt leuchtet das Sternenzelt, in der Wildnis von Periyar ist der Nachthimmel noch frei vom Lichtschmutz der Städte. „...tausend Sterne schaun uns zu, führen uns ins Reich der Träume...“ Die Inder haben sie auch um ein Lied gebeten, erzählt Kerstin mir später. Da sei ihr der Mann im Mond eingefallen. Die Fünf seien sehr andächtig gewesen, fast gerührt.
Um fünf Uhr morgens rücken die Elefanten nahe ans Lager. Sie wollen ihres Weges ziehen. Das Feuer hält sie auf ein paar Dutzend Meter Abstand. Wir frühstücken Fladenbrot mit Schwarztee. Zum nächsten Camp sind es nur ein paar Kilometer. Diesmal ist es elefantensicher. Gräben, vermutlich noch von den Briten gezogen, stecken den Platz ab. Wir deponieren das Gepäck und wandern einen Berg hinauf. Unser Blick streift über dichten Laubwald, trockene Graslandschaft. In der Ferne auf einer Anhöhe liegt ein kleiner Hindu-Tempel. An einem einzigen Tag im Jahr, zum Tempelfest, ist er geöffnet. Für uns riecht es nach katholischem Hochamt: Einer der Träger entdeckt im Wald Weihrauch und zündet ihn an. Unsere Dschungelpiraten geben uns Nachhilfe in Gewürzkunde: Wilden Pfeffer, Zimt, auch Wildbananen gibt es, alles erntefrisch, alles kostenlos, greifen Sie zu, meine Dame.
Es ist drückend heiß, die Baumwolle klebt am Körper. Die Schweißbäche auf meinem Körper riechen vermutlich noch die Tiger in Bengalens Sundarban-Sümpfen. Es geht durch mannshohes, dichtes Elefantengras. Die Sicht ist gleich null. Wohl ist mir nicht in meiner Haut. Ein Gefühl von Kontrollverlust. In einem schlechten Abenteuerroman würde uns jetzt ein Tiger oder Panther wie aus dem Nichts anspringen. Noushad oder Tanghan laufen immer vorneweg. Sie machen keinen nervösen Eindruck. Sie sind in anderen Situationen unruhig: wenn Elefanten in der Nähe sind oder wenn wir nachts in der Dunkelheit austreten müssen und uns mehr als fünf Meter von Zelt und Feuer entfernen. Was, wenn der deutsche Sahib versehentlich einer Kobra auf den Kopf pinkelt?
Der Rückweg führt uns durch offenes Grasland. Aus dem Wald kommt eine Horde Wildschweine auf uns zu. Die Tiere bemerken uns und machen kehrt. Die Wildschweine tauchen immer in Rotten von zwanzig bis vierzig Tieren auf. Mit ihren scharfen Hauern nehmen sie es im Notfall mit Tigern, Leoparden und Rothunden auf. Am Seeufer machen wir in sicherem Abstand eine Herde Dschungelrinder aus. Im Unterholz dann der Schreck: ein mächtiges Vieh in zwanzig Meter Entfernung - ein einzelner Gaur. Zum Glück flüchtet das überraschte Tier. Anders als die afrikanischen Wasserbüffel sind die indian bisons nicht aggressiv, sondern scheu.
Wir marschieren in Gänseformation in Nähe des Sees. Noushad hat jetzt das Gewehr und geht vorneweg. Es ist Spätnachmittag. Tanghan ist wieder nervös, weil wir uns am Seeufer wie auf dem Präsentierteller bewegen. Wir schweigen lieber. Hinter einer Behelfsbrücke mache ich ein Tier aus. Rotbraunes Fell, vielleicht 1,20 Meter Schulterhöhe. Im ersten Moment denke ich an einen Tiger. Typische Touristenhalluzination. Es ist eine Sambar-Hirschkuh, ein Pferdehirsch. Sambar-Hirsche mischen sich gerne unter Gaure, um sich vor Tigern und Asiatischen Wildhunden zu verstecken. Die Dschungelrinder sind auch nicht weit entfernt. Am Seeufer weidet eine Herde. Die Tiere haben uns längst bemerkt. Fünf Minuten lang visieren sie uns friedlich an, dann hauen sie ab.
In der dritten Nacht ist es kalt, es hat geregnet, Nebel kriecht über den Boden, Frösche quaken. Gegen sechs Uhr früh reißt uns ein tiefes, durchdringendes, schauderhaftes Gebrüll aus dem Schlaf. Auuuuun! Zuerst glaube ich schlecht geträumt zu haben, aber das Gebrüll überdauert das Aufwachen. Es ist markerschütternd. So etwas habe ich noch nie gehört. Der Tiger ist da. Aber wo? Den Dezibel nach zu urteilen, könnte er vor dem Zelteingang stehen. Er ist freilich noch ein sicheres Stück entfernt. Wir machen uns auf. Kerstin wird später sagen, so schnell sei ich noch nie aufgestanden. Tanghan kommt aufgeregt ins Camp gelaufen. Er hat den Tiger gesehen. Vom Waschplatz aus. Im Schlafanzug. Einen Steinwurf von unserem Lager entfernt liegt ein kleiner See mit Steg. Tanghan hörte dort wie wir den Tiger. Und er sah ihn. Aus vielleicht 200 Metern Entfernung. Dann rannte unser Gewehrträger weg, zurück ins Lager, denn ausgerechnet zur Morgenwäsche hatte er sein Gewehr nicht mitgenommen.
Wir machen uns sofort auf. Mit Gewehr und Fernglas. Der Fährtenleser sagt, der Tiger jage einen Sambar-Hirsch. Wir laufen zügig durch flaches, feuchtes Grasland in Richtung des Waldrandes, wo Tanghan das Tier zuletzt gesehen hat. Noushad macht die erste Spur aus. Tiefe Tatzenabdrücke. Eine Tigerin, sagt der Fährtenleser. Das Tigerweibchen habe Junge. Wie in Gottes Namen weiß er das alles? Wir halten Ausschau, finden neue Spuren, hören aber kein Gebrüll mehr. Wir stehen ratlos am Waldrand. Die Tigerin ist im Wald verschwunden. Der Dschungel hat sie verschluckt. Hinterherlaufen oder nicht?
Noushad und Tanghan beraten sich. „Wir gehen nicht weiter“, sagt Tanghan entschlossen. Unser Tigerpfad endet hier. Im Wald ist es zu unübersichtlich. Wenn wir der Tigermutter folgen, könnte sie uns angreifen, weil sie ihre Jungen in Gefahr sieht. Wir drehen ab, packen unsere Sachen. Tanghan hat seinen fünften Tiger gesehen. Uns hat Shir Khan nur geweckt.
Blut, Schweiß und Hyänen
Unter Löwentötern. Leben in einem Massai-Dorf
Niemand bläst zum Halali, keiner hat sich Jagdschale geschmissen, keine Hundemeute wird die Witterung des Wildes aufnehmen. Die merkwürdigste Jagdgesellschaft unter Afrikas Sonne schleicht geräuschlos durch den Kral in Richtung Savanne: drei junge Hausfrauen in Sommerkleidern à la „Woolworth“-Wühltisch, nur mit leeren Getreidesäcken bewaffnet, ein kaum zehnjähriger Bub in Shorts und zerrissenem T-Shirt, der Fährtenleser, an die fünfzig, mit seinem ulkigen Zylinder und abgetragenem dunklen Flickenjacket, Daniel, der siebzehnjährige Oberschüler, im Sonntagsgarn, voran der alte Jäger mit seinem Gewehr, auf dem Kopf eine beige Safari-Kappe.
Die drei Frauen sollen auf dem Rückweg das Fleisch tragen. Fragt sich nur, von welchem Tier. Mich interessiert: „Daniel, can I come with you?“ Niemand hat etwas dagegen. Sieben Schwarze und ein Weißer ziehen in die Savanne Ostafrikas, sieben wegen der Dürre und der schlechten Maisernte im Norden Tansanias, einer aus Neugier. Die Savanne beginnt direkt vor den Lehmhütten und Steinhäusern der dreitausend Massai von Longido und wird nur von der Nationalstraße A 104 zerschnitten, die von Arusha durch das Massailand immer nach Norden führt, bis nach Nairobi.
Wir überqueren die Straße, lassen die Polizeistation und den Gemischtwarenladen an der A 104 hinter uns liegen. Vor uns die Trockensavanne: hüfthohes Buschgras, Schirmakazien, Dorngestrüpp. Achtzig Kilometer westwärts sind es bis zum Natronsee, weitere achtzig bis zum Ostrand der Serengeti, der „unendlichen Ebene“, wie es in der Sprache der Massai heißt, dem „Weltnaturerbe der Menschheit“, das im Westen den Viktoriasee berührt und im Norden bis zur kenianischen Grenze reicht, Weidegrund von 1,3 Millionen Gnus, 500.000 Thomson-Gazellen, 200.000 Zebras, ungezählte Giraffen, Elefanten, Spitzmaulnashörnern und Kaffernbüffeln, Jagdgrund von 2.000 Löwen, 700 Geparden, einem nimmersatten Heer von Leoparden, Hyänen, Wildhunden, Schakalen und anderen Bekannten aus Brehms Tierleben.
Die Serengeti, so groß wie Schleswig-Holstein, ist „der letzte Fleck in Afrika, wo es noch Riesenherden gibt, die über die Steppen stampfen wie einst das Meer der Bisons über die Graswellen der Prärien Nordamerikas“, schrieb Bernhard Grzimek 1959 in seinem Klassiker „Serengeti darf nicht sterben“.
Nur wenige Runddörfer viehtreibender Massai zeugen heute von menschlichem Dasein in der Wildnis zwischen dem Serengeti-Nationalpark und der A 104. Die Nachmittagssonne treibt den Schweiß. Die Furcht, im Buschgras einer aggressiven Schwarzen Mamba über den Weg zu laufen, ist ein treuer Begleiter. Schon nach zehn Minuten Fußmarsch macht der Fährtenleser eine Schar Thomson-Gazellen aus. Aber zweihundert Meter sind eine weite Schußdistanz. Der Jäger pirscht sich allein an die scheuen Tiere heran.
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Szenenwechsel. Mittwoch in Longido. Es ist Viehmarkt. Massai aus der ganzen Region, etliche aus Kenia, treiben ihre Rinder in den von Steinmauern umfriedeten Auktionspferch. Manche kaufen dazu, andere verkleinern ihre Herden. Vor allem aber ist der wöchentliche Markt Neuigkeitenbörse - für Nachrichten von Geburt und Tod, Heirat und Beschneidungsfesten, für Spekulationen über Regen und das Ende der Dürre. Rinder sind Statussymbol, der Stolz der traditionellen Massai, die sich für Gottes auswerwähltes Volk halten. Gott, so glauben sie, hat das Vieh allein für sie bestimmt. Fremden Vieh zu stehlen, halten sie daher für legitim. Ackerbau und staatliche Autorität aber lehnen sie ab.
Die Herden vermehren sich wie die Menschen. Überweidung und Bodenerosion sind die Folgen. Die Savanne wird zur Wüste. Die Massai selber schlagen Bäume und Büsche ab, wenn sie auf ihren Wanderungen neue Hütten aus Lehm und Dung bauen und Dornwälle um ihre Viehpferche und bomas, ihre primitiven Savannen-Gehöfte, auftürmen. Wo der Boden seinen Schatten verliert, trocknet er aus. Gewöhnlich schlachten die Massai nur ihre Ziegen, zu besonderen Festen auch Rinder - ein Volk, das sich nur von Fleisch, Milch, Tierblut, Wildhonig und Getreide ernährt.
Unter einem Baum schächtet eine Gruppe Massai-Männer seit dem frühen Morgen Ziegen. Es riecht nach Innereien und ausgeleerten Därmen. Ein Messerschnitt durch die Kehle, dann bluten die Böcke aus und werden auf Holzgestellen ausgenommen. In einem Haus wird das Ziegenfleisch mit Reis zubereitet - Mittagessen für die Marktbesucher, Imbißbude à la Massai.
Frauen sind auf dem Viehmarkt nicht zu sehen. Die schlanken, großen, schmallippigen Jünglinge lachen und tratschen. Kaum einer der moranis, der Männer der Kriegerkaste, ist älter als 25, alle tragen die blutrote shuka, das togaartige Umschlagtuch, mit Ockerschlamm gefärbte Haarzöpfe, Ohrgehänge aus bunten Perlen, Gummisandalen, geschnitten aus alten Autoreifen. Einige trinken Coca-Cola aus Flaschen - der Clanchef sieht es ja nicht. Manche stützen sich auf ihre Speere, mit denen die jungen Krieger ihr Vieh selbst gegen Löwen verteidigen. Notfalls verfolgen Massai den Löwen, der ihr Vieh reißt, tagelang - bis es zum Showdown kommt. Der Staat verbietet dieses Mannbarkeitsritual. Stolz sind die Massai auf ihr Vieh, stolz auf ihre stehengebliebenen Quarzarmbanduhren, die für sie Schmuck und nicht Zeitmesser sind.
Die Zeit ist für das Nilotenvolk aber keineswegs stehengeblieben, seit es vor Jahrhunderten von Nordafrika nach Süden zog, sich auf dem langen Weg mit den schwarzen Völkern des oberen Nils vermischte und das Riesental des Großen Afrikanischen Grabenbruchs, das Great Rift Valley, im heutigen Süden Kenias und im Norden Tansanias einnahm. Vor allem britische Siedler nahmen den Massai während der Kolonialzeit ihr Land, dann zerschnitt die tansanisch-kenianische Grenze das Massailand, schließlich wurden sie aus den Nationalparks ausgesperrt.
Jene Massai, die ihre Naturreligion aufgaben und ins Christenlager wechselten, schworen Viehdiebstahl und Polygamie ab. Ein Volk wandernder Hirten blieben sie aber. In Longido treffen Moderne und Tradition aufeinander: Die Massai von Longido sind seßhaft und doch Nomaden. Tagsüber treiben sie ihre Herden durch die Savanne, abends kehren sie in die Hütten und Häuser von Longido zurück. Sogar Mais pflanzen sie an und halten Hühner. Das Wild der Savanne jagen nur die wenigen modernen Massai, jene, die die roten Umhänge gegen Baumwollhemd und Jeans eingetauscht haben.
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Den Jäger haben wir aus dem Blickfeld verloren. Es ist auch kein Schuß gefallen. Wir irren durch die Savanne, halten nach Jäger und Gejagten Ausschau und hoffen, nicht versehentlich ins Schußfeld zu geraten. Da! Hinter einer Schirmakazie, etwa 250 Meter entfernt, ein langer Hals - eine äsende Giraffe. Ob der Jäger sie auch entdeckt hat? Die Giraffe ist das Wappentier von Tansanias alter Flagge. Auf ihren Abschuß stehen als Strafe einige Jahre Gefängnis. Ohnehin ist Wilderei ein schweres Delikt - auch außerhalb der tansanischen Nationalparks. Aber der Hunger ist stärker als das Gesetz. Die Maisfelder sind abgeerntet, Geld ist rar, nicht jeder hat Vieh, und die kostenlosen Lebensmittelrationen auf Coupon, mit denen die Regierung auf die Dürre reagiert hat, sind knapp kalkuliert.
Die vergangenen Tage war der Jäger vergebens in die Wildnis gezogen. In der Not, das erzählt Daniel mir, habe man auch schon Giraffen erlegt, meist aber Antilopen oder Gazellen. Die Tiere sind extrem scheu, nehmen Reißaus, sobald sich ihnen Menschen auf Schußweite nähern. Der leiseste Mucks kann das Wild verscheuchen. Seit einer halben Stunde ist mir - verdammte Gräser! - zum Niesen zumute. Niesen oder nicht - eine Gewissensentscheidung. Ich unterdrücke es, und der Suchtrupp erspäht kurz darauf einen Kudubock. Vom Jäger dagegen keine Spur. Bis ein Schuß die Stille durchbricht.
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Longido. Es fehlt wieder an Schaufeln, und der Zement geht auch zur Neige. Niemand fühlt sich für den Nachschub verantwortlich. Der Rohbau des Gemeindezentrums von Longido stand schon bei unserer Ankunft. Es geht nicht vorwärts. Workcamp-Frust. Drei Leute arbeiten im Schatten der Schirmakazie an der Steinpresse, der einzigen, zwei mischen Sand, Zement, Schotter und Wasser, zwei räumen die gepreßten Steinquader zum Trocknen beiseite. Die restlichen acht deutschen Jugendlichen starren Löcher in die Luft. Kaum siebzig Steine, Bausubstanz für ein Nebengebäude des Community Center, werden pro Tag fertig. Mittags schwirren alle wie hungrige Heuschrecken aus, grasen das dürregeplagte Longido nach Eßbarem ab. Einheimische verirren sich selten auf die Baustelle, nur drei Schwarze arbeiten mit - gegen Lohn.
Schon drei Tage nach der Anreise klärt der Ersatzreiseleiter die deutsche Gruppe darüber auf, daß das Workcamp von drei auf zwei Wochen gestutzt wird. Last und Nutzen für den Massai-Ort „stehen in keinem sinnvollen Verhältnis“. Es fallen sarkastische Kommentare. Tenor: „Gut, daß wir das hier erfahren.“ Szenen eines absurden Theaterstücks, das „Die Investititionsruine“ heißen könnte, inszeniert von einem nordrhein-westfälischen Jugendreiseveranstalter. Seit vier Jahren wird an dem Gemeindezentrum gebaut. Ein Dritte-Welt-Laden aus Baden-Württemberg kommt für das Baumaterial auf.
Der tansanische Initiator des Projekts, Estomihi Kinasha Molell, ist seit einem nächtlichen Sturz in eine Grube vor drei Jahren ans Bett gefesselt. Die zwei Meter tiefe Grube ist seitdem nicht verfüllt worden. Esto, 46, Studium der Soziologie in Australien, Vater von fünf Kindern, hat einen Traum: die Menschen von Longido zusammenzubringen, sie aufzurütteln, die drängenden Probleme von heute und morgen anzupacken. Wassermangel. Aids. Überweidung. „In ein paar Jahren haben wir hier eine Wüste. Das Vieh zerstört das Land“, sagt Esto, der als ehemaliger Programm- und Entwicklungschef des tansanischen YMCA-Zweiges, des „Christlichen Vereins Junger Männer“, die Nöte seiner Heimat kennt.
Longidos einzige Wasserquelle während der Trockenzeit ist der 2.629 Meter hohe Mount Longido, an dessen Fuß eine Zisterne Quellwasser speichert. Der Regen aber versickert Jahr für Jahr ungenutzt. Währenddessen tickt unbemerkt die Zeitbombe Aids. Junge Massai-Krieger aus Longido arbeiten als Wachmänner für Villen-, Geschäfts- und Hotelbesitzer in Nairobi und Mombasa, Arusha und Dar es Salaam, bis sie genug Shilling gespart haben, um eine kleine Herde Vieh zu kaufen. Jeder Puffbesuch in den großen Städten ist wie Russisch-Roulette.
In einer der vielen Trinkhallen, spartanisch ausgestatteten Sauf-und-schlag-den-Tag-tot-Treffpunkten mit Juxnamen wie „Vatikan City Bar“, schlürft Longidos Bürgermeister Billigschnaps der allgegenwärtigen Brauereikette „Hinterhof“. Am Jacket seines dunkelblauen Zweireihers trägt er eine Ansteckplakette der allerorts regierenden Revolutionspartei Chama Cha Mapinduzi. Was er von dem Gemeindezentrumprojekt halte, will ich wissen. Er druckst, ist irritiert. „Which community center?“
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Der ganze Suchtrupp rennt in die Richtung, aus der der Schuß kam. Die drei Frauen strahlen in Erwartung voller Kochtöpfe. Nach etwa fünfhundert Metern finden wir den Jäger. Er stiert auf den Boden. Das Wild ist angeschossen entkommen. Wir folgen der Blutspur und den Hufabdrücken. Immer wieder verliert sich die Spur im Buschgras, immer wieder entdeckt der Fährtenleser neue Tropfen Blut. Aber wir drehen uns im Kreise, verlieren den Jäger erneut aus den Augen. Fast eine Stunde des Suchens und Herumirrens vergeht.
Plötzlich ein zweiter Schuß. Erneuter Galopp durch die Savanne. Minuten später stehen wir schweißnaß am Ort des Geschehens: der zweite Schuß aus dem alten englischen Jagdgewehr saß besser. Unter einem Baum krümmt sich ein ausgewachsener Grant-Gazellenbock waidwund auf dem Boden, streckt alle Viere zur Seite, die Augen drücken Todesangst und Todeskampf aus. Der Jäger steht regungslos daneben. Kein Gnadenschuß - es könnte die Polizei endgültig alarmieren, und Munition ist sowieso kostbar.
Der Bock, in der Seite und am Hals getroffen, zuckt und zappelt noch, er röchelt nicht, er schreit geradezu. Vergeblich versucht er sich aufzurichten. Mit seinen spießartigen Hörnern könnte er jeden von uns schwer verletzen, wenn nicht gar mit ins Jenseits nehmen. Minuten vergehen, bis der Jäger das Tier mit beiden Händen am Gehörn packt und durch das Savannengras zu einem rasch aufgeschichteten Haufen abgeschnittener Zweige schleift. Er beginnt es zu schächten. Mit dem Buschmesser fährt er in den Rumpf der Gazelle, bis hin zu den Geschlechtsteilen. Noch immer ist der Bock nicht tot. Jetzt nimmt auch der Fährtenleser sein Messer und schneidet dem Tier die Kehle durch. Das Zucken hat ein Ende.
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Staub wirbelt auf, johlend jagen die Jungen auf dem Schulhof einem mit Kordel zusammengehaltenen Lumpenklumpen nach - dem Fußball. Die Mädchen stehen abseits. Pause an der Internats- und Dorfschule von Longido, dem mit 25 Beschäftigten größtem Arbeitgeber im Ort. Die fast fünfzig Schüler der siebten Klasse strömen in die Baracke. Geschichtsstunde. Auf dem Lehrplan steht der Erste Weltkrieg. Amossy Ngereza doziert über General Paul von Lettow-Vorbeck und den Krieg im damaligen Deutsch-Ostafrika, die 100.000 Toten, die der deutsche Ostafrika-Feldzug hinterließ, den Sieg der Briten 1918 und die Hungersnöte nach dem Krieg.
Der 42jährige Lehrer für Swahili, Erdkunde und Geschichte schreibt nichts an die Tafel, schaut in kein Buch und kein Manuskript. Er ist blind. Den Schülern diktiert er Verlauf und Folgen des Krieges in Stichworten, aber die wenigsten schreiben mit. Es fehlt an Schreibheften, eine Welt- oder Geschichtskarte gibt es auch nicht. Die Geschichte Europas wird in Longido neu geschrieben. Während des Ersten Weltkriegs, so lernen die Schüler, sei Bismarck deutscher Reichskanzler gewesen, und außer Großbritannien habe das deutsche Kaiserreich keine Kriegsgegner gehabt.
Amossy ermuntert die Klasse, den Gästen aus Deutschland Fragen zu stellen. Erst traut sich niemand. Dann halb geflüsterte Wortmeldungen: Leben in Deutschland auch so viele Bauern und Hirten wie in Longido? Ist es flach oder bergig in Europa? Gibt es Löwen in Deutschland?
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In Minutenschnelle zieht der Jäger der Grant-Gazelle das braun-weiße Fell ab. Den Kopf hackt er mit dem Buschmesser vom Rumpf ab, Darm und Magen des Tieres werden aufgeritzt und entleert. Ich sichte derweil den Horizont. Vorläufig sind keine vierbeinigen Grasverächter zu sehen. Es stinkt nach Blut, Gedärmen und unverdautem Savannengras. Die anderen beginnen die Nieren der Gazelle roh zu essen, brechen die schlanken Beine des Bocks mit bloßen Händen entzwei und pulen mit Stöckchen das nahrhafte Knochenmark heraus.
Nach dem Stehimbiß wird die Beute zerlegt. Es ist bald sechs Uhr. Wann kreuzen die ersten Hyänen, die wenig furchtsamen Gesundheitspolizisten der Savanne, am Tatort auf? „We're not afraid of hyenas“, meint Daniel trocken. Fast jeden Abend ist das eigenartige Kichern der Hyänen in Longido zu hören, die Löwen halten etwas mehr Abstand zu ihren Erzfeinden, den Massai.
Die Getreidesäcke sind voll blutiger Brocken Gazellenfleisch. Fünfzig bis sechzig Kilo dürfte die Ausbeute wiegen. Die Frauen schleppen am schwersten. Nur der Kopf der Gazelle samt Hörnern, der Magen- und Darminhalt und ein großer Blutfleck bleiben am Schlachtplatz zurück. Es dämmert. Am Äquator ist die Dämmerstunde kurz. Zwei, drei Kilometer legen wir raschen Schrittes zurück. Der Mount Longido ist unser Kompaß. Jetzt könnte ruhig der Fernseh-Daktari mit seinem Landrover aufkreuzen und uns nach Hause fahren. Aber von Ferne ist schon Ziegengemecker zu hören. Im Dunkeln erreichen wir die Nationalstraße. Nervöse Blicke nach links und rechts. Es ist aber kein Auto in Sicht, Polizei schon gar nicht.
Später erfahre ich, daß vor wenigen Tagen aus einem Viehpferch vor unserem Haus ein Kalb gerissen worden ist, vermutlich von einem der Leoparden, die den Mount Longido unsicher machen. Wer nicht hungern will, der wildert.
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Jahre später. Esto ist längst tot. Unter der Schirmakazie, wo die Ziegelsteine gepreßt wurden, liegt er begraben. Noch lange hat er sich auf der Ladefläche seines Toyota-Pickups herumchauffieren lassen, um seine Projekte in Longido voranzutreiben. Unermüdlich suchte er Sponsoren, Spender, Helfer. Am Dorfeingang steht sein Erbe. Das Community Center - ein unauffälliges Informationszentrum über die Massai, ihre Nomadenkultur und das langsame Verschwinden ihrer Lebensweise. Ein paar junge Einheimische bieten Schmuck und Souvenirs für Touristen an: Kalebassen, ausgehöhlte und getrocknete Flaschenkürbisse, bunte Perlenketten und anderen Massai-Schmuck. Und Lehrwanderungen zu den bomas. Ausflüge zu den traditionellen Massai, Ausflüge in eine Welt von gestern.
Kerzen für den Teufel