Der Malaysia Job

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Karsten Kemper. Der Malaysia Job
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Der ‚Malaysia-Job’
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Отрывок из книги
Karsten Kemper
Ihr letzter Tauchgang war genauso erfolglos wie die vorangegangenen. Die Reste einer chinesischen Dschunke samt ihrer kostbaren Ladung sollen hier vor der Westküste Malaysias, auf dem Meeresgrund liegen. Als vor ein paar Monaten auf einem Schwarzmarkt in Manila plötzlich Teller mit kobaltblauem Dekor und Armreifen aus grünem Glas verscherbelt wurden, blieb dies vom fachkundigen Publikum nicht unbemerkt. Ein Expertenteam aus Peking datierte die Fundstücke in das 14. Jahrhundert. In jene Zeit, in der sich China auf seinem kulturellen Höhepunkt befand und mit einer gewaltigen Flotte von Seeschiffen Handelsbeziehungen zu fernen Ländern unterhielt. Ein Seebeben vielleicht oder eine Veränderung der Unterwasserströmung haben bewirkt, dass der Meeresboden ein paar seiner wertvollsten Trophäen wieder freigab. Der weiche, sauerstoffarme Schlick konservierte die begehrten Stücke mehr als ein halbes Jahrtausend. Malaysia gilt als eines der beliebtesten Tauchziele und lockt mit dem vielfältigsten Artenreichtum im Indopazifischen Becken. Doch die smaragdgrünen Inseln mit ihren perlmuttweißen Stränden, das warme Wasser mit seinen Barracudaschwärmen, Hammerhaien und riesigen Meeresschildkröten, interessierten sie nicht. Sie hatten einen Job zu erledigen. Michael und Derek sind Profis und machen so etwas nicht zum ersten Mal. Jeder der beiden hat weit über sechshundert Tauchgänge absolviert. Derek Coleman ist Brite und diente jahrelang als Kampftaucher in der Royal Navy, die er vor zwei Jahren nach Beendigung seiner Dienstzeit verließ. Michael Burk ist Amerikaner und begann bereits während seines Jurastudiums, dass er vor fünf Jahren absolviert hatte, mit dem Tauchen. Beide arbeiten als Tauchsportjournalisten für ,Divers Ground’, dem Marktführer unter den englischsprachigen Tauchsportmagazinen. Als er sich vor einem Jahr um den Job bemühte, lernte er dort Derek kennen, dem es schon vor ihm gelungen war, seine Leidenschaft erneut zum Beruf zu machen. Sie verstanden sich auf Anhieb und wurden auch privat zu Freunden. Seitdem arbeiten sie als Team, wann immer es die Situation erlaubt. Steven, ihr Chefredakteur, hatte die beiden auf die Dschunke angesetzt, weil er wusste, dass sie aus jeder Situation das Beste machen. Vor zwei Wochen bekam er von Dillon, einem seiner Agenten in Südostasien, die Informationen über die Position des Wracks zugespielt. Dillon galt als zuverlässig. Er hatte versucht, den Weg der begehrten Kostbarkeiten vom Schwarzmarkt in Manila mit Hilfe der dort üblichen kleinen Schmiergelder zu den Plünderern zurückzuverfolgen. Die Spur führte zu ein paar ortsansässigen Fischern, die die Chance wahrnahmen, ihre Armut ein wenig zu lindern, indem sie den freigelegten Teil der Ladung bargen und zu Geld machten. Doch die Koordinaten waren falsch. Sie mussten falsch sein. Wenn das Wrack dort läge, wo sie suchten, wären sie längst drauf gestoßen. Wie es aussah, hatte man Dillon diesmal getäuscht. Vielleicht um den tatsächlichen Fundort nicht preiszugeben und dennoch in den Genuss seiner Dollars zu kommen. Oder es waren nicht die richtigen Leute, die er aufspürte. Möglicherweise erzählte ihm irgendjemand irgendetwas, womit er zufrieden war und seine Scheine rausrückte. Ihr Tauchprofil westlich des hundertsten Längenund südlich des zehnten Breitengrades war mehr als zehn Meilen lang und genauso breit. Seit acht Tagen tauchten sie zweimal täglich. Die Atemluftflaschen stets mit Nitrox, einem Sauerstoffgemisch, gefüllt, das es ihnen ermöglicht, länger unten bleiben zu können. Oftmals gingen sie dabei runter bis auf sechzig Meter, womit sie ihre zulässige Tauchtiefe um fast die Hälfte überschritten. Die Dschunke kann jedoch nicht so tief liegen. Um den havarierten Segler dort unten zu plündern, hätten einheimische Fischer Tauchausrüstungen und Atemluftflaschen benötigt, genau wie sie. Kaum anzunehmen, dass sie mit so etwas richtig umgehen und arbeiten können. Bisher hatten sie nichts gefunden, was auch nur auf die Existenz des Schiffes hindeutete. Ihr Budget war fast vollständig aufgebraucht und ihre Stimmung auf dem Nullpunkt. Es war ihr letzter und verzweifelter Versuch, ihren Auftrag zu erfüllen. Aber wie es aussah, bliebe ihnen diesmal ein Erfolgserlebnis wie bei all ihren bisherigen Expeditionen verwehrt. Derek warf einen Blick auf seinen Tauchcomputer am linken Handgelenk, der ihm anzeigte, dass die Hälfte der Tauchzeit bereits überschritten war. Sie hatten keinerlei Hoffnung mehr, auf dem letzten Abschnitt doch noch etwas zu finden. Wenn sie ihr Boot erreichen würden, das am Ausgangspunkt auf sie wartete, wäre die ganze Sache für sie erledigt gewesen. Am darauf folgenden Tag würden sie in ihre Maschine steigen und das Inselparadies unverrichteter Dinge wieder verlassen. Sie befanden sich noch in vierzig Metern Tiefe, umgeben von völliger Dunkelheit. Ihre Flossenschläge waren langsam und kontinuierlich, ihre Atmung tief und gleichmäßig. Erfahrene Taucher können sich trotz des enormen Wasserdrucks, der auf ihnen lastet, völlig entspannen. Wie in Schwerelosigkeit schweben sie dann durchs Wasser und verbrauchen dabei so wenig Atemluft wie möglich. Das Licht ihrer Strahler erhellte den Meeresboden, der mit einem Teppich rötlich schimmernder Weichkorallen überzogen war. Ganze Schwärme von Kardinalfischen tummelten sich vor ihren Augen. Derek paddelte in einiger Distanz vor Michael und überwand als erster die Kuppe eines Felsenriffs, als es ihm fast den Atem verschlug. Vor ihnen zeichneten sich im dunstigen Licht ihrer Taucherlampen die Umrisse eines gesunkenen Schiffes ab. Ein moderner Stahlkoloss lag wegen des abfallenden Meeresbodens ein Stück nach vorne und zur Seite geneigt direkt vor ihnen. Sie kamen von hinten auf den Havaristen zu. Vorbei an den gewaltigen, messingfarbenen Schraubenblättern und dem haushohen Ruderblatt, das sich ihnen entgegenstreckte. Die Überraschung war perfekt, da keiner von ihnen damit gerechnet hatte, dass hier ein Wrack lag. In den Unterwasserkarten war nichts verzeichnet. Das wussten sie genau. Jeden Abschnitt ihrer Expedition hatten sie im Vorfeld besprochen, jedes Detail erörtert und jeden Hinweis bedacht. Jene Dschunke sollte hier irgendwo sein, aber auf keinen Fall ein Frachter aus der Gegenwart. Und er lag mit Sicherheit noch nicht lange dort. Sie tauchten längsseits am Wrack entlang. Der Rumpf war offenbar unversehrt. Weder ein Leck noch eine Beschädigung waren erkennbar. Nicht einmal Roststellen waren irgendwo zu sehen. Selbst der dunkelrote Anstrich unterhalb der Wasserlinie wirkte relativ unverbraucht und wies noch keinerlei Korallenbildung auf. Es war ein Containerschiff mittlerer Größe, 160-180 Meter lang, die Bordwände in hellem Grau gehalten, mit einem weißen Deckshaus am hinteren Ende. Eine große Anzahl Container hatte sich vermutlich schon beim Untergang aus ihrer Verankerung gelöst und lag nun in weitem Radius rund um das Schiff verstreut. Am Bug zeichnete sich im trüben Licht von Michaels Taucherlampe der Name ab. ,Treasure Island’ prangte dort in schwarzen Buchstaben über dem Anker. Michael fiel auf, dass man sich beim Malen der Buchstaben keine allzu große Mühe gegeben hatte. Die Abstände waren ungenau und an einer Stelle war sogar der Pinsel entgleist, ohne dass man es korrigiert hatte. Als er den Schriftzug mit den Fingern berührte, konnte er es spüren. Ihm fiel ein, dass der Name eines Schiffs noch während der Bauphase auf den Bug geschweißt wird. Zwar konnte er nicht ertasten, was genau da stand. Aber es war nicht identisch mit dem, was jetzt an der Bordwand zu lesen war. Während sie sich der Kommandobrücke näherten, bemerkten sie einen Strom von Luftbläschen, die irgendwo aus dem Deckshaus sprudelten. Mit dem Lichtschein ihrer Lampen verfolgten sie den Verlauf bis zum Austrittspunkt am Fuß des grün-weiß gestreiften Schornsteins. Eine größere Menge Luft befand sich anscheinend noch im Inneren und quoll aus einem Lüftungsschacht, was darauf hindeutete, dass es erst vor kurzem gesunken sein musste. Manchmal dauert es Tage, bis die Wassermassen auch den letzten Winkel geflutet haben. Aber eben nur Tage. Kein Wunder also, dass die Karten keinen Hinweis lieferten. Sicher waren sie die ersten, die auf die gesunkene ,Treasure Island’ stießen. Seltsam auch, dass sich noch alle Rettungsboote in ihren Halterungen befanden. Deshalb befürchteten sie insgeheim, im Rumpf befindliche Crewmitglieder zu finden. Wie sonst hätte sich die Mannschaft retten können, wenn nicht mit ihren Booten. Michael inspizierte das Deck, während Derek in die Brückensektion eindrang. Dort, zwischen umhertreibenden Papierfetzen und Plastikfolien, hatten längst die Bewohner des Meeres das Kommando übernommen. Ein blau gefleckter Stachelrochen ergriff, als er vom Lichtstrahl seiner Lampe geblendet wurde, sofort die Flucht durch eines der zerborstenen Fenster. Außer ein paar Aktenordnern, die nur Unmengen von Gebrauchsanweisungen sowie unverständliches Zahlen und Koordinatenwirrwarr beinhalteten, gab es nichts, was sein besonderes Interesse weckte. Beim Aufschlag auf den Meeresgrund waren einige Container aus ihren Verankerungen gerissen worden und hingen nun verschränkt und verdreht auf dem leicht abschüssigen Deck. Michael war verblüfft, dass alle Stahlboxen, deren Türen beim Aufprall aufgesprengt worden waren, keinerlei Ladung beinhalteten. Ein blaufarbener Container erregte besonders seine Aufmerksamkeit, da die Seriennummer mit den Zahlen 8.10.1952 auf der rechten Tür exakt dem Geburtsdatum seiner Mutter entsprach. Was ihn zugleich schmerzhaft daran erinnerte, das er es im vergangenen Jahr versäumt hatte, was schon ewig nicht mehr vorgekommen war. Derek hatte die Brücke mittlerweile verlassen und war zu Michael aufs Deck hinuntergelangt. Zwischen einigen Containern, die nicht mehr auf ihren vorgegebenen Positionen standen, wurde jetzt der Blick in die darunter liegenden Sektionen möglich. Michael gestikulierte seinem Partner mit den Händen, dass er vorhatte, dort hinabzutauchen, worauf Derek einen Blick auf seinen Tauchcomputer warf. Leider war darauf abzulesen, dass der Luftvorrat wegen der Kompressionszeiten nicht mehr für beide reichen würde. Da sie aus vierzig Metern Tiefe nicht ohne Zwischenstopps zur Oberfläche zurückkehren konnten, benötigten sie noch eine Restmenge an Luft, um ihren Körpern die Möglichkeit zu geben, den Stickstoff, der sich beim Tauchen im Blut bildet, wieder abbauen zu können. Andernfalls hätten sie ihr Leben riskiert. Infolgedessen entschloss sich Michael spontan, alleine die tiefer gelegenen Bereiche zu erkunden. Um seinen Auftrieb zu mindern öffnete er das Luftventiel an seiner Tarrierweste und ließ sich in den tiefschwarzen Raum absinken, der sich unter ihm auftat. Während er hinab glitt, winkte er Derek hämisch zu. Derek wusste, dass Michael ihn damit ärgern wollte. Denn was er da tat, war äußerst gefährlich. Für gewöhnlich taucht man nicht alleine ins Innere eines Wracks. Viele Taucher sind schon dabei ums Leben gekommen, weil sie die Orientierung verloren haben und nicht mehr rechtzeitig nach draußen fanden. Andere starben, weil sie in der Dunkelheit scharfe Metalltrümmer übersahen, die ihnen die Luftzufuhr abschnitten. Er wusste nur zu genau, dass sein Verhalten später noch von Derek gerügt werden würde. Sein Hang zum Risiko hatte trotz gegenseitiger Sympathie schon oft zu heftigen Konflikten zwischen ihnen geführt. Die Royal Navy hatte Derek gelehrt, dass Sicherheit und Verantwortungsbewusstsein sich selber als auch dem Partner gegenüber oberstes Prinzip beim Tauchen sind. Deshalb quittierte er sein Verhalten nur mit einem Kopfschütteln. Als Michael am Boden des Frachtraums auftraf, zwang ihn der Ruck in die Knie, wobei er seine Lampe fallen ließ. Während er versuchte, sie im Dunkeln zu ertasten, wurde er unsanft von einem riesigen Fisch gestreift. Gern hätte er gewusst, was für ein Exemplar ihm einen solchen Schrecken versetzt hatte. Als er seine Lampe wieder fand, glaubte er an einen Defekt durch den Aufprall. Aber nach kurzer Zeit, nachdem er den Schalter ein paar Mal betätigt hatte, ging sie wieder an. Die graue Bordwand mit ihren senkrecht verlaufenden Stahlstreben und den paar abgerissenen Ketten, die vom Deck herunterhingen, waren das erste, was sich im wieder gewonnenen Lichtschein abzeichnete. Was er jedoch zu sehen bekam, als er die Lampe in den endlos wirkenden Raum richtete, ließ ihn augenblicklich erstarren. Nichts bereute er mehr in seinem Leben, als in diesem Moment hier unten zu sein. Hätte er vor Entsetzen schreien können, so wäre dies sicher noch an Land zu hören gewesen. Vor ihm trieben, Rücken an Rücken gefesselt, Paare von Toten im Wasser. Da der Lichtkegel nicht alle auf einmal erfassen konnte, ließ er die Lampe weiträumig kreisen. Immer mehr Leichen kamen so nach und nach zum Vorschein. Einige schwebten wie Geister hoch oben unter dem Deck, als hingen sie an unsichtbaren Fäden. Andere hingegen glitten nur knapp über dem Boden. Die Szenerie erinnerte ihn an ein abstraktes Kunstwerk, das er einmal als Kind beim Besuch eines Kunstmuseums in New York mit seinen Eltern gesehen hatte. Damals waren es menschenähnliche Statuen aus Gips, die wahllos in einem dämmrigen Raum aufgehängt waren und ihn mehr das Fürchten lehrten, als ihn der Kunst nahezubringen. Sein Eintauchen hatte eine Verdrängung des Wassers zur Folge, worauf einige Paare nun in Wallung gerieten und langsam wegtrieben. Es waren ausnahmslos Menschen asiatischer Herkunft. Darunter viele Frauen und sogar ein Kind, wie er schon von weitem erkennen konnte. Nach und nach überkam ihm ein Gefühl von Benommenheit. Die schrecklichen Eindrücke hatten bewirkt, dass er zu schnell und zu tief atmete. Er musste sich zwingen, langsamer zu atmen und sich zu entspannen. Angst und Stress können zu Hyperventilation führen. Wenn er jetzt das Bewusstsein verlöre, wäre das sein sicherer Tod. Michael sah sich mit einem Albtraum konfrontiert. Dann schloss er die Augen und versuchte sich zu konzentrieren, indem er sich hinkniete und sich mit den Händen abstützte. ‚Sie sind alle tot und niemand kann ihnen mehr helfen’, redete er sich ein, um sich zu beruhigen. Wer aber waren diese Menschen? Wie und warum waren sie gestorben? Wussten die Behörden von ihrem Tod? Wusste überhaupt jemand, dass sie tot waren? Falls nicht, sollte ihr Sterben dann unbemerkt und ungesühnt bleiben? Fragen, die ihm im Augenblick niemand beantworten konnte. Er verharrte noch kurze Zeit in der Hocke, bis er sich sicher war, seinen Schwächeanfall überwunden zu haben. Es war totenstill. Nur das Sprudeln der ausgeatmeten Luft, war in dem gefluteten Massengrab zu vernehmen. Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, schaltete er die Unterwasserkamera ein, die mit der Taucherlampe verbunden war. Er sah es nun als seine Pflicht an, sie alle zu filmen. Denn er bezweifelte, dass vor ihm schon jemand da war oder in nächster Zeit herunter gelangen würde. Jemand, der wie er den grausigen Fund sogar dokumentieren könnte. In ein paar Wochen wird wahrscheinlich nichts mehr von ihnen übrig sein. Neben dem warmen Salzwasser in tropischen Gewässern gibt es genügend Aasfresser, die die Leichname in kürzester Zeit bis auf die Knochen dezimieren. Eine Identifizierung dieser Menschen aufgrund äußerlicher Merkmale wäre dann unmöglich. Vielleicht war es diesmal Vorsehung, dass er wieder einmal die Regeln mißachtete und hier alleine eingedrungen war. Um letztendlich alle Bündel von Toten aus nächster Nähe aufnehmen zu können, musste er den Raum einmal bis zum Ende durchqueren und wieder umkehren. Jeder Einzelne von ihnen sollte deutlich zu erkennen sein. Deshalb beschloss er, jeden von ihnen von den Füßen an zu filmen und am Ende der Aufwärtsbewegung mit der Kamera auf ihren Gesichtern zu verharren. Mit Hilfe des Objektivs konnte er sie dann noch vergrößern und deutlicher machen. Ihre Augen und Münder waren halb geöffnet. Keiner aus der Gruppe wirkte älter als dreißig. Offensichtlich waren sie mit äußerster Brutalität verschnürt worden. Das silbergraue Isolierband, das ihre Körper umschlung, war mitunter so fest angezogen, dass es ihnen das Gewebe an den Armen abgestrammt hatte. Die meisten von ihnen hatten Blutergüsse und Hautverfärbungen an den Rändern. Noch nie in seinem Leben hatte er eine Leiche aus nächster Nähe gesehen. Irgendwie sahen sie nicht mehr aus wie leibliche Menschen, eher wie beigefarbene Wachspuppen, seltsam und unwirklich. Schwer vorstellbar, das sie einmal gelebt haben sollen. Ihre Kleidung bestand nur aus bunten Shorts und TShirts. Es war ihm noch immer unheimlich zumute, zwischen all den Körpern. Deshalb versuchte er sich voll und ganz auf die Bedienung der Kamera und die Optimierung der Aufnahmen zu konzentrieren. Die jungen Frauen hatten lange, zurückgebundene Haare. Nur einige trugen ihr Haar kurz, weshalb er sie zunächst für Männer gehalten hatte. Das Bündel mit dem Kind kam als letztes dran. Als er sich ihm näherte, sah er, dass es ein Junge war. Er schätzte sein Alter auf etwa acht bis zehn. Beim Anblick des Kleinen kam neben Mitgefühl viel an Wut in ihm auf. Jemand muss dafür verantwortlich sein, schoss es ihm durch den Kopf. In der Nahaufnahme bemerkte er ein Medaillon, das um seinen Hals hing. Leider war es zerbrochen, die Hälfte davon fehlte. Trotzdem konnte es wichtig sein um seine Identität zu klären, dachte er und nahm es langsam vom Hals ab. Die andere Hälfte lag vielleicht irgendwo im Raum herum. Aber für eine intensive Suche reichte die Zeit nicht mehr. Als er fertig war, schaltete er die Kamera aus. Obwohl er nicht gezählt hatte, glaubte er, dass es so um die dreißig Leichen gewesen sein mussten. Die genaue Anzahl würden die Auswertungen ja ergeben. Vielleicht aber waren sie ja gar nicht ertrunken, sondern schon tot, bevor sie untergingen, dachte er wiederum. Schließlich wurde ihm bewusst, dass sein Luftvorrat zuende ging, was sein Grübeln vorerst stoppte. Den Rest in seinen Flaschen würde er für seinen Aufstieg brauchen, um zurück zum Ausgangspunkt zu gelangen. Derek war natürlich nicht mehr da. Er war bereits zum Boot zurückgekehrt, um Luft zu sparen. Luft, die Michael jetzt dringend brauchte. Er war spät dran, als er endlich den Ankerplatz ihres Bootes erreichte. Bevor er auftauchen konnte, musste er in jeweils verschiedenen Tiefen drei Dekompressionspausen absolvieren. Derek hatte ihm ausreichend Nitrox in einer seiner Flaschen zurückgelassen, die Michael an der Ankerkette befestigt vorfand. Dort oben über dem Wasser ging langsam der Tag zu Ende. Ein Wind wehte nun leicht und bald würde es dunkel sein. Michael hangelte sich hastig ins Boot. Bereits beim Auftauchen sah er, dass Derek aufrecht im Boot stand. Er wartete schon lange und wurde langsam ungeduldig. Besser gesagt, er kochte vor Wut.
.....
»Derek, he, noch eins. Kein Wort zu den Behörden dort unten. Ihr habt hoffentlich noch nichts unternommen. Wenn sie euch das Filmmaterial abnehmen, war alles umsonst. Sobald wir die Nuss geknackt haben, können wir Scotland Yard einschalten. Aber vorher sollten wir davon profitiert haben, in Ordnung? Wir sind nämlich Journalisten.«
»Ja, sicher, das weiß ich auch. Ich bin doch kein Anfänger mehr.«
.....