Отрывок из книги
Katharina Glück
An einem sonnigen Mittwochnachmittag, genauer gesagt um 16 Uhr 42, legte Heinrich Knopp sich auf die ICE-Trasse, die durch das Wäldchen hinter seinem Haus verlief, und wartete auf den ICE 74. Er hatte sich ein kleines Sofakissen mitgebracht, um seinen Nacken zu schonen. Immerhin konnte es trotz aller Vorbereitung zu Veränderungen im Fahrplanablauf kommen, und er wollte keinesfalls mit einem steifen Nacken sterben. Er hatte sich eine besonders dunkle Stelle ausgesucht, hohe Eichen zu beiden Seiten der Trasse, ausladende Brombeersträucher. Heinrich war ebenfalls dunkel gekleidet, hatte sich genau hinter die sanfte Kurve gelegt, die die Schienen hier machten. Auch deswegen hatte er den ICE 74 gewählt: Es wurde langsam Abend, die Sonne neigte sich jetzt im frühen Herbst schon dem Horizont entgegen. Die Bäume warfen Schatten, überall Zwielicht. Mit etwas Glück würde der Zugführer ihn gar nicht bemerken und das Rumpeln für einen Ast halten, einen Fuchs vielleicht. Im besten Fall würde er überhaupt nichts mitbekommen. Heinrich Knopp würde genau das besonders passend finden. Es schien ihm ein ehrlicher Abschluss.
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Vor der Tür klingelte Susanne, schob ihren Arm um Heinrichs Ellenbogen und setzte ein strahlendes Lächeln auf. Heinrich konnte ihre Spiegelung in der Glastür sehen: Hätte er sie nicht gekannt, hätte er ihr Lächeln für echt gehalten. So standen sie da, er, ein unscheinbarer Endvierziger mit Strickpulli und gescheiteltem Haar über der rahmenlosen Brille, der es nicht schaffte, diesen Ausdruck von Verwirrung aus seinem Gesicht zu kriegen, und neben ihm Susanne, herausgeputzt und fröhlich. Heinrich war es, als hätte er fremde Menschen vor sich. Endlich ging das Licht im Flur an und das Spiegelbild wich einer enthusiastischen Yvonne, die auf die Tür zustürzte.
Es gab Fisch in Salzkruste, dazu gedünstetes Gemüse und Salat. Brot nur für die Gäste, Yvonne hatte sich und Gerd auf eine Low-Carb-Diät gesetzt. Gerd stand auf, wenn er Wein nachschenken sollte, und legte sich ein Trockentuch über den Arm wie ein Kellner in einem vornehmen Restaurant. Die Frauen lachten jedes Mal hysterisch. Yvonne und Susanne warfen Gesprächsthemen durch den Raum wie Konfetti. Kaum hatte Heinrich sich etwas überlegt, das er beitragen konnte, ohne vollständig idiotisch zu klingen, waren sie schon beim nächsten Thema. Also blieb er die meiste Zeit stumm und beobachtete die anderen wie durch eine Glasscheibe im Zoo. Er begann, Susanne zu studieren, sich jede Bewegung ganz genau einzuprägen: ihren Augenaufschlag, wie sie ihr Weinglas hielt, mit zwei Fingern und Daumen ganz oben am Stiel, wie sie die Lippen beim Lachen weit zurückzog und viel Zahn zeigte. Er war sich sicher, in all den Jahren alles schon einmal gesehen zu haben, aber sie kam ihm nicht bekannt vor, nichts an ihr, als wäre sie über Nacht ein anderer Mensch geworden. Er versuchte, sich an die frühere Susanne zu erinnern, die Frau, die er im Studium kennengelernt hatte. Hatte sie damals schon so gelacht? Hatte er es attraktiv gefunden? Hatte sie damals ihr Glas schon so gehalten, oder hatte sie es sich später angewöhnt, es sich abgeschaut von jemandem? Er konnte sich Szenen ins Gedächtnis rufen, ein Essen beim billigen Italiener um die Ecke, sie hatte sich die Bluse mit Tomatensoße vollgekleckert und sie hatten gekichert wie Schulkinder. Aber jetzt kam es ihm vor, als wäre es eine Szene aus einem Film, den er mal gesehen hatte, nicht sein eigenes Leben. Susanne war nicht mehr diese Person, war es vielleicht nie gewesen, und bei sich selbst war er sich auch nicht so sicher. Seine Vergangenheit schien unecht, hölzern und fremd.
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