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Pjotr ist geboren.

Don, Dnjepr, Wolga, Oka treten über ihre Ufer.

Schlamm wälzt sich über die Weizenfelder, und viele Menschen ertrinken.

Winterblumen neigen gebrochen ihre Häupter.

Die Haselmäuse pfeifen vor Angst. Der Wind nimmt ihre Pfiffe und bläst sie mit dicken Backen zu Posaunentönen auf, bis sie kreischend zerplatzen.

Die Bäume weinen Harz.

Auf tanzenden Eisschollen segeln erfrorene Schwäne. Ihre grünen Augen glänzen wie Smaragde.

Frösche treiben, die bläulichen Bäuche nach oben. Ihre Leiber sind durchbohrt von Wasserkäfern, die vollgefressen tot in den Löchern nisten: die braunen Rückenschalen weiß glasiert.

Es hat roten Schnee geschneit.

Auf der Waldai blüht mitten im Winter der Fingerhut.

Feuer fiel vom Himmel aus den Händen Gottes. Tausend Dörfer flammten. Die jungen Störche auf den Strohdächern wurden in ihren Nestern lebendig geröstet. In den Rauch- und Rußwolken strichen die alten Störche und klapperten grell und verzweifelt mit ihren langen Schnäbeln, als klirrten Schwerter aneinander.

Sie suchten ihren Feind und fanden ihn nicht.

Im Himmel saß der und schlief auf seinem Thron aus Lapislazuli. Er selber war anzusehen wie ein Diamant: klar und durchsichtig glänzend. Seine Augen helle Saphire, sein Herz ein dunkelroter Rubin. Um seine fröstelnde Schulter lag wie ein seidener Schal ein Regenbogen.

Sieben Fackeln brannten um seinen Thron.

Im Schlaf hatte er mit steinernem Arm eine Fackel, einen Stern vom siebenarmigen goldenen Leuchter herabgefegt. Prasselnd und funkenstiebend sauste der Meteor durch den ewigen Raum und schlug mit seiner roten blinden Stirn donnernd im Erdboden ein, eine ganze Landschaft entzündend und verwüstend.

Die Popen predigten:

»Wehe denen, die auf Erden wohnen Die Sonne ist schwanger geworden und hat ein goldenes Kind geboren Das wird uns peitschen mit feuriger Knute«

Ein Rudel Wölfe heult nachts vor den Fenstern des Palastes Preobraschensk. Die Diener bekreuzen sich.

Sie wispern:

»Ein Wolfskind ist geboren, ein Wolfssohn. Die Brüder eilen, ihn zu begrüßen.«

Eine alte Wölfin gelangt bis in den Hof und jault hungrig nach den Fenstern des ersten Stockes hinauf. Natalia Naryschkina, die Zarenmutter, erwacht davon aus dem Schlaf. Sie hält den Atem an und lauscht.

Niemand wagt, die alte Wölfin zu töten.

»Es ist ihr Kind,« versichert der alte Kutscher Potapoff, der manches denkt und vieles weiß.

»Wenn man sie umbringt, sind wir alle verloren.«

Die Wölfin wird am nächsten Tag von dem siebenjährigen närrischen Iwan, dem derzeitigen Zaren, halb tot in einem leeren Schilderhaus gefunden. Iwan kriecht auf allen Vieren und bellt die Wölfin böse an, die ihn mit müden, traurigen Augen nachsichtig beglotzt. Sie leckt einen eben geborenen jungen Wolf, der noch nicht aus den Augen sehen kann, aber um sich beißt, als der Kutscher Potapoff ihn an sich nimmt. Potapoff legt ihn einer Hündin bei und zieht ihn sorgsam auf.

Die Sonne tritt aus den Wolken, besieht sich ihr neues Söhnchen, besieht sich Pjotr.

Die Glieder verkrüppelt, die Augen verschmiert, die kleinen Fäuste vor dem zerknitterten Greisengesicht geballt, liegt Pjotr in der Wiege und winselt wie ein junger Wolf.

Er winselt, er weint, weil er geboren ist.

Wie warm und gut war es in jener feuchten, dunklen Höhle, die ihn nun wider seinen Willen ans Licht gespien. Er zittert in der rauhen Luft. Er wehrte sich mit Händen und Füßen gegen das Geborenwerden. Das Licht blendete ihn. Er war eine Schale, die rotes, heißes Blut trank, neun Monate lang. Sein ganzer Leib war ein Pokal gewesen.

Er schnappt mit dem Mund wie ein Fisch.

Er hat Durst.

Er weint.

Die Hebamme reicht Pjotr seiner Mutter, der Fürstin Natalia Naryschkina, die blaß in blauweiß karierten, wie Gebirge über sie getürmten Kissen liegt.

Die Hebamme hebt ihr die Brust aus dem Hemd. Pjotr krallt sich mit seinen kleinen Fingern darein. Dann beginnt er mit geschlossenen Augen zu schlucken, zu schnaufen, zu grunzen, wie der junge Wolf an den Zitzen der Wölfin.

Die Hebamme wiegt sich in den Hüften.

Natalia Naryschkina lächelt.

Pjotr ist so klein und Rußland ist so groß – was wird aus Pjotr werden?

Je je.

Was wird aus Rußland werden?

Fürst Galizyn kommt zu Besuch, zugeknöpft, in einem schwarzen Rock, als ginge es zum Begräbnis.

»Nun, Natalia Naryschkina, wie geht's?«

Sie muß lächeln.

Seine Brille sitzt ihm vorn auf der Nase. Sie droht jeden Augenblick herabzufallen. Er ist der einzige Mensch in Rußland, der eine Brille trägt. Wenn sie ihn sehr liebt, nennt sie ihn: Uhu.

Seine blauen, wässerigen Augen funkeln trübe und unbestimmt.

Sie denkt: Der große Liebhaber Galizyn. So sieht mein Liebhaber aus. Der Liebhaber der schönen Natalia Naryschkina. Er gilt als der gebildetste Mensch in Rußland. Deshalb habe ich mich in ihn verliebt. Er hat Shakespeare und Dante in ihren Sprachen gelesen. Ich beherrsche nicht einmal die russische Sprache. Aber ich beherrsche – ihn. In Hemd und Brille sieht er übrigens zum Schreien komisch aus. Wie ein Vogel. Wie ein bestimmter Vogel. Wie heißt doch dieser sonderbare Vogel gleich?

Fürst Galizyn, der sich scharf beobachtet fühlt, rückt auf dem Korbstuhl, den die Sträflinge sibirischer Zuchthäuser haben flechten müssen, unruhig hin und her:

»Was haben Sie an mir auszusetzen, Natalia Naryschkina?«

»Nichts, mein Lieber, nichts … Gehn Sie einmal an die Wiege – wie gefällt sie Ihnen? Ich habe sie mit lauter hübschen Tieren bemalen lassen: Störchen und Schwänen und Wölfen. – Schauen Sie sich den kleinen Barbaren an. Wem ähnelt er wohl?«

Fürst Galizyn schreitet gravitätisch an die Wiege.

Jetzt weiß sie, wie der Vogel heißt: wie ein Marabu.

Pjotr schläft.

Der Fürst nimmt seine Brille ab und setzt sie Pjotr auf die weiche Nase, die sich einbiegt unter dem Stahl.

Pjotr verzieht im Schlaf weinerlich das Gesicht.

»Ganz der Vater, ganz der Vater.«

Des Fürsten wässerige Augen funkeln vergnügt wie trübe Teiche in der Sonne.

Sie seufzte.

»Daß Zar Alexej Michailowitsch seinen Sohn nicht mehr erlebt hat -wie traurig. Er war ein guter Mensch.«

»Gewiß,« der Fürst stimmte höflich zu, »gewiß. Aber ein guter Mensch: das besagt noch nicht viel. Wir in Rußland sind über gute Menschen ja immer unendlich leicht gerührt und führen das Wort ›gut‹ im Munde wie die Preußen das Wort ›Pflicht‹ und die Franzosen das Wort ›Liebe‹. Die Dämonie des Schicksals wird durch Güte nicht begriffen oder bewältigt.«

»Und Gott – ist Gott nicht gut?«

Sie richtete sich in den Kissen auf. Erwartungsvoll gespannt sah sie auf seine schmalen Lippen.

»Gott ist allgütig, allweise, allmächtig. Und das bedeutet wohl mehr.«

Sie sank in die Kissen zurück.

»Laß mich schlafen …« Sie drehte den Kopf nach der Wand: »Du machst mich müde, wenn du so gescheit bist.«

Sie drehte den Kopf noch einmal zurück:

»Fürst – vielleicht lebe ich nicht mehr lange. Die Geburt dieses kleinen wilden Menschen, er wog fünfzehn Pfund und hat mir vorher schon schwer zu schaffen gemacht, hat mich arg mitgenommen. Ich habe ihm all mein Blut gegeben. Er hat mich ausgetrunken wie ein kleiner Vampir. Ich habe Sie in meinem Testament als Reichsverweser bestimmt, Fürst. Nehmen Sie sich meiner drei Kinder an. Iwan, der Zar, ist närrisch. Spielen Sie mit ihm Hoppereiter, und verwechselt das Bäumchen, verwechselt das Seelchen. Von Pjotr weiß ich noch gar nichts, als daß er sehr ungestüm sein wird, aber da er der Jüngste ist und mir schon jetzt die meisten Schmerzen verursacht hat, liebe ich ihn mehr als Iwan und Sofija zusammen. Vor allem Sofija lege ich Ihnen ans Herz. Sie ist sechzehn Jahre alt und schon ein Weib. Sie werden sie lieben, wehren Sie nicht ab. Ich kenne Sie. Und Sofija wird gescheit und eitel genug sein, Sie wiederzulieben. Aber sie braucht eine feste Hand.«

Sie griff nach der zarten, eleganten Hand des Fürsten.

»Ich weiß, diese Hand ist klein und schmal. Aber was sie einmal ergriffen hat, das hält sie fest. Halten Sie Sofija, halten Sie Rußland fest mit dieser winzigen Hand.«

Der Fürst neigte sich über das Bett und küßte Natalia Naryschkina leicht die Stirn.

Natalia Naryschkina schwebte auf einer weißen Abendwolke zum Himmel. Die Wolke schien ein Schwan, wie er auf Pjotrs Wiege abgebildet war. Er regte majestätisch seine sanften Schwingen. Seine Augen glänzten wie grüne Smaragde.

Weit aufgetan war das kupferne Tor des Himmels. An der Pforte stand ein Engel in einem Zobelpelz, eine weiße Lammfellmütze auf dem Kopf. Er neigte sich, die Arme über der Brust gekreuzt wie ein Leibeigener. Schon stand ein mit zwei geflügelten Schimmeln bespannter Schlitten bereit, Natalia Naryschkina über die Schneefelder des Himmels zu IHM zu führen, der wie ein Eisberg kristallisch und kühn auf dem Polarstern thront. Sein Stuhl ist aus Lapislazuli. Seine Augen sind helle Saphire, sein Herz ist ein dunkelroter Rubin, der durch seine diamantne Brust leuchtet. Im kühlen roten Licht seines Herzens vergeht und schmilzt alles dahin wie Schnee im Frühlingswind: Gut und Böse, Haß und Liebe, Glück und Schmerz.

Natalia Naryschkina wollte die Lippen öffnen. Er aber wußte schon alles, was sie getan, gedacht, gewollt. Er nahm ihren Willen für Vollendung und ihre Untaten für nicht getan. Daß sie Alexej Michailowitsch betrogen – er rechnete es ihr nicht an. Daß sie den Fürsten Galizyn geliebt: er war darüber froh und beglückt. Väterlich zog er sie an seine Brust. Wie wohl das tat: diese Kühle nach all dem Fieber. Diese Ruhe nach all der Unrast.

Da fielen ihr die Kinder ein.

Er schob mit seiner steinernen Hand die Wolken auseinander: da sah sie unten auf der Erde ihre drei Kinder. Pjotr schlief in der Wiege und verzog im Traum sein Gesicht. Iwan lag in einer Hundehütte und bellte. Sofija blickte dem Fürsten Galizyn über die Schulter, der nachdenklich an einer lateinischen Trauerode auf den Tod der unvergleichlichen Natalia Naryschkina feilte. Er markierte mit dem Gänsekiel den Takt der Verse:

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»Das sind Daktylen. Oder sollte man lieber den Anapäst wählen: was meinen Sie, Sofija?«

Sofija blickte hilflos zu ihm nieder. Daktylen? Anapäste: was ging das sie an? Waren das Leibeigene, die man peitschen, Untertanen, denen man befehlen konnte? Ach, Daktylen, sie glitten leicht und sinnlos dahin wie die Wellen der Wolga.

»Ich glaube, Fürst, Daktylen passen sehr gut für die arme Mama. Sie hatte so etwas Gleitendes, Schwebendes wie diese Verse, die Sie mir eben vorlasen und die ich nicht verstehe. Ich verstand übrigens auch Mama nicht. Wenn ich einmal gestorben sein werde, können Sie es bei Ihrem Trauercarmen auf mich ja einmal mit Anapästen versuchen. Die klingen härter, männlicher.«

Der Fürst:

»Sind Sie denn ein Mann, Sofija?«

Sofija blickte trotzig ihm auf die Stirn.

Pjotr wurde im Kinderwagen vorübergefahren.

Er heulte wie ein Wolf.

Die Amme zog entschuldigend die Schulter schief:

»Er schreit Tag und Nacht und ist nicht zur Ruhe zu kriegen.«

Sofija sah zum Fürsten hinüber:

»Vielleicht gelingt es mir einmal, ihn stumm zu machen.« -

Sie ging. Der Kies knarrte unter ihren festen, harten Schritten.

Der Fürst sah ihr tief erschrocken nach.

»Dieses Kind hat entsetzliche Pläne. Werde ich es zu bändigen wissen?«

Er sah zum Himmel empor, wo Natalia Naryschkina an der Brust des weißen Herrn lag und auf ihn niederblickte.

»Hilf mir, heilige Natalia«

Eine Träne tropfte aus ihrem Auge.

Über Preobraschensk begann es zu regnen.

Nach zwei Jahren befällt Pjotr eine plötzliche Lähmung.

Seine Beine müssen geschient werden.

Der alte Kutscher Potapoff schüttelt bedenklich sein Haupt. Es geht ihm ganz wie Ilja, dem gewaltigen Sohn des Bauern Iwan, dem Helden von Kiew. Dreißig Jahre konnte er sich nicht bewegen, weder Hände noch Füße regen, saß unbeweglich auf einem Fleck. Bis der fremde Pilger eines Tages zu ihm trat und sprach: »Steh auf« – da konnte er stehen – »Geh« – da konnte er gehen. »Nimm dieses Schwert und bekämpfe die Drachen- und Schlangenbrut« Und er gab ihm das Schwert, das einst der Engel Gabriel gegen Luzifer geschwungen hatte. »Kämpfe damit Aber nenne deinen Feinden nie deinen Namen. Zeige dein Angesicht, aber verbirg dein Herz unter einem eisernen Panzer. Seinen Namen nennt nur der Besiegte. Sein Herz zeigt nur der Tor. Der Held kämpft namen- und herzlos. Wer den Namen seines Gottes vor seinen Feinden ruft, der gibt sich aus der Hand.«

So sprach der alte Kutscher Potapoff.

»Pjotr mag dreißig Jahre ruhig gelähmt bleiben. Ich habe keine Angst um ihn.«

Pjotr genas ebenso plötzlich, wie er erkrankt war. Und war er früher ein schwächliches, zartes Kind gewesen, so wuchs er jetzt zu einem jungen Bären heran, der sich mit Potapoffs Wolf herumbiß. Einmal muß Potapoff den Wolf aus Pjotrs Klauen retten. Pjotr hätte ihm sonst die Kehle durchgebissen. Dagegen rettete Fürst Galizyn Pjotr eines Tages durch einen glücklichen Zufall aus ernstlicher Lebensgefahr. Er fand den närrischen Iwan am Bett des schlafenden Pjotr. Iwan zückte einen Dolch in seiner Hand. Der Fürst entwand ihm das Messer. Er betrachtete es aufmerksam. Er zog die Stirn in Falten und schob die Brille von der Nase, wie er zu tun pflegte, wenn er nachdachte. Endlich besann er sich, wo er den Dolch schon einmal gesehen hatte. In Sofijas Händen. Sie hatte damit gespielt und ihm das Messer zum Scherz auf die Brust gesetzt. -

»Du hast das Messer Sofija gestohlen?« fragte der Fürst.

»Nein,« sagte der Idiot mit einem bösen Blick, »Sofija hat mir das Messer gegeben, und darum hast du kein Recht, es mir zu nehmen.«

»Troll dich«, schrie der Fürst. Er zitterte vor Aufregung, die Brille klirrte auf den Mosaikfußboden, der den letzten Kaiser von Byzanz zeigte.

Der Idiot schlich mit geducktem Kopf von dannen.

An der Tür bleckte er noch einmal die Zunge heraus.

Der Fürst ging Sofija suchen. Er begegnete ihr im Hof, wie sie gerade von ihrem Nachmittagsritt heimkam. Sie sprang vom Pferd, warf ihm die Zügel über, gab ihm einen Schlag mit der flachen Hand und ließ den Rappen allein zum Stall traben.

Sie schlug dem Fürsten mit der Reitpeitsche leicht über die Schulter.

Er zuckte zusammen. Sein weiches, kindliches Gesicht versuchte sich männlich zu straffen.

»Lassen Sie die Kindereien, Sofija -«

»Oh, das war gar keine Kinderei, Andrej. Ich schlug Sie nur – weil ich Sie liebe. Lieben Sie mich ebenfalls?«

Sie spitzte ihren Mund wie eine Haselmaus und schien ihn hier im Hof öffentlich zum Kuß herauszufordern.

Der Fürst wurde ärgerlich.

»Ja, ich liebe Sie ebenfalls. Glühend. Leidenschaftlich. Aber doch nicht bis zu jenem Wahnsinn, den Sie vorzuhaben scheinen.«

Er zog den Dolch aus der Rocktasche:

»Kennen Sie dieses Messer?«

Sofija erblaßte leicht:

»Zeigen Sie her. – Allerdings. Es pflegt zu meiner persönlichen Verteidigung auf dem Nachttisch an meinem Bett zu liegen. Man muß es mir entwendet haben.«

»Lügen Sie nicht, Sofija.«

Sofija biß die Zähne zusammen. Sie stampfte mit dem Fuß auf.

»Sie haben sich einen sonderbaren, einen Ihrer wenig würdigen Kavalier erkoren, Sofija. Er versuchte, Sie auf eine wunderliche Art zu beschützen. Was haben Sie sich dabei gedacht, Sofija?«

Sofija lockerte die Zähne. Sie scharrte mit dem Fuß wie ein Hahn, der nach Würmern sucht. Dann sah sie den Fürsten blitzend an. Er erschrak vor dem Strahl dieser Augen.

»Ich liebe Sie, Andrej. Sie haben mir die Liebe und das Leben erst gezeigt.«

Der Fürst streichelte ihren mit einem ledernen Handschuh bekleideten rechten Unterarm.

»Vielleicht, Sofija. Aber mehr als mich lieben Sie ein anderes: die Macht.«

»Ja,« jubelte Sofija auf, »ja, ich liebe die Macht. Ich will herrschen. Ich will Zarin sein. Du sollst der Zar werden. Der Narr kümmert uns nicht. Aber Pjotr steht uns im Wege. Laß ihn töten, Andrej, töte Pjotr«

Sie war unter Tränen vor ihm niedergesunken und umklammerte flehend seine Knie.

Die Geisteskrankheit Iwans war von einem Konsortium europäischer Ärzte als unheilbar erklärt worden. Ein Ukas des Reichsverwesers, Fürsten Galizyn, verkündete es dem Volk. Das freilich sah darin nur die Machenschaft einer Hofkamarilla und wollte an Iwans Wahnsinn nicht recht glauben. Man sah den Achtzehnjährigen zuweilen hinter den Gartengittern im Park von Preobraschensk gemessen, verträumt und nachdenklich Spazierengehen. Er trug über einer weißen gestärkten Halskrause ein unnatürlich bleiches, engelhaft schönes Gesicht. Je mehr sein Gehirn zerfiel und zerblättertc, desto milder wurden seine ehemals wilden Sitten, und schließlich verliebte sich noch in ihn die gesamte männliche und weibliche Dienerschaft des Schlosses, die sich früher über ihn lustig gemacht oder ihn verachtet hatte.

»Du siehst,« sagte Fürst Galizyn, »wie du dich getäuscht hast, meine Liebe. Der Narr ist ein viel gefährlicherer Nebenbuhler für dich als dieser bärbeißige Bursche Pjotr. Vielleicht ist der Idiot sogar gescheiter als der vernünftige Pjotr. Vielleicht sogar gescheiter als wir. Wer weiß. Was machen wir nun mit Pjotr? Schade, daß er nicht als Bauer geboren ist.«

»Nun,« meinte Sofija ein wenig hinterhältig und spielte mit einer Bernsteinkette, die ihr um den Hals hing, ein Geschenk des Fürsten, »erziehen wir ihn als einen Bauern. Das wird ihm am gesundesten sein und am meisten wohltun. Was braucht er als zukünftiger Zar schon viel zu lernen? Ich habe auch nichts gelernt und regiere ganz passabel.«

»Nun, nun,« der Fürst lächelte, »sollte sich das nicht so glatt erledigen, weil ich einiges gelernt habe? Lesen und Schreiben muß der zukünftige Zar wenigstens lernen. Was soll Europa sonst von uns denken, dessen Blicke erwartungsvoll auf uns gerichtet sind?«

Der Fürst schlug ein scherzhaftes Pathos an.

Sofija kräuselte die Stirn:

»Ach was – Europa. Seine Blicke sind gar nicht auf uns gerichtet. Denn es ist ein blindes, altes Huhn. Jawohl,« wiederholte sie, als der Fürst schallend zu lachen begann, »Europa ist ein blindes, altes Huhn. – Küsse mich, Andrej.«

»Und Rußland?« er küßte sie zärtlich auf die unnatürlich roten Lippen – »was ist dann Rußland für ein Vogel?«

»Ein Adler« – Sofija breitete die Arme aus wie ein Raubvogel seine Schwingen, ehe er auf seine Beute niederstößt.

Der Fürst, halb für sich:

»Auch ein junger Adler wie Pjotr muß einiges lernen: nicht aus dem Nest zu fallen, ruhig und sicher zu schweben, den Feind von weitem zu erkennen, den Tod im Kampf und auch den Opfertod für seine Sippe nicht zu fürchten. Man wird ihm das beibringen müssen.«

Sofija ließ ihre Arme unwillig niederfallen.

»Was du immer mit Pjotr hast. Ich glaube, du liebst ihn, nicht mich. So lehre mich doch das Fliegen«

Sie flog an seine Brust.

Der preußische Leutnant außer Dienst Felix Timmermann wurde dem jungen Pjotr als Gouverneur beigegeben. Pjotr lernte notdürftig Schreiben und Lesen und Deutsch radebrechen. Zu einer orthographisch richtigen Schreibweise hat er es nie gebracht. Rechnen und Geometrie lagen ihm schon besser. Darin vermochte auch Timmermann, ein begabter Mathematiker, ihn eher fcu fördern. Seine Lieblingsfächer aber waren Militärwissenschaft, Nautik und Geschichte, die Timmermann selber nur mäßig beherrschte. Immer wieder aber mußte Timmermann ihm von Hannibal, von Cäsar, von Alexander dem Großen erzählen. Timmermann, dessen Kenntnisse auf sehr schwachem Grunde ruhten, schmückte die Biographien seiner Heroen, als er sah, wie sein Zögling sich an ihnen entzündete, mit eigenen Zutaten grell und phantastisch aus. Alexander der Große, der schon eher den Beinamen »Alexander der Ungeheuerliche« verdient hätte, gelangte in seiner Geschichtsstunde weit über Indien und China bis zu einem imaginären Land, wo das bis dahin unbezwungene Volk der Riesen hauste. Alexander erschlug mit eigener Hand siebentausend Riesen und heiratete, nachdem er im Zweikampf auch den König der Riesen wie einen wilden Eber erlegt, des Riesenkönigs Tochter, von der er noch in der Hochzeitsnacht heimtückisch mit einem giftgetränkten Hemd umgebracht wurde aus Rache für die Vernichtung ihres Volkes. Der gute Timmermann geriet hier unbedenklich in die Herkulessage hinein.

Pjotrs Augen aber glänzten, seine Wangen glühten.

»Und?« fragte er leidenschaftlich – »und?« Und der brave Timmermann steigerte sich zu immer kolossalischeren Heldengemälden.

Nebel lag über Preobraschensk, das Pjotr mit einem kleinen Hofstaat nunmehr allein bewohnte. Die Regentin Sofija und der Reichsverweser Fürst Galizyn hatten das Stadtschloß in Moskau bezogen.

Pjotr sah in den Herbst hinaus. Er war ein ungeschlachter Bursche geworden, der mit seinen Gliedern nicht wußte wohin. Sofija und Galizyn ließen ihn verwildern.

Er knirschte mit den Zähnen. Oh, er fühlte das ganz genau, er wußte instinktiv um den Haß seiner Schwester Sofija. Er würde ihnen aber einen Strich durch die Rechnung machen, wenn sie es sich am wenigsten versähen. Ihre und seine Rechnung: die gingen verschieden auf. Sie addierten nur. Er aber wollte multiplizieren, ja potenzieren. Er wollte seine Fähigkeiten in die x-te Potenz erheben. Wenn sie es auch nicht wollten und ihm entgegenarbeiteten: er wollte etwas aus sich machen wie Cäsar und Alexander der Große. Pjotr der Große würde es einst heißen. Sie aber nur Sofija die Kleine und Galizyn der Winzige. Alexander hatte mit Riesen gekämpft. Waren Sofija und Galizyn Riesen? Pah: Zwerge waren es, er reckte seine Glieder, mit denen wollte er schon fertig werden.

Die kahlen Bäume draußen im Herbstnebel schlenkerten ihre Äste wie Arme. Sie schienen wie Skelette, die sich tanzend bewegten. Der Wind pfiff ihnen zum Tanz auf.

Pjotr drückte sein breites, rotes Gesicht glatt an die Scheiben:

Dieser Baum wäre so übel nicht für Galizyn – und jener für Sofija. Wenn ich sie nicht hänge, hängen sie mich. Das ist der Lauf der Welt. Hat sich Alexander besonnen, als er siebentausend Feinden eigenhändig den Kopf abschlug?

Pjotr hob den rechten Arm wie ein Schwert, da steckte Timmermann den Kopf zur Tür herein.

»Treten Sie nur näher, Timmermann, Ihnen will ich den Kopf nicht abschlagen. Was wünschen Sie?«

Timmermann hatte zwei Säbel unter dem Arm.

»Kommen Sie, Prinz. Wir wollen heute mit dem Säbelfechten beginnen. Gehen wir in den oberen Saal.«

Einige französische Schneider kamen aus der Hauptstadt. Pjotr verwunderte sich sehr. Fürst Galizyn hatte sie gesandt. Sie nahmen ihm Maß zu prunkvollen und prächtigen Festgewändern aus Seide, Damast und Atlas und vermochten, als er sie um Aufklärung ersuchte, nur mit den Achseln zu zucken. Seine Hoheit der Fürst habe sich herabgelassen, ihnen diesen Auftrag zu erteilen. Wozu und warum – sie bedauerten, keine Antwort erteilen zu können, da sie keine wußten. Bald erschien auch ein deutscher Schuster, der ihm feine Saffianschuhe anpaßte.

Timmermann erwies sich als nicht orientiert. Pjotr hatte allerlei Vermutungen, von denen ihn keine befriedigte. Sollte er auf einem Hoffest offiziell eingeführt werden?

Die Schneider kamen noch einmal zur Anprobe und empfahlen sich, ihre Künste eitel selbst bewundernd, mit vielen entzückten Ahs und Ohs.

Fürst Galizyn fuhr eines Tages in großer Gala vor. Er wählte unter den neuen Kleidern das schönste und prunkvollste aus Goldbrokat und ließ es Pjotr auf der Stelle anlegen.

Er umschritt ihn mehrmals prüfend.

Wie der Henker sein Opfer, dachte Pjotr. Was hat er mit mir vor?

Dann hieß der Fürst ihn einsteigen. Timmermann, ebenfalls in großer Uniform, saß hinten auf. Potapoff kutschierte. Nun kutschiere ich Ilja, den großen Helden von Kiew. Heil Zeige dein Angesicht, aber verbirg dein Herz unter dem goldenen Brokat. Die Fahrt beginnt. Glückauf

Im Moskauer Kreml empfing ihn Sofija in weißem Atlas. Sie stand oben auf der Freitreppe. Er sah sie seit Jahren wieder zum erstenmal. Sie schritt die Freitreppe hernieder. Wie schön sie war Der Fürst half ihm aus dem Wagen. Sofija verneigte sich vor ihm. Er errötete, war verwirrt und wußte nichts zu sagen.

Sie fuhren in silberner Staatskarosse zur Metropolitankirche.

Adrian, der Patriarch, empfing ihn, weihte und segnete ihn.

Iwan war gestorben.

Pjotr wurde, sechzehnjährig, zum Zaren ausgerufen.

Er stand im grellen Mittagslicht auf der Terrasse vor der Kirche und sah hinab auf das wogende Volk, das Mützen, Blumen, Schals, Jacken, Tücher unaufhörlich in die Luft warf und schrie:

»Lang lebe Zar Pjotr«

Sofija nahm ihn bei der Hand und führte ihn bis vorn an die Estrade.

Da wurde er plötzlich sich seiner bewußt.

Er riß sich von Sofija los, sprang auf die Estrade selbst, warf seine Fellmütze in die Luft und brüllte:

»Es lebe Rußland«

Sofija war zurückgetaumelt.

Der Fürst wiegte seinen Vogelkopf hin und her.

Der Patriarch hielt die Hände betend gefaltet.

Das Volk tobte und raste vor Jubel.

Dieses Volk beschloß Pjotr kennenzulernen.

Heimlich zuweilen entwich er aus Preobraschensk in der Tracht eines Gärtnerjungen.

Er mischte sich unter Knechte, Händler, Bauern, Arbeiter, fremde Matrosen. Er lernte von ihnen das Saufen und Raufen, das Fluchen und Gott und den Teufel suchen. Er war bärenstark. Ungern band und bändelte man mit ihm an.

Er lernte die Weiber kennen.

Seine erste Geliebte war eine braune schmutzige Zigeunerin, die ihm aus der Hand wahrsagte.

»Brüderchen,« sagte sie lachend, »du hast mir einen Silberrubel geschenkt, aber ich muß dir trotzdem die Wahrheit sagen: du wirst einmal ein großer Verbrecher, ein großer Räuber wie Stenka Rasin, ein großer Mörder wie Iwan der Schreckliche. Ja, Brüderchen, sogar ein Mörder wirst du. Denk' an mich, wenn es soweit ist. Armer kleiner Pjotr, man wird dich einmal ›Pjotr den Furchtbaren, Pjotr den Besessenen› nennen. Denn du bist besessen von allen guten und bösen Dämonen, vom heiligen und unheiligen Geist, von Gott und dem Teufel.«

Seine zweite Geliebte war ein junges, zartes, fünfzehnjähriges Geschöpf, die Tochter eines Branntweinwirtes.

Er liebte sie zu heftig.

Sie ertrug seine Liebe nicht.

Sie starb daran.

Sofija fuhr dem Fürsten schmeichlerisch über die Stirn.

»Du bekommst schon Runzeln, Liebling. Du mußt etwas für dich tun, für dich und deinen Ruhm, ehe es zu spät ist.«

Der Fürst schob die Hornbrille zurecht und klappte die »Ilias« zu, in der er gelesen hatte.

»Mein liebes Kind, Dank für deinen freundlichen Hinweis auf mein beginnendes Alter: aber ich lese lieber von kriegerischen Taten, als daß ich selbst welche verrichte. Was sollte ich alter Mensch auch noch mit Krieg und Kriegsruhm anfangen? Mars ist nur ein Druckfehler für Mors. Ich sonne mich an deiner Jugend, an deinem Ruhm. Ich denke, mag die Jugend handeln.«

Sofija ließ nicht nach.

»Da unten in unserem Reiche liegt irgendwo die Krim. Ein Chan, der uns Untertan und tributpflichtig ist, soll wider uns rebellieren. Du mußt den Aufstand niederwerfen.«

»Eine lächerliche Idee, Kind. Laß ihn rebellieren. Rußland ist so groß, wir merken ja gar nichts davon. Er oder sein Nachfolger wird schon wieder zur Besinnung kommen.«

Sofija schmollte:

»Du hast keinen Sinn für Heldentum.«

»Doch, Kind, doch, aber für unnützes Heldentum nicht.«

»Dann ziehe ich selbst in den Krieg. Willst du mir die Strapazen eines Feldzuges zumuten?«

Sie zwirbelte an seiner Stirnlocke.

»Du bekommst übrigens schon weiße Haare, silberweiße Haare wie ein Lämmchen.«

Der Fürst seufzte:

»Du wirst keine Ruhe geben, bis das Lamm von den Füchsen der Krim nicht zerrissen ist. Also gut, ich werde die Tartaren bekehren.«

»Timmermann,« sagte Pjotr, »heute ist Sonntag, der Tag des Herrn, nicht der Tag der Knechte. Ich will nicht in die Messe gehen und einen dreckigen Popen die heiligen Gefäße und die reine Liturgie des Chrysostomus verunreinigen sehen. Ich will nicht hundert und aber hundertmal, wie von meinem Vater Alexej die Sage geht, das Knie vor den bunten Bildern beugen. Ich will aufrecht meinem Gott gegenübertreten und sagen:

«Hier ist Pjotr, dein Sohn, Väterchen. Er will versuchen, deiner nicht unwert zu leben und zu arbeiten. Hören Sie, Timmermann: zu arbeiten. Fünfzehnhundertmal sich bekreuzen und drei Stunden in der Messe stehen, das ist keine Arbeit. Meine lieben russischen Brüder halten Faulenzerei für die gottwohlgefälligste Tugend. Diese Faulheit muß ihnen ausgeprügelt werden. Rußland braucht Handwerker, die ihr Hand- und Seelenwerk verstehen. Auch die Dworjanje müssen endlich etwas lernen: zu reiten, zu streiten, zu leiten. Neulich verlor mein Pferd unterwegs ein Eisen. Ich habe keinen Schmied gefunden, der es recht hätte beschlagen können. Ich habe es selbst in einer Schmiede beschlagen müssen. Dieser Schmied wußte dann bei einem Glase Kwaß die amüsantesten Geschichten von Gott und der Welt zu erzählen, daß ich mich bog vor Lachen. Aber ein Pferd beschlagen: das konnte er nicht. So sind die Russen. Sie können alles – nur nicht das, was sie können sollten und müßten. Unsere Bauern wissen nicht Egge und Pflug zu führen, sie können guten von schlechtem Ackerboden nicht unterscheiden. Sie bauen immer gerade soviel an, als sie in guten Erntejahren für sich und ihre Familie brauchen. Wenn ein schlechtes Erntejahr kommt, verhungern und verrecken sie natürlich, dumm und gottergeben. Sie säen Korn in den Wald und pflanzen Obstbäume in ein Haferfeld. Rußland braucht Arbeiter, Arbeiter, Arbeiter. Aber nicht solche, die so heißen, sondern solche, die so sind. Sechsundzwanzig Stunden am Tag muß jeder arbeiten, sonst kommt Rußland nicht hoch. Rußland braucht eine Flotte und Matrosen, die sie zu führen wissen. Das Meer liegt offen da. Wir müssen bei Holländern, Engländern, Venezianern in die Schule gehen. Rußland braucht ein Heer, Offiziere und Soldaten. Der Militärdienst muß auf alle Klassen der Bevölkerung ausgedehnt werden. Frankreich und Preußen müssen uns Vorbild sein. Die Erde liegt offen da. Jetzt haben wir einen zusammengelaufenen Haufen Bewaffneter, von denen nur ein Bruchteil alte verrostete Gewehre trägt, mit denen er nicht einmal umzugehen weiß, die meisten aber haben nur Keulen, Sensen und Messer. Versteht einer was von Strategie? Drauflos lautet im Ernstfall die Parole, der Tausende nutzlos zum Opfer fallen. Es gibt ja genug Menschen in Rußland. Aber soviel wir sind: was vermögen wir gegen Schweden? gegen Polen? gegen die Türken? Perser? ja, auch nur gegen aufständische, schlecht bewaffnete Tartaren? Nichts, weil wir ein Nichts sind.«

Pjotr hatte sich in Wut geredet.

»Mein Vater hat die Juden aus dem Lande gejagt. Ich halte das für einen schweren Fehler. Sie waren der Sauerteig im russischen Brot. Sie waren wie Schmeißfliegen um uns schwerfällige Hengste. Aber es war recht so. Sie ließen uns nicht zur Ruhe kommen. Wir schlugen wenigstens hin und wieder aus. Jetzt haben wir auch das verlernt und dösen so im Stall dahin. Timmermann, auch die Juden hatten ihre Helden. Heute ist Sonntag. Lies mir aus ihrem Heldenbuch, dem alten Testament. Lies mir von den Makkabäern«

Pjotr warf sich auf ein Eisbärfell am Boden und kreuzte die Arme unterm Schädel. Timmermann stand am Stehpult wie der Prediger auf der Kanzel und las:

»Und Judas Makkabäus kam an seines Vaters Stadt. Er zog in seinem Harnisch wie ein Held und schützte sein Heer mit seinem Schwert. Er war freudig wie ein Löwe, kühn wie ein junger, brüllender Löwe, so er etwas jagt. Und er hatte Glück und Sieg.«

Da sprang Pjotr auf und brüllte, brüllte wie ein junger Löwe. Er brüllte, daß die Pferde im Stall und die Leibeigenen in den Gesindezimmern unruhig wurden und die Köpfe zusammensteckten.

Und einer, ein Greis von vielen Jahren, wisperte:

»Wenn er nur nicht wahnsinnig wird wie Iwan Wie Iwan der Schreckliche, wie Iwan der Blödsinnige Wahnsinn liegt in der Familie, ja«, und er nickte mit dem weißen Kopf, »Wahnsinn und Zarentum: das ist vielleicht dasselbe.«

Da schlug ihm Potapoff, der Kutscher, mit dem Holzlöffel auf den Mund:

»Er hat schon als Kind Tag und Nacht geschrien und war nicht zur Ruhe zu kriegen. Da half kein Wiegen, Singen und Lullen. So hat Ilja, der Held von Kiew, gebrüllt. Er wird uns alle noch in Erstaunen versetzen. Denn Gabriel schrie so, als er das Schwert gegen Luzifer schwang.«

Pjotr trat, neunzehnjährig, in den Staatsrat.

Sofija präsidierte. Sie wollte auffahren.

Er drückte sie in den Sessel zurück.

Er trug an einem silbernen Wehrgehänge einen kleinen Dolch, zog ihn und nagelte mit einem Faustschlag das Dokument, das Sofija in Händen hielt, auf der eichenen Tischplatte fest.

Auf dem Dokument hatte sich Sofija unterschrieben:

»Selbstherrscherin aller Reußen.«

»Das Dokument ist ungültig. Ich gebe meine Einwilligung nicht zu diesem Mummenschanz. Will Rußland sich ewig von Weibern regieren lassen – schweigen Sie, Fürst Galizyn – die Politik vom Fenster ihrer Herzkammer aus machen? Es muß aber ein Fenster in Rußlands Wand nach Europa zu geschlagen werden. Man hat mich künstlich dumm gehalten. Aber so dumm bin ich nicht, Ihre Intrigen nicht zu durchschauen, Sofija. Fürst Galizyn, der neue Achill – daß ich nicht lache. Besehen Sie sich doch im Spiegel, Fürst. Der beabsichtigte Feldzug gegen die Chans der Tartaren ist eine eitle Arabeske. Er wird mißlingen, denn unsere Adligen sind übermütig und roh, unsere Bürger feige und hinterhältig und unsere Bauern dumpf und dumm. Aber sie sind mir noch die Liebsten, denn ihre Dummheit hat etwas heilig Ahnungsloses. Sie sind dumm, wie Ziegen und Ochsen und Esel dumm sind. Die Ritter aber sind allesamt Donquichotes, die mit ihren von einer langen Ahnenreihe vererbten, verrosteten Lanzen gegen kriegsgewohnte, gut bewaffnete, wilde Völkerschaften anrennen wollen. Lassen Sie uns an dem Werk, das Rußland heißen soll, bescheiden und demütig arbeiten, Achtung vor der geringsten Tat, die vorwärtsbringt, aber Fluch und Gelächter der hohlen Phrase, dem hohlen Kopf. Wer einen hohlen Kopf hat, mag ihn wenigstens als Trommel herleihen.«

Pjotr

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