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LU. Ulder

Im Bann des Clans

Über dieses Buch:

"Im Bann des Clans" ist der Folgeband des im Droemer Knaur Verlag veröffentlichten Thrillers "Ein dunkler Trieb".

Ein totes, kleines Mädchen, eine Gruppe von Schwerstkriminellen und ein außer Kontrolle geratener Verfassungsschützer.

Björn Liebermann von der Ermittlungsgruppe Bandenkriminalität und die Mordkommission unter Claudia Harder ermitteln gegen dieselben Verbrecher, ohne voneinander zu wissen. Der Verfassungsschützer Keppler hat unterdessen ganz andere Probleme. Sein Vorgesetzter setzt ihn unter Druck, weil er Ergebnisse sehen will, die seiner Karriere förderlich sind. Am liebsten wäre ihm die Enttarnung eines IS-Rückkehrers. Der V-Mann-Betreuer Keppler greift in die polizeilichen Ermittlungen ein und fasst einen verhängnisvollen Entschluss, bis es zu einem katastrophalen Anschlag kommt. Das BKA schaltet sich ein und übernimmt den Fall. Die Berliner Ermittler jedoch bleiben verdeckt am Ball, zu viele Rechnungen sind in diesem Fall offengeblieben. Und plötzlich beginnt eine der bizarrsten Mordserien, die Berlin jemals gesehen hat.

Inhaltsübersicht

1 In der Nacht

2 Nur ein Film

3 Eine falsche Entscheidung

4 Erste Spuren

5 Fundsachen

6 Konsequenzen

7 Cadaverin

8 Vermisst

9 Erste Schritte

10 Leichenschau

11 Eine Patientin und ein alter Bekannter

12 Wurfübungen

13 Streifzüge

14 Befunde

15 Kettenreaktion

16 Ultimatum

17 Zusammenführung

18 Druckaufbau

19 Gewissheiten

20 Druckableitung

21 Technische Erkenntnisse

22 Geeignet

23 Gute Nachricht

24 Derangiert

25 Abgehängt

26 Fehlversuch

27 Ein Wagnis

28 Wie ein Uhrwerk

29 Ein Desaster

30 Verschwunden

31 Sündenbock

32 Wunden lecken

33 Auf Null gestellt

34 Noch mehr Druck

35 Alte und neue Verbündete

36 Ein Feldzug

37 Trauerfeier

38 Wieder am Ball

39 Der Nächste

40 Ein wunderbares Exemplar

41 Über die Schulter schauen

42 Vorkehrungen

43 Eine Serie

44 Neue Verbindungen

45 Pechvögel

46 Lieblingsermittlerin

47 Befürchtungen

48 Aller guten Dinge

49 Zugriff

50 Neue Theorien

51 Fragen

52 Böse Überraschung

53 Debakel

54 Versteckt

55 Krankenbesuch

56 Flugmodus

57 Nicht ganz fit

58 Jungenspiele

59 Kontaktaufnahmen

60 Kaltblütig

61 Beobachter

62 Ein Schatz

63 Drittes Leben

64 Vorbereitungen

65 Rendezvous

66 Dunkle Ringe

67 Tête-à-Tête

68 Auf der Brücke

69 Nachtgesichter

70 Geht so

,,, am Ende

Impressum

Personenregister:

Die Ermittlungsgruppe Bandenkriminalität:

Björn Liebermann, Kriminalhauptkommissar, stellvertretender Leiter,

Moritz Hübner, sein Chef,

die Kollegen Jürgen Kurth, Michael Peschel, Stefan Zogg, Philipp Wuttke.

Die Mordkommission (Untergruppe)

Claudia Harder, Leiterin, Spitzname ErSieEs.

Harald Breugel, Jan Eggert, Sophie Sell, Sven Krauss.

Weitere Figuren auf Ermittlerseite:

Jörg, Kriminaltechniker

Prof. Dr. Thiel, Rechtsmediziner

Carmen Hauschildt, leitende Kriminaldirektorin beim BKA, Abt. Terrorismus.

Die Gegenspieler:

Akram Fadel, der Mann mit der Narbe,

Bilal Al Mossa, der Kopf der Bande,

Mahamad und Mahdi El Zein, Zwillinge, Schlägertrupp der Bande,

Hussein El Merhi, der Fahrer,

Süreyya El-Zein, die Frau des Fahrers.

Der Flüchtling:

Karam Davod

Verfassungsschützer:

Leif Keppler, V-Mann Betreuer

Frank-Ulrich Hesse, sein Vorgesetzter

Security im Lageso:

Aladin Demir und Dogan Coskun

Weitere Nebenfiguren:

Werner Groth, ein Spanner,

Kristine Keppler, Ehefrau von Leif Keppler,

Rita, Imbissbudenbesitzerin,

Gerrit Winter, ein Lkw-Fahrer

Katja Bergmann, seine Freundin,

Petra Maruhn, ihre Bekannte,

Karl-Heinz Bender, ein Zeuge,

Albin Klein, Schlachter, Neonazi,

Dr. Karl Hempf, ehemaliger Internist,

Gabriele Ottenberger, seine ehemalige Patientin,

Sybille Aust, eine Zeugin,

Jasmin, Prostituierte und Bekannte von Björn,

Mariola, Dolmetscherin und Bekannte von Björn,

1. In der Nacht

Sie war tot!

Und wenn er noch so sehr starrte.

Der Schreck beim Berühren, diese beinahe unwirkliche Kälte, als er sie anhob und zur Ladefläche trug. Selbst durch das Leinentuch hindurch, das ihren Körper umhüllte. Kalt und leblos, eine unangenehme Empfindung, die er so schnell wie möglich wieder abschütteln musste.

Sie war tot, ein Stück seelenloses Fleisch.

Obwohl er es wusste, erwischte er sich dabei, wie er bei jeder Gelegenheit den Kopf ein wenig weiter zur Seite drehte, als es zum Fahren nötig gewesen wäre, nur um einen Blick nach hinten auf die Ladefläche zu werfen. Im Schein der wenigen Straßenlaternen, die den Innenraum schlaglichtartig erhellten, zeichnete sich unter der dicken Plane lediglich ein undefinierbares Etwas ab, eine nichtssagende Erhebung. Er aber wusste genau, in welcher Position sie dort lag. Ihm war, als könne er sie mit seinen Blicken beschwören, zurückzukehren in ein Leben, das seine Tochter noch hatte. Naime war genauso alt wie das tote Mädchen. Er musste die Gedanken daran und alles andere, was er jetzt tun musste, tief in seiner Seele vergraben, wollte er seiner Familie jemals wieder unter die Augen treten.

Die nächtliche Fahrt lief wie ein Film an seinen Augen vorbei. Ein fremdes Leben, auf das er mit Abstand hinunterschaute. Während der verstohlenen Blicke nach hinten fiel immer wieder Lichtschein auf das Gesicht seines Beifahrers. Die hässliche Narbe am Hals schimmerte, als hätte sie jemand mit einem roten Stift nachgezeichnet, um sie besonders hervorzuheben. Sie verstärkte die Wirkung der brutalen Gesichtszüge um ein Vielfaches. Niemand von ihnen sprach ein Wort, bis sie ihr Ziel erreichten. Akram, der Mann, den alle nur 'Die Narbe' nannten, öffnete die Tür und rutschte vom Beifahrersitz nach draußen. Er ließ die Beifahrertür einen Spaltbreit offen stehen und war mit zwei Schritten am Eisentor. Bevor er sich am Vorhängeschloss mit der schweren Kette zu schaffen machte, drehte er seinen Schädel in alle Richtungen, der Blick blieb für einen kurzen Augenblick auf das einzige noch bewohnte Haus in der Straße hängen. Hinter keinem der Fenster brannte Licht, das hatten sie bereits bei der Einfahrt in die kurze Sackgasse gesehen. Die muskulöse, dunkel bekleidete Gestalt verschmolz fast vollständig mit der Umgebung.

Hussein schaute erneut nach hinten zur Ladefläche, seufzte unterdrückt. Draußen klirrte es verhalten, als der Stämmige die Kette aus dem geöffneten Schloss aushängte. Gleich darauf war das Quietschen der Eisenrollen hören. Akram schob das schwere Rolltor gerade soweit beiseite, dass der Kleinbus hineinfahren konnte. Sofort danach wiederholte er den Ablauf in der umgekehrten Reihenfolge und kletterte zurück in den Wagen.

„Sieht alles ruhig aus. Die Trottel sind am Saufen, wie immer.“

Der Beifahrer zeigte mit dem Daumen hinüber zu den beiden hell erleuchteten Fenstern des flachen Anbaus, der sich ganz rechts auf dem im Dunklen liegenden Areal befand.

„Spätestens, wenn das Licht anspringt, kommt einer von denen an.“

„Dafür sind sie da.“

Der Fahrer rangierte den Transporter, bis er rückwärts mittig auf das Sektionaltor des größten Gebäudes zurollte. Auf den letzten Metern, unmittelbar, bevor er die im Tor eingelassene Tür erreichte, sprang ein Scheinwerfer an und tauchte das Fahrzeug in gleißendes Licht. Der Motor erstarb, beide Türen wurden geöffnet, die Männer stiegen aus. Nur Augenblicke später wurde die Stahltür am Flachbau geöffnet, Lichtschein drang heraus, in dem sich eine hagere Gestalt abzeichnete. Trotz der Entfernung von beinahe hundert Metern war Musik zu hören, harte, schnelle Rhythmen schallten plötzlich über das verwahrloste Gelände. Sie erstarben mit dem Zufallen der Tür, gleichzeitig war die Figur nur noch schemenhaft zu erkennen.

„Ich sage dem Spinner, dass er wegbleiben soll. Du schaffst das allein.“

Der Beifahrer setzte sich in Bewegung. Hinter ihm öffnete Hussein zuerst die im Tor eingelassene Tür, danach ließ er die Heckklappe nach oben schwingen. Geduldig wartete er im Schutz der Klappe auf das Erlöschen der von einem Bewegungsmelder gesteuerten Lichtquelle. Dabei ließ er seinen Mitfahrer, der sich dem entgegenkommenden Mann aus dem Flachbau näherte, nicht aus den Augen. In der Mitte des Platzes trafen sie aufeinander, blieben stehen, unverständliche Gesprächsfetzen drangen zu ihm herüber.

Das Licht erlosch, das Gelände lag schlagartig wieder im Dunklen wie zuvor, nur noch die Umrisse der beiden Personen waren durch die Umgebungshelligkeit zu erkennen. Der Fahrer beugte sich tief in den Innenraum und hob einen schmalen, in ein weißes Tuch gewickelten Körper hoch. Mit dem Bündel auf den Armen drehte er sich um, damit ihn die Männer auf dem Hof nur von hinten sehen konnten, und schlüpfte durch die Tür in die Halle hinein. Seine Vorsicht war unnötig gewesen, der Scheinwerfer sprang kein weiteres Mal an. Er drückte die Tür hinter sich mit der Schulter ins Schloss und bewegte sich im Dunklen mit vorsichtigen Schritten auf eine bestimmte Stelle an der Wand zu. Schmutzpartikel knirschten unter seinen Sohlen. In der Halle roch es nach Öl, Gummi und verbranntem Diesel. Das monotone Brummen eines eingeschalteten Elektrogerätes füllte den Raum aus.

Der Mann erreichte die Wand, warf sich den zierlichen Körper über die Schulter. Seine Finger tasteten sich an einer Reihe von Schaltern entlang nach unten. Auf den Letzten drückte er, im hinteren Bereich der Halle sprang ein trübes Licht an, so schwach, dass es vorn von der Straße aus kaum zu sehen sein dürfte.

Ein Sattelschlepper parkte rückwärts in dem riesigen Raum. Vom Fahrzeug führte ein Kabel zu einer Steckdose in der Wand und versorgte das Aggregat für den Kühlauflieger mit Strom.

Hussein hastete an dem Lastzug vorbei. Aus seiner Hosentasche fischte er einen Schlüssel und versuchte, mit einer Hand die Heckklappen zu öffnen. Als ihm dies nicht gelang, musste er den eingewickelten Körper auf dem schmutzigen Boden ablegen. Er entriegelte das Schloss und zog mit beiden Händen an den klemmenden Türen, erst beim zweiten Mal gelang es ihm, sie aufzuziehen. Anschließend hob er den Körper auf und platzierte ihn behutsam auf die vordere Kante des Laderaumes, bevor er selber hinterher kletterte.

Gekühlte Luft umgab ihn und ließ ihn augenblicklich frösteln. Trotz der Kühle nahm er den typischen Geruch von Fleisch wahr, rohes Fleisch und geronnenes Blut. Im schwachen Licht der Hallenbeleuchtung sah er die geschlachteten und halbierten Tierkörper dicht an dicht an den Haken hängen. Er schob sich vorsichtig weiter in den Anhänger hinein, bis er meinte, etwa die Mitte erreicht zu haben. Den Körper auf seiner Schulter ließ er erneut vorsichtig zu Boden gleiten und wickelte ihn aus dem Tuch heraus. Dabei stieß sein Kopf immer wieder gegen eine der Tierhälften, die unangenehmen Berührungen ließen ihn zusammenzucken. Als der blasshäutige Körper ohne den Schutz des Tuches vor ihm lag, wandte er den Blick ab, er konnte nicht hinschauen. Seine persönlichen Empfindungen musste er unbedingt verdrängen, er war nur noch funktionierendes Glied in einer Kette. Hussein stand auf und versuchte, zwei der Tierhälften auseinander zu schieben, um einen Zwischenabstand zu bekommen. Mit spitzen Fingern drückte er gegen das von der Haut befreite Fleisch, zuckte aber sofort zurück. Auf der Oberfläche war bereits ein schleimiger Film entstanden. Angewidert nahm er das Tuch und band es um eines der Tiere, um seine Hände und seine Kleidung zu schützen. Der Versuch, es zu verschieben, scheiterte an dem zu hohen Gewicht. Es schwang nur minimal hin und her und kehrte sofort in seine Ausgangsstellung zurück. Kopfschüttelnd bewegte er sich durch die hängenden Tierkörper hindurch zum Heck des Lastzuges. Er sprang von der Ladekante herab und erschrak, als sein Blick auf Beine fiel, die unmittelbar vor ihm auftauchten. Erleichtert registrierte er, dass es sein Beifahrer war, der lautlos in die Halle gekommen war.

„Was brauchst du denn so lange?“, herrschte Akram ihn an.

„Du musst mir helfen, komm mal rein.“

„Wirf sie auf den Boden, das wirst du doch hinbekommen.“

„Nein“, beharrte Hussein. „Wir müssen sie verstecken, falls jemand hineinguckt. Der Fahrer vielleicht, eine Kontrolle, wer weiß.“

„Der Idiot wird sich hüten.“

„Wir könnten sie in das Versteck legen“, schlug Hussein vor.

„Viel zu aufwendig, das zu öffnen. Du nervst mich, Mann.“

Schließlich kletterte er dem Fahrer hinterher, die Erwähnung einer Kontrolle während der Fahrt hatte ihm anscheinend zu denken gegeben. In seinem Rücken konnte Hussein die Flüche hören, während sie sich durch die schweren Körper hindurchzwängten.

»Wir müssen eines der Viecher verschieben, das schaffe ich nicht allein. Fass mit an.«

Gemeinsam gelang es ihnen, eine der Tierhälften zu verrücken. Durch die Form der Rippen ergab sich ein kleiner Hohlraum. Sie rissen das Tuch in Streifen, banden die kalten Hände zusammen und hängten den Leichnam zwischen die Hälften. Mit einem weiteren Tuchstreifen zurrten sie die Haken am Kopfende zusammen, um ein Auseinanderklaffen des Arrangements zu verhindern.

Ein schlankes Bein schob sich heraus und musste in die alte Position gedrückt werden.

„Eine Schande ist das“, brachte der Fahrer mit belegter Stimme heraus. Niemand hatte es verdient, so entsorgt zu werden, niemand.

„Und ob“, brummte Akram und wischte sich die Hände ab.

Hussein war das Glitzern in Akrams Augen beim Betrachten des Körpers nicht entgangen.

Niemand hatte es verdient, bekräftigte Hussein seine Gedanken und schaute zur Seite. Niemand, außer Akram vielleicht.

2. Nur ein Film

Berlin, Frühsommer 2015.

Björn Liebermann warf im Gehen einen Blick auf die Uhr. Er war spät dran an diesem Morgen, beinahe dreißig Minuten später als üblich. Seine Gedanken kreisten immer noch um Mariola, während er in gemächlichem Tempo über den Flur ging. Seine Abneigung, was Besprechungen im Allgemeinen und tägliche Frühbesprechungen im Besonderen anging, hatte sich bei seinen Kollegen längst herumgesprochen. Kein Grund also, sich zu beeilen. Mit etwas Glück käme er um das ungeliebte Ritual herum, irgendwer würde ihm schon die wenigen wichtigen Neuigkeiten erzählen.

Mariola. Ihr klammerndes Verhalten wurde bei jeder ihrer Verabschiedungen anstrengender. Was als One-Night-Stand gedacht gewesen war, entwickelte sich immer mehr zu einer festen Teilzeitbeziehung, einer Art Freundschaft-Plus. Dabei hatte er sich überhaupt nur auf die Beziehung eingelassen, weil die attraktive Dolmetscherin in Polen verheiratet war.

Der Hauptkommissar erreichte die Tür zum Besprechungsraum und öffnete sie. Eine Wolke warmer, verbrauchter Luft nahm ihn in Empfang, gleichzeitig stutzte er, weil das Zimmer abgedunkelt und nur durch einen eingeschalteten Beamer schwach erhellt wurde.

„Immer noch zu früh“, war deshalb sein erster Gedanke.

Mit einem knappen 'Moin' schob er sich an drei Kollegen vorbei, um seinen angestammten Sitzplatz zu erreichen.

„Fang mit dem Video noch mal von an, Jürgen. Es läuft ja erst seit zwei Minuten.“

Moritz Hübner, Kriminaloberrat und seit drei Monaten sein Vorgesetzter in der Ermittlungsgruppe für Banden- und Schwerstkriminalität, wandte sich Björn direkt zu.

„Das Video kam gestern Nachmittag per Mail rein, es wurde von den Kollegen der Bundespolizei aufgenommen. Sie ermitteln, angeblich nach einem anonymen Anruf, wegen illegaler Schleusungen und fragen an, ob wir die aufgezeichneten Personen identifizieren können. Ich hab schon mal reingeschaut. Die Aufnahmen geben einen interessanten Ansatz auf unseren speziellen Freund, das könnte vielleicht für uns von Bedeutung sein.“

Björn nickte. Schlagartig war sein Interesse geweckt. Mit 'unserem speziellen Freund' meinte sein Chef den Mann, der sich immer wieder im erweiterten Blickfeld der Ermittler befand, an dem sie sich aber bislang die Zähne ausgebissen hatten.

Akram Fadel, Mitte dreißig, Mhallami-Kurde, hielt sich seit einiger Zeit in Berlin auf. Gesichert bekannt war nur, dass er in München an einer heftigen Auseinandersetzung zwischen zwei verfeindeten Clans beteiligt gewesen war. Eine Narbe an Hals und Kinn war ein bleibendes Andenken davon. Er wurde als brutal und absolut skrupellos beschrieben, einer, der die Ausputzer des Clans unter sich hatte, keiner der Bosse, aber ziemlich dicht in der Nähe angesiedelt. In Berlin hatte er sich bislang unauffällig verhalten, außer dass er bemüht war, seinen Aufenthaltsort zu verschleiern. Das einzig Auffällige war sein Lebensstil. Ein teures Auto und regelmäßige Nachtklubbesuche passten nicht zu einem Mann ohne Einkommen. Für konkrete operative Maßnahmen waren diese ersten Ermittlungsergebnisse nicht ausreichend, deshalb war es bislang bei einer lockeren Beobachtung geblieben.

Björn war mittlerweile zum stellvertretenden Leiter der EG aufgestiegen. Neben seiner Tätigkeit als Verbindungsbeamter für ausländische Dienststellen konnte er nun selbst bestimmen, ob und wie tief er in laufende Ermittlungen einstieg.

Die Vita des M-Kurden, der ganz offensichtlich eine Menge zu verbergen hatte, begann ihn mehr und mehr zu interessieren. Gespannt blickte er auf das startende Überwachungsvideo.

Datum und Uhrzeit wurden eingeblendet, die Aufnahmen waren über eine Woche alt. Wenn die Uhrzeit des Gerätes stimmte, spielte sich das Geschehen unmittelbar vor Mitternacht ab.

Ein Einfamilienhaus der gehobenen Kategorie, Typ Villa, dem Stil nach aber bereits in die Jahre gekommen. Es lag beinahe vollständig im Dunkeln. Nur neben der doppelflügeligen, schweren Eingangstür spendete eine altmodisch wirkende Laterne trübes Licht. In der grobkörnigen Aufnahme, die unter der mangelhaften Qualität des Beamers zusätzlich litt, war ein dunkler Kleintransporter mit eingeschaltetem Licht zu sehen, der rückwärts in der Zufahrt parkte. Die Seitenscheiben waren abgedunkelt, der Wagen wirkte neuwertig. Im schwachen Zwielicht der Eingangslaterne war zeitweise eine dünne Rauchwolke am Heck zu erahnen, der Motor lief also. Personen im Inneren des Fahrzeugs waren nicht zu erkennen.

Björn begann schon, unruhig zu werden, als sich die Haustür öffnete. Ein stämmiger Mann trat heraus, Hand in Hand mit einem zierlichen Mädchen. Den Kerl erkannte er trotz der schlechten Beleuchtung sofort, zu oft hatte er in der letzten Zeit die Akte des Typen studiert, ihn in natura beobachtet, sich das Gesicht, seine Bewegungen eingeprägt.

Akram Fadel.

Die Narbe, wie er intern nur noch genannt wurde, weil sich von seinem Kinn am Unterkiefer entlang bis fast zum rechten Ohr eine dünne Narbe zog. Der Kontrahent hatte seine Kehle nur knapp verfehlt.

Björn konzentrierte sich auf das Mädchen an der Hand des Kriminellen. Dunkle, glatte Haare, helle Haut, der Kopf war nach unten gesenkt, nur einmal war für einen winzigen Augenblick ein Teil des Gesichtes zu erkennen. Das Alter ließ sich durch die unzureichende Beleuchtung nur schätzen. Björn tippte auf zehn bis höchstens dreizehn Jahre. Es trug ein helles, festlich wirkendes Kleidchen und begleitete den Mann bis zum Wagen. Als wäre es völlig normal, kletterte es durch die geöffnete Schiebetür ins Innere und war gleich darauf den Blicken entzogen. Fadel nahm auf dem Beifahrersitz Platz, es hatte sich also eine weitere Person am Steuer befunden. Der Kleinbus setzte sich in Bewegung. Nun folgte eine Fahrt durch das nächtliche Berlin, unterbrochen von einem Schnitt im Video. Offensichtlich verfügte das Observationsteam nur über eine einzige Kamera, wenn die Verfolger sich abwechselten, gab es zwischenzeitig keine Aufzeichnung. Nach einem Schnitt von mehreren Minuten befand sich der Kamerawagen wieder hinter dem Bus. Plötzlich aber war etwas anders als zuvor, der Fahrer im Kleinbus änderte seine Fahrweise. Er verzögerte und rollte langsam auf die nächste Kreuzung zu, obwohl die Ampel grün zeigte. Erst beim Umspringen der Phase beschleunigte er und fuhr bei Rot in die Kreuzung hinein.

„Er hat es bemerkt“, raunte Björn und nahm neben sich im diffusen Licht nickende Köpfe wahr.

An der nächsten Kreuzung bestätigte sich seine Einschätzung, der Vorgang wiederholte sich. Diesmal kamen bereits Fahrzeuge des Querverkehrs ins Bild. Gleich darauf war das Video zu Ende, der Kleinbus war entwischt.

Unruhe machte sich breit, Stühle wurden verrückt, Neonlampen flammten auf. Jemand zog die Rollläden hoch und stellte zwei Fenster auf kipp, das nervige Lüftungssurren des Beamers erstarb endlich.

„Das war definitiv Akram Fadel, ich habe mir extra noch mal seine Bilder angesehen. Endlich haben wir etwas Konkretes.“

Moritz Hübner schaute unternehmungslustig in die Runde, er war wesentlich engagierter als sein Vorgänger, für den der Dienstposten nur eine Warteposition für höhere Weihen gewesen war.

„Was ist mit dem Auto?“, fragte jemand in die Runde.

„Eine Dublette. Das Originalfahrzeug stand an dem Tag der Aufzeichnung in einer Werkstatt. Es hat nicht die abgedunkelten Seitenscheiben, ansonsten ist es identisch. Mit Sicherheit sind auch die Fahrzeugpapiere sehr gute Fälschungen.“

„Wie sind die Kollegen auf dieses Auto gestoßen?“, wollte Björn wissen. Ihn wunderte vor allem, dass die Ermittler nicht auf den Namen von Akram Fadel gekommen waren.

„Keine Ahnung.“

Hübner zuckte mit den Schultern.

„Alles haben sie uns anscheinend nicht erzählt.“

„Habt ihr schon geklärt, wem das Haus gehört?“

„Ein Arzt im Ruhestand, verheiratet. Viel mehr wissen wir noch nicht. Wir müssen ihn noch auf Links drehen, die Info ist zu frisch. Dem ersten Anschein nach war er bislang sauber.“

„Seht zu, dass ihr den Wagen auftreibt“, mischte sich Hübner ein. „Immerhin hat uns das Video Kenntnis von einem weiteren Fahrzeug gebracht, das sich mit Fadel in Verbindung bringen lässt, besser als nichts. Wenn wir den Wagen finden, stoßen wir auf weitere Querverbindungen. Was guckst du so nachdenklich?“, wollte er von Björn wissen.

„Das Video eben sah mir verdammt nach Kinderprostitution aus. Wenn sich ein Mann wie Akram Fadel herablässt, selber Kindermädchen zu spielen, kann das keinen harmlosen Hintergrund haben. Ich schlage vor, dass wir uns ab jetzt mit einer kleinen Ermittlungsgruppe ganz auf unseren Mann konzentrieren.“

„Das war doch noch nicht alles, was du auf dem Herzen hast.“

„Nein.“

Björn fuhr sich mit der Hand an den Dreitagebart und massierte ihn. Dann schaute er seinen Chef an, den er noch nicht lange genug kannte, um ihn einschätzen zu können.

„Die Kollegen haben die Observation gründlich versaut. Ich frage mich, ob es sinnvoll ist, unsere Erkenntnisse zu teilen und die Ermittlungen dadurch womöglich zu gefährden. Wurden explizit wir angeschrieben oder ging die Anfrage an mehrere Dienststellen?“

Hübner grinste breit.

„Mehrere, der übliche Verteiler.“

„Na dann.“

3. Eine falsche Entscheidung

Die zerknüllte Zigarettenschachtel hüpfte, von den Bewegungen des schweren Fahrzeuges angetrieben, auf dem breiten Armaturenbrett hin und her. Gerrit Winter kam es so vor, als wollte sie ihn verhöhnen, wie vor ihm hin und her rollte, immer gerade so weit entfernt, dass er sie nicht mehr erwischen und endlich aus dem Fenster werfen konnte. Dabei war er selbst es gewesen, der die leere Schachtel verärgert mit der rechten Hand solange gequetscht und gepresst hatte, bis aus ihr beinahe eine runde Papierkugel geworden war. Die letzte Zigarette der Packung war längst geraucht, von hastigen Zügen fast bis zum Filter verbrannt, mit nikotinverfärbten Fingern im Aschenbecher ausgedrückt. Und weil naturgemäß alles, was nur noch begrenzt oder gar nicht mehr vorhanden ist, einen besonderen Reiz ausübt, wollte er sofort eine neue Kippe anzünden. Er hielt die leere Schachtel in der Hand, bis er am Stadtrand von Berlin endlich eine Möglichkeit sah, sich neu einzudecken. Gerrit ging vom Gas und wollte gerade anfangen, den Sattelschlepper abzubremsen, um ihn in zweiter Reihe auf dem Hauptfahrstreifen abzustellen, als im linken Außenspiegel ein blau-silberner Streifenwagen von hinten auftauchte, der sich auf der linken Spur heranschob. Die Cops wurden ebenfalls langsamer, als ob sie sich für ihn interessierten. Ob es möglicherweise einen anderen Grund gab, konnte Winter in dem vibrierenden Außenspiegel nicht erkennen. Die Gelegenheit zum Zigarettenkauf jedenfalls strich provozierend langsam am rechten Seitenfenster vorbei.

„Scheiß Bullen“, knurrte Winter, ließ seinen Frust an der leeren Packung aus, schleuderte sie aufs Armaturenbrett und beschleunigte sein Gefährt auf Ortstempo. Im Spiegel wurde der Streifenwagen immer kleiner.

Auf der A 24 war der Drang, einen Glimmstängel zwischen die Zähne zu bekommen, kaum noch zu beherrschen.

„Gerrit“, halten ihm die Worte in den Ohren, „fahr die Strecke in einem Stück durch. Bau keine Scheiße, dass dich die Bullen anhalten und kontrollieren, das kostet nur unnötige Zeit. Halte nirgends an, hörst du. Nirgends! Stell den Zug vor dem Gelände ab und warte auf mich.“

Nirgends anhalten, Anweisungen dieser Art erhielt er nur selten. Das heißt, eigentlich waren sie schon regelmäßig. Im Schnitt alle zwei Monate, so genau wusste er das nicht und es war ihm auch egal. Es musste wohl besonders heikle Ware sein, die er wieder mal transportierte. Die Strecke schaffte er, wenn er wollte, jedes Mal ohne Zwischenstopp, es ging ja nur rund hundert Kilometer weit. Er konnte keine Rast machen, das würde man auf der Fahrerkarte mit den Fahrtaufzeichnungen problemlos sehen können, aber eine Pinkelpause sollte doch wohl drin sein.

Eine Zigarette, wenn er wenigstens noch eine einzige Zigarette hätte. Auf der Strecke wurde eine Raststätte angekündigt. Mit sehnsüchtigem Blick passierte er die ersten Entfernungsangaben.

Und wenn am Wagen etwas nicht in Ordnung war? Ein Rumpeln an der Hinterachse vielleicht? Etwas, das eine schnelle Überprüfung erforderlich machte. In wenigen Augenblicken würde er den Autohof erreichen.

Da kam auch schon das Schild näher. Gerrit kaute angespannt auf der Unterlippe, bevor er nach rechts zog.

****

Der Sattelschlepper wurde verfolgt, nicht lange nach seinem Start hatte sich ein Kleintransporter an ihn angehängt. Dessen Fahrer war penibel darauf bedacht, den Abstand so groß zu halten, dass überholende Pkw problemlos einscheren konnten und der Fahrer im Lkw vor ihm im Rückspiegel keine Einzelheiten erkennen konnte. Sein Beifahrer hatte sich ganz nach rechts außen gequetscht, fast zwischen dem Sitz und der Tür. So konnte er seine Füße schräg auf dem Armaturenbrett ausstrecken.

Sie hielten bereits seit Stunden nach dem passenden Objekt Ausschau, waren zuletzt über eine längere Strecke einem vielversprechenden Lkw auf der A 24 bis nach Ludwigslust gefolgt, um dann mit ansehen zu müssen, wie der Lastzug auf einem geschlossenen Firmengelände verschwand. Entsprechend wortkarg und lustlos bewegten sie sich zurück nach Berlin, um von dort aus die Jagd neu zu beginnen. Als sie auf der Landstraße auf den durch seine Größe auf 60 km/h limitierten Sattelschlepper aufliefen, waren sie zunächst nur mäßig interessiert. Das Heck wirkte auf den ersten Blick zu ungepflegt, der Unterfahrschutz war völlig zerkratzt und rostig, die untere Falz war an der linken Seite aufgebogen. Dann aber fuhr das Gefährt durch eine enge Kurve. Starkes Einlenken machte es möglich, das flache Kühlaggregat zu erkennen, das an der Stirnseite des Aufliegers montiert war. Mit einem Schlag waren sie hellwach. Der Beifahrer setzte sich auf, strich sich über seinen rasierten Kopf und ließ den Wagen vor ihnen nicht aus den Augen, während er zum Handy griff und einen Gesprächspartner über ein neues, dem Anschein nach lohnendes Objekt informierte. Sie befanden sich bereits wieder auf der A 24, als ein silberner BMW zu ihnen stieß und den Lkw bei der ersten Gelegenheit überholte. Der Beifahrer schaute aufmerksam aus dem Fenster, während der Lkw langsam an ihm vorbei nach hinten zog. Die Sichtkontrolle musste zur Zufriedenheit ausgefallen sein, denn der silberne Wagen fuhr in der nächsten Ausfahrt von der Autobahn, um sich sofort wieder hinter den hellgrauen Kleintransporter zu hängen.

Als der Lkw die Ausfahrt nahm und auf den Autohof bog, waren die Beifahrer der beiden Verfolgerfahrzeuge längst am Telefonieren, um das weitere Vorgehen abzusprechen.

****

Gerrit Winter fuhr langsam auf das Gelände des Autohofes, an den Zapfsäulen vorbei bis zum hinteren Bereich, dort, wo kurz vor der Ausfahrt die Trucker parkten. Ein Sattelschlepper mit einem Container stellte sich gerade auf den letzten freien Parkplatz, der sich im Sichtbereich des Restaurantgebäudes befand. Notgedrungen umrundete er die stehenden Fahrzeuge bis zum äußersten Rand, um weit entfernt zu parken. Im rechten Rückspiegel sah er, wie der Auflieger gegen die Äste der Bäume stieß, die den Autohof von der Zufahrtsstraße trennten. Der schwere Lastzug kam mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Das Führerhaus wippte noch einmal nach vorn, bevor der Fahrer die Luft der Handbremse mit einem lauten Zischlaut entweichen ließ und den Sattelschlepper so sicherte. Der schmächtige Bursche in Jeans und verblichenem rötlichen Muskelshirt kletterte aus dem Lkw heraus und schloss die Fahrertür ab. Mit fahrigen Handgriffen ordnete Gerrit seine abgerissene Kleidung, zog die Hose stramm und drückte sich das rote Basecap, auf dem ein springendes Pferd abgebildet war, tief in die Stirn. Dann schlurfte er in seinen offenstehenden Basketballstiefeln über den Parkplatz des Autohofes. Während das Gebäude näherkam, dachte er über die Ausrede nach, die er auftischen würde, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand die kleine Auszeit bemerken würde. Polternde Geräusche von der Hinterachse vielleicht. Ja, das wäre gut. So etwas ließ sich nicht widerlegen, ein Fremdkörper vielleicht, verkeilt in den Zwillingsreifen, bestimmt bei der langsamen Fahrt über das Gelände wieder verloren. Alles gewissenhaft kontrolliert, Chef, so ein Sattelschlepper stellt ja einen ordentlichen Wert dar, alles in Ordnung, weitergefahren. Zufrieden mit sich selbst schob er sich durch das Gedränge, wartete geduldig, bis er an die Reihe kam, und kaufte zwei Packungen Zigaretten. Er überlegte einen Moment unschlüssig und ließ sich dann noch einen Flachmann Rum geben, der er sofort in seiner Hosentasche verschwinden ließ. An der Toilette musste er wieder warten. Uringeruch stieg ihm in die Nase, er fing Wortfetzen anderer Trucker auf, die eindeutig osteuropäischer Herkunft waren und konnte endlich seine Notdurft verrichten. Noch im Ausgangsbereich der Toiletten steckte er sich mit hektischen Bewegungen eine Zigarette an und drehte sich verstohlen zur Seite, um einen Schluck aus dem Flachmann zu nehmen. Im Führerhaus lagen noch Pfefferminzbonbons, von denen er sich einen zwischen die Zähne schieben würde.

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Der Mann mit dem Handy am Ohr ließ Gerrit nicht aus den Augen. Kaum, dass der Lkw auf dem Parkplatz stand, war er aus dem BMW gestiegen und schlenderte langsam dem Gebäude entgegen, als würde er sich nach langer Fahrt die Beine vertreten. In seiner schwarzen Tuchhose und dem weißen Hemd wirkte er auf den ersten Blick wie einer der vielen Handelsreisenden, die die Autobahn bevölkerten. Eine große Sonnenbrille verhinderte, dass sein offensichtliches Interesse an dem Lkw-Fahrer auffiel. Er stand in sicherer Entfernung und schaute zu, wie Gerrit an der Kasse Zigaretten und Alkohol kaufte und beobachtete ihn, wie er mit der Warteschlange nach und nach in der Toilette verschwand. Jeden Schritt von ihm gab an seine Komplizen weiter, die sich draußen auf dem Parkplatz an dem Lkw zu schaffen machten. Einer von ihnen hantierte mit einem Aufbruchswerkzeug, das in einschlägigen Kreisen als Polenschlüssel bekannt war. Der schmächtige Gerrit trat aus dem Gebäude und inhalierte tief den Rauch seiner Zigarette, aber da war schon alles gelaufen.

****

Die Zigarette war beinahe bis zum Filter geraucht, als er am Sattelschlepper ankam, beziehungsweise meinte, dass er jetzt angekommen sein musste. Nur war dort, wo er sein Fahrzeug vermutete, jetzt ein freier Parkplatz. Ungläubig und wie hypnotisiert starrte er auf die freie Fläche, bis ihn ein dumpfer Hupton aufschreckte. Hastig drehte er sich um, beinahe so, als ob er hoffte, aus einem Albtraum aufzuwachen. Aber es war kein Traum, ein Gliederzug mit blauem Führerhaus und grauen Planen stand hinter ihm, der Fahrer wedelte ärgerlich mit der Hand, weil er auf diesen freien Platz fahren wollte und er im Weg stand. Wie in Trance trat Gerrit zur Seite, trabte in Richtung Ausgang, kehrte um und ging die Reihe der parkenden Lkw ab, hoch und runter. Kein Zweifel, sein Lastzug war verschwunden. Wärme stieg in ihm auf, wie eben, als er den Rum getrunken hatte, nur war dieses Gefühl jetzt nicht mehr so angenehm. Immer noch tief in Gedanken versunken, die sich einfach nicht ordnen lassen wollten, bewegte sich Gerrit auf dem Gelände, bis ihn ein erneuter Hupton zurück in die Realität holte. Er ging mitten auf dem Durchfahrtsweg des Rastplatzes. Ein orangefarbener Klein-Lkw der Straßenmeisterei war bis auf Tuchfühlung herangefahren. Dessen Fahrer neigte den Kopf aus dem geöffneten Seitenfenster.

„Alles klar. Meister?“

„Nix ist klar“, murmelte Gerrit noch völlig geschockt. „Mir haben 'se den Laster geklaut.“

„Was für einen denn? Farbe? Groß?“

„Und ob groß. Kühlsattel. Hellgrau.“

Der Beifahrer des Straßenmeistereiwagen griff zum Hörer des Betriebsfunkgerätes, sprach in das Mikrofon hinein und raunte seinem Nebenmann etwas zu.

„Mein Kollege hat unsere Dienststelle angerufen, die verständigt die Polizei. Wir müssen jetzt weiter.“

Wie betäubt starrte Gerrit dem orangefarbenen Wagen hinterher. Durch seine jugendliche Kleidung wirkte er nicht wie ein Endvierziger, sondern wie ein verloren gegangener kleiner Junge. Endlich besann er sich, zog ein Handy aus der Hosentasche und drückte eine Kurzwahltaste.

„Wieso hältst du Idiot auf einem Rastplatz an?“

Die Stimme am anderen Ende überschlug sich beinahe.

„Hinten an der Achse hat es gerumpelt, da musst ich doch …“

„Laber nicht so einen Scheiß, du verdammter Trottel. Du wolltest dir Kippen oder Schnaps holen, oder beides.“

„Die Typen von der Straßenmeisterei haben die Bullen angerufen“, stammelte Gerrit aufgeregt und musste erleben, wie das Gebrüll seines Gesprächspartners die Leistungsfähigkeit des kleinen Handylautsprechers auf eine harte Probe stellte.

„Die Bullen? Bist du bescheuert? Sieh zu, dass du dort verschwindest und hier auftauchst. Wie, ist mir scheißegal. Aber lass dich ja nicht von den Bullen erwischen.“

„Wie soll ich denn zurückkommen?“, fragte der verunsicherte Mann in das Mikro, aber da war das Gespräch bereits beendet worden. Er schob das Handy zurück in die Hosentasche und stierte schuldbewusst in Richtung der Tankstelle. Während er noch überlegte, wie er mit den paar Kröten, die sich noch in seiner Tasche befanden, zurück in die Firma gelangen konnte, fiel ihm im rechten Augenwinkel der Streifenwagen der Autobahnpolizei auf. Der blausilberne Kombi kam zügig von der Autobahn, fuhr an der Ausfahrt vorbei und verschwand hinter dem Gebäude. In wenigen Augenblicken würde er links vom Rasthof auftauchen und über die Tankstelle fahren. Geistesgegenwärtig nahm Gerrit die rote Kappe ab, faltete sie und schob in die Gesäßtasche. Er glättete mit beiden Händen seine strähnigen, rotblonden Haare und verdrückte sich zwischen parkenden Lkw.

4. Erste Spuren

Michael Peschels Halbglatze tauchte in der geöffneten Tür auf, der Kollege warf Björn einen dünnen Stapel zusammengehefteter Blätter auf den Tisch.

„Das gesammelte Wissen über Dr. No“, grinste er in Anspielung auf einen uralten James-Bond-Film und ließ sich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch nieder. „Ehemaliger Internist, seit drei Jahren im Ruhestand, obwohl er gerade erst sechzig geworden ist.“

„Hat bestimmt genug auf der hohen Kante“, erwiderte Björn.

Die Überprüfung von Dr. Karl Hempf, dem Mann, aus dessen Haus das kleine Mädchen abgeholt worden war, war schnell gegangen.

„Und? Wie sauber ist seine Weste?“

„Sie hat einen grauen Fleck. Unmittelbar vor seinem Ruhestand hat sich eine Patientin über ihn beschwert, dass er sich ihr gegenüber unangemessen verhalten hätte, ohne das näher zu konkretisieren.“

„Woher hast du das alles?“, staunte Björn.

„Kurzer Draht zur Ärztekammer“, erwiderte Michael, der anscheinend nicht näher darauf eingehen wollte, den er fuhr ungerührt fort. „Als sie dazu gefragt werden sollte, hat sie sich aber nicht mehr geäußert. Wenn du mich fragst, ist Schweigegeld geflossen. Kurz danach hat Hempf seine Praxis geschlossen, von diesem Zeitpunkt an hat es niemanden mehr interessiert. Aber ich habe noch etwas anderes.“

Björn sah den Kollegen mit neutralem Gesichtsausdruck an, ohne auf das geheimnisvolle Getue einzugehen.

„Er war am besagten Abend allein im Haus. Seine Frau befand sich in einem stationären Klinikaufenthalt, weil sie wegen ihrer Diabetes medikamentös neu eingestellt wurde.“

Jetzt pfiff Björn durch die Zähne, endlich etwas, wo sie den Hebel ansetzen konnten.

„Nimm mal Kontakt zu dieser ominösen Patientin auf, vielleicht kannst du ihr ja doch etwas entlocken. An Hempf selbst können wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht herantreten, der würde sowieso alles bestreiten. Was ist mit dem Wagen?“

Peschel schüttelte den Kopf.

„Wir haben den Narbenmann unter Beobachtung. Seinem Auto wurde ein Peilsender verpasst, um mal zu schauen, was er sonst noch so treibt. Der Kleinbus ist übrigens noch nicht wieder aufgetaucht.“

5. Fundsachen

Der Mann in der orangefarbenen Arbeitshose stand breitbeinig am Rand der Zufahrt zum Parkplatz, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Unter dem Latz wölbte sich ein beachtlicher Bauch, der nicht zu den dünnen Beinen passen wollte. Das gerötete und verschwitzte Gesicht war der Stelle zugewandt, die ihm sein Mitarbeiter von der Streckenkontrolle per Funk genannt hatte. Weil er das, was da kratzend und rauschend aus dem Lautsprecher kam, nicht glauben konnte, hatte sich der übergewichtige Vorarbeiter der Autobahnmeisterei selbst auf den Weg gemacht. Jetzt standen beide Straßenwärter nebeneinander und betrachteten die Spuren, die in das kleine Wäldchen an der Autobahn führten.

„Die müssen rückwärts reingefahren sein. Wenn ich nicht dringend hätte austreten müssen, wäre es mir gar nicht aufgefallen. Ich habe mich nur über die abgebrochenen Äste gewundert.“

Runge, der seit über dreißig Jahren an und auf der Autobahn arbeitete, hatte schon alles erlebt und gesehen, was die Abfallentsorgungsmentalität seiner Mitmenschen hergab. Kanisterweise Altöl, Autoreifen, zerlegte Autowracks, Matratzen, Fässer mit Chemieresten, eben alles, was bei bestimmungsgemäßer Entsorgung Kosten verursacht hätte. Abgeklärt zeigte er auf die Eindrücke im weichen Boden.

„Das muss ein großer Lkw gewesen sein, eindeutig Zwillingsreifen.“

Sein Mitarbeiter nickte nur und setzte sich in Bewegung. Vorsichtig bahnten sich die beiden Männer durch die am vorderen Rand stehenden, lädierten Bäume und waren gleich darauf in dem winzigen Wäldchen verschwunden. Sofort stürzten sich in der feuchtwarmen Atmosphäre des schattigen Bereiches Myriaden von Mücken auf die Männer.

„Das wird gleich noch viel schlimmer“, meinte der vor ihm gehende Kollege und wedelte hektisch mit den Händen. „Man riecht schon etwas.“

Wie um es zu beweisen, bewegte er die Luft samt der Mücken mit seinen zu einer Schaufel geformten Hände nach hinten, Runge entgegen. Der grunzte nur und stiefelte unverdrossen weiter.

Nach gut dreißig Metern stießen sie auf mannshohe Büsche, denen man ansah, dass etwas Schweres über sie gewalzt war, auch wenn sie sich zum Teil wieder aufgerichtet hatten. Der Gestank wurde unerträglich. Der Straßenwärter blieb stehen und zog die Büsche auseinander, damit sein Vorgesetzter hineinsehen konnte.

„So eine Sauerei“, meinte der, ohne Anstalten zu machen, auch nur einen Schritt weiter nach vorn zu machen.

„Wie viele sind das? Was schätzt du?“, presste er stattdessen heraus. Die Hand hielt er vor die Nase, als könnte er so den beißenden Geruch fernhalten.

„Zwanzig mindestens. Können wir wieder zurück? Ich halte das nicht aus hier.“

Seine Augen waren glasig, sie tränten bereits. Der Mann sah leidend aus, als müsste er körperliche Schmerzen ertragen.

Runge nickte nur und drehte auf dem Absatz um.

„Wir müssen die Polizei anrufen.“

Deutlich schneller als auf dem Hinweg verließen die Männer den Grüngürtel. Auf dem Parkplatz steckten sie sich hastig Zigaretten an und inhalierten den Rauch so tief sie konnten.

****

Das Schauspiel mit dem leidenden Gesicht wiederholte sich exakt dreiundzwanzig Minuten später. Der Beamte der Autobahnpolizei kam unter wüsten Flüchen zurück durch das Unterholz gestakst. Mit den Händen versuchte er, die sich auf ihn stürzenden Stechmücken abzuwehren und zog sich dabei eine tiefe Schmarre auf der Stirn zu, weil er gegen einen Ast lief. Als er mit der Hand den Schmerz ertastete, verwischte er das frische Blut und stachelte die Insekten umso mehr an. Schwer atmend lehnte sich der schlanke Uniformierte an den Streifenwagen und klopfte mit der sauberen Hand seine Kleidung ab, bevor er den im Wagen sitzenden Fahrer ansprach.

„Das ist ja widerlich. Sprich die Wache an, die sollen einen Abdecker verständigen. Aber der muss einen großen Wagen samt Kran mitbringen, da liegen mindestens zwanzig Rinderhälften rum. Lass uns verschwinden, die können sich melden, wenn sie hier sind.“

Neunzig Minuten später war der Fahrer der Tierkörperbeseitigung auf dem Parkplatz. Der Streifenführer der Autobahnpolizei schaute skeptisch auf den roten lackierten Hubkran, der hinter dem weißen Führerhaus montiert war und die Tierkadaver in den silbernen Container hieven sollte.

„Der schafft was, keine Angst“, brummte der Fahrer zwischen zwei Zügen an seinem Zigarillo, als er den abschätzigen Blick bemerkte.

„Der Lkw stinkt ja jetzt schon zum Himmel. Zum Aufladen brauchst du uns ja bestimmt nicht, oder?“

„Ist nicht meine erste Tour heute. Zeigt mir die Stelle, an der ich am dichtesten herankomme, dann könnt ihr abhauen.“

****

Der Streifenwagen kam mit hohem Tempo in die Abfahrt des kleinen Rastplatzes gefahren. Die Reifen sangen, weil das Fahrzeug fast bis zum Einsetzen des ABS scharf abgebremst wurde. Die Karosserie schaukelte noch, da war der Beifahrer bereits ausgestiegen. Der Mann trug jetzt ein längliches Pflaster auf der Stirn. Sichtlich verärgert stapfte er zu dem Fahrer der Abdeckerei, der nur wenige Schritte entfernt völlig entspannt auf der Bordsteinkante saß, ein Handy in der Hand hielt und an einem Zigarillo zog, der im Mundwinkel steckte.

„Was ist denn jetzt schon wieder? Ich dachte, das bekommst du alleine hin, die paar vergammelten Viecher einzusacken.“

Der Mann drehte sich provozierend langsam zur Seite, Asche seines Zigarillo fiel auf die offenstehende Brusttasche der Arbeitsjacke.

„Was wollt ihr denn hier? Meine Firma hat angerufen und gesagt, dass die Kripo kommen wird.“

„Das lasst mal schön unsere Sache sein, wer wann kommt. Also, was ist los?“

Der Mann machte keinerlei Anstalten aufzustehen. Er hob die Hand und zeigte mit dem Daumen hinter sich. Durch die grüne Wand war die Front seines Lkw kaum noch zu sehen.

„Wenn das eure Sache ist, dann mach dich mal auf den Weg. Immer dem Geruch nach, viel Vergnügen. Ich sage nur so viel, da hat jemand nicht nur Viecher entsorgt.“

Der Streifenbeamte machte sich wieder auf den Weg, diesmal kletterte auch sein wesentlich jüngerer Fahrer aus dem Wagen und folgte ihm. Am Lkw des Abdeckers angekommen, hüllte sie beißender Gestank ein. Die vom Fahrzeug verdrängten Sträucher drückten derartig fest an das Blech, dass die Beamten weit zur Seite ausweichen mussten, um den Gürtel der Büsche zu durchbrechen. Schließlich standen sie vor einer kleinen Lichtung, hielten sich mit einer Hand die Nase zu, während die andere versuchte, die aggressiven Insekten zu vertreiben.

Auf einer Fläche von dreißig bis vierzig Quadratmetern lag eine auf den ersten Blick kaum zu definierende Fleischmasse. Unzweifelhaft enthäutete Tierhälften, mit schleimiger Verwesungsflüssigkeit und Eiterblasen bedeckt. Der Abdecker hatte einige der Körper bereits angehoben und in den Hochboardcontainer verfrachtet, der als Aufbau des Lkw diente. An der Ladekante triefte eine dunkle Flüssigkeit von sirupartiger Konsistenz herab. Der Kran war wieder in Richtung der Kadaver zurückgefahren und auf halbem Weg stehen geblieben. Der Streifenführer ließ seinen Blick über den Bereich unterhalb der leicht pendelnden Kranschlinge wandern. Anhand einer Schleifspur, die sich über die Körper mit aufgerissenen, faustgroßen Eiterblasen hinwegzog, war der letzte Arbeitsschritt des Abdeckers nachzuvollziehen. Zwischen zwei verwesenden Tierhälften ragten Fremdkörper hervor, die nicht ins Bild passten. Füße, zierliche Füße. Der Beamte machte einen großen Schritt zur Seite und wäre beinahe gestolpert bei dem Versuch, nicht in die zum Heck des Lkw führende Schleimspur zu treten. Die nackte Haut war an verschiedenen Stellen aufgeplatzt, sie hatte beinahe die gleiche Farbe angenommen wie die sie umgebenden Kadaver. Der Blick des Polizeibeamten folgte der verdrehten Gestalt, von den in ihre Richtung weisenden Füße bis hinauf zu den Schultern. Hier stoppte der Mann abrupt und gab seinem Kollegen aufgeregt Handzeichen. Der junge Mann machte ebenfalls weitere Schritte seitwärts, kopfschüttelnd, weil sein Verstand das, was er sah, nicht glauben wollte. Auch er wäre beinahe gestolpert und konnte sich nur mit Mühe abfangen. Den Kopf ungläubig weit nach vorn gereckt starrte er auf den von Fäulnis entstellten Leichnam vor ihnen.

„Mein Gott“, presste er würgend hervor und drehte sich weg.

6. Konsequenzen

Der Fahrer kletterte zurück in den schweren Geländewagen und ließ ihn langsam durch das schäbige Tor rollen, nur um gleich darauf wieder anzuhalten. Mit langen, zügigen Schritten war er erneut am Tor, zog es zu und vergewisserte sich, dass der Verschlusszapfen einrastete. Misstrauisch schaute er den Rückleuchten eines vorbeifahrenden Pkw nach, bevor er zurück in den Wagen kletterte und bis zu einem schmuddelig aussehenden Rolltor am Hauptgebäude der ungepflegten Anlage fuhr. Weitere Fahrzeuge waren auf dem Areal nicht zu sehen. Wieder stieg der dunkel Gekleidete aus, der von einem Bewegungsmelder gesteuerte Scheinwerfer flammte auf. Der Mann trat dicht an das Rolltor, stieß zweimal kräftig mit seiner Fußspitze dagegen und blickte hinauf zu den Oberlichtern. Es dauerte nicht lange, bis im Inneren der Halle Licht aufflackerte und gleich darauf öffnete sich die in das Rolltor eingelassene Schlupftür.

Ein Kopf schaute heraus, lauernd blickten die Augen erst über das verlassene Gelände, dann hinüber zum Wagen. Die dunklen Haare des Mannes, der langsam einen Schritt nach draußen machte, waren bereits oberhalb der Ohren ausrasiert. Der Typ trug Jeans und ein blaugestreiftes Hemd, dazu eine weiße Schürze und schwarze Gummistiefel. Seine Hände steckten in hellblauen Gummihandschuhen.

Der Neuankömmling trat an ihn heran, mit einander zugeneigten Köpfen sprachen sie leise miteinander. Die Gestik des Mannes in der Schlachterkluft passte nicht zu dem kaum hörbaren Geraune, immer wieder machte er heftige Bewegungen mit seinen Händen.

Fadel kehrte zum Fahrzeug zurück, trat an die Beifahrerseite. Die stark abgetönte Scheibe rollte einen spaltbreit herab. Von dem Mann im Wagen war nur ein kleiner Teil des rasierten Schädels zu sehen. Er machte eine auffordernde Geste.

„Sie haben ihn stundenlang bearbeitet, er ist total am Ende. Aber er bleibt dabei, dass er nichts damit zu tun haben will.“

„Und was sagt er? Warum war er dort?“

„Erst hat er behauptet, dass die Hinterachse Geräusche gemacht hätte. Er wollte das nur kontrollieren. Als sie ihn härter angefasst haben, hat er schließlich zugegeben, dass er Zigaretten kaufen wollte und auf der Toilette war. Und dabei bleibt er jetzt, egal, was sie alles mit ihm angestellt haben.“

Der Mann im Wagen blieb stumm. Akram Fadel, der Mann mit der Narbe, stand breitbeinig neben dem luxuriösen Geländewagen und wartete geduldig. Er kannte seinen neuen Boss noch nicht lange genug, aber er wusste, dass der keine unüberlegten Entscheidungen traf. Ihm war jedoch klar, je länger es dauerte, umso einschneidender würde es für Gerrit Winter werden.

„Er weiß zu viel. Wenn der Inhalt der Ladung bekannt wird, kann er eins und eins zusammenzählen, spätestens nach dem heutigen Tag.“

Die Scheibe surrte nach oben.

Fadel ging zurück zu dem Wartenden, der sich in den Türrahmen zurückgezogen hatte und eine Zigarette rauchte. Leise raunte er ihm eine Anweisung zu.

Gleich danach verließ der Wagen das Gelände.

****

Mahdi El Zein blickte dem Wagen nach, bis das Tor wieder verschlossen war und die Rücklichter verschwanden. Er schnippte die Zigarettenkippe in hohem Bogen weg und warf einen Blick auf den Anbau am anderen Ende des Grundstücks. Beide Fenster waren mit Vorhängen zugezogen, Lichtschein war nur an den Rändern zu erahnen. El Zein schlüpfte in die Halle zurück. Sorgfältig verriegelte er die Tür und schlurfte dann in seinen Gummistiefeln quer durch die Beladehalle zu einer anderen Tür, die aus stabilem Eisen war. Er hatte eben mit dem Vertreter seines Chefs gesprochen und die Anweisungen waren klar und unmissverständlich gewesen.

Mahdi schaltete die Hallenbeleuchtung aus, bevor er den Nebenraum betrat und auch diese Tür hinter sich verriegelte. Der Mann, der wartend an einem der Arbeitstische gelehnt hatte, schaute auf. Er trug die gleiche Frisur wie Mahdi, nur war seine Figur wesentlich muskulöser. Bekleidet war er nicht mit einer Schlachterkluft, sondern mit Jeans, T-Shirt und Sportschuhen. Auf Mahdis Kopfnicken hin setzte sich sein Zwillingsbruder Mahamad in Bewegung, den metallenen Baseballschläger ließ er am langen Arm auf dem gefliesten Boden schleifen, ein leises Knirschen begleitete seine Schritte wie eine unausgesprochene Drohung.

Gerrit Winter befand sich in der Mitte des Kühl- und Zerlegeraumes. Er war nackt. Seine Hände waren vorn mit Handschellen gefesselt. Ein derbes Seil zog hinter seinem Rücken die Ellenbogen zusammen und war in dem Flaschenzug eingehakt, der von der Decke hing und ihn soweit anhob, dass nur noch seine Zehenspitzen den Boden erreichten. Das Seil zerrte seine Hände gegen die Brust und zwang ihn in eine nach vorn gebeugte Haltung, als hätte er sich bereits aufgegeben. Gerrits Augen waren von Schlägen zugeschwollen, aus seiner Nase lief ein zäher, roter Schleimfaden bis hinunter zum Kinn. Von dort tropfte er auf die weißen Fliesen, löste sich in dem Urin, den Gerrit vor Angst verloren hatte, wolkenförmig auf und floss langsam dem Ausguss entgegen.

Gerrit hatte die Schritte gehört, er drehte den Kopf und versuchte, mit den verquollenen Augen etwas zu sehen.

„Lasst mich doch bitte zufrieden“, brachte er undeutlich hervor. Bei jedem Wort bildete das Blut in seinem Mund eine rötliche Blase zwischen seinen Lippen. „Ich habe doch alles gesagt, was ich gemacht habe.“

Mahamad hob bereits den Baseballschläger an, aber sein Bruder gebot ihm mit einem knappen Handzeichen Einhalt.

„Keine Angst, Gerrit. Wir schlagen dich nicht mehr.“

„Echt? Macht ihr mich auch los?“

Die Erleichterung war der Stimme trotz der nuschelnden Aussprache anzuhören.

„Gleich, Gerrit, gleich.“

Mahdi gab dem Bruder ein Zeichen mit Kopf. Neugierig trat er der an ihn heran.

„Ich habe es mir überlegt. Lass mich mit ihm allein. Ich werde das ohne dich erledigen.“

Der Zwillingsbruder zuckte mit den Schultern, drehte sich um und verließ den Raum genauso, wie er ihn betreten hatte. Erst als sich die Tür wieder schloss, war das Kratzen des Sportgerätes nicht mehr zu hören. Mahdi war der Ältere der beiden Bruder und damit der unangefochtene Patriarch nach dem Tod des Vaters. Auch wenn es nur wenige Minuten waren, die die beiden voneinander trennten, wurde seine Führungsrolle innerhalb der Familie niemals infrage gestellt.

Er starrte einen Moment auf die verschlossene Tür, als müsse er sich innerlich für das, was nun folgen sollte, wappnen. Nachdem die Starre abfiel, blickte er sich suchend im Raum um. Er trat dann an einen der Schränke heran und öffnete die Schubladen. In der Dritten fand er endlich, was er suchte, einen von jahrelanger Benutzung abgegriffenen Gegenstand in Form eines kurzen Metallrohres. Er hantierte daran herum, während Gerrit unruhiger wurde.

„Was ist denn jetzt? Machst du mich los? Du hast es versprochen. Oder etwa nicht?“

Je mehr er sprach, umso deutlicher wurden seine Worte.

„Ja, warte. Keine Angst, versprochen ist versprochen. Ich finde nichts, womit ich das Seil durchgeschnitten bekomme.“

Das Gerät war nicht geladen, die Suche ging weiter. Ganz hinten in der Schublade war ein zerbeulter Metallkasten, den er unter kratzenden Geräuschen nach vorn zog. Neben einigen Utensilien, deren Verwendungszweck er nicht einmal erahnte, befanden sich drei kleine Schachteln darin, die verschiedenfarbig markiert waren. Aufmerksam las er die Aufschriften, bis er die geeignete gefunden hatte. Rot, extrem starke Ladung für schwerste Tiere.

Umständlich lud er das Gerät, bis er endlich fertig war. Er trat langsam von hinten an Gerrit heran, passte auf, dass er dabei nicht in die Pissepfütze trat, hörte den rasselnden Atem des Gefesselten und registrierte mitleidlos, dass der ganze Körper zitterte.

„Weißt du, was dein Fehler war?“

„Nein, wie soll ich das wissen? Ich habe nichts Unrechtes gemacht.“

„Doch, hast du. Du bist Raucher, oder?“

„Ja und?“

„Rauchen führt zum Tod. Das weiß doch jeder Trottel.“

Bevor Gerrit noch einmal etwas sagen konnte, führte Mahdi das Bolzenschussgerät seitlich an die Schläfe und drückte ab.

7. Cadaverin

Jan Eggert wischte mit der Hand über seinen rasierten Schädel und schaute angewidert auf die stinkende Schleimspur, die quer vor seinen Gummistiefeln über dem Erdboden führte. Die Tierkadaver waren, nachdem der Leichnam geborgen worden war, unter äußerster Vorsicht in den Lkw des Abdeckers gehoben worden. Vorausgegangen war eine heftige Diskussion zwischen Claudia Harder und dem Leiter der Kriminaltechnik, der sich ihrem Ansinnen verweigert hatte, wenigstens einen der Kadaver als Beweismittel sicherzustellen. Als Kompromiss hatten seine Mitarbeiter Gewebeproben entnommen.

„Die bescheuerte Alte wollte tatsächlich so ein halbes Schwein einfrieren. Wie hältst du eigentlich diesen Gestank aus?“

Der Angesprochene richtete sich auf und setzte sich in Bewegung. Mit einem großen Schritt überquerte er die Schleifspur, wischte sich die Gummihandschuhe an seinem Papieroverall ab und verschob den Mundschutz, der das halbe Gesicht bedeckt hatte.

„Erkältungssalbe“, tippte er auf den weißen Pappdeckel, „anders geht es nicht.“

Der Kollege schien froh zu sein, für einen Moment die beengende Maske nicht tragen zu müssen. Seine Haut war schweißnass, die Augen tränten. Er zog einen der Gummihandschuhe aus und nahm die Zigarette entgegen, die ihm Jan vor das Gesicht hielt. Tief atmete er den Rauch ein.

„Das waren keine halben Schweine.“

„Nee? Was denne? Rinderhälften?“

„Wir sind uns nicht sicher. Rinder oder vielleicht auch Pferde. Mal sehen.“

„Und die Kleene? Könnt ihr schon etwas zu ihr sagen?“

Der Mann zuckte mit den Schultern und schaute hinüber zu dem von der Fäulnis verfärbten Körper, der auf einem Tuch lag. Zwei weitere Kollegen knieten neben der zierlichen Gestalt.

„Die Verwesung ist schon weit fortgeschritten. Ein Kind, wenn du mich fragst. Ich glaube nicht, dass sie älter als zwölf oder dreizehn ist. Keine äußerlichen Verletzungen, wenn man von den Handgelenken absieht.“

„Was ist denn mit den Handgelenken?“

„Sie sind offen. Ob das an der Fesselung lag oder ob es einen anderen Grund dafür gibt, lässt sich hier draußen nicht zweifelsfrei feststellen. Deshalb will ich gar nicht erst spekulieren.“

Kopfschüttelnd wandte sich Jan ab und ging einige Schritte in die Richtung des Rastplatzes zurück. Ein weiterer Kollege der Spurensicherung war gerade damit beschäftigt, einen über einen Meter langen Gipsabdruck der Reifenspur vom Erdboden zu lösen. Vorsichtig bewegte er sich daran vorbei, immer parallel zum im Erdreich zu sehenden Abdruck der Reifen.

Auf dem Rastplatz, nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an der zunächst ein unbekannter Lastwagen und danach das Abdeckerfahrzeug in das Wäldchen gefahren waren, stand der Zivilwagen. Harry Breugel hockte auf dem Beifahrersitz, die Tür weit geöffnet, als könnte er nicht genug Frischluft bekommen. Auf seinen Knien lag ein Klemmbrett, das oberste Blatt war randvoll mit Notizen beschrieben.

Mit gequältem Gesichtsausdruck schaute er auf, als er den Kollegen näherkommen sah.

„Ekelhaft, was?“, stieß Jan hervor.

Harry nickte. Er wirkte blasser als sowieso schon. Seine teigige Gesichtshaut war schneeweiß.

„Ich hab ja schon einiges gesehen und vor allem gerochen, aber diese Masse an Verwesung, nicht auszuhalten. Selbst mit Salbe in der Nase.“

Er hob den Arm und roch am Ärmelstoff.

„Sogar hier stinkt es, und dass, obwohl wir draußen im Freien waren.“

„Was ist mit den Reifenspuren?“, wollte Jan wissen.

Harry schüttelte den Kopf.

„Die Kollegen nehmen zwar Gipsabdrücke, aber das könnten sie sich sparen. Der Abdecker ist mit seinen Zwillingsreifen genau über die andere Spur gefahren und hat das, was eventuell nach der vergangenen Zeit noch da gewesen wäre, überlagert.“

****

Ihre Augen waren hellblau, kalte Augen. Fast wie bei einem Fisch. Und weil sie auf jegliche Schminke verzichtete, wirkten die Augen noch kleiner in ihrem blassen Gesicht mit den vereinzelten Sommersprossen auf der Nase. Der Pony stand struppig ab, beinahe so, als hätte sie sich ihre blonden Haare selber geschnitten. Jan Eggert, der an der Tischecke im 90-Grad-Winkel zu ihr saß, musste sie ständig anschauen, ob er wollte oder nicht. Es war aber eher so, dass er es wollte. Ihre Figur war ganz passabel, ein bisschen knabenhaft vielleicht für seinen Geschmack, aber ihr Gesicht war durchaus sehenswert. Nicht, weil es übermäßig schön gewesen wäre, sondern weil es so anders war als all die Gesichter der Kolleginnen, denen Jan bislang begegnet war. Trotz ihres noch jungen Alters war die Stirn voller Mimikfalten. Bei jeder Regung legte sie sich in tiefe Falten, wie bei einem Schauspieler, der eine besonders übertriebene Gestik darstellen wollte.

Auf dem letzten gemeinsamen Umtrunk der kleinen Ermittlungsgruppe, bei der Sophie Sell und der andere Neue, Sven Krauss, ihren Einstand gegeben hatten, war er ihr ein bisschen auf den Leib gerückt. Zu fortgeschrittener Stunde und mit reichlicher Schräglage verkürzte er den Intimbereich bis auf Anschlag und flötete dabei ihren Vornamen in ihr rechtes Ohr, immer wieder, wie eine Schallplatte mit einem Sprung. Irgendwann, sie konnte aus Platzgründen nicht mehr ausweichen, platzte ihr der Kragen und sie gab ihm deutlich zu verstehen, was sie von seinen Annäherungsversuchen hielt.

Das nahm er ihr aber nicht weiter übel, denn Sophie war noch am gleichen Abend in der Kneipe in seinem Ansehen gestiegen. Ein anderer Gast hatte ebenfalls Gefallen an ihrer Figur gefunden und sie am Hinterteil betatscht, als sie auf dem Weg zur Toilette war. Ihre Reaktion war eine blitzschnell ausgeteilte Ohrfeige und eine Flut von Beschimpfungen, die gar nicht mehr enden wollte. Jan hatte noch nie eine Frau kennengelernt, die in der Lage war, so viele Schimpfworte in solch kurzer Zeit auszustoßen.

Nachdem nun geklärt war, dass sie nicht auf alte Säcke mit Alkoholproblemen stand, wie sie es sehr direkt formulierte, verlegte sich Jan aufs Beobachten. Er ließ sich keine ihrer Gesten entgehen und behielt dabei den schräg gegenübersitzenden Krauss im Auge. Der war wie Sophie neu in der Gruppe, zur gleichen Zeit dazu gestoßen und kaum älter als die Kollegin. Verschüchtert saß er am Tisch, hatte ein Notizheft aufgeklappt vor sich liegen, in dem er geflissentlich all das notierte, was ihm wichtig erschien und das, was ErSieEs Harder von sich gab, sowieso. Der ewige Streber, dachte Jan verächtlich.

Harry Breugel, der links von Jan saß, blätterte in einer dünnen Akte. Sein Gesicht war dabei völlig ausdruckslos, ob er nur so tat, den Inhalt zu studieren, war ihm nicht anzusehen.

Claudia Harder kam herein. Ihr Gesicht war hochrot und die Haare standen ungekämmt in alle Richtungen ab. Auf dem Ärmel ihres Schlabberpullis war immer noch der Kaffeefleck vom Vortag zu sehen, nur jetzt getrocknet und deshalb leicht verblichen wirkend. Ihrem Spitznamen ErSieEs machte sie beinahe täglich alle Ehre. Sie hatte mit Professor Thiel telefoniert, lautstark, das war den Kollegen im Besprechungsraum nicht entgangen.

„Dieser eingebildete Pinsel“, zischte sie und nahm umständlich Platz.

Mehrere dünne Fallakten, die sie vorher unter ihrem Arm geklemmt hatte, verteilten sich fächerartig vor ihr.

Das Verhältnis zwischen ihr und dem Rechtsmediziner Thiel war äußerst angespannt. Der arrogante und überheblich wirkende Pathologe hielt die ungepflegte und bisweilen unsicher wirkende Hauptkommissarin für die unfähigste Ermittlerin der Dienststelle und ließ keine Gelegenheit aus, ihr seine diesbezügliche Einschätzung unter die Nase zu reiben. Claudia Harder ihrerseits wusste sich auf ihre eigene Art zu wehren, indem sie den eitlen Arzt an seiner Achillesferse erwischte. In Anspielung auf den verbliebenen, ergrauten Haarkranz fragte sie ihn einmal scheinheilig, um wie viele Jahre er bereits das Pensionsalter überschritten hätte. Zu einem entspannteren Verhältnis hatte diese Frage definitiv nicht geführt.

„Wir bekommen heute keine Obduktion mehr, der große Meister hat zu viel zu tun.“

Umso besser, dachte Jan, der sich bereits bis zum späten Abend in der Pathologie gesehen hatte.

„Aber das macht nichts, wir haben genug zu tun. Jan, du kümmerst dich um die Schlachthöfe. Hier ist eine Liste. Vielleicht wird eine Anlieferung vermisst.“

Sie schob eines der Mäppchen über den Tisch.

„Unsere beiden Neulinge können sich um den Lkw kümmern. Überprüft, ob und welche Fahrzeuge in letzter Zeit geklaut wurden. Und wenn ihr nicht weiterkommt, klappert die großen Werkstätten ab.“

„Wir beide“, sie blickte hinüber zu Harry, „kümmern uns um die Vermisstenfälle.“

Jan grinste verstohlen, als sich sein Blick mit Harrys kreuzte. Die Beiden würden sich mit Sicherheit noch eines ganz besonderen Vermisstenfalles annehmen.

8. Vermisst

Katja Bergmann wippte nervös auf dem Hocker in der Küche, vor und zurück, immer soweit, dass das altersschwache Möbelstück nur noch auf zweien der vier Füße stand und sich die Holzkonstruktion leise quietschend verzog. Mit einer Hand presste sie das Handy fest an das linke Ohr, die andere hielt eine Zigarette, deren Asche unablässig auf den Linoleumboden fiel, weil die Hand so zitterte.

„Wer, sagten Sie, sind Sie?“, drang es aus dem Handy.

Trotz ihrer Anspannung nahm sie den genervten Unterton wahr.

„Katja Bergmann, die Lebensgefährtin von Herrn Winter.“

Sie war total angespannt und was noch viel schlimmer war, sie musste unbedingt etwas zum Trinken bekommen, wenn sie diesen Tag überstehen wollte. Nur herrschte in ihrer Geldbörse chronische Ebbe. Gerrit musste unbedingt wieder aufkreuzen, oder wenigstens sein Geld. Jetzt bloß keinen Fehler machen.

„Hier steht nichts von einer Lebensgefährtin“, kam es misstrauisch zurück. „Nach unseren Unterlagen ist Herr Winter allein lebend.“

Katja spürte, dass sich das Gespräch in eine ungünstige Richtung entwickelte, sie würde noch mehr aufpassen müssen.

„Wir haben, wir sind ...“, verhaspelte sie sich, „also wir leben noch nicht solange zusammen.“

Aufgeregt fuhr ihre Zunge über die trockenen Lippen.

„Am Telefon kann ich Ihnen keine Auskünfte geben.“

Die Stimme der Sachbearbeiterin der Arbeitsagentur wurde zunehmend unfreundlicher.

„Aber woher hätte ich denn sonst wissen sollen, dass er kein Geld bekommen hat, ich wohne doch mit ihm zusammen.“

Am anderen Ende blieb es einen Augenblick still. Katja Bergmann freute sich bereits und nahm einen tiefen Zug aus der beinahe verglimmten Zigarette.

„Herr Winter hat den letzten Gesprächstermin nicht eingehalten. Deshalb haben wir die Leistung gestoppt und um einen persönlichen Termin gebeten.“

„Aber Gerrit ist doch weg.“

„Wie weg?“

„Na verschwunden. Spurlos. Mit dem Lkw.“

„Moment mal. Herr Winter fährt nebenbei Lkw?“

Katja hätte sich ohrfeigen können, jetzt würde nur noch ein Wunder helfen.

„Ich vermerke das jetzt hier in der Akte. Wenn Herr Winter weitere Leistungen beziehen will, muss er hierher kommen, sagen Sie ihm das.“

Das Wunder war ausgeblieben.

****

Karl-Heinz Bender wurde auf das Gekeife nur deshalb aufmerksam, weil er einen anderen Sender an seinem Fernseher einstellen wollte und sich durch mehrere Programmplätze zappen musste, die nicht belegt waren. Normalerweise war der Ton so laut gestellt, dass er auch bei dem auf kipp stehenden Fensters nichts hören würde. Der Rentner runzelte die Stirn und drehte den Kopf. Nein, er hatte sich nicht verhört, draußen war eindeutig eine weibliche Stimme zu hören.

Neugierig erhob sich der schwergewichtige Mann, durchquerte das altmodisch eingerichtete Wohnzimmer und trat an das Fenster. Vorsichtig schob er den Vorhang beiseite und spähte durch den entstandenen Spalt. Verblüfft stellte er fest, dass nichts zu sehen war. Sein Blick wanderte über den verlassenen Wendeplatz, an dessen Rand das Unkraut bereits kniehoch stand. Hatte er sich getäuscht? Bender wollte sich bereits abwenden, als er doch noch etwas entdeckte. Am seitlichen Pfeiler des vergammelten Eisentors gegenüber stand eine Frau. Das Geschlecht war nur durch die langen dunkelbraunen Haare zu vermuten, die Figur wirkte verhärmt und geschlechtslos. Die Person war dunkel gekleidet und hatte sich kaum vom Hintergrund abgehoben. Jetzt machte sie einen Schritt zur Seite, ergriff mit beiden Händen zwei Metallstangen des Tores und rüttelte an ihnen, ohne dass dies irgendeine Wirkung zeigte. Dabei zeterte sie mit einer kratzigen Stimme. Interessiert betrachtete Bender die Person und wartete auf die Reaktion, die vermutlich bald erfolgen würde. Normalerweise war vor seiner Haustür nichts mehr los. Er war der letzte Bewohner im alten Backsteinhaus, dessen Wohnungen die Stadt zeitweilig als Quartier für Sozialschwache und Asylsuchende genutzt hatte. Häufige Mieterwechsel jedoch hatten den Zustand des maroden Hauses immer weiter in Mitleidenschaft gezogen, bis niemand mehr einquartiert werden konnte. Als Alternative gab es nur Abriss oder Grundsanierung. Die Räumungskündigung für Bender war nur eine Frage der Zeit. Früher gab es wenigstens noch ordentlich Bewegung vor dem Haus, die Arbeiter und Fahrer der alten Fleischfabrik, die genau gegenüberlag, hatten ihre Autos in Höhe seiner Wohnung, am Wendeplatz der alten Gewerbestraße, geparkt. Regelmäßig hatte er mit einigen von ihnen ein paar Worte gewechselt, um sich die Zeit zu vertreiben.

Vor einigen Jahren war die Fabrik in wirtschaftliche Schieflage geraten, die Menschen, die hier ihrem Broterwerb nachgingen, wurden immer weniger, bis sie schließlich ganz geschlossen wurde. Nur der Sohn des ehemaligen Eigentümers lungerte noch mit seinen Saufkumpanen auf dem Grundstück herum.

Vor knapp zwei Jahren dann war wieder Bewegung auf das Gelände gekommen, zumindest gelegentlich. Kühltransporter kamen in unregelmäßigen Abständen, gefolgt von Kleinbussen mit abgedunkelten Scheiben. Männer mit fremdländischem Aussehen kamen und gingen auf dem Gelände. Auch der Sohn des Eigentümers war noch da, genauso wie seine Kumpels. Sie hielten sich in dem flachen Anbau, dem ehemaligen Verwaltungsgebäude auf und erschienen auf der Bildfläche, sobald jemand auftauchte, der nicht dazugehörte. Das Tor, das früher während der Arbeitszeiten immer offen stand, war nun ständig verschlossen. Kam oder ging jemand, wurde es nur kurz geöffnet und sofort wieder zugezogen.

Die erwartete Reaktion erfolgte, zwei schlanke Gestalten kamen vom Flachbau herüber. Erst als der vordere Mann das Tor erreichte, konnte Karl-Heinz Bender ihn erkennen, es handelte sich um den Sohn des alten Besitzers. Albin trug Jeans, schwarze Stiefel, dazu ein blaues Hemd und Hosenträger. Die Haare waren wie immer kurz geschoren. Der andere Typ sah fast genauso aus, man hätte sie kaum auseinanderhalten können. Er blieb einige Meter im Hintergrund. Die Frau redete auf den Mann ein, ihre Lautstärke war dabei großen Schwankungen unterworfen, Bender konnte trotzdem nichts verstehen. Nur einmal fiel ein Name, Gerrit oder so ähnlich. Der Mann wurde ebenfalls lauter, der Rentner vernahm Worte wie „kennen wir nicht“ und „hau ab“.

Der Tonfall wurde immer aggressiver und entwickelte sich für den schwerhörigen Mann zu einem unentwirrbaren Gemenge. Die beiden Männer drehten sich um und schlenderten provozierend langsam über den Platz, die Frau hielt wieder das Tor fest, schüttelte daran, wobei sich nur ihr Körper bewegte und brüllte dabei. Wieder schrie sie den Namen „Gerrit“.

Die beiden Typen waren bereits im Flachbau verschwunden, als die Frau endlich vom Tor abließ und in Richtung der Durchgangsstraße trottete, die keine hundert Meter entfernt war. Bender überlegte kurz, ob er die verzweifelt wirkende Frau ansprechen oder wenigstens mal wieder die Polizei anrufen sollte, ließ es dann aber. Mit Sicherheit stand einer der Kerle von eben hinter einem der Fenster und beobachtete die Szene.

9. Erste Schritte

Björn hörte Gelächter, das durch den Flur rasch näherkam, und schaute von der Akte auf, die vor ihm lag. Gleich darauf flog seine Bürotür auf und schwang durch bis zur Wand, der Türgriff krachte an die Wand. Michael Peschel stürmte als Erster herein, von einem Ohr zum anderen grinsend. Hinter ihm schob sich Stefan Zogg in das Büro. Die Figur des Bodybuilders füllte die Türöffnung beinahe vollständig aus, obwohl er leicht gekrümmt ging und sich den Bauch hielt.

„Wir haben den Kontakt des Narbenmannes“, platzte es aus Michael heraus, als hätte er die Pointe eines besonders guten Witzes ausposaunt.

„Und das ist so lustig?“

Björn runzelte die Stirn. Peschel und Zogg waren für ihre permanent gute Laune bekannt, aber hier musste noch etwas anderes geschehen sein.

****

„Schließ weiter auf, ich glaube, er erreicht gleich sein Ziel.“

Stefan Zogg beschleunigte den Zivilwagen und zog an mehreren anderen Pkw vorbei. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis die drei Beamten den Wagen vor ihnen nicht mehr nur als blinkenden Leuchtpunkt auf dem Display des aufgeklappten Laptops sahen, sondern wieder bis auf knapp einhundert Metern dran waren. Der dunkle Sportwagen quetschte sich plötzlich zwischen zwei neben ihm fahrenden Pkw. Beim Hinteren flammten die Bremsleuchten auf. Die Ahnung des erfahrenen Peschel hatte nicht getrogen, gleich danach bog das verfolgte Fahrzeug auf einen großen Gewerbehof. Auf dem unübersichtlichen Gelände befanden sich ein Schnellrestaurant, Tankstelle, Tennishalle, Sportgeschäfte, Spielhallen und andere Geschäfte. Ideal, um weiter unauffällig zu observieren, aber genauso ideal, um ungesehen jemanden zu treffen.

Akram Fadel fuhr am Eingang des Restaurants vorbei und parkte an der fensterlosen Seite des Gebäudes. Zogg drehte eine Runde und suchte sich in Ruhe einen geeigneten Standort aus, während Michael Peschel das Zielobjekt nicht aus den Augen ließ.

„Wenn er hineingeht, muss ihm jemand folgen, um zu sehen, mit wem er sich trifft. Das werde ich machen. Ihr bleibt hier sitzen und versucht rauszukriegen, mit welchem Auto sein Kontakt unterwegs ist.“

Er drehte dabei den Kopf und sprach zu Philipp Wuttke, der hinten saß und bislang noch keinen Ton gesagt hatte. Der nickte genauso mit dem Kopf wie Zogg auf dem Fahrersitz. Aus der Entfernung war zu sehen, dass Fadel die linke Hand ans Ohr hielt, er telefonierte also. Gebannt beobachteten die drei Beamten die Szene. Durch die vielen kleinen Geschäfte herrschte auf dem zerklüfteten Parkbereich ein ständiges Kommen und Gehen und erschwerte die Observation enorm. Jedes Mal, wenn ein Fahrzeug größeren Kalibers auch nur in die Nähe des geparkten Sportwagens kam, spannten sich die Oberkörper. Ein dunkler Range Rover hielt plötzlich direkt neben Fadel, zum Glück auf seiner rechten Seite, so blieb die Sicht von schräg links frei. Durch die Reflexion der getönten Scheiben waren die Insassen nicht zu erkennen.

Michael Peschel prüfte den Sitz seiner Freisprecheinrichtung, dann ging seine rechte Hand zum Türgriff.

Es dauerte lange, unendlich lange, ohne dass etwas geschah.

„Was soll das werden?“, raunte Stefan Zogg.

„Vielleicht checken sie erst noch die Umgebung“, sprach Philipp aus, was alle im Auto dachten. „Wir hätten einen IMSI-Catcher mitnehmen sollen.“

„Bringt doch nichts in diesem Gewusel. Hier sind ein paar Dutzend Handys online, keine Chance, ihn rauszufiltern.“ Peschel schüttelte den Kopf.

Unvermittelt flog die Fahrertür auf, eine blonde Frau kletterte aus dem Geländewagen, ein Handy am Ohr. Sie warf die Tür zu und verschwand auf der anderen Seite. Fadel blieb ungerührt sitzen. Augenblicke später tauchte die Frau wieder auf, diesmal hielt sie ein kleines Kind an der Hand, Fehlalarm.

Die Männer entspannten sich wieder.

„Ich verstehe nicht, warum er sich nicht ganz normal mit seinem Kontakt trifft. Er wohnt nicht dort, wo er sich angemeldet hat, sondern bei irgendeinem Kumpel. Er lässt sich mit einem Kleinbus durch die Stadt fahren, der eine Dublette ist, tut so, als wenn es ihn überhaupt nicht geben würde. Wenn ihn nicht der Nachsendeauftrag der Post verraten hätte, wir würden immer noch nach ihm suchen. Der hat doch irgendein ganz dickes Ding am Start.“

Philipp hatte sich weit nach vorn gebeugt, sein Kopf war beinahe auf gleicher Höhe wie die der Kollegen.

„Er versteckt sich vor dem Clan aus München, ist doch klar. Die hätten ihn beinahe kalt gemacht. Und natürlich dreht er hier krumme Geschichten, aber nach dem das Video mit dem kleinen Mädchen aufgetaucht ist, kommt ja endlich Bewegung rein, und hier auch. Seht mal.“

Peschel zeigte mit der Hand nach draußen.

Ein paar Meter links von Fadels Auto, an der Seitenwand des Gebäudes, hielt ein schwarzer Geländewagen. Für die Ermittler war nur das Heck zu sehen. Durch die coupeartige Form des großen Fahrzeugs spiegelten die Scheiben extrem.

„Auch wieder nur 'ne Mama mit Kind“, brummte Zogg.

Aber da war Akram Fadel bereits ausgestiegen und blieb am Heck stehen. Aus dem neu angekommenen Wagen sprang ein Mann heraus, flink und beweglich für seine untersetzte Figur. Für einen winzigen Moment schaute er genau in die Richtung des Zivilwagens. Er trug einen schwarzen Anzug mit einem schwarzen T-Shirt. Trainierte Oberarme ließen den Stoff spannen, die fleischigen Hände waren tätowiert und wirkten von Weitem, als trüge er Handschuhe. Der Kopf war geschoren, ein pechschwarzer Vollbart mehrere Zentimeter lang. Der Mann ging auf Fadel zu, beide umarmten sich.

Philipp Wuttke im Fond war ganz nach hinten gerutscht und verbarg sich hinter Zoggs Nackenstütze, während er die Kamera so verdeckt wie möglich auf das Geschehen hielt und den Auslöser drückte. Michael Peschel telefonierte bereits mit der Dienststelle, um den Fahrzeughalter festzustellen.

Die Männer setzten sich in Bewegung und gingen langsam auf den Eingang des Restaurants zu. Peschel wartete angespannt auf die Antwort des Kollegen, während er beobachtete, wie die Zielpersonen den Eingang erreichten und im Gebäude verschwanden. Endlich kam die Antwort, die er in sein Notizheft schrieb.

„Hier“, warf er es dem Fahrer auf den Schoß und verließ den Wagen.

Die beiden Kollegen verfolgten, wie er zügig den Parkplatz überquerte und gleich darauf ebenfalls das Schnellrestaurant betrat. Stefan Zogg starrte auf die Notiz.

„B.A.M. Fleischhandel Ltd., eine Anschrift in Berlin-Neukölln, bestimmt nur eine Scheinadresse, dort kann er doch seine Luxuskarre nicht unbewacht stehen lassen“, und an Philipp Wuttke gewandt, der hinten einen alten Pilotenkoffer geöffnet hatte und hektisch darin herum kramte, „was hast du denn plötzlich vor?“

„Dem verpassen wir auch schnell einen Peilsender. Dem Auto nach ist er der Boss, die Gelegenheit kommt so schnell nie wieder.“

„Nein, lass sein, ist viel zu riskant hier draußen.“

„Sollen wir tagelang in Neukölln observieren in der Hoffnung, der taucht irgendwann auf, wie bei dem anderen Vogel.“

„Trotzdem. Wer weiß, wie schnell die wieder da sind.“

„Sind doch gerade erst reingegangen.“

Wuttke suchte ungerührt weiter in dem Koffer, bis er einen kleinen schwarzen Kasten, halb so groß wie eine Zigarettenschachtel, einen Seitenschneider und zwei schwarze Kabelbinder in den Händen hielt.

„Was willst du denn mit den Kabelbindern? Das Teil haftet magnetisch.“

„Und wenn ich nichts Magnetisches finde?“

„Quatsch. Knall das Teil an den Tank oder einen der Querlenker, fertig.“

Achselzuckend klappte Wuttke den Koffer, klopfte Stefan Zogg beruhigend auf die Schulter und kletterte aus dem engen Fond. Betont langsam schlenderte er über den Platz, ging zunächst an der rechten Seite des Geländewagens vorbei und verschwand hinter der Gebäudeecke auf der Rückseite.

Zogg stöhnte genervt auf.

Zeitgleich mit dem jungen Kollegen, der wieder ins Blickfeld kam, fuhr ein Kombi auf den Parkplatz und belegte den freien Parkplatz links von dem Zielobjekt.

Zogg schlug sich an die Stirn, Wuttke verschwand wieder um die Ecke.

Eine Familie mit mehreren Kindern flutete aus dem Auto und setzte sich gut gelaunt in Richtung Eingang in Bewegung.

„Jetzt mach endlich“, knurrte Stefan Zogg in seine Freisprecheinrichtung.

„Ja, ja. Bleib locker, Mann.“

„Was treibt ihr da draußen?“, wollte Michael Peschel wissen, der den Funkverkehr natürlich mitbekam.

„Peilsender für den Geländebrummi.“

„Dann beeilt euch. Sie kommen gleich raus. Der dicke Typ ist schon aufgestanden.“

Der Fahrer des Zivilwagens konnte beobachten, wie sein schlanker Kollege neben der Fahrerseite des fremden Autos in die Hocke ging und gleich darauf darunter verschwunden war.

„Sie kommen jetzt raus, seht zu, dass ihr fertig werdet.“

„Hast du gehört?“

Ein unverständlicher Laut war die Antwort.

„Hast du gehört, Philipp? Ich kann sie schon sehen. Was ist los?“

„Das Teil hat nicht gehalten. Muss eine andere Stelle suchen.“

„Sie sind schon drei Wagen neben dir. Du kannst nicht mehr nach links raus, hau nach rechts ab.“

„Hab's gleich.“

Fassungslos musste Stefan Zogg zuschauen, wie der Mann im schwarzen Anzug an seine Fahrertür trat und Akram Fadel rechts vom Wagen stehen blieb. Die beiden Männer sprachen miteinander. Unter dem Wagen war nur ein dunkler Schatten zu sehen. Aufgeregt trommelte Zogg mit den Fingerspitzen auf die Mittelkonsole. Wenn der Wagen zurückgesetzt wurde, wäre Wuttke ohne Deckung und der gesamte Einsatz im sprichwörtlichen Arsch.

„Warte. Ich lenke ihn ab. Bevor er losfährt, mache ich was, das ihn aus dem Auto nach rechts lockt und du haust nach links ab.“

Keine Antwort, der Kollege getraute sich nicht zu sprechen.

Jetzt kam es auf das richtige Timing an.

Der Kahlköpfige im Anzug betätigte die Fernbedienung, die Blinker leuchteten auf. Fadel drehte sich ab und trat an sein eigenes Auto. Bevor der Mann im SUV seine Tür geschlossen hatte, war Zogg schon einige Schritte über den Parkplatz unterwegs. Beim Erreichen des Fahrzeughecks wurde der Motor gestartet. Der Sportwagenmotor rechts von ihm bollerte bereits. Der Wagen ruckte, vom Einlegen des Rückwärtsgangs. Zogg kam endlich auf die Höhe des rechten Außenspiegels, er täuschte einen Stolperer vor und drückte sich gegen das Spiegelgehäuse, das nach vorn umgeknickt wurde. Schwerfällig stützte er sich auf der Motorhaube ab. Der Mann am Steuer gestikulierte wild mit den Händen. Zogg versuchte, einen direkten Blickkontakt zu vermeiden und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Das Fenster der Beifahrertür lief nach unten.

„Was machst du Idiot?“, herrschte ihn der Fahrer an.

„Ist nix kaputt, Chef“, versuchte Zogg einen osteuropäischen Dialekt vorzutäuschen.

„Dann stell den Spiegel zurück, Mann.“

Der Beamte ergriff mit beiden Händen das Gehäuse und bewegte ihn nicht horizontal, sondern vertikal.

„Du machst ihn kaputt, du Idiot“, schrie der Fahrer.

Der Motor erstarb, die Fahrertür flog auf. Der Mann kam um das Heck herum auf Stefan Zogg zu, endlich. Jetzt musste Philipp schnell reagieren. Fadel war mit seinem Wagen noch zur Hälfte in der Parklücke und dort stehen geblieben, um das Geschehen zu beobachten.

Der Typ im Anzug war mindestens einen Kopf kleiner als Zogg, aber genauso breit wie der Bodybuilder. Er drängte ihn zur Seite und drückte den Außenspiegel in seine ursprüngliche Stellung zurück und suchte das Gehäuse aufmerksam nach Schäden ab.

„Nix kaputt, alles gut. 'schuldigung.“

Zogg zuckte wieder ungelenk mit seinen Schultern und drehte sich ab. Mit schlurfenden Schritten ging er auf die Rückseite des Gebäudes zu. Er drehte sich erst wieder um, als er den erlösenden Funkspruch hörte.

„Sie sind weg. Kannst zurückkommen.“

****

Jetzt machte das laute Gelächter für Björn Sinn, die aufgestaute Anspannung musste irgendwie weggelacht werden, um das Adrenalin abzubauen.

„Wo ist denn Philipp abgeblieben?“

„Der muss sich umziehen, hat sich sein Hemd ruiniert bei der Aktion.“

Björn nickte und lächelte bitter, bei der überhasteten Aktion war noch mehr ruiniert worden.

„Die Typen haben dich gesehen“, wandte er sich an Stefan Zogg. „Du bist mit deiner Figur sowieso schon so auffällig wie ein bunter Hund. Nach der Geschichte kannst du unmöglich weiter dran bleiben, du gefährdest ansonsten die gesamten Ermittlungen. Was hältst du davon, in die andere Einheit zu wechseln?“

Der Angesprochene schaute erst betroffen und verzog dann das Gesicht.

„Nee, bloß nicht. Nicht zu den Betrügern, tu mir das nicht an.“

Die andere Einheit der zentralen Ermittlungsgruppe für Bandenkriminalität war einer Bande von Enkeltrickbetrügern auf der Spur, die, von Rumänien aus gesteuert, in Berlin ihr Unwesen trieben. Die Ermittlungen gestalteten sich zäh und nervtötend.

„Das muss doch nicht sein“, sprang Peschel seinem Kollegen bei. „Wir sind doch sowieso immer im Hintergrund. Diese Geschichte mit dem Peilsender war die absolute Ausnahme.“

„Habt ihr denn schon etwas herausbekommen über den Sitz dieser Limited?“

„Noch nicht. Darum kümmert sich Stefan. Ich werde jetzt gleich mal die Dame besuchen, die Probleme mit diesem schrägen Ex-Arzt gehabt hat.“

Björn war wieder allein. Er resümierte, was sie bislang in den Händen hielt und das war jeweils für sich genommen noch nicht viel.

Ein M-Kurde, der als Intensivtäter eingestuft war und sich anstrengte, seine Kontakte und seinen Aufenthalt zu verschleiern.

Die Bande machte sich die Mühe, einen Kleinbus aufwendig als Dublette umzustricken, während das Originalfahrzeug arglos von seinem rechtmäßigen Besitzer bewegt wurde.

Das kleine Mädchen im Video deutete auf Kinderprostitution hin, aber wie passte der Fleischhandel dazu? Außer, es ging um grenzüberschreitenden Verkehr, dann bekam alles einen ganz anderen Geschmack. Schleusungen, deshalb ermittelte die Bundespolizei.

Die Zeichen deuteten auf einen größeren Ermittlungskomplex hin, da war sich Björn sicher. Er spürte bereits wieder dieses Kribbeln im Nacken. Und sie mussten dieses kleine Mädchen finden.

10. Leichenschau

Der Geruch wurde mit jedem Schritt unangenehmer, zunächst war es nur ein beißender Geruch von Chemikalien, der sich, je näher sie der Tür kamen, in ein den Magen reizendes Gemenge wandelte. Der Tod ließ sich nicht überdecken, obwohl man sich alle Mühe machte, mit Desinfektionsmitteln und wer weiß was für Tinkturen. Der Geruch kam immer wieder hoch und er würde ihn bis an das Ende seiner Dienstzeit verfolgen. Jan Eggert rümpfte angewidert die Nase und trabte ergeben hinter den beiden Kolleginnen her durch den nicht enden wollenden Kellergang. Einziger Lichtblick war Sophies Hinterteil, aber sie schien seine Blicke gespürt zu haben, mindestens zweimal hatte sie sich bereits zu ihm umgedreht, ihr Blick war dabei eine Mischung aus Skepsis und Drohung gewesen. Claudia Harder trug ein Sweatshirt, das ihr Gesäß nahezu verdeckte.

Die Kriminalhauptkommissarin erreichte als Erste die Tür des Sezierraumes und ging hinein, Sophie hinterher.

Jan Eggert hatte sich vorgenommen, sich kein Wort von dem zu erwartenden Schlagabtausch zwischen seiner Vorgesetzten und dem hochnäsigen Rechtsmediziner Professor Dr. Thiel entgehen zu lassen. Auf der Hinfahrt hatte er schon überlegt, ob er nicht sogar sein Handy einschalten und das Gespräch aufzeichnen sollte, der Akku war nur leider viel zu schwach. Sophie blieb dicht bei der Chefin, genauso hatte er sie eingeschätzt.

„Oh, die Starermittlerin Harder und ihr bis in die Haarspitzen motiviertes Team“, ließ sich bereits die Stimme des Arztes vernehmen.

Der Mann beugte sich über den zierlichen Körper, der auf dem Tisch lag und drehte aus dieser Haltung nur leicht seinen Kopf in die Richtung der Beamten. Er erblickte Sophie, richtete sich auf und drehte sich um, etwas, das er für Claudia Harder niemals getan hätte.

„Oh, ein neues Gesicht?“

Die Gruppenleiterin sah sich durch den fragenden Ton genötigt, eine Vorstellung vorzunehmen.

„Professor Dr. Thiel, Leiter der Rechtsmedizin – Sophie Sell, neues Mitglied der Mordkommission.“

Dazu fuchtelte sie linkisch mit ihrer rechten Hand.

Thiel, die von Körperflüssigkeiten verschmierten Handschuhe in die Höhe haltend, machte einen Schritt auf die junge Kollegin zu, die ihn unverdrossen, beinahe rotzig anschaute. In Gedanken rieb sich Jan die Hände, das versprach, interessant zu werden.

„Na immerhin, der erste, schwache Anschein wird durch den weiblichen Vornamen bestätigt, das ist ja nicht selbstverständlich.“

Harders Augen wurden eine Spur schmaler.

Die Augen nicht von der Neuen lassend, fuhr der Professor fort. „Sie scheinen eine ziemliche Fluktuationsrate zu haben, was Ihre Kollegen angeht, Harder. Liegt das an Ihnen oder hat das womöglich doch andere Gründe?“

Claudia Harder schien entschlossen, sich auf kein verbales Gefecht mit dem Mediziner einzulassen. Ohne zu antworten, umrundete sie den Tisch und beugte sich tief über den von der Verwesung entstellten Körper.

„Können sie schon etwas zur Todesursache sagen, Prof?“, fragte sie respektlos.

Thiel fixierte weiterhin Sophie.

„Passen Sie gut auf, zumindest hier können Sie etwas lernen“, dann erst drehte er sich wieder um.

Danach spulte er sein Programm ab:

„Weiblicher Leichnam, Größe 1,46 m, Gewicht 36 kg, leicht untergewichtig, starke Fäulniserscheinung, am Rumpf Grünfärbungen, die Extremitäten weisen stärkere Schwarzverfärbungen auf, im Bereich des Rückens haben sich Fäulnisblasen gebildet,

das knöcherne Schädeldach sowie die Knochen des Mittelgesichtes erscheinen fühlbar intakt, Hals- und Nackenbereich ist nicht widernatürlich beweglich, der linke Gehörgang ist frei von Inhalt, im rechten Gehörgang befindet sich rötlich-braunes Sekret, durchsetzt mit Maden, der Mund ist leicht geöffnet, die Zahnreihen sind zu erkennen, in der Mundhöhle befindet sich rötliches Sekret, durchsetzt mit Maden.“

So ging das weiter, während er die einzelnen Untersuchungspunkte wie eine Autoinspektion abarbeitete, hantierte er an der jeweiligen Stelle am Leichnam herum. ErSieEs und auch Sophie zeigten sich völlig unbeeindruckt, machten jede Bewegung des Professors mit dem Kopf mit, während Jan ganz froh war, in der zweiten Reihe stehen zu können. Leichenbesichtigungen machten ihm zwar grundsätzlich nichts aus, aber es war auch nicht so, dass er sich darum drängelte.

Plötzlich hielt der Mediziner inne, er richtete sich auf, sein Zeigefinger stand in Schulmeistermanier erhoben, auf dem Silikon des Handschuhs schimmerte das eben noch beschriebene rötliche Sekret der Mundhöhle.

„Fällt Ihnen etwas auf?“, fragte er Sophie in einem Ton, den Jan sofort als unverhohlen hinterfotzig empfand.

„Nein“, antwortete die Angesprochene und blickte neugierig auf den Finger, nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht.

„Ich hätte es mir denken können“, antwortete Thiel mit sichtlicher Enttäuschung und wandte sich wieder dem Leichnam zu.

„Was hätte mir auffallen sollen?“, wollte Sophie wissen und ihr Ton entsprach dabei ihrem rotzigen Gesichtsausdruck.

„Vereinfachte Ausdrucksweise, meine Liebe. Ich verwende Beamtensprech, um genau zu sein, damit es jeder hier im Raum versteht. So, fangen wir an, in die Tiefe des Objektes vorzudringen.“

Jan hörte es metallisch klappern, als der Professor anfing, mit seinem Werkzeug zu hantieren. Die Leichenöffnung verlief dann wieder überwiegend professionell, den Ausdruck Petechien erklärte Thiel der jungen Kollegin allerdings in epischer Breite, obwohl er keinerlei Stauungsbluten der Bindehäute, die auf eine Atemdrosselung hingewiesen hätten, feststellen konnte.

„Ich werde noch feingewebliche Untersuchungen vornehmen müssen, insbesondere vom Vaginalbereich, aber ich kann Ihnen zu diesem Zeitpunkt bereits sagen, dass der Tod durch starken Blutverlust eingetreten ist. Die für den Laien nicht mehr erkennbaren Einschnitte an beiden Handgelenken sprechen eine deutliche Sprache. Ob sie das allerdings selbst gemacht hat oder ob nachgeholfen wurde, kann ich nicht konstatieren. Sie bekommen meinen Bericht.“

„Was ist denn bei den Proben der Tierkadaver herausgekommen?“, wollte Harder wissen.

Thiel starrte sie in seiner hochnäsigen Art von oben herab an.

„Bin ich etwa Veterinär?“

Harder, die genau wusste, wie der Mann tickte, erwiderte den Blick ungerührt, bevor sie antwortete.

„Ist der Unterschied so groß“

Für einen Moment herrschte absolute Stille in dem sterilen Raum. Thiel fixierte die Hauptkommissarin wie ein lästiges Insekt, bevor er mit einer generösen Handbewegung einlenkte, sehr zu Jans Enttäuschung, der auf einen spannenden Schlagabtausch gewartet hatte.

„Natürlich habe ich die Proben selbst untersucht.“

Er ging hinüber zu dem Sideboard aus Edelstahl, das an der langen Wand stand. Harder stakste hinter ihm her, Jan registrierte ihren zufriedenen Gesichtsausdruck. Sie hatte ihn genau richtig eingeschätzt, zum einen extrem neugierig und zum anderen so sehr von sich eingenommen, dass er Untersuchungen lieber selbst vornahm, als sie anderen zu überlassen. Der Mediziner blätterte in einer schmalen Mappe.

„Es handelt sich um Pferdekadaver. Das ist allein noch nicht ungewöhnlich, aber bei einer Analyse, unter anderem durch saure Hydrolyse, habe ich Erstaunliches entdeckt.“

Er machte eine affektierte Pause, um die Wirkung seiner Worte zu überhöhen und blickte von einem zur anderen. Jan hätte am liebsten Beifall geklatscht, die Vorstellung war perfekt.

„Das Fleisch war vollgepumpt mit Antibiotika, Fluorchinolone, die üblicherweise in der Veterinärmedizin eingesetzt werden, aber auch mit Furazolidon. Dieses Medikament ist seit 1995 EU-weit verboten, weil es mutagenes und karzinogenes Potenzial hat. Vereinfacht gesagt, es ist gesundheitsschädlich.“

„Was will man denn mit solch verseuchtem Fleisch anfangen?“, sinnierte Claudia Harder mehr für sich.

„Pferdelasagne, das könnte doch ihre Geschmacksrichtung sein,“ ätzte Thiel. „Vor einiger Zeit ist mit Furazolidon verseuchtes Fleisch in Fertiglebensmitteln entdeckt worden.“

„Können Sie etwas zu der ethnischen Herkunft des Leichnams sagen?“

„Das ist schwierig. Ihre Zähne sind in einwandfreiem Zustand, sie hat dunkle, fast schwarze Haare, aber der Zustand der Haut lässt keine Beurteilung mehr zu, Fingerabdrücke werden vermutlich ebenfalls nicht mehr zu gewinnen sein. Ich werde eine DNA-Probe nehmen, aber um sicherzugehen, müsste eine Stabilisotopenanalyse durchgeführt werden. Aber die kostet.“

Er rieb Zeigefinger und Daumen der rechten Hand und grinste verschmitzt.

„Da schreit die Krämerseele der Verwaltung gleich wieder auf. Aber das ist Ihr Problem. Das Ergebnis der feingeweblichen Untersuchungen lasse ich Ihnen zukommen.“

Die Audienz war beendet.

11. Eine Patientin und ein alter Bekannter

Bei der Adresse handelte es sich um ein älteres Reihenhaus, heller Putz, der im Laufe der Jahre Patina angenommen hatte, ein Gehweg aus altmodischen Waschbetonplatten, Jägerzäune, winzige, aber akkurat gepflegte Vorgärten. Die Anordnung mehrerer Reihen der kleinen Häuschen mit ihren Gärten wirkte wie eine Insel, umstellt von hohen Mehrfamilienhäusern.

Das zweite Haus war die gesuchte Anschrift, der Name stimmte. Michael Peschel drückte auf den Klingelknopf. Ungewöhnlich schnell fiel ein Schatten durch das Milchglas der Eingangstür, die gleich darauf geöffnet wurde. Das erwartungsvolle Gesicht der Frau verwandelte sich in Erstaunen.

Der Beamte setzte sein charmantestes Lächeln auf und zeigte seine Dienstmarke.

„Frau Ottenberger? Gabriele Ottenberger?“

Das Erstaunen wandelte sich in Erschrecken, die Frau machte vorsichtig einen Schritt rückwärts.

„Ja. Was wollen Sie von mir?“

„Ich habe einige Fragen zu“, Peschel machte einen Schritt nach vorn und senkte seine Stimme, „Dr. Hempf. Sie waren doch seine Patientin, nicht wahr?“

Ihre Augen weiteten sich, sie schaute nach rechts und links, ob irgendjemand dieses Gespräch belauschen konnte.

„Ja, ich …“, verhaspelte sie sich.

„Haben Sie keine Angst“, versuchte Peschel, sie zu beruhigen. „Ich habe nur einige Fragen, nichts, was Sie in Schwierigkeiten bringen könnte und bin dann gleich verschwunden. Darf ich eintreten?“, überrumpelte er die Frau und stand auch schon im Flur.

Sie war Mitte dreißig, Peschel hatte ihre Personalien aufgeschrieben, erinnerte sich aber nicht an das genaue Geburtsdatum. Unter dem eng anliegenden Rock und dem dünnen, schwarzen Pullover zeichnete sich eine makellose Figur ab. Die mit Strähnen durchsetzten, blonden Haare waren kurz geschnitten, sie bevorzugte dezenten Schmuck, nur eine Perlenkette über dem Pullover fiel ihm auf. Er bemerkte, wie ihre Nasenflügel bebten, die Situation schien sie extrem zu stressen.

„Hören Sie, ich bin nicht gekommen, um alte Geschichten wieder aufzuwärmen oder Ihnen Schwierigkeiten zu machen. Ich benötige Ihre Hilfe, um mir ein Gesamtbild machen zu können.“

„Ermitteln Sie gegen diesen Mann?“

„Ja, allerdings hat das nichts mit seiner Praxis zu tun.“

Er spürte, dass er ihr einen winzigen Happen an Informationen geben musste, um sie nicht von vornherein zu verlieren. Sie ging die wenigen Schritte bis zur Tür des Wohnzimmers und öffnete sie. Ein überschaubarer Raum mit großem Glasfenster zum Garten, Einzelmöbel aus Holz, Esstisch mit Schwingerstühlen, Ledergarnitur, das Übliche.

„Nehmen Sie Platz, aber ich habe nicht viel Zeit, eine Bekannte holt mich gleich ab. Es wäre schön, wenn Sie bis dahin wieder weg sind. Sie weiß nichts von dem Vorfall und das soll auch so bleiben.“

„Keine Sorge, sollte sie früher auftauchen, fällt mir schon ein plausibler Grund ein, ich werde Sie nicht kompromittieren.“

Sie setzte sich ihm gegenüber und wirkte immer noch wie gehetzt. Sie saß nach vorn gebeugt, die Unterarme lagen auf den Knien, die Hände kneteten einander und waren ständig in Bewegung.

„Wie sind Sie auf mich gekommen? Es gab nie ein Strafverfahren gegen den Mann, oder etwa doch?“

Michael Peschel zuckte mit den Schultern und bewegte den Kopf langsam hin und her.

„Die Beschwerde, nicht wahr? Diese verfluchte Ärztekammer.“

„Ich muss nicht alles wissen, schon gar nicht über irgendwelche Vereinbarungen. Ich will nur wissen, hat sich der Arzt Ihnen gegenüber unangemessen verhalten?“

Sie starrte ihn an, sekundenlang. Er konnte sehen, wie sie schluckte und wie langsam Wasser in ihre Augen trat, bevor sie nickte. Sie senkte den Kopf.

„Es war so erniedrigend“, begann sie stockend. „Ich hatte eine winzige Verhärtung in der linken Achsel am Brustansatz ertastet und wollte das geklärt haben.“

„Beim Internisten?“, unterbrach Peschel.

„Ach was, er war Frauenarzt.“

Peschel schüttelte den Kopf und korrigierte seine Aufzeichnungen.

„Zunächst verlief alles völlig normal. Aber plötzlich fing er an, mich in einer Weise zu berühren, die mit einer Suche nach Knötchen nichts mehr zu tun hatte. Aus dem Tasten wurde ein regelrechtes Streicheln. Da hätte ich schon abbrechen müssen, aber ich war wie gelähmt. Davon scheint er sich ermuntert gefühlt zu haben.“

Sie musste abbrechen, wieder traten Tränen in ihre Augen, sie schnappte nach Luft, weitersprechen konnte sie nicht mehr.

Michael Peschel legte seine Hand auf ihre beiden, um sie zu beruhigen.

„Es ist gut, Sie müssen nichts mehr sagen. Lassen Sie mich vage formulieren, was danach geschehen sein könnte und Sie nicken nur oder schütteln den Kopf, okay?“

Sie nickte.

„Es blieb nicht bei den Berührungen Ihrer Brust, er hat Sie auch woanders angefasst.“

Ihr Kopf war nach unten gebeugt, es dauerte lange, bis sie ihn bewegte, ein schwaches Nicken. Peschel fühlte sich immer unwohler bei dieser Befragung.

„Ist es zu weiteren Handlungen gekommen, über das Anfassen hinaus?“

Jetzt schüttelte sie den Kopf und schaute auf, blickte Michael Peschel direkt an, diesmal waren ihren Augen hasserfüllt.

„Ich habe ihn angebrüllt, was er sich erlaube und das er das Letzte sei. Nachdem ich angezogen war, bin ich rausgelaufen und nach vorn zum Empfang. Der Arzthelferin habe ich zugerufen, dass ihr Chef seine Patientinnen befingert, so laut, dass man es im Wartezimmer hören musste. An ihrem Gesicht habe ich gesehen, dass ich nicht die Erste war, die sich beschwert hat.“

Der Beamte rutschte erneut einige Zentimeter vor und legte seine Hand auf ihren Unterarm.

„Haben Sie vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen. Ich versichere Ihnen, dass Ihr Name in keiner Ermittlungsakte auftauchen wird.“

Das Klingeln an der Eingangstür verhinderte einen weiteren Dialog. Peschel nickte der Frau aufmunternd zu, sie öffnete.

Auf dem Trittsein stand eine ebenso elegante Frau, etwas fülliger vielleicht.

„Mein Name ist Peschel, Kripo Berlin“, übernahm er die Initiative, während er sich an seiner Gastgeberin vorbeischob. „Hier sind in der vergangenen Nacht ein paar verdächtige Gestalten rumgeschlichen. Haben Sie vielleicht Beobachtungen gemacht, die uns weiterhelfen?“

Die Frau musterte ihn, seine Dienstmarke und ihre Bekannte abwechselnd und äußerst misstrauisch.

„Verdächtige Gestalten?“ Sie schaute Peschel, der mit Jeans und abgewetzter Lederjacke wenig repräsentativ aussah, spöttisch von unten bis oben an, bevor sie mit rauer Stimme lachte. „Machen Sie mal einen Stadtbummel, dann sehen Sie haufenweise verdächtige Gestalten.“

****

Björn Liebermann saß in seinem Büro. Er starrte gedankenverloren den Kunstdruck an, der gegenüber seines Schreibtisches an der Wand hing. Jedes Mal, wenn er aufschaute, fiel sein Blick darauf. Ein Geschenk von Mariola, Franz Marcs 'Kleine gelbe Pferde'.

„Es soll dich immer an mich erinnern“, er spürte immer noch ihren heißen Atem im Ohr, wenn er daran dachte.

Und wie sehr es das schaffte, die polnische Dolmetscherin immer wieder in Erinnerung zu bringen, lag nicht allein an den harmonischen Rundungen und der Farbsymbolik des Künstlers, für den gelb für die Weiblichkeit stand. Immer öfter ertappte er sich dabei, dass seine Gedanken abschweiften und ihr Bild vor seinem geistigen Auge entstand. Er würde eine Entscheidung nicht mehr ewig hinauszögern können, das war er ihr und auch sich schuldig, obwohl sie selbst dieses Thema nicht mehr ansprach. Dafür sprach aber ihr Verhalten Bände, die Verabschiedungen wurden immer intensiver, bevor sie sich nach jedem ihrer Treffen in den Zug setzte, um zu ihrem Mann nach Polen zurückzufahren. Aber immer noch schwirrte ihm Franziska durch den Kopf, und dabei hatte er seine Ex seit weit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Seit er sie mit knapper Not aus den Fängen des Serienmörders Gabriel Schaad retten konnte, herrschte völlige Funkstille. In einem unpersönlichen Schreiben wurde ihm seinerzeit mitgeteilt, dass sie keinerlei Kontakt wünsche, um nicht erneut Zielscheibe eines Irren zu werden, der eigentlich ihm schaden wolle. Die frisch gekaufte Penthousewohnung soll gleich darauf verkauft worden sein, wo sie jetzt mit ihrem Bankerpartner wohnte, wusste er nicht, noch nicht einmal, ob sie noch ein Paar waren. Unmittelbar nach dem Mordversuch hatte er ihre Anschrift überprüft und festgestellt, dass sie verzogen war. Beim Einwohnermeldeamt hatte sie eine Auskunftssperre eintragen lassen. Die galt natürlich nicht für polizeiliche Ermittlungen, aber er hatte es dabei belassen. Trotzdem ging sie ihm nicht aus dem Kopf. Die Einzige, die davon völlig unberührt blieb, war Laura, die mittlerweile in die Jahre gekommene Golden-Retriever-Dame, die immer noch seine Begleiterin war. Das Verhältnis zwischen Franziska und dem Hund war nie besonders innig gewesen. Er musste sich dringend von diesem Thema lösen und beschloss, sich wieder auf den aktuellen Fall zu konzentrieren.

Die ersten Ermittlungsergebnisse lagen vor.

Für die deutschen Behörden war ein Strohmann als Verantwortlicher der B.A.M. Fleischhandel Ltd. eingetragen worden, ein im Libanon geborener Mann, dessen Staatsangehörigkeit ungeklärt war und der ebenso unbescholten wie unauffindbar war. Die Peilsender an den beiden Wagen arbeiteten einwandfrei, deshalb wussten sie mittlerweile, wer der stämmige Mann gewesen war, dessen Außenspiegel durch Stefan Zogg umgebogen wurde, Bilal Al Mossa und damit war auch klar, was die Abkürzung B.A.M. bedeutete. Der Mann war hochgradig kriminell, bereits in Erscheinung getreten wegen diverser Körperverletzungsdelikte, aber auch in Verbindung mit Waffendeals und Drogenhandel war sein Name schon gefallen. Als Björn den Namen in das Abfrageportal eingab, leuchteten in roten Lettern die Worte 'Betäubungsmittel, gewalttätig, bewaffnet' auf. Die Bilder der letzten erkennungsdienstlichen Behandlung waren allerdings schon ein paar Jahre alt, er hatte sich deutlich verändert. Bis vor drei Jahren war er Besitzer eine Shisha-Bar und damit ständig im Fokus der Ermittler gewesen. Dass er seine Existenz und seinen Aufenthaltsort so aufwendig verschleierte, bestätigte den anfänglichen Verdacht, sie waren einem ganz dicken Fisch auf der Spur. Es würde spannend werden, welche Bewegungsprofile sich anhand der Peilsender in den nächsten Tagen nachzeichnen ließen. Irgendwo musste die Bande schließlich einen Unterschlupf haben, für das oder die Mädchen und für Fahrzeuge, ein Fleischhandel benötigte zwangsläufig einen Kühltransporter. Michael Peschels Befragung der Patientin hatte das Bild des ehemaligen Arztes ein wenig vervollständigt, für eine Konfrontation war es allerdings noch viel zu früh. Wahrscheinlich war der Mann ohnehin nur eine Randfigur und würde erst am Ende der Ermittlungen über die Klinge springen. Das kleine Mädchen von dem Video bereitete ihm die meisten Sorgen. Jeder Tag, den sie im Dunstkreis dieser Verbrecher verbringen musste, war ein Tag zu viel, aber im Moment sah er keinerlei Möglichkeit, schneller an ihren Aufenthaltsort zu gelangen. Björn warf einen Blick auf seine Armbanduhr, beinahe sieben. Wieder ein langer Tag. Er schob die Akten beiseite und erhob sich, es wurde Zeit, nach Hause zu fahren und eine Runde mit Laura zu drehen. Dabei konnte er erfahrungsgemäß am besten über die nächsten Schritte nachdenken.

12. Wurfübungen

Diesmal war es das Hupen eines Autos, das Karl-Heinz Bender veranlasste, sich aus seinem Sessel zu erheben. Schwerfällig bewegte er sich zum Fenster und nutzte dabei jede Möglichkeit, sich an den Möbelstücken abzustützen. Beim letzten Mal war er zu hastig gewesen und hatte sich das Knie verdreht, das kam davon, wenn man zu neugierig war, schalt er sich selbst. Aber was sollte er sonst auch den ganzen Tag tun, das Fernsehen langweilte ihn mehr und mehr. Wieder ein Hupen, diesmal kurz und auf seltsame Weise zornig klingend. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal eine Hupe in der Sackgasse gehört hatte. Früher konnten die Lieferanten durch das ständig geöffnete Tor fahren und hatten es nicht nötig gehabt, auf die Hupe zu drücken. Dann, als sich die Besitzverhältnisse änderten, fuhren die Autos betont unauffällig vor. Wer hinein wollte, hatte einen Schlüssel für das Tor und meistens kamen die Fahrzeuge außerhalb gewöhnlicher Geschäftszeiten. Er hatte schon einmal mit einem der wenigen noch lebenden Bekannten darüber gesprochen, die ihm noch geblieben waren. Der riet ihm, einfach die Polizei anzurufen und seine Beobachtungen zu schildern.

„Und dann?“, hatte er gefragt. „Hab ich schon hinter mir, es nimmt einen doch keiner für voll.“

Merkwürdige Gestalten zu merkwürdigen Zeiten, aha, hatte der Beamte beim letzten Mal desinteressiert geantwortet, er war sich wie ein Oberverdachtsschöpfer vorgekommen. Bei seinem ersten Anruf einige Zeit vorher war wenigstens noch ein Streifenwagen gekommen, hatte seine Runde in der Sackgasse gedreht und war genauso schnell wieder verschwunden.

Aber in den letzten Tagen häuften sich tatsächlich die merkwürdigen Begebenheiten. Der Kühl-Lkw mit dem schmächtigen Fahrer war verschwunden, den hatte er schon mehrere Tage, oder waren es bereits Wochen?, nicht mehr gesehen. Der Mann musste der letzte von der alten Belegschaft gewesen sein. Dafür gab es jetzt anscheinend einen anderen Lastwagen, einmal war er bislang aufgetaucht, ein ausländischer Fahrer und polnische Kennzeichen. Der Lastwagen war rückwärts in die große Halle gefahren worden, wie der andere früher auch, dann hatte jemand den Fahrer weggebracht. Denn das war auch so eine Merkwürdigkeit, der Fahrer des Lkw war nie mit seinem eigenen Auto vorgefahren, er wurde gebracht und geholt. Und erst wenn er weg war, kamen ein oder manchmal zwei Kleinbusse, die danach lange rückwärts vor der Halle parkten. Die Spinner im Flachbau ließen sich dabei nie blicken und wenn sie sich doch mal aus ihrer Unterkunft wagten, wurden sie augenblicklich zurückgepfiffen. Und dann tauchte die Frau auf, die so verwahrlost aussah wie eine dieser Wohnungslosen, das hatte Bender sogar auf die Entfernung erkennen können. Ein drittes Mal hupte es, jetzt lang gezogen, es begann sogar, den gutmütigen Rentner zu nerven. Endlich erreichte er schwer atmend das Fenster, nachdem er zuvor das Licht und auch den Fernseher ausgeschaltet hatte, um nicht als Silhouette gesehen zu werden. Im schummerigen Licht vor dem Haus sah er einen Kleinwagen quer vor dem verschlossenen Hoftor stehen. Ein ungepflegtes Auto, dessen orangefarbener Lack verblichen wirkte und dem eine Radkappe fehlte. Die Person am Steuer beugte sich weit nach vorn und hatte den Kopf nach rechts, zum Grundstück hin, gewandt. Bei längerer Konzentration auf das Bild vor sich erkannte Bender immer mehr Einzelheiten, die Frau von heute Vormittag war wieder da. Sie stand zwischen dem Auto und dem Zaun.

Der Beobachter wunderte sich, dass die Reaktion der Bewohner aus dem Anbau auf sich warten ließ, immerhin war seit dem ersten Hupen schon einige Zeit vergangen. Die Frau schimpfte lautstark und beugte sich dabei immer wieder durch die offenstehende Tür in das Auto hinein. Und dann war plötzlich klar, warum so viel Zeit vergangen war.

Unbemerkt waren drei junge Männer von der Seite kommend, zum Tor vorgedrungen. Sie mussten die große Halle von hinten umrundet haben. Jetzt tauchten sie laut grölend auf und bewarfen das Auto und die Frau. Bender sah Bierdosen und Flaschen fliegen, eine ganz knapp am Kopf der Frau vorbei. Eine volle Flasche klatschte an die Oberkante der Windschutzscheibe, schäumende Flüssigkeit verteilte sich auf dem Glas.

Der Motor des Wagens wurde gestartet, die Frau sprang in den Schutz des Autos hinein, die drei Gestalten hinter dem Zaun amüsierten sich prächtig. Bockend wie bei einem Fahranfänger setzte sich das kleine Fahrzeug in Bewegung, fuhr einen unsicheren Kreis im Wendehammer und kam dann an Benders Fenster vorbei. Der Rentner schaffte es gerade noch, sich das Kennzeichen zu notieren.

13. Streifzüge

Leif Keppler stocherte mit einem Holzpiekser in der Pappschale mit mundgerecht geschnittenen Wurststückchen, die in einer undefinierbaren, aber sehr scharfen Soße schwammen. Am linken Ende der Schale befanden sich noch eine Handvoll schlabbriger Pommes. Der deutlich übergewichtige Fünfziger hockte in der äußersten linken Ecke vor dem Tresen, starrte abwechselnd auf die lauwarme Mahlzeit und auf die Besitzerin der Imbissbude und überlegte, ob er eine ebenso lauwarme Beziehung wieder aufwärmen sollte. Von seinem Sitzplatz aus hatte er alles im Auge, was sich in dem kleinen Stand und direkt davor abspielte. Und er sah die Besitzerin des Grills in voller Größe und nicht nur vom Kopf bis zur Hüfte wie die anderen Gäste, die am Haupttresen standen oder saßen.

„Du warst lange nicht mehr hier. Ich habe dich schon vermisst“, raunte ihm die bald zehn Jahre ältere Frau zu, als sie vor ihm in einer der Schubladen hantierte. Bevor ihre Hand wieder mit einem Bündel gefalteter Servietten auftauchte, gewährte sie ihm absichtlich einen tiefen Einblick in ihr Dekolleté.

„Ich war eine Zeit lang in einem anderen Bereich eingesetzt und habe es nicht hierher geschafft“, antwortete Keppler. „Du hattest immer schon geschlossen, wenn ich endlich Feierabend hatte.“

Das war ganz schön verwegen, denn Rita schloss nicht vor zehn Uhr am Abend, aber die Frau schien es zu schlucken. Sie hatten sich hin und wieder getroffen, wenn er nichts Besseres vorgehabt hatte auf seinen Streifzügen durch das abendliche Berlin. Er half ihr beim Abschließen der Imbissbude, die kaum größer war als ein Wohnwagen und sie lud ihn zu sich nach Hause ein. Während sie sich frisch machte, wartete er auf der Couch und trank das Bier, das sie extra für ihn aus dem Kühlschrank des Imbisswagens mitgebracht hatte. Wenn sie dann frisch geduscht und frisiert im Morgenmantel erschien und sich neben ihn setzte, in dem aufklaffenden Spalt der Mantelschöße blitzen schwarze Strumpfhalter auf, war die rundliche Frau mit den dünnen, blondierten Haaren sogar ein bisschen attraktiv für ihn. Die Wahrheit war, dass er sie und die gelegentlichen Treffen eingetauscht hatte gegen eine wesentlich Jüngere, die sich aber auf Dauer nicht mit der Rolle der Geliebten zufriedengeben wollte und klare Forderungen stellte. Deshalb war er seit gut zwei Wochen ohne Beziehung, wenn man davon absah, dass er verheiratet war und seine Frau zu Hause auf ihn wartete.

„Und jetzt bist du wieder hier in der Gegend.“

Es war nicht so ganz eindeutig, ob es eine Frage oder eine Feststellung war, die Rita an ihn richtete, nachdem sie einem schon deutlich angeschlagenen Kunden eine Bratwurst verkauft hatte. Er sah sie wieder an. Sie trug einen weißen Kittel, Nylonstrümpfe bis zur Wade und Gesundheitspantoffel. Er wusste, dass sie darunter lediglich einen BH und einen Slip trug und irgendwie erregte ihn der Gedanke, sie wieder einmal zu besitzen. Das Klingeln seines Handys unterbrach die beginnende Konversation.

„Du sollst mich doch nicht anrufen um diese Zeit“, knurrte er genervt in das Gerät und drehte den Oberkörper vom Tresen weg.

„Ist etwas Wichtiges?“

„Nein, ich wollte ...“

Da hatte er das Gespräch bereits getrennt. Rita sagte nichts, sie lächelte nur zufrieden und schien zu wissen, dass sie dieses Match gewonnen hatte.

****

Knapp drei Stunden später. Die Imbisswirtin Rita hatte den späten Gast mit in ihre bescheidene Wohnung genommen, sich frisch gemacht, den Geruch von Bratenfett und Currywurst notdürftig mit Parfüm überdeckt und mit dem deutlich jüngeren Mann eine Runde gevögelt. Danach unterhielten sie sich aus Höflichkeit und, um die Verlegenheit zu überspielen, noch eine Weile, sprachen über belanglose Sachen und nahmen sich gegenseitig das Versprechen ab, ihre alte Beziehung wieder aufzuwärmen und sich sobald wie möglich wieder zu treffen. Leif Keppler suchte seine Kleidung zusammen, die in der gesamten Wohnung verstreut lag und war froh, dass Rita nicht zu den Frauen gehörte, die auf schwülstige Verabschiedungen standen. Vor dem Haus zog er eine Zigarette aus einer zusammengedrückten Schachtel, zündete sie an und inhalierte der Rauch tief. Er warf einen Blick auf die Uhr, gleich eins. Auf den nächtlichen Straßen von Berlin war es bereits deutlich ruhiger geworden, immerhin war es mitten in der Woche. Er machte sich auf den Weg, sein Ziel war ein Internetcafé in Berlin-Mitte, das noch etwa zwei Stunden geöffnet sein würde. Er erreichte es um kurz nach halb zwei und ging zunächst langsam vorbei, um vorsichtig einen Blick in den Laden zu werfen. Es waren nur vier Plätze besetzt und die Aufsicht am Tresen, ein dünner, junger Mann mit Zopf und langem Kinnbart blätterte in einem Magazin. Niemand schien auf ihn zu achten, also drehte er um und betrat das Café. Von der Aufsicht ließ er sich einen freien Sitzungsplatz in der hintersten Ecke zuweisen. Um nicht aufzufallen, öffnete er eine unverdächtige Seite, einen Marktplatz für gebrauchte Automobile und klickte herum, ohne auf den Bildschirm zu achten. Sein Blick ging am Bildschirm vorbei und war ständig auf die Eingangstür gerichtet. Nach langen zwanzig Minuten war es endlich soweit, ein stämmiger Mann mit schwarzen Haaren betrat das Geschäft, redete mit dem Angestellten am Tresen, bevor er nach hinten kam und rechts von ihm Platz nahm.

Leif Kepplers Blick fiel wie immer zuerst auf die Narbe am Kinn des Mannes.

„Ich habe schon gedacht, du versetzt mich, Akram.“

Beide Männer blickten stur auf ihre Bildschirme und würdigten sich keines Blickes.

„Es gab noch etwas zu erledigen.“

„Etwas, das mit uns beiden zu tun hat, hoffe ich. Es wird Zeit, dass etwas geliefert wird. Wir kommen immer weiter in Verzug.“

„Es ist schwierig. Ich kann dir noch nichts Konkretes sagen.“

„Es tauchen wöchentlich Hunderte Gestalten hier auf, du willst mir doch nicht weismachen, dass die alle sauber sind.“

„Natürlich sind sie das nicht, nur wie willst du sie herausfinden?“

„Ihr habt die Reisewege unter Kontrolle und die Security wird von euch geschmiert. Die werden doch in der Lage sein, die passen Subjekte genauer zu inspizieren, Taschenkontrollen, mal in die Handys schauen und so weiter. Das lässt sich alles begründen. Die Leute sind es doch gewohnt, dass man ihnen auf die Finger schaut. Und außerdem, es ist Teil der Abmachung und damit dein Problem. Ihr werdet euch mehr Mühe geben müssen.“

Akram Fadel nickte bedächtig.

„Was ist mit der Kleinen von neulich? Ich würde sie gern mal wiedersehen.“

„Sie ist nicht mehr hier.“

Eine Gruppe drei junger Männer kam in das Café. Sie waren offensichtlich betrunken, unterhielten sich lärmend und brachten Unruhe in den vorderen Bereich des Geschäftes. Keppler beobachtete sie missmutig, sie waren nicht die übliche Klientel. Als sie nach kurzer Diskussion mit dem Bärtigen nach hinten kamen, die Reihe der Computerplätze direkt vor ihnen belegten und die beiden Männer argwöhnisch beäugten, erhob sich Keppler. An Konfrontationen war er nicht interessiert. Im Vorbeigehen tippte er dem Kurden zweimal unauffällig zur Verabschiedung auf den Rücken, bezahlte beim Angestellten die aufgelaufenen Kosten und verschwand.

14. Befunde

„Der Hymenalring war ohne Befund.“

Claudia Harder leierte den Bericht herunter, den sie von Prof. Dr. Thiel erhalten hatte und Jan Eggert fragte sich, wann ErSieEs wohl endlich diesem Pullover mit dem Kaffeefleck einen Waschgang gönnen oder ihn wenigstens gegen ein anderes Wäschestück austauschen würde. Er rümpfte unbewusst die Nase und verdrängte die aufkommende Erinnerung an den Leichengeruch.

„Keine Verkrustungen oder frischeren Verletzungen im Scheidenbereich, man kann davon ausgehen, dass der Hymenalring schon längere Zeit nicht mehr vorhanden war.“

Während Sophie wissend nickte, schaute Sven Krauss fragend seine Chefin an, seinen Block mit den handschriftlichen Aufzeichnungen vor sich. Jan hatte einen ätzenden Kommentar auf der Zunge, aber Harry kam ihm zuvor.

„Sie war schon längere Zeit keine Jungfrau mehr, Hymenalring – gleich – Jungfernhäutchen.“

Der junge Kollege kritzelte hektisch etwas auf das Blatt.

„Der Vaginal- und auch der Analbereich weisen aber eine Vielzahl kleinerer Vernarbungen auf, die darauf hindeuten, dass sie schon längere Zeit zur Prostitution gezwungen wurde.“

„Wie alt war sie?“, wollte Jan wissen.

„Thiel schätzt sie auf zehn bis maximal zwölf Jahre alt, extrem untergewichtig, was möglicherweise absichtlich herbeigeführt wurde.“

Jan presste seine Faust, dass die Knöchel weiß hervortraten und ließ sie mit dem Ballen auf dem Tisch aufschlagen. Die Kollegen schauten erschrocken in seine Richtung.

„Ein Kind, verdammt noch mal. Und absichtlich unterernährt, um sie möglichst lange als Kind ausschauen zu lassen.“

Das war keine neue Masche, auf die sie hier stießen, sondern gang und gäbe in diesen Kreisen. Minimale Ernährung, um die Entwicklung zu verzögern, knabenhafte Figur, verspätete Regelblutung, verzögertes Wachstum der Brüste, um sie möglichst lange wie ein kleines Kind verkaufen zu können. Wie er diese Schweinereien hasste. Jetzt wurde es etwas Persönliches, er machte es ganz einfach dazu. Claudia Harder hüstelte, um sich die Aufmerksamkeit zu sichern, bevor sie fortfuhr.

„Zur ethnischen Herkunft wollte sich der Prof. nicht festlegen, Südeuropa, Vorderasien, genauer ging es nur mit einer Isotopenanalyse.“

Sophie runzelte die Stirn, Sven schaute sowieso schon die ganze Zeit aus, als würde er nur einen Bruchteil des Vortrages checken. Weil Harder keinerlei Anstalten machte, näherer Erläuterungen zu geben und auch Harry undurchdringlich wie immer dreinschaute, sah sich Jan veranlasst, den jungen Kollegen etwas dazu zu sagen.

„Mit einer Isotopenanalyse lässt sich genauer die Herkunft des Opfers bestimmen. Zähne, Haare, Fingernägel und Knochen speichern Informationen, wie und wo die Person gelebt hat, wovon sie sich ernährt hat, welchen Umwelteinflüssen sie ausgesetzt war. Aus der Untersuchung von Zahnschmelz lässt sich zum Beispiel auf das Klima und die vorherrschenden Durchschnittstemperaturen schließen. Unterschiedliche Isotope geben Aufschluss auf die Ernährung.“

Claudia Harder sah Jan genervt an.

„Darf ich weitermachen?“

„Aber sicher“, grinste Jan überschwänglich von einem Ohr zum anderen und blickte auf Sophie, aber die hatte nur Augen für die Chefin.

„Kommen wir zur Todesursache. Zu hoher Blutverlust, sie ist schlicht und ergreifend ausgeblutet. Bei den Verletzungen, von denen Thiel sprach, handelte es sich um Längsschnitte zum Öffnen der Pulsadern. Hinweise auf weitere Gewaltanwendung hat er nicht gefunden.“

„Aber wir betrachten das jetzt hoffentlich nicht als Suizid und Akte zu, oder?“

„Natürlich nicht bei diesen Gesamtumständen. Hier“, Harder reichte ein Blatt herum. „Unser Phantomzeichner hat ihr Gesicht rekonstruiert, sehr gut, wie ich finde.“

Jan konnte es kaum abwarten, bis die Skizze endlich vor ihm lag. Mit beiden Händen hob er das Blatt an und vertiefte sich in den Anblick des kindlichen Gesichtes. Große, unschuldige Augen, leicht erhöhte Wangenknochen, langes, schwarzes Haar mit Mittelscheitel. Er musste seiner Vorgesetzten Recht geben, der Zeichner war wirklich gut.

„Sie passt zu keiner der vorliegenden Vermisstenanzeigen“, meldete sich Harry erstmals zu Wort und stieß damit ein Brainstorming an.

„Vielleicht aus Osteuropa verschleppt und nach Deutschland verkauft“, war Sophies Beitrag.

Claudia Harders Kopf bewegte sich nachdenklich hin und her.

„Es kommen viele Flüchtlinge ins Land, und dabei sind etliche alleinreisende Kinder und Jugendliche, leichte Beute für diese Verbrecher.“

Die Hauptkommissarin zog eine weitere Kopie der Zeichnung aus der Akte und schloss sie anschließend.

„Teilt euch in zwei Gruppen auf und klappert mit dem Bild die Aufnahmestellen für Flüchtlinge ab. Vielleicht haben wir ja Glück. Und ich werde das Bild von dem Mädchen für eine polizeiinterne Fahndung ins Intranet stellen. Mit einer öffentlichen Fahndungsausschreibung will ich noch etwas warten.“

15. Kettenreaktion

Björn beugte sich gemeinsam mit Michael Peschel über die Aufzeichnungen der beiden Peilsender, die Peschel bereits mit unterschiedlich farbigen Stiften in eine Straßenkarte eingezeichnet hatte. Die Wagen waren unspektakulär durch das Stadtgebiet bewegt worden, zumindest wirkte es auf den ersten Blicken so. Bilal Al Mossa parkte seinen Geländewagen in der Gemeinschaftstiefgarage einer großen Wohnanlage, in der er eine Wohnung besaß und auch beim Einwohnermeldeamt angemeldet war. Durch den vorgeschobenen Firmeninhaber hätten sie ihn ohne den Peilsender nicht ohne Weiteres ermitteln können. Akram Fadel führte zwar den Sportwagen auf seinem Namen, hielt sich aber nicht an der angemeldeten Adresse auf. Er war mit dem Auto zweimal in das gleiche Parkhaus in der Innenstadt gefahren, was für sich genommen noch nicht auffällig war, aber Björn war nicht entgangen, dass dem Kollegen etwas auf der Zunge brannte.

„Hier wird es interessant“, Michaels Zeigefinger tippte auf eine Zeitangabe am Rand der grünen Linie, der Markierung für den Geländewagen, „Al Mossa ist an diesem Parkhaus entlang gefahren und hat hier kurz gestanden, nur knapp drei Minuten. Dann ist er weitergefahren.“

Björn blickte den Kollegen an und wartete geduldig die kleine Pause ab.

„Fadel hat seinen Wagen in der Tiefgarage abgestellt und ist dann zu Fuß raus. Al Mossa hat auf ihn gewartet und dann mitgenommen. Gemeinsam sind sie weiter, und zwar hier hin.“

Peschel musste die ausufernde Karte verschieben, ein Teil hing jetzt wie ein Lappen vom Tisch herab, wieder tippte sein Zeigefinger auf einen markierten Punkt.

„Berlin-Treptow. Eine ehemalige Fleischfabrik. Wir haben die Zentrale dieser Ganoven. Hier waren sie aber auch nur ein paar Minuten und sind wieder zurück in die Stadt.“

Björn nickte zufrieden, das war schneller gegangen als erwartet. Ein altes Gewerbegrundstück am Stadtrand von Berlin. Er überlegte schnell, wie sie weiter vorgehen sollten.

„Wenn wir dort mit der üblichen Methode anfangen, zwei Kollegen in einem Zivilfahrzeug, sind wir sofort verbrannt. Dafür agieren sie viel zu vorsichtig.“

„Dann nimm doch meine Karre, damit fällst du garantiert nicht auf.“

Eine halbe Stunde später rollte Björn in einem Minivan japanischer Herkunft über den Glienecker Weg. Was Michael Peschel flapsig als 'seine Karre' bezeichnete, entpuppte sich als waschechter Pampersbomber, jedenfalls hatte ihn Philipp Wuttke im Vorbeigehen feixend so bezeichnet, während Björn noch ungläubig auf zwei Kindersitze und bunte, mit Saugnäpfen an den Seitenscheiben befestigte Sonnenschutzblenden starrte. Vom Innenspiegel baumelte ein Stofftier, das nicht nur die Sicht enorm beeinträchtigte, sondern erheblich dazu beitragen würde, keinerlei Verdacht zu erregen.

Ein tristes, heruntergekommenes Gewerbegrundstück, welliger Maschendrahtzaun, Unkraut wuchs beinahe kniehoch am Zaun entlang, kein Mensch zu sehen, noch nicht einmal ein einziges Fahrzeug stand auf dem großen Areal. Zwei Hallen, L-förmig angeordnet, vor der einen ein flacher Anbau. Björn erreichte die Sackgasse, hier musste die Zufahrt auf das Gelände sein, er bog ab. Er gelangte zum Tor, ein schweres Rolltor, mehr Rost als Farbreste, geschlossen und an den Eisenpfeiler gekettet. Dies alles nahm er wahr, während der Wagen im gemächlichen Tempo weiterrollte. Anhalten durfte er hier auf keinen Fall, womöglich war eine Kamera verdeckt installiert. Konzentriert suchte er nach einer Observationsmöglichkeit. Der Wagen fuhr im Schritttempo durch den Wendekreis, überall lag vom Wind verteilter Müll, Papier und Plastikfetzen. Dann fiel sein Blick auf das kleine Mehrfamilienhaus, das genau gegenüber des Tores stand. Alter Industriestil, roter Backstein, sogar Verzierungen waren an dem abgerissen wirkenden Gebäude noch zu erkennen. Vier Wohnungen, von denen zwei mit Sicherheit leer standen, keine Gardinen und fleckige Wände, soviel war von der Straße aus zu sehen, in einem einzigen Fenster einer dritten Wohnung hing quer eine Gardinenstange, nur in der vierten Wohnung waren Vorhänge und Gardinen angebracht. Björn fuhr langsam vorbei, im letzten Moment bemerkte er eine Bewegung hinter einem der Fenster, die Gardine schwang minimal, wie von einem Windstoß. Jemand war zu Hause, jemand, der einen fantastischen Blick auf das Gelände hatte.

Er beschleunigte und fuhr aus der Sackgasse hinaus, an der Einmündung bog er zügig nach rechts, für einen Beobachter sollte alles echt aussehen, ein Familienvater, der sich in der Zufahrt geirrt hatte. Knapp dreihundert Meter weiter hielt er an, zog sein Handy aus der Jackentasche. Nach dem zweiten Klingeln war Stefan Zogg in der Leitung. Er gab ihm die Anschrift durch.

„Und dann lass den Namen durch das System laufen, ich muss jeden Eintrag wissen.“

Der Kollege meldete sich wenige Minuten später.

„Ein Rentner, alleinstehend, beinahe siebzig, hat sich schon zweimal über verdächtige Bewegungen auf dem Grundstück beschwert, einmal ist auch die Streife draußen gewesen, hat aber nichts festgestellt. Das Grundstück lag in völliger Dunkelheit, auch beim Anrufer kein Licht“, zitierte Zogg den Eintrag der Kollegen.

Björn ließ sich die Telefonnummer des Mannes geben und wählte. Es dauerte lange, mehr als sechsmal klingelte es, Björn wollte bereits auflegen, als es in der Leitung knackte und sich jemand heiser und in fragendem Ton meldete.

„Ja?“

„Herr Bender?“

„Ja, wer ist denn da?“

„Liebermann, Kripo Berlin.“

„Kripo? Echt?“

„Ja, natürlich.“

„Na endlich, das wurde auch Zeit. Das ist doch bestimmt wegen gestern Abend.“

Sie verabredeten sich, Bender legte keinen Wert auf einen Hausbesuch, Björn konnte die kaum verhohlene Vorsicht des Mannes spüren und ihm selbst war es nur recht.

Dreißig Minuten später, der Hauptkommissar saß längst in der von Bender empfohlenen

Bäckerei mit integriertem Café, kam ein dicker Mann auf einem Krankenfahrstuhl angefahren, trotz der angenehmen Temperaturen mit langer Jacke und Mütze angezogen. Japsend und schwerfällig tapste der Mann Augenblicke später in das Café und steuerte Björns Tisch an, der vereinbarungsgemäß eine zusammengerollte Tageszeitung als Erkennungszeichen in die Luft hielt.

„Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Ich bin nicht mehr so gut zu Fuß.“

Er wedelte mit der Hand nach der Bedienung, während er umständlich Platz nahm.

„Hatte ich das richtig verstanden, dass Sie mich eingeladen haben?“, grinste er listig und bestellte sich ein Kännchen Kaffee und drei Kuchenstücke bei der Angestellten, die ihn mit seinem Familiennamen ansprach.

Björn nutze die Zeit, um sein Gegenüber zu studieren. Starkes Übergewicht, ein knallrotes Gesicht, hellwache Augen unter buschigen Augenbrauen und graue Haare, die unter einer Schlägermütze hervorlugten. Die Kleidung des Mannes sah verbraucht aus, er hatte eindeutig schon bessere Zeiten erlebt und wirkte wesentlich älter, als er tatsächlich war.

„Was war denn gestern Abend los?“, wollte Björn wissen, bevor die Bedienung wieder auftauchte.

„Na, da war wieder die Frau, die schon mal da war und jemanden gesucht hat. Diesmal hat sie sich fahren lassen. Hatte 'ne Freundin mit Auto dabei. Aber die dämlichen Nazis kamen raus aus ihrem Verschlag. Richtig angeschlichen haben die sich und sich einen Spaß daraus gemacht, die Weiber und das Auto mit Bierpullen zu bewerfen. Da ist bestimmt was kaputt gegangen. Ich wollte erst anrufen bei euch, aber das hatte ich alles schon.“

Björn nickte verständnisvoll und begann sich zu fragen, was an seinen Informationen nicht stimmen könnte. M-Kurden und Neonazis ergaben definitiv kein gemeinsames Bild. Nachdem Kaffee und Kuchen geliefert waren, ließ sich Bender die Einzelheiten nach und nach entlocken.

„Na, die Nazis, das sind die Trottel, die in dem Flachbau hausen. Die tauchen nur auf, wenn Fremde vorn am Tor sind, manchmal auch, wenn die Teppichflieger mit ihren Autos aufkreuzen. Aber von denen werden sie immer gleich wieder in den Anbau geschickt. Also, passen Sie auf“, erklärte Karl-Heinz Bender auf Björns verwunderte Nachfragen, „der Betrieb hieß mal Klein-Fleischfabrik. Der Besitzer ist pleite gegangen und kurz danach gestorben. Sein Sohn Albin hat dann die ganze Zeit in der Fabrik, der Anbau ist das ehemalige Büro, gehaust. Er sieht aus wie ein Nazi und seine Kumpels auch, rasierte Schädel, diese dicken Stiefel und alle die gleichen Jacken. Aber die sind alle strohdoof, machen nur einen auf dicke Hose. Sie wissen schon, was ich meine.“

Verschwörerisch grinsend griff der alte Mann nach dem letzten Stück Kuchen, das ebenso schnell wie anderen beiden verschwunden war.

„Wahrscheinlich sind sie billiger als Wachhunde. Man sollte es nicht glauben, was? Neonazis und diese Typen. Aber wie heißt es noch gleich, wes Brot ich fress, des Lied ich sing.“

„Und wie wird das Grundstück jetzt genutzt?“

„Von den neuen Besitzern wird nur die linke Halle benutzt.“

„Und was geschieht dort in der Halle?“

„Das weiß ich nicht. Auf jeden Fall stehen auf dem Gelände nie irgendwelche Autos rum. Wenn der Kühllaster kommt, wird er rückwärts in die Halle gefahren. Der Fahrer wird mit einem Transporter gebracht und geholt, so eine Art Kleinbus, Sie wissen schon.“

„Haben Sie, rein zufällig natürlich, mal ein Kennzeichen notiert?“

Das rotstichige Gesicht des alten Mannes grinste von einem Ohr zum anderen. Er zog einen mehrmals gefalteten Zettel aus der Jackentasche und breitete ihn auf dem Tisch wie eine Kostbarkeit aus. Mit seiner fleischigen Hand wischte er Tabakkrümel und Fuseln, die sich in der Tasche angeheftet hatten, beiseite. Er beugte sich nach vorn und senkte die Stimme.

„Aber von mir haben Sie das nicht.“

„Natürlich nicht“, bestätigte Björn mit todernster Miene.

„Das ist der Geländewagen, so ein richtiger Brummer, schwarz, gehört bestimmt dem Boss der Bande.“

Bender hatte instinktsicher erfasst, was sie bereits ermittelt hatten, es handelte sich um Al Mossas Auto.

„Das ist der schwarze Kleinbus“, fuhr Bender fort, während sich sein Finger auf der Liste eine Reihe nach unten bewegte. „Dieses Kennzeichen hatte er bis vor Kurzem, jetzt hat er das hier.“

Björn war elektrisiert. Aus dem befürchteten Wichtigtuer war ein wichtiger Informant geworden. Mit diesen detaillierten Angaben erhielt er wesentlich mehr Infos als erhofft.

„Sind Sie sicher, dass es immer noch der gleiche Wagen ist?“

„Sieht jedenfalls genauso aus und ist immer noch der gleiche Fahrer, so ein Kleiner, rundlicher, wirkt gar nicht wie ein Ganove, eher schon der Beifahrer, ein ziemlicher Brocken, groß und breit wie ein Wandschrank.“

In Björns Hirn arbeitete es bereits angestrengt. Der schwarze Kleinbus war bislang noch nicht wieder aufgetaucht, jetzt hatten sie endlich wieder einen konkreteren Ansatz.

„Ist Ihnen hier in der Vergangenheit ein Mädchen aufgefallen, oder sogar mehrere?“, fragte er folgerichtig.

Karl-Heinz Bender blickte ihn an, Björn konnte sehen, wie es hinter der wuchtigen Stirn arbeitete und der Mann zog die richtigen Schlüsse.

„Kinderhandel oder solche Sauereien? Nein, nie. Und wenn, dann steigen sie in der Halle um. Zu sehen sind hier nur diese finsteren Gesellen. Aber ich war noch nicht fertig. Das sind die Nummernschilder von dem Kühlwagen, so ein großer weißer Sattelschlepper. Aber der ist verschwunden, genauso wie der Fahrer. Ein ziemlich schmächtiger Typ. Und ich glaube, den hat die Frau, die gestern zweimal hier war, gesucht. Die hat den Namen 'Gerrit' gerufen, meine ich. Und das hier“, wieder tippte er aufs Blatt, „ist das Nummernschild von dem alten Auto, in dem sie mitgefahren ist.“

****

„Gerrits Alte ist schon wieder am Tor aufgetaucht und hat die Schnauze aufgerissen.“

Akram Fadel sprach leise in das Mikrofon des Handys hinein, er benutzte dabei den arabischen Qultu Dialekt, um es eventuellen Mithörern so schwer wie möglich zu machen. Er lehnte an einem Straßenbaum in der Sonnenallee, keiner der Passanten, die entlang der bunten Geschäfte schlenderten, schien auf ihn zu achten.

„Wann? Eben gerade?“

Bilal Al Mossas Stimme klang neutral, keine Spur von einer Beunruhigung.

„Nein, gestern Abend. Albin, dieser Idiot, hat es mir eben erst erzählt. Er und seine Esel haben sie mit Bierflaschen beworfen und waren noch stolz darauf.“

„Gestern Abend schon?“

Der Ton war blitzartig umgeschlagen.

„Warum hat er sich nicht sofort gemeldet? Sie hetzt uns die Bullen auf den Hals. In fünf Tagen kommt die nächste Lieferung. Wir müssen sofort reagieren. Kümmere dich darum, aber richtig. Nimm dir einen von den Zwillingen, lasst euch von Hussein fahren. Sofort.“

Die Leitung war tot.

Fadel überlegte kurz, wie er vorgehen würde. Der Auftrag war klar umrissen, kümmere dich richtig. Gerrit war Alkoholiker gewesen, obwohl es ihm immer gelungen war, nüchtern seine Fahraufträge zu erledigen. Jedenfalls war er nie betrunken aufgefallen, obwohl er ihn als Risiko angesehen hatte. Dass seine Einschätzung richtig gewesen war, hatte sich mit dem Diebstahl des Kühllasters herausgestellt. Die Alte kannte natürlich das Grundstück mit der Lagerhalle, schließlich war Gerrit schon bei Albins Vater Fahrer gewesen. Und Gerrit kannte sämtliche Schlachthöfe und Abdecker und natürlich auch sämtliche Tricks der Branche, der Grund dafür, warum Bilal an dem Mann festgehalten hatte. Die Alte, ihren Namen wusste er nicht, hing noch stärker an der Flasche als ihr mickriger Partner und genau darauf würde er seinen Plan aufbauen.

Keine Stunde später rollte der schwarze Kleintransporter vor dem verwahrlosten Mehrfamilienhaus in Neukölln aus und belegte den letzten freien Parkplatz.

„Wir hätten einen Müllwagen nehmen sollen, der wäre hier nicht aufgefallen“, knurrte von hinten Mahamad, einer der El Zein-Zwillinge.

Fadel reagierte nicht darauf, der starrte nach links auf seinen Fahrer, Hussein El Merhi, und überlegte einen Moment lang, dann hatte er sich entschieden.

„Gib ihm die Flasche“, sagte er mit bestimmendem Ton zu Mahamad.

„Warum?“

„Weil du aussiehst wie ein Gangster und er nicht.“

„Du siehst auch aus wie ein Gangster“, beklagte sich der Zwilling.

„Ich weiß“, grinste Fadel. „Deshalb geht er mit der Flasche vor und spricht mit ihr. Ich gehe hinterher.“

„Was soll ich denn mit ihr sprechen?“, reagierte der Fahrer erschrocken.

„Lass dir etwas einfallen. Dass wir von Gerrit kommen, sie besuchen sollen und sie zu ihm bringen, so was. Ist doch nicht schwer.“

Mahamad reichte die Tüte mit der Literflasche Wodka nach vorn, dann stiegen Hussein El Merhi und Akram Fadel aus. Sie überquerten den Gehweg, gingen an mehreren Kinderfahrrädern vorbei, die kreuz und quer vor dem Eingang standen oder lagen, und erreichten die offen stehende Eingangstür. An den acht Klingelknöpfen fehlte mindestens jedes zweite Namensschild, der Name Winter war nicht zu entdecken. Dafür fanden sie ihn am Briefkasten, zusammen mit einem weiteren Namen, Bergmann. Ohne zu wissen, in welche Etage sie mussten, ging sie die Treppe hinauf. Durch ein Treppenhaus, das als Müllabladeplatz oder wahlweise als Schuhablage benutzt wurde. Im Haus waberte ein unangenehmer, nicht zu identifizierender Geruch, vergorenes Essen oder selbst gekochtes Tierfutter. In der dritten Etage prangten endlich an einem Türblatt, dem von kräftigen Fußtritten Löcher zugefügt worden waren, die Namen. Winter und Bergmann, auf einem winzigen Zettel gekritzelt und schief angeklebt. Fadel nickte seinem Begleiter auffordernd zu, der ergab sich in sein Schicksal und drückte auf die Klingel. Nichts geschah.

****

„Stell schnell mal den Halter für dieses Kennzeichen fest.“

Björn hatte sich von Karl-Heinz Bender verabschiedet, nachdem der alle wichtigen Details seiner Beobachtungen losgeworden war. Für längere Plaudereien konnte er sich nicht die Zeit nehmen, das Schicksal des kleinen Mädchens drängte sich immer mehr in den Vordergrund seiner Überlegungen. Der Rentner versprach, alle verdächtigen Beobachtungen in der nächsten Zeit sofort mitzuteilen und Björn wusste, dass der Mann dies sehr gewissenhaft machen würde. Jetzt saß er auf dem Parkplatz im geliehenen Familienauto, beobachtete, wie sein neu gewonnener Informant mit dem elektrischen Krankenfahrstuhl nach Hause fuhr und wartete geduldig, bis ihm Stefan Zogg Name und Anschrift der Fahrzeughalterin durchgegeben hatte, eine Adresse in Neukölln. Er informierte den Kollegen über seine nächsten Schritte, routinemäßige Absicherung, nur für alle Fälle.

Die Wohngegend war heruntergekommen, dazu passte das ungepflegte Auto mit dem von Bender erhaltenen Kennzeichen, das um einige Fahrzeuglängen versetzt vor dem Hauseingang stand. Die Dachkante oberhalb der Windschutzscheibe wies eine kleine Eindellung auf, eine unbekannte Flüssigkeit war über die Motorhaube und dem Kotflügel gelaufen und angetrocknet. Alles war stimmig.

Drei Minuten später stand er der Autobesitzerin gegenüber, eine verhärmt wirkende Frau mit einer viel zu großen Brille in dem von roten Adern durchzogenen Gesicht. Sie trug einen eng sitzenden, roten Pulli und eine Jeans. Misstrauisch warf sie Blicke erst auf Björn und dann auf die Kripomarke, die sich dicht vor ihrem Gesicht befand.

„Frau Maruhn“, sprach er sie direkt an in der Hoffnung, die richtige Person vor sich stehen zu haben, „ich komme nicht wegen Ihnen, sondern wegen ihrer Bekannten, die Frau von Gerrit“, setzte er auf die Vertrauenskarte.

Ob er völlig falsch lag bei der Bewertung der Zusammenhänge, würde sich gleich zeigen.

„Ach so.“

Sie entspannte sich und bat ihn sogar in ihre Wohnung. Als sie vor ihm in das Wohnzimmer ging, bekam er Gelegenheit, sie von hinten zu sehen. Sie war derartig

abgemagert, dass unter dem Jeansstoff ihre Hüftknochen zu sehen waren.

„Was ist denn mit Frau Bergmann?“, lieferte sie ihm gleich auch noch den Namen der Frau, während sie Platz nahmen.

„Sie waren gestern Abend vor der ehemaligen Fleischfabrik“, brachte er das Thema sofort in die gewünschte Richtung.

„Woher wissen Sie das?“

„Jemand hat beobachtet, wie Ihr Auto beworfen wurde.“

„Ja, eine Sauerei. Und alles nur, weil Katja ihren Gerrit sucht.“

„Was ist denn mit Gerrit?“

Jetzt wurde sie wieder stutzig und schaute misstrauisch zu ihm hinüber.

„Ich dachte, Sie wüssten etwas von Gerrit. Sie haben doch seinen Namen genannt.“

„Ich weiß nur, dass ein Gerrit gesucht wird und dass Ihr Auto beschädigt wurde, mehr weiß ich noch nicht. Deshalb bin ich hier. Keine Sorge, ich will weder Ihnen noch Ihren Freunden etwas Böses. Also, was ist mit ihm?“

Ganz zufrieden war sie mit der Antwort nicht, irgendetwas hielt sie davon ab, mehr zu erzählen. Er brauchte ein vertrauensbildendes Versprechen.

„Ich ermittele in einer ganz anderen Angelegenheit, mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe das Gefühl, dass Gerrit in großen Schwierigkeiten steckt.“

Endlich gab sie sich einen Ruck, nervös knetete sie bei der Antwort ihre blassen Hände.

„Gerrit, also Herr Winter, ist verschwunden, seit etlichen Tagen. Früher hat er den Lkw von der Fleischfabrik gefahren. Als die dann Pleite gingen, war er erst 'ne Zeit lang arbeitslos, aber dann kamen diese Typen, diese Araber, die hier überall rumlaufen und er hat bei denen ab und zu wieder einen Lkw gefahren.“

'Ab und zu' hörte sich verdammt nach Schwarzarbeit an, das würde das vorsichtige Taktieren der Frau erklären, ging es Björn durch den Kopf.

„Was waren das für Fahrten?“

„Keine Ahnung. Katja meinte mal, er würde dann ins Ausland fahren und gefrorenes Fleisch holen. Das war ja so ein Kühlwagen.“

„Wie oft?“

„Nicht oft, drei- oder viermal im Monat vielleicht.“

„Also wöchentlich?“

„Ja, so ungefähr. Sie fragen mir Löcher in den Bauch. Fragen Sie sie doch selber. Ich habe Sie nur gefahren. Sie war ganz verzweifelt wegen ihm und wegen dem Geld.“

„Wegen des Geldes?“

„Ja. Sie bekommt ja nur Stütze, das reicht hinten und vorn nicht. Ihr fehlt Gerrits Kohle.“

„Und das Schwarzgeld, was er dort verdient hat, meinen Sie?“

Sie schaute betreten.

„Keine Sorge“, beruhigte er sie erneut, „das interessiert mich nicht.“

„Es ist ja nur, weil sie voll an der Flasche hängt, sie braucht jeden Tag ihre Pulle Schluck, mindestens, sonst wird sie verrückt.“

„Wollen wir mal zu ihr hinfahren? Begleiten Sie mich?“

„Wir brauchen nicht fahren“, erhob sie sich aus dem Sofa. „Sie wohnt hier um die Ecke, außerdem bekommen Sie sowieso keinen Parkplatz vor dem Haus.“

****

Hussein El Merhin klopfte gegen die Tür, nachdem sich auf das Klingeln nichts getan hatte. In der Wohnung blieb es ruhig. Er drehte sich zu Akram Fadel um, der ihn mit Kopfnicken aufforderte, erneut zu klopfen. Also ein weiteres Mal, diesmal energischer.

Etwas geschah in der Wohnung, erst ein Rascheln, dann eindeutig Schritte. Eine heisere Stimme rief etwas. Schritte kamen näher. Hussein versuchte, eine Veränderung des Türspions zu entdecken, aber der schien von etwas verdeckt zu sein, er blieb durchgehend dunkel. Die Tür wurde aufgerissen. Eine verwahrloste, dürre Frau stand vor ihm, das reinste Klappergestell.

„Was wollt ihr?“, fragte sie mit der kehligen Stimme einer Langzeitalkoholikerin.

„Gerrit schickt uns“, versuchte Hussein sein freundlichstes Lächeln, das ihn nach Meinung seiner Frau aussehen ließ wie ein türkischer Gemüsehändler.

Er hielt die Plastiktüte hoch, aus der eine leuchtend blaue Flasche Wodka herausragte.

„Gerrit? Wo steckt der denn?“

Hussein beugte sich vor und sprach leiser.

„Er musste sich verstecken, aber er wollte, dass wir Sie benachrichtigen. Können wir reinkommen?“

Ihre Augen fixierten die Flasche, die er noch etwas weiter in ihre Richtung hielt, penibel darauf bedacht, keinen Fingerabdruck auf der Oberfläche zu hinterlassen.

„Ja, kommen Sie“, und sie erschrak, als mit Fadel ein zweiter Mann in ihr Sichtfeld trat, aber nur kurz. Der hypnotische Blick auf die Flasche beeinträchtigte bereits ihr Denkvermögen.

Die gesamte Wohnung war in einem chaotischen Zustand, zwischen abgenutzten Möbeln stapelten sich Werbeprospekte, Essensverpackungen, leere Flaschen, die anscheinend kein Pfandgeld erbrachten und sonstiger Unrat.

Hussein hielt ihr in dem Raum, der dem Anschein nach das Wohnzimmer darstellen sollte, die Flasche direkt vor das Gesicht. Sofort schnappte sie danach und zog sie selbst aus der Tüte, die er zusammenknüllte und in seiner Hosentasche verschwinden ließ.

„Trinken Sie ruhig“, forderte er sie auf. „Er ist ja für Sie gedacht. Wodka vom Feinsten, Gerrit hat sich richtig Mühe gemacht und eine gute Sorte ausgesucht.“

Sie sah sich suchend um, schien aber nirgends ein Glas zu sehen. Also schraubte sie den Verschluss ab und setzte die Flasche an. Staunend beobachtete Hussein, wie mit großen Schlucken fast ein Viertel des Inhaltes in der Kehle der schmächtigen Frau verschwand.

Sie atmete schwer, nachdem sie abgesetzt hatte.

„Warum muss er sich denn verstecken?“, wollte sie wissen. „Ist es wegen dem Fahren?“

„Ja genau.“

„Jetzt ist er dran, wegen Schwarzarbeit, was? Ich hab's ihm immer gesagt, dass sie ihn irgendwann erwischen.“

„Ja, ist aber nicht schlimm. Kommt alles wieder in Ordnung. Trinken Sie ruhig noch was, ich sehe doch, dass Sie Durst haben“, mischte sich Akram Fadel ein.

Als hätte sie nur darauf gewartet, setzte sie erneut an, danach war die Flasche bereits halb leer.

„Wir sollen Sie zu Gerrit bringen, er wird Ihnen dann auch Geld geben, damit Sie genug haben.“

„Geld?“, fragte sie ungläubig.

„Klar“, bestätigte Fadel seine Aussage. „Er hat ja genug verdient. Allerdings, da wo er jetzt ist, können Sie nichts trinken. Am besten, Sie nehmen jetzt noch einen ordentlichen Schluck und dann fahren wir los.“

Sie trank wieder.

„Ich muss mir meine Jacke holen“, meinte sie dann und verschwand mit der Flasche in der Hand in einem der Zimmer.

Hussein sah seinen zufrieden grinsenden Begleiter und fühlte sich immer unwohler in seiner Haut. Minuten später tauchte sie auf, sie trug eine Jacke, die versetzt zugeknöpft war. Die Flasche Wodka war nicht mehr zu sehen, er war sich sicher, dass sie den Rest in dem kurzen Augenblick ausgetrunken hatte.

****

Björn folgte der dünnen Frau, die von hinten wie ein junges Mädchen wirkte, im Treppenhaus nach unten. Vor dem Haus angekommen, schien sie unschlüssig zu sein, sie blieb stehen.

„Na, vielleicht doch lieber das Auto?“

„Nein, ich frage mich nur, ob ich das richtig mache mit Ihnen, also dass ich Sie zu ihr hinbringe.“

Björn, der versetzt hinter ihr stand, verdrehte die Augen.

„Das hatten wir doch schon. Glauben Sie mir, sie ist in Gefahr. Wenn sie noch mal vor dem alten Betriebshof auftaucht, fliegen nicht nur Flaschen. Ganz sicher.“

Sie setzte sich wieder in Bewegung, Björn hielt sich neben ihr und fragte sich, was sie wohl gemeinsam für ein Bild abgaben. Es ging über wackelige Gehwegplatten an zugewucherten Grünbereichen vorbei, in denen überall Müll herum lag.

„Das sieht schlimm aus hier, ich weiß“, meinte sie wie zur Entschuldigung, als Björn wegen einer massenhaften Ansammlung von alten Autoreifen ungläubig den Kopf schüttelte. Sie gelangten zur Rückseite eines parallel stehenden Häuserblocks, dessen Fensterdekorationen die Verwahrlosung der Außenanlagen widerspiegelten.

„Sehen Sie“, meinte Frau Maruhn, nachdem sie das Haus umrundet hatten und zur Eingangsseite gelangt waren, „kein Parkplatz frei.“

Wie um diese Aussage zu konterkarieren, setzte sich weiter vorn, drei Hauseingänge entfernt, ein schwarzer Kleinbus in Bewegung und entfernte sich zügig. Björn stutzte, weil der neuwertig aussehende Wagen nicht in die Gegend passen wollte, aber um das Nummernschild ablesen zu können, war die Entfernung von Anfang an zu groß gewesen. Unwillkürlich aber beschleunigte er seine Schritte.

„Ist es noch weit?“

„Wir müssen ganz nach vorn, zum letzten Eingang.“

Dort, wo eben der schwarze Kleinbus losgefahren war. Björn wurde noch schneller, das anfängliche Unbehagen beim Erblicken des Autos steigerte sich, ohne dass er es beeinflussen konnte.

„Was ist denn auf einmal los?“, schnaufte die Frau, die schon deutlich zurückgefallen war.

„In welcher Etage wohnt sie?“

„In der Dritten.“

Natürlich. Fast ganz oben, wo sonst? Björn spurtete nach oben und erreichte den dritten Stock, als seine Begleiterin gerade das Treppenhaus betrat. Er klingelte und weil er kein Geräusch hörte, schlug er sofort mit der flachen Hand gegen die Tür. Keine Reaktion. Noch bevor Petra Maruhn oben war, klingelte er an der Nachbartür. Eine rundliche Frau mit Kopftuch öffnete.

„Polizei. Haben Sie Ihre Nachbarin heute schon gesehen?“

Sie schüttelte den Kopf und verschwand wieder hinter der Tür.

„Was ist denn plötzlich in Sie gefahren?“, wiederholte Maruhn ihre Frage.

„Nur ein komisches Gefühl, vielleicht täusche ich mich auch.“

Björn strich sich über den Bart.

„Sie macht nicht auf. Wo könnte sie sein?“

„Weiß nicht. Um die Zeit hockt sie immer vor dem Fernseher.“

Sie machte mit der Hand eine eindeutige Bewegung. Fernsehen und trinken.

„Aber wir können ja nachsehen.“

Ungläubig beobachtete Björn, wie seine Begleiterin ihr Schlüsselbund aus der Hosentasche zog und die Wohnungstür aufschloss, als wäre das selbstverständlich.

„Lassen Sie mich vor, sicher ist sicher“, schob er sie beiseite und schlich in die Wohnung hinein. Kurz darauf war klar, dass sich niemand darin aufhielt.

„Sehen Sie sich bitte mal um, ob Ihnen etwas auffällt. Ein Möbel, das anders steht als sonst, irgendwas.“

Deutlicher wollte Björn nicht werden, musste er aber auch nicht. Petra Maruhn legte ihre Stirn in Falten, bevor sie einen Raum nach dem anderen durchschritt. Gleich in der Tür zum Schlafzimmer blieb sie stehen.

„Dort“, zeigte sie auf die Fensterbank. „Die blaue Flasche dort.“

„Was ist damit?“

„So eine Flasche habe ich noch nie bei ihr gesehen, sieht viel zu teuer aus. Dafür würde sie drei Flaschen von ihrem Fusel bekommen.“

Björn trat an die Fensterbank heran, die Flasche war offen. Er beugte sich hinab und roch an der Öffnung, das Wodkaaroma war noch sehr intensiv. Der schwarze Bus kam ihm erneut in den Sinn. Er ließ die Flasche mit spitzen Fingern in einer der vielen herumliegenden Einkaufstüten verschwinden.

„Wenn Sie etwas von Ihrer Freundin hören, rufen Sie mich sofort an“, und reichte der Frau seine Visitenkarte.

Als er zurück in den Hausflur trat, fiel ihm der beißende Geruch auf, den er vorher in seiner Anspannung nicht wahrgenommen hatte. Das Abklappern der unten gelegenen Wohnungen brachte ihn nicht weiter, entweder wurde nicht geöffnet oder man hatte nichts gesehen.

****

Der Alkohol zeigte langsam die erwünschte Wirkung. Zuerst begann Katja Bergmanns Kopf bei jeder Unebenheit zu wackeln, im Verlauf der Fahrt wurden dann auch die anderen Bewegungen und Reaktionen ihres Körpers immer unkontrollierter. Obwohl sie angeschnallt war, drohte sie in den Kurven aus dem Gurt zu rutschen. Mahamad war dicht an sie heran gerutscht und hatte den Arm um sie gelegt. Hussein konnte im Rückspiegel sehen, wie unwillig er das tat. Zu Anfang führte sie noch einen Monolog über ihren Gerrit und wie sehr sie sich darauf freue, ihn endlich wieder zu sehen. Nachdem sie mehrmals die gleichen Sätze geleiert hatte und plötzlich mit schwerer Zunge fragte, ob das auch wirklich stimmen würde, antwortete Akram Fadel knapp, dass sie gleich ihrem Gerrit gegenüberstehen würde. Hussein drehte den Kopf zur Seite und konnte das hämische Grinsen im Gesicht seines Beifahrers sehen. Statt 'Gerrit' hätte er besser 'Al-Chaliq' -Schöpfer- sagen sollen. Ihm gefiel immer weniger, was er hier tat.

****

Stefan Zogg schien der Einzige zu sein, der sich auf der Dienststelle herumdrückte. Jedenfalls hatte Björn ihn schon wieder in der Leitung.

„Kannst du sehen, wo sich der Wagen von Fadel aktuell befindet?“

„Nein. Das macht Michael, aber der ist auf Achse.“

„Ich befürchte, der schwarze Bus, die Dublette, ist unterwegs. Du musst schnell zu diesem Parkhaus fahren“, Björn gab dem Kollegen die Adresse durch, „und sieh nach, ob Fadels Wagen dort parkt. Ich komme auch dorthin. Wenn er da ist, müssen wir eine Observation starten. Aber bleib im Auto und setz dir eine Mütze oder sonst was auf. Er hat dich schon einmal gesehen.“

Björn schaute auf die Uhr, Zogg würde vor ihm die Anschrift erreichen. Ausgerechnet Stefan Zogg, der den Zielpersonen bereits über den Weg gelaufen war, um die Aktion mit dem Peilsender zu retten. Der Kollege war erfahren genug, um sich unauffällig zu bewegen, das wusste er. Aber wie schnell würde ein dummer Zufall alles ruinieren. Er musste so schnell wie möglich Ersatz finden. Endlich, kurz bevor er selbst im Parkhaus eintraf, erreichte er Philipp Wuttke.

„Wir sind zu Fuß hinter Al Mossa her und hatten die Handys auf lautlos“, rechtfertigte der sich.

Hastig sprach Björn mit dem Kollegen das weitere Vorgehen ab. Er selbst würde Stefan Zogg ablösen, damit der so schnell wie möglich aus der Schusslinie verschwand. Jürgen Kurth und Wuttke würden ihn selbst später ablösen, Michael Peschel sollte zur Dienststelle und die Peilsender auswerten und dann hieß es abwarten. Mit etwas Glück würde der schwarze Bus heute noch in der Garage auftauchen und ebenfalls einen Peilsender bekommen. Außerdem erhoffte er sich Aufschluss über den Fahrer und eventuellen weiteren Mittätern.

****

Die Fahrt führte zunächst in südliche Richtung, hinaus aus dem Stadtgebiet in ländliche Bereiche. Danach folgte Hussein kleinen Landstraßen in westliche Richtung. Die Gespräche waren in der Zwischenzeit fast völlig verstummt. Jeder der Männer schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, die Frau kauerte zusammengesunken auf der Sitzbank, ihr Kinn lag auf dem Brustkorb. Nur manchmal, bei einer Unebenheit oder einer schärferen Kurve, reagierte sich noch kurz, indem sie den Kopf mit einer fahrigen Bewegung anhob und ein Geräusch von sich gab, das eher einem Grunzen als einem Wort ähnelte. Sie ist völlig betrunken, ist vielleicht auch besser so, dachte Hussein, der seinen Beifahrer Fadel immer missmutiger anschaute. Mit ihm hatte alles begonnen. Instinktiv spürte er, dass die Veränderungen in die Katastrophe führen würden. Bevor er die trüben Gedanken noch weiter spinnen konnte, erreichten sie das Ziel. Kurz vor einer Brücke hielt er den Bus an.

****

Björn atmete auf, als er Stefan Zogg mit dem Zivilwagen wegfahren sah. Diese Leute hatten feine Instinkte, wenn sie jemanden, der noch dazu so auffällig wie Bodybuilder Zogg war, zweimal kurz hintereinander sahen, gingen mit Sicherheit alle Warnlampen an. Er richtete sich auf eine längere Wartezeit ein, Philipp musste erst noch einen Peilsender startklar machen, bevor sie ebenfalls in das Parkhaus fahren konnten. In der Zwischenzeit musste er dem Kollegen Zogg Respekt zollen, der ausgewählte Standplatz war kaum zu toppen. Rückwärts eingeparkt, von einer Betonsäule halb verdeckt, konnte er in jedes Auto schauen, das in dieses Parkdeck hineinfuhr. Er hatte einen seitlichen Blick auf den Fahrer, der wegen der Säule den Kopf hätte drehen müssen, um ihn zu sehen. Keiner der bislang einfahrenden Autofahrer machte das, alle waren darauf konzentriert, ihren Wagen durch die enge Gasse zu fädeln.

****

Akram Fadel blickte in beide Fahrtrichtungen der schmalen Straße, bevor er ausstieg und die seitliche Schiebetür öffnete. Mahamad zerrte an der Frau, die kaum reagierte. Er zog sie am Arm aus dem Wageninneren heraus. Draußen musste er sie abstützen.

„Du hupst, wie wir es besprochen haben.“

Hussein nickte.

Die beiden Männer nahmen die Frau in ihre Mitte und bewegten sich auf die Brücke zu. Die Frau wurde von ihnen angehoben, ihre Schuhspitzen schliffen über den Asphalt. Vor der Brücke verließen sie die Straße, gingen über den mit Gras bewachsenen Fahrbahnrand, bis sie zur Böschung kamen. Hier führte ein schmaler Tritt mit schräg abgestuften Betonsteinen nach unten. Sie erreichten den Rand der Brückenkonstruktion. In ihrem Sichtschutz blieben sie stehen. Niemand sagte ein Wort. Der Kopf der Frau bewegte sich ein paar Mal baumelnd, auch sie blieb völlig ruhig. Mahamad fing plötzlich an, mit seiner freien Hand seine Taschen abzusuchen, bis er ein Päckchen Zigaretten in der Hand hielt.

„Lass das“, herrschte ihn Akram Fadel an. „Willst du deine DNA hinterlassen? Reiß dich gefälligst zusammen.“

Ohne sichtbare Reaktion steckte der Angesprochene die Zigaretten zurück in die Tasche. Katja Bergmann schien während der Wartezeit wieder etwas durchzukommen. Ihr Oberkörper straffte sich und der Kopf kam nach oben.

„Was ist denn? Wo ist denn Gerrit?“

Die Worte klangen völlig verwaschen.

„Gleich, keine Sorge. Gleich.“

Sie drehte den Kopf und schaute von einem zum anderen.

„Ihr verarscht mich doch, glaube ich.“

„Ach was. Keiner verarscht dich. Alles gut. Wirst sehen. Gerrit kommt gleich.“

Oben hupte das Auto.

Fadel schob den Kopf minimal vor, um am Betonsockel vorbeischauen zu können.

Auf sein Kopfnicken hin gaben beide Männer der Frau einen kräftigen Schubs. Ihr überraschter Schrei wurde vom Lärm des durchrasenden ICE verschluckt.

16. Ultimatum

Hussein betrat leise die Wohnung. Der Flur lag im Dunkeln. Als er die Beleuchtung anschaltete, sah er, dass alle Türen, die von dem schlauchartigen Raum abgingen, geschlossen waren. Er horchte kurz, ob er irgendwelche Geräusche wahrnehmen konnte, aber alles blieb still. Keine Stimmen oder Gelächter, keine Musik, die auf ein Fernsehprogramm hingedeutet hätte. Seine Familie war schlafen gegangen, die Kinder schon längst, aber auch Süreyya, seine schöne Ehefrau, hatte nicht auf ihn gewartet. Es war bereits kurz nach Mitternacht. Er hatte absichtlich getrödelt, war noch in einer Dönerbude gewesen, ein spätes Mahl, mit dem Mann hinter dem Tresen ein Gespräch, gemeinsames Fußballschauen, alte Aufnahmen, die in der Nacht liefen. Alles nur, um der Konfrontation aus dem Wege zu gehen. Aber sie würde nicht locker lassen, früher oder später würde das Gespräch wieder in die Richtung gehen, in die es immer ging. Wann er endlich dafür sorgen würde, dass es vorbei sei. Wann er endlich nicht mehr für diese schlechten Menschen arbeiten würde. Sie sagte nie Verbrecher oder Ganoven, immer waren es schlechte Menschen für sie. Menschen, die einen schlechten Einfluss auf die Kinder hatten und dafür sorgten, dass man Ausländer mit einem ganz anderen Blick betrachtete. Er hatte ihr versprochen, sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien, in der er sich befand, seit er sein kleines Geschäft schließen musste. Bilal Al Mossa war der Einzige gewesen, der ihm eine Arbeit angeboten hatte, mit der er seine Familie ernähren und die Kinder auf die Schule schicken konnte. Arbeit als Fahrer, ganz einfach und kein Problem, eigentlich. Aber Süreyya war nicht dumm, sie stellte Fragen. Wollte wissen, wie es kam, dass Al Mossa diesen Lebensstil führen konnte, obwohl er nur ab und zu Fleisch verkaufte, das aus dem Osten kam. Sie sagte es ihrem Mann auf dem Kopf zu und er fand keine andere Möglichkeit, als ihren Verdacht zu bestätigen. Drogenhandel. Mit Akram Fadels Auftauchen änderte sich alles. Plötzlich musste er mit ihm zusammen ein kleines Mädchen durch die Stadt fahren, von einer Wohnung, wo man sie anscheinend festhielt, zu Adressen von Kunden. Er war auf einmal viel öfter unterwegs als vorher und seine Frau nahm an, dass der Drogenhandel intensiviert worden war. Von dem Mädchen erzählte er ihr nichts. Dann hätte sie ihm das Leben zur Hölle gemacht oder ihn vielleicht sogar mit den Kindern verlassen. So aber schimpfte sie jeden Abend auf seine neuen Arbeitgeber und verlangte, dass er dem ein Ende bereite, wenn er weiter seinen Kindern unter die Augen treten wollte. Auf einer der Fahrten, bei der sie den Kühlwagen, der mit Fleisch und verstecktem Haschisch beladen war, begleiteten, wurde der Laster von der Bundespolizei kontrolliert, Bundespolizei, so stand es auf dem Streifenwagen. Gefunden worden war nichts.

Hussein hatte zuvor noch nie den Unterschied zwischen den Polizeien wahrgenommen. Als er die genaue Zeit erfuhr, wann er wieder eine ganz bestimmte Adresse anfahren sollte, um gemeinsam mit Fadel das Mädchen abzuholen, rief er eine Nummer bei der Bundespolizei an. Er hoffte, dass sie ihn anhalten und dem Spuk ein Ende bereiten würden. Ihm selber würde schon nicht viel passieren, immerhin war er nur der Fahrer, redete er sich ein. Und außerdem konnte man hinterher vielleicht feststellen, dass er der Anrufer gewesen war. Aber Fadel hatte mitbekommen, dass sie verfolgt wurden und von da an die Regie übernommen. Sie schafften es, die Verfolger abzuhängen. Danach war ihm nie wieder etwas aufgefallen, obwohl er immer darauf achtete. Seit dem das Mädchen tot war, hatte er eine panische Angst davor, dass Süreyya die ganze Wahrheit erfuhr und wie tief er darin verstrickt war. Und er geriet immer tiefer hinein, machte sich mehr und mehr zum Mittäter. Es bedurfte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was mit Gerrit passiert war und dann auch vorhin das mit der Frau. Fadel und auch den Zwillingen schien das alles nichts auszumachen, im Gegenteil, sie scherzten und prahlten mit ihren Taten. Der Narbenmann erzählte, wie er einmal in München einem Verräter den Bauch aufgeschlitzt hatte, dass ihm die Eingeweide herausgequollen waren. Und er betonte, dass er das jederzeit wieder machen könnte, bei Männern, Frauen oder auch Kindern, völlig egal. Eine kaum verhohlene Warnung. Als sie vorhin den Wagen in der Tiefgarage abgestellt hatten und Fadel ihn mit seinem Auto mitnahm bis in die Seitenstraße, in der sein eigenes Auto parkte, sprachen sie kein Wort miteinander. Aber das Schweigen kam ihm ebenso bedrohlich vor wie die Schilderung von herausquellenden Eingeweiden. Hussein würde sich unbedingt etwas einfallen lassen müssen, aber er hatte keinen Schimmer, wie das aussehen sollte.

Er kletterte ins Bett, Süreyya lag auf der Seite, drehte ihm den Rücken zu. Er achtete auf ihre Atmung, wollte wissen, ob sie bereits schlief, da sprach sie ihn auch schon an.

„Du bist wieder sehr spät. Die Kinder haben nach dir gefragt. Vor allem Naime war sehr traurig.“

Naime war die jüngste, gerade mal neun, die beiden Jungs, Aladin und Mohammed, waren zwölf und vierzehn. Er legte seine Hand auf ihre Schulter, wollte sich näher an sie heranschieben, ihren warmen, weichen Körper spüren. Sie schob die Hand grob weg und drehte sich um. Durch das schwache Licht, das durch die Ritzen der nicht ganz nach unten gelassenen Rollläden herein fiel, konnte er ihre ebenmäßigen Züge gerade so ausmachen.

„Hast du dich um das gekümmert, worum ich dich gebeten hatte?“

„Es ist schwierig, ich hatte doch schon mal angerufen, aber es wurde nichts gemacht.“

„Du musst dich mehr bemühen, ganz einfach. Du musst es tun, wenn du nicht die Achtung deiner Kinder verlieren willst.“

„Was ist, wenn sie mich auch einsperren? Was ist dann mit der Achtung meiner Kinder?“

Sie schaltete das Licht auf dem Nachttisch an, mit ihren dunklen Augen fixierte sie sein Gesicht.

„Einsperren? Bist du etwa doch mehr als ein Fahrer? Du fährst doch nur ein Auto, hast du mir versprochen. Von hier nach da, mehr nicht. Was hast du getan, dass du solche Angst haben musst?“

„Gar nichts. Aber wenn sie mir nicht glauben, was ist dann? Mitgefangen, mitgehangen, sagt man hier in Deutschland.“

„Was du alles weißt. Aber weißt du auch, dass man den Zeugen nicht bestraft, das habe ich im Fernsehen gesehen.“

Sie kam ganz dicht mit ihrem Gesicht an ihn heran, am liebsten hätte er ihre Wange gestreichelt oder ihre vollen Lippen geküsst. Aber ihre funkelnden Augen ließen keinen Zweifel daran, dass er sich genau das auf keinen Fall wagen sollte.

„Wir sind in dieses Land gekommen, um unseren Kindern eine bessere Zukunft zu bieten, hast du das schon vergessen? Wir wollten keine schlechten Menschen werden.“

„Ich weiß.“

Ratlos blickte er sie an.

„Bald kommen meine Eltern zu Besuch. Bis dahin musst du alles geregelt haben.“

„Wie soll ich das machen.“

„Du machst das schon. Ich habe einen schlauen Mann geheiratet.“

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich wieder um.

17. Zusammenführung

„Mensch, Björn, sieh dir mal dieses Bild an.“

Moritz Hübner, sein Vorgesetzter bei der Ermittlungsgruppe, kam ins Büro gestürmt und setzte sich in seiner typischen, jovialen Art auf die Schreibtischkante. Untypisch für ihn war, dass er nicht verschmitzt über das ganze Gesicht grinste, sondern ganz im Gegenteil sehr ernst dreinschaute. Mit dem akkurat gekürzten Vollbart, genauso kurz wie das Haupthaar, sah er plötzlich aus wie ein Bestatter.

Björn war zuvor tief in Gedanken versunken gewesen. Durch die Observation vom

Vorabend war es ihnen gelungen, ein weiteres Bandenmitglied zu identifizieren, den Fahrer des Kleinbusses. Auch sein privates Auto war ebenso wie der Bus mit einem Peilsender versehen worden. Der nächste Schritt musste sein, mit einem IMSI-Catcher die benutzten Mobiltelefone zu ermitteln und die Gespräche mitzuschneiden. Der einzige Wermutstropfen dieser guten Nachricht war die bevorstehende Sisyphusarbeit, jedes einzelne dieser Telefonate von einem Dolmetscher übersetzen zu lassen.

Am Abend, bevor ihn der Anruf der observierenden Kollegen erreichte, war er in seltsam melancholischer Stimmung gewesen. Ob es an den beleuchteten Fenstern lag, hinter denen er Familien und Paare sah, als er mit Laura auf der letzten Runde des Tages vorbei kam, oder ob es einen anderen Auslöser gab, der nicht so offensichtlich war, er konnte es hinterher nicht mehr sagen. Tief in der Polsterung der Couch versunken dachte er über sein Verhältnis zu Mariola nach. Sie hatte ihr anfängliches Drängen, bei ihm einzuziehen, eingestellt, zumindest erwähnte sie es nicht mehr. Ihr Verhalten aber sprach eine andere Sprache. Aber wollte er das eigentlich? Was wollte er überhaupt? Ganz tief in ihm drin war immer noch ein Rest, der sich nicht von Franziska abkehren wollte. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen er mit ihr in der Vergangenheit ein paar Worte gewechselt hatte, war es immer nur um Gabriel Schaad gegangen. Sie befand sich seit dem Mordversuch in therapeutischer Behandlung, anscheinend ohne messbare Erfolge. Immer noch gab sie ihm die Verantwortung für das Geschehen und mit dem Banker war sie ebenfalls noch zusammen. Die Tatsache, dass die beiden noch nicht verheiratet waren, hatte anscheinend nichts mit ihrer Einstellung zu ihm zu tun. Obwohl sie ihm eher feindselig gesonnen war, wollte etwas in ihm einfach nicht loslassen. Auch Jasmin, seine alte Bekannte vom Straßenstrich, fand bei jeder Gelegenheit deutliche Worte.

„Hör mal, Kripomännchen. Die Frau hat dich längst abgehakt und das solltest du auch tun. Die ist sauer auf dich und das bleibt sie auch, weil bei jeder dieser Sitzungen mit diesem Seelenpfuscher die alte Kacke wieder hoch gequirlt wird. So wird sie dich niemals los und dir gibt sie die Schuld dafür.“

Meistens beugte sie sich dann weit über den Tisch, um ihre ausgeprägte Oberweite in Szene zu setzen.

„Du müsstest nur einmal an eine richtige Frau geraten, eine, die sich richtig um dich kümmert. Ich schwöre dir, du hättest hinterher den Namen deiner Ex vergessen.“

Dabei verdrehte sie ihre Augen zu einem unschuldigen Blick in Richtung Raumdecke, während ihre Zungenspitze innen an der Wange entlang fuhr und so eine mehr als offensichtliche Ausbeulung entstand.

Sie hatte recht mit fast allem, was sie anführte, nur die richtige Frau für ihn, das würde sie nie sein. Mit ihrer Rolle als gute Freundin schien sie sich immerhin arrangiert zu haben.

Mariola.

Seine Gedanken kreisten immer wieder um die attraktive Dolmetscherin. Nach einem

Glas Rotwein hatte er das Handy vom Tisch genommen, die letzten Nachrichten von ihr zum wiederholten Male gelesen und selbst einen kurzen Satz eingetippt.

'Ich brauche dich, jetzt!'

Unentschlossen nippte er an dem nächsten Glas, der Finger kreiste über dem Senden-Knopf.

War das richtig? War er sich über seine Gefühle zu ihr wirklich im Klaren? Sie würde alles stehen und liegen lassen, dessen war er sich sicher. Schon am nächsten Morgen würde sie vor seiner Tür stehen. Aber war das richtig? Benutzte er sie vielleicht nur als Ersatz für die unerreichbare Franziska?

Der Finger schwebte weiter und er verspürte dabei einen eigenartigen Druck in der Brust. Das Telefon klingelte, er erkannte die Rufnummer des Observationsteams. Er löschte die Nachricht, ohne sie zu versenden und nahm das Gespräch an.

„Was für ein Bild?“, fragte Björn und nahm das Blatt Papier entgegen, dass ihm sein Chef hinhielt.

Ein von einem Polizeizeichner erstelltes Phantombild, das Gesicht eines Mädchens, schmal, ebenmäßige Züge, von dunklem, glatten Haar umrahmt, das bis auf die Schultern reichte. Während er sich jede Einzelheit einprägte, platzte es aus Hübner heraus.

„Das ist doch die Kleine aus dem Überwachungsvideo, meinst du nicht auch?“

„Wo kommt das her?“, wollte Björn wissen und drehte das Blatt um, weil er hoffte, dass die Rückseite wichtige Infos enthielt, aber sie war leer.

Hübner wedelte mit einem weiteren Zettel.

„Interner Fahndungsaufruf, Moko.“

Jetzt war Björn wieder voll da.

„Sag nicht, dass sie ...“

„Doch, ist sie. Vor ein paar Tagen auf einem Parkplatz an der A 1 gefunden, entsorgt wie Abfall mit einer Lkw-Ladung voll geschlachteter Pferdehälften.“

„Ist die Todesursache bekannt?“

„Nein. Es stand nichts dabei. Sie versuchen, ihre Identität zu klären, zunächst über das Intranet, bevor sie an die Öffentlichkeit gehen. Björn, wenn sie das tatsächlich ist ...“

„Wenn sie das tatsächlich ist, stehen wir genau den Richtigen auf den Füßen.“

Er überlegte kurz.

„Es muss geklärt werden, was mit Katja Bergmann ist. Und wir müssen Kontakt zu den Kollegen der Moko aufnehmen. Das erledige ich gleich selbst. Wer ist denn dort der maßgebliche Ermittler?“

Hübners Augen wanderten über den Zettel in seinen Händen.

„Harder, ein Kollege Harder. Nein, ...“

„Eine Kollegin“, fiel ihm Björn ins Wort. „Ich kenne sie. Bei ihr habe ich meine erste Zeit hier in Berlin verbracht, als ich mich von Hamburg versetzen ließ.“

Das konnte Hübner nicht wissen, Björn hatte mit niemandem der Kollegen über diese Zeit gesprochen, weil sie ihn zu sehr mit Gabriel Schaad, mit der Entführung von Franziska und dem grauenhaften Tod der jungen Kollegin verband.

„Dann bist du ja genau der richtige Ansprechpartner für sie, Verbindungsmann bist du ja sowieso.“

Jetzt grinste der Kriminaloberrat wieder über das ganze Gesicht und Björn fragte sich misstrauisch, ob das nur seine übliche, freundliche Mimik war oder ob mehr dahinter steckte.

Ein paar Minuten später wusste er, dass Katja Bergmann nach wie vor verschwunden war. Ihre Freundin, Petra Maruhn, machte mittlerweile einen sehr aufgelösten Eindruck und war sehr erleichtert, als ihr Björn versprach, einen Kollegen vorbei zu schicken, der eine Vermisstenanzeige aufnehmen würde. Michael Peschel war der Kollege, den es traf.

Die Gefühle, die bei Björn hochkamen, als er danach erneut den Hörer in die Hand nahm und die Rufnummer wählte, waren mehr als zwiespältig.

Am späten Vormittag erreichte Björn das Dienstgebäude, in der auch die Mordkommission ihre Büros hatte. Im Treppenhaus begrüßte er hier und da Kollegen mit Handschlag, die er in seinem mittlerweile dreijährigen Aufenthalt in Berlin persönlich kennengelernt hatte. Fremden warf er nur einen flüchtigen Gruß zu. Vorhin, am Telefon, hatte er mit Harry Breugel gesprochen, Claudia Harder war nicht in ihrem Büro gewesen, eine der unvermeidlichen Besprechungen, wie Harry hämisch bemerkt hatte. Deshalb war es zu dieser Verabredung gekommen, nach dem zweiten Frühstück, ebenfalls Harrys Wortwahl.

Die Begrüßung war beinahe überschwänglich, die Kollegin nahm ihn in den Arm und drückte ihn fest an sich. Er spürte ihren Oberkörper, ihre trockene, raue Gesichtshaut auf seiner Wange. Jener Abend in der Bar war sofort wieder präsent, das Treffen unter Kollegen, als sie ihm eindeutige Angebote gemacht hatte.

Er nahm ihren typischen, muffigen Geruch wahr, nasser Hund. Es hatte sich nichts geändert. Nur Harrys Blick blieb seltsamerweise neutral, während Claudia an ihm hing wie eine Klette. Sollte sich das spezielle Verhältnis der beiden abgekühlt haben?

Er war sicher, dass ihm der von einem Ohr zum anderen grinsende Jan Eggert so bald wie möglich darüber berichten würde.

Kurz darauf saßen sie gemeinsam am Tisch in dem winzigen Besprechungszimmer. Björns ehemaligen Stammplatz belegte ein junger Kollege, den Claudia mit dem Vornamen Sven vorgestellt hatte, blond, sehr schlank und genauso schüchtern. Er wich direkten Blicken schnell aus und Björn bemerkte, dass er vor Aufregung schwitzte. Der andere Neuzugang, eine junge Kollegin, war von einem ganz anderen Kaliber. Kurzes, blondes Haar, das widerspenstig vom Kopf ab stand, nichtssagende Bekleidung, Pulli und Jeans, und ein Gesicht, das zumindest auf den ersten Blick eher unscheinbar wirkte. Das Prägnanteste an ihr waren die Augen, konkreter ihr Blick. Hellblaue, klein wirkende Augen, auf Schminke verzichtete sie völlig, die mit einer unglaublichen Intensität schauen konnten. In dem Blick spiegelten sich Neugier, Entschlossenheit und eine ordentliche Portion Respektlosigkeit. Unwillkürlich musste er bei ihrem Anblick an Isabelle Willmann denken, der jungen Kollegin, die Gabriel Schaad zum Opfer gefallen war, obwohl die junge Frau hier, die sich betont burschikos und unweiblich gab, keinerlei Ähnlichkeit mit ihr besaß.

„Was habt ihr?“, fragte Björn.

Das alte Spielchen, zeig mir deins, dann zeige ich dir meins, begann.

ErSieEs schlug einen Aktendeckel auf und legte ihm einen kleinen Stapel Fotos hin.

„Eine weibliche Leiche, noch ein Kind, entsorgt auf dem Grünstreifen eines kleinen Rastparkplatzes an der A 1, Fahrtrichtung Osten. Gemeinsam mit geschlachteten Pferdehälften, die vollgepumpt waren mit Medikamenten, die in der EU seit Jahren verboten sind.“

Björn betrachtete die Bilder, die die Auffindesituation zeigten. Die von der Verwesung entstellte Leiche, grünlich verfärbte Tierkörper, von Eiterblasen übersät. Weitere Ausführungen hierzu konnte sie sich sparen.

„Sie war schon lange keine Jungfrau mehr, bei den feingeweblichen Untersuchungen sind eine Vielzahl kleinerer Vernarbungen festgestellt worden. Es deutet vieles auf Kinderprostitution hin, obwohl wir keinerlei Spermaspuren gefunden haben. Todesursache dürfte Blutverlust gewesen sein, ausgelöst durch diese Schnitte.“

Sie zeigte Björn ein weiteres Bild, auf dem nur noch sehr vage eine Verletzung an einem der Handgelenke zu sehen war. Die Verwesung war bereits sehr weit fortgeschritten.

„Ob sie sich die Verletzungen selbst zugefügt hat, konnten wir nicht klären. Eben sowenig wie ihre Identität. Bevor wir weitere und teure Untersuchungen starten, haben wir es zunächst mit der internen Ausschreibung versucht.“

„Wir sind hinter einer Bande von Mhallami-Kurden her. Ich sage ganz bewusst Bande, weil es sich um keinen dieser typischen Familienclans handelt. Sie agieren ziemlich untypisch im kleinen Kreis, zumindest haben wir noch keine Schnittstelle gefunden. Aber wir sind auch erst ganz am Anfang.“

Björn referierte über die bisherigen Erkenntnisse, die sie gewonnen hatten, dann bat er Harry, das mitgebrachte Video abzuspielen. Gebannt starrten alle auf den Bildschirm. Als der unbekannte Fahrer des Kleinbusses begann, seine Spielchen mit den Verfolgern zu spielen, ließ Jan ein lautes 'Scheiße' vernehmen.

Der Film war zu Ende.

„Zuerst habe ich noch einen Funken Hoffnung gehabt, dass das Mädchen auf dem Video nur eine gewisse Ähnlichkeit mit eurer Leiche hat, aber wenn ich höre, dass sie zusammen mit geschlachteten Tierhälften gefunden wurde, wird es sich um das Mädchen handeln.“

„Wat is denne mit dem Typen, dem das Haus gehört? Habt ihr dem schon auf den Zahn gefühlt?“

„Nein, noch nicht. Und zwar ganz bewusst. Wir würden die Ermittlungen gegen die Bande gefährden. Der Typ ist ein ehemaliger Arzt, es gibt einen bekannten Fall von sexueller Belästigung einer Patientin. Keine Sorge, Jan, der kommt schon noch dran. Was habt ihr noch?“, wandte er sich wieder Claudia Harder zu.

„Nichts, wenn ich ehrlich bin. Das alles ergibt, bis auf den konkreten Verdacht des Kindesmissbrauchs, noch keinen richtigen Sinn. Das Fleisch kommt mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Osten. Das Mädchen befand sich nach euren Erkenntnissen bereits hier bei uns und wird zusammen mit dem Fleisch auf der Strecke in Richtung Osten entsorgt.“

„Vor dem Gelände dieser ehemaligen Fleischfabrik in Treptow ist zweimal eine Frau aufgetaucht, die ihren Freund vermisste. Der soll Lkw-Fahrer gewesen sein. Ich wette, dass sein Verschwinden irgendetwas mit eurem Fund zu tun hat.“

„Und wie geht es jetzt weiter? Wir sollten unsere Ergebnisse zusammenführen.“

„Es laufen bereits operative Maßnahmen, Peilsender an allen uns bekannten Fahrzeugen der Gruppe, Telefonate mitschneiden ist der nächste Schritt. Wir müssen eine gemeinsame Ermittlungsgruppe bilden und unser weiteres Vorgehen absprechen, damit wir nichts doppelt machen oder uns unbeabsichtigt in die Quere kommen.“

Michael Peschel saß bereits wieder an seinem Schreibtisch, als Björn von der Besprechung mit Claudia Harder zurückkehrte.

„Nichts“, meinte er auf Björns fragendes Gesicht hin. „Sie ist nach wie vor verschwunden, es gibt keinerlei Anzeichen, dass sie, nachdem du bei ihrer Freundin warst, wieder in der Wohnung aufgetaucht ist. Das sei völlig untypisch für sie. Und auf der Wodkaflasche sind nur Fingerprints von einer Person vorhanden.“

„Hast du schon gecheckt, ob eine unbekannte Leiche gefunden wurde?“

Seine unterschwellige Befürchtung, der dunkle Kleinbus, den er hatte wegfahren sehen, behielt er zunächst für sich. Spekulationen würden ohnehin nicht weiterhelfen.

„Ich war eigentlich gerade mit dem Observationsbericht für die Enkeltrickbetrüger

beschäftigt. Schiebe ich schon seit zig Tagen vor mir her.“

Björn nickte.

Sie hatten das zuständige Fachkommissariat bei Ermittlungen unterstützt und geholfen, zwei Personen festzunehmen, einen Mann und eine Frau. Kleine Lichter zwar nur in der Hierarchie dieser Banden, die alte Menschen anriefen, vortäuschten, ein Verwandter zu sein, der sich in einer finanziellen Notlage befand. Das Pärchen, beides Läufer im Jargon der Banden, Geldabholer, waren aufwendig observiert worden, um an die Hintermänner, die Logistiker und den Keiler, also den Anrufer, zu gelangen. Die weiteren Ermittlungen wurden von anderen Dienststellen geführt, nach der erfolgreichen Observation war Schluss gewesen für Björns Ermittlungsgruppe, aber der Bericht musste irgendwann geschrieben werden.

„Schieb das bitte noch etwas auf“, bat ihn Björn. „Und versuch mal, ob du die kompletten Personalien und ein einigermaßen aktuelles Bild von diesem Gerrit besorgen kannst.“

Im Bann des Clans

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