Wolgaland

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Lydia Steinbacher. Wolgaland
Inhaltsverzeichnis
Отрывок из книги
Lydia Steinbacher
geboren 1993, lebt und arbeitet in Wien und Niederösterreich, studierte Deutsche Philologie an der Universität Wien. Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung sowie des Literaturkreises Podium. Sie wuchs in Hollenstein an der Ybbs auf und sammelte schon früh Erfahrungen im Schreiben, u. a. im Rahmen der Schreibakademie Niederösterreich. Steinbacher ist Trägerin zahlreicher nationaler und internationaler Aufenthalts- und Literaturstipendien. 2017 sorgte ihr Lyrikband Im Grunde sind wir sehr verschieden (Limbus Verlag) für großes mediales Interesse, es folgte die Teilnahme am Poesiefestival Treci Trg in Belgrad. Ihre Erzählungen erschienen in zahlreichen Anthologien. Ihr Erzählband Schalenmenschenerschien 2019. Wolgaland (2022) ist ihr erster Roman.
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Es waren nur ein paar Steinwürfe bis zur Gaststätte, wo auch die Chorproben stattfanden, der Eingang befand sich im Hof. In der Stube saß Jonathan als einziger Gast – für einen Mittwochvormittag durchaus nicht ungewöhnlich – an einem Ecktisch. Auf dem rosafarbenen Tischtuch vor ihm stand nur ein großes Glas Wasser, nicht einmal ein Salzstreuer oder Servietten waren da. Das ließ den jungen Mann sehr zierlich wirken. Jonathans linkes Augenlid zuckte nervös, als Alexandr neben ihm auf der Bank Platz nahm. Die Männer schwiegen eine Weile. Weißt du, ich habe überlegt, ob ich dich einmal ein Solo singen lasse, fing Alexandr an, um irgendwie das Gespräch zu beginnen, er fühlte sich dazu fast in der Pflicht neben dem schüchternen Burschen, aber da sprudelte es plötzlich aus dem heraus: Ich habe mir den Vormittag in der Firma extra freigenommen, weil – also du weißt ja, dass ich manchmal an kleinen privaten Projekten arbeite … Alexandr zog die Augenbrauen hoch, natürlich hatte er davon Kenntnis, auch wenn es ihn nicht wirklich interessierte, aber diese Alltagsgeschichten waren Zerstreuung – vielleicht nicht so schlecht für einen älteren alleinstehenden Mann, wie er es war. Sich bei gutem Wetter aus dem Fenster lehnend konnte er an manchen Vormittagen mitanhören, was man sich auf der Straße erzählte. Die Leute hier hatten laute Stimmen, die meisten. Jonathan gehörte nicht dazu. Er war im Betrieb der Eltern untergekommen, in dem Geräte für die Landwirtschaft hergestellt wurden. In den Stunden nach der Arbeit war er Künstler oder wäre es zumindest gern gewesen. Er fertigte so eine Art Skulpturen – das war bekannt – und neuerdings hatte er allem Anschein nach die Fotografie für sich entdeckt. Jetzt umfasste Jonathan mit einer Hand das Wasserglas und zog es ein Stück näher zu sich heran, ein paar Perlen stiegen darin auf. Und obwohl er normalerweise ein sehr schweigsamer Zeitgenosse war, erzählte er nun langwierig von seinem neuen Projekt – er gab dem Wort einen sonderlichen Klang, womit er alles ins Lächerliche zog, aber wahrscheinlich wollte er damit nur einem abschätzigen Blick oder einem mitleidigen Lächeln zuvorkommen. Irgendein Fotoprojekt, verstand Alexandr, der durstig war und sich während des Geredes nach dem Wirt umsah, der ihm etwas zu trinken bringen würde. Jonathan wollte alte Fotos sammeln. Bilder, die Personen, Gegenstände, einprägsame Situationen aus dem Leben seiner Freunde zeigten, die jenen also eine bestimmte Erinnerung konservierten. Nichts Gewichtiges, nur Kleinigkeiten, die sie bereit seien, ihm zu schenken, versicherte er. Nur ein paar Bedingungen gebe es – so wolle er sicher sein, dass er selbst die gezeigten Personen, Orte und Gegenstände nicht wiedererkennen würde, und die Bilder sollten ihm anonym übergeben werden. Vielleicht hast du auch ein paar alte Fotos, die du nicht mehr brauchst?, fragte Jonathan schließlich. Er kam endlich auf den Punkt.
Alexandr schaute einstweilen hinaus und verschaffte sich Zeit. Es würde ein dunkler Tag werden, der Nebel hing irgendwo fest. Kein Loskommen. Schweigen. Als er sich umdrehte, sah er Jonathans fragenden Blick auf sich ruhen und versuchte, ihn mit einer Geste abzuwehren. Jonathan sah ihn zweifelnd an, aber dann spielte ein Lächeln um seine Lippen, er nickte ebenfalls, hob das Glas vom Tisch und trank in kräftigen Zügen. Nur ein unbedeutender Rest blieb übrig, als setze sich mit der Zeit in jeder Flüssigkeit etwas ab, das man besser nicht zu sich nahm, als hätte sich da schon etwas eingenistet, das auch fortan klirrend seine Kreise ziehen würde. Wenig später hatten sich die beiden Männer schon ihre Mäntel übergezogen und verabschiedeten sich voneinander. Jonathan schien es plötzlich eilig zu haben. Alexandr nahm die Hände aus den Taschen und spürte die feuchte Luft auf der Haut. Er machte einen langen Spaziergang und wusste doch nichts mit sich anzufangen, fast schon wollte er Lana anrufen, aber allein der Gedanke war derart lächerlich.
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