Geschichten vom Dachboden
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Marc Brasil. Geschichten vom Dachboden
Vorwort
Alfred Schlenker – Ein junges Leben in Breslau
Erste Entscheidungen nach dem Abitur
Die Reise beginnt
Abmarsch an die Front
Abreise mit ungewissem Ziel
Der Heimat ein Stück näher
An die Front
Alfreds Schicksal und das seiner Freunde und Bekannten
Nachwort
Quellenangabe
Impressum
Отрывок из книги
Geschichten vom Dachboden – Mit Spannung nehme ich das Paket entgegen, welches mir der Postbote heute Vormittag, den 14.März 2013, überbringt. Es ist der Feldpostnachlass eines Soldaten des 1.Weltkriegs, welchen ich bei einer Ebay-Auktion erworben habe. Anfang der 80er Jahre wächst mit dreizehn Jahren mein Interesse, mehr über die Geschehnisse rund um den 1.Weltkrieg zu erfahren. Die Erlanger Stadtbücherei liefert mir viel Lesestoff. Bücher über den chronologischen Verlauf des Krieges, die Erzählungen des roten Barons und die Entwicklung von Panzerfahrzeugen gehören genauso dazu, wie die Geschichte der deutschen Kolonien. Über zwei vorhandene Bände zum Kriegsverlauf aus dem Jahr 1923 lerne ich das Lesen der altdeutschen Druckschrift. Durch das Hobby Briefmarkensammeln, halte ich 1982 das erste Mal eine Feldpostkarte eines deutschen Soldaten in der Hand. Auf einem Flohmarkt bietet ein Trödler neben Briefmarken eine Kiste mit diverser Feldpost an. Auf einer Ansichtskarte von 1915 ist ein völlig zerstörtes französischen Dorf zu sehen, auf der Rückseite ein schwarzer Stempel mit der Aufschrift „Deutsche Feldpostexpedition“. Ins Auge fällt ein größerer, runder Stempel in violetter Farbe, auf dem „bayrisches Reserve-Fussartillerie-Bataillion Nr. 6“ zu lesen ist. Gerne würde ich lesen wollen, was der Absender der Karte schreibt, die altdeutsche Schreibschrift ist für mich aber kaum zu entziffern. Ich kaufe mir zwei Feldpostkarten, das Stück für 30 Pfennige, und zeige sie zu Hause meiner Mutter. Sie ist Jahrgang 1930 und hat die altdeutsche Schreibschrift noch in der Schule gelernt. Sie liest mir den Text der ersten Karte vor, in welchem ein Soldat seinen Eltern schreibt, dass hier in Frankreich an der Front alle französischen Dörfer derart zerstört sind wie auf seiner Ansichtskarte. In den nächsten Tagen lasse ich mir von meiner Mutter das Lesen der altdeutschen Schreibschrift beibringen. Sie schreibt mir hierzu das ABC in Groß- und Kleinbuchstaben auf, gibt mir einige selbstgeschriebene Texte und nach kurzer Zeit kann ich nun selbstständig das Geschriebene lesen. In der zweiten Karte berichtet derselbe Soldat, dass er nun im Quartier liegt. Gerne würde ich doch mehr über den Absender erfahren. Wie kam er nach Frankreich und was ist aus ihm geworden? Aber Anfang der 80er Jahre habe ich außer öffentlichen Bibliotheken kaum die Möglichkeit weitere Informationen zu erhalten. Wenn ich zu diesem Zeitpunkt schon hätte ahnen können, welche Recherchemöglichkeiten über das Internet eröffnet werden!
Zurück zu meiner Postsendung 30 Jahre später: Mein Interesse an den Geschehnissen des 1.Weltkriegs ist nach wie vor erhalten geblieben. Nach dem Öffnen des Postpaketes sehe ich auf den ersten Blick viele Feldpostbriefe und –karten, selbst eine Feldbrille und einige Orden liegen dazwischen. Der Karton und sein Inhalt riechen etwas muffig. Nach Entfernung des Staubs sehe ich, dass auch schon die Mäuse an einigen Belegen geknappert haben. Was erwartet mich diesmal vom Dachboden- oder Kellerfund, der 100 Jahre alt ist? Vielleicht die Geschichte eines Mannes und seiner Geschwister, Eltern und Großeltern, vielleicht auch Belege seiner Kameraden, Freunde oder Nachbarn. Meist ist nur die Feldpost erhalten geblieben, welche von der Front an die Lieben in die Heimat geschickt wurde. Die Antwortbriefe sind kaum noch vorhanden, da sie vom Frontsoldaten in der Regel als unnötiger Ballast weggeworfen und selten in die Heimat retour geschickt wurden. Wird das Konvolut fortlaufend den Werdegang des Mannes während des 1.Weltkrieges preisgeben oder sind im Laufe der Jahre bereits Teile entnommen worden oder verloren gegangen? Sind die Briefe und Karten überhaupt leserlich oder haben Feuchtigkeit bei der letzten Lagerung weite Teile zerstört? Und wenn sie lesbar sind, hat der Verfasser darin das Zeitgeschehen interessant erzählt, eventuell für mich ein Bestseller, ein Unikat, ein historisches Lesebuch, welches über Wochen und Monate fesselt? Oder enthalten seine Briefe und Karten nur die oft gelesenen Standardsätze „Wie geht es euch, mir geht es gut“ oder „Habe euer letztes Paket und den Brief erhalten, besten Dank!“? Wer ist der Soldat Alfred Schlenker, dessen Briefe ich gerade in Händen halte? - Es kann diesmal die Geschichte des 16-jährigen Schülers erzählt sein, der es mit Zustimmung des Vaters als Kriegsfreiwilliger 1914 gar nicht erwarten kann, in das „Abenteuer“ Krieg zu ziehen. Es kann aber auch ein 40-jähriger Landsturmmann der Absender der Briefe sein, welcher fest im Beruf stehend mit Unbehagen Frau und Kinder zu Hause zurücklassen muss. Die meisten Rekruten erhalten ihren Einberufungsbescheid zur Infanterie oder Artillerie. Aber auch die Pionier- oder Kavalleriekaserne oder andere Formationen können das unbekannte Ziel des Schreibers sein. Wohin verschlägt es den Soldaten im Laufe des Krieges? Nimmt er an den riesigen Materialschlachten im Westen, an der Flandernfront oder an der Somme teil? Wird er in die Tiefen des Russischen Reiches geschickt oder in die Hitze Mazedoniens? Kämpft er in Tirol Seite an Seite mit Österreichern gegen Italiener oder zieht er gar mit den türkischen Verbündeten an die Palästinafront? Auch die militärische Laufbahn und die damit verbundenen Aufgaben sind mit Spannung zu erwarten. So kann er während des ganzen Krieges im Bekleidungsamt hinter der Front tätig gewesen sein und Gefreiter bleiben, aber auch an allen möglichen Fronten und in verschiedenen Einheiten bis zum Oberleutnant befördert und mit Orden ausgezeichnet werden, dabei mehrere Schlachten schlagen und einige mehrwöchige Kurse und Weiterbildungen absolvieren. Was geschieht mit seinen Angehörigen und Freunden, die in der Heimat den sich ständig verschlechternden Lebensbedingungen trotzen müssen oder vielleicht selbst an der Front stehen? Und vor allem – welches Schicksal erwartet ihn selbst? Ist es ihm gut gesonnen und er überlebt den Krieg unbeschadet oder trifft ihn Verwundung, Gefangenschaft oder gar der „Heldentod“ fürs Vaterland?
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Mit großer Freude erhält Alfred unterdessen die erste Post von Onkel Hermann, der ihm mitteilt, dass er mit seinem Regiment sofort an die Westfront transportiert wurde und im Verbund der 35.Infanterie-Brigade in Belgien einmarschiert ist. In der Zeitung liest Alfred, dass die russische 1.Armee am 17.August in Ostpreußen eingefallen ist. Seine Eltern befürchten, dass die Russen auch nach Schlesien einmarschieren könnten. Alfred und seine Schulkameraden, die noch zu jung für den Heeresdienst sind, versuchen in den Tagen der Mobilmachung sich anderweitig in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen. So helfen sie als Straßenbahnschaffner, Briefträger, auf Bahnhöfen oder unterstützen als Erntehelfer auf dem Land. Die Schüler organisieren eine Spendensammlung für den schlesischen Landsturm, der über 200 Mark einbringt. Ebenso wird die Goldsammlung der Schule eifrig unterstützt, bei welcher Gold im Gesamtwert von 10.000 Mark gespendet und der Reichsbank übergeben wird. Ab 23.August wird der Unterricht der Oberrealschule aufgrund der unhaltbaren Zustände im Schulgebäude in das Hauptgebäude der Technischen Hochschule verlegt, was eine Fortführung des Unterrichts wieder im größeren Rahmen ermöglicht, auch wenn Turnen nur noch am städtischen Spielplatz im Stadtteil Grüneiche und in der Turnhalle der benachbarten Viktoriaschule abgehalten werden kann.
In der Schule beherrschen nun in allen Fächern und an wöchentlichen Treffen Mitteilungen von der Front das tägliche Geschehen. Insbesondere Schulfestlichkeiten, wie der Sedantag am 2.September 1914, werden für patriotische Ansprachen genutzt. Alfreds Klasse begeistert besonders eine Ansprache von Direktor Dr. Fox, in der er eindrucksvoll die Ereignisse um die gewonnene Schlacht bei Tannenberg im Zeitraum vom 26.8. bis 30.8.1914 und den bisherigen Kriegsverlauf erläutert. Mitte September wird an der Schule bekannt, dass Oberlehrer Bestgen, der als Leutnant der Reserve in einem Infanterie-Regiment an der Westfront dient, schwer verwundet wurde. Am 30.September 1914 erliegt er im Lazarett seinen schweren Verletzungen. Zu seinen Ehren hält Alfreds Englischlehrer Suckel in der Aula der Viktoriaschule vor dem Kollegium und den Schülern eine bewegende Trauerrede. Mit zunehmendem Kriegsverlauf werden immer mehr Lehrkräfte zum Heeresdienst eingezogen. So verlässt auch Alfreds Zeichenlehrer Kik die Oberrealschule und die einrückenden Lehrkräfte werden durch junge, angehende Lehrer, sogenannte Probekandidaten, ersetzt. Die zunehmend verlustreichen Schlachten an der West- und Ostfront sind auch bei Alfred und seinen Freunden Gesprächsthema. Am 22.November 1914 fällt als erster ehemaliger Schüler der Oberrealschule der Kriegsfreiwillige Kurt Wolff bei einem Sturmangriff des Landwehr-Infanterie-Regiments 10 in Polen. Direktor Dr. Fox lässt in der Schule einen Brief verlesen, den Kurt Wolff vor seinem Ausmarsch ins Feld aufsetzte und im Falle seines Ablebens von seinem Vater an den Direktor überbracht haben wollte: „Sehr geehrter Herr Direktor! Wenn diese Zeilen in Ihre Hände gelangen, dann weile ich nicht mehr unter den Lebenden. Dann ist es mir vergönnt gewesen, mein junges Leben fürs Vaterland opfern zu dürfen. Ich bitte Sie ergebenst, diejenigen von meinen Büchern, die noch verwendbar sind, der Unterstützungsbücherei zuzuweisen. Vielleicht finden Sie auch Verwendung für beiliegende Sammlung von Farbenphotographien aus unseren Kolonien. Mit besten Grüßen an Sie und meine hochverehrten Lehrer verbleibe ich Ihr Kurt Wolff.“ Der Direktor schließt mit den Worten, dass der Geist aufopfernder Vaterlandsliebe, der den jungen Helden Wolff beseelte, den zukünftigen Schüler ein hohes Vorbild bleiben solle. Als Anfang Februar 1915 das Rekrutendepot des Landwehr-Infanterie-Regiments 10 aus den Gebäuden der Oberrealschule ausquartiert wird, können am 8.Februar 1915 zur Freude des Kollegiums und der Schüler die alten Unterrichtsräume wieder bezogen werden. Am 7.März 1915 fällt ein weiterer ehemaliger Schüler, der Kriegsfreiwillige Hellmut Pollack, der bei einem Gefecht als Gefreiter im Grenadier-Regiment 3 in Galizien tödlich getroffen wird. Oberlehrer Professor Dr. Urbat wird in Russisch-Polen schwer am Hinterkopf verwundet. Ebenfalls wird die Verwundung von Oberlehrer Dr. Hildebrand und Alfreds ehemaligen Deutschlehrer Oberlehrer Biehler bekannt, die beide im Lazarett liegen. Im März geht das turbulente Kriegsschuljahr dem Ende entgegen. Alfreds Mitschüler Gerhard Nobel und Erich Greulich erhalten für ihre guten schulischen Leistungen eine Auszeichnung von Direktor Dr. Fox überreicht. Erich Greulich, der älter ist als Alfred, hat um den Eintritt zum Heeresdienst gebeten. Er wird angenommen und verabschiedet sich im April 1915 von seinen Schulkameraden. Ende des Schuljahres 1915 machen sich erstmals Lieferengpässe bei der Lebensmittelversorgung, insbesondere der städtischen Bevölkerung, bemerkbar. Die im Felde stehenden Truppen benötigen große Mengen an Nachschub, der durch die seit 1914 eintretende englische Seeblockade immer schwerer zu gewährleisten ist. Alfred schreibt eifrig seinem Onkel Hermann. Er schickt ihm neben Briefen einen selbstgebackenen Kuchen und will von ihm mehr von den großen heldenhaften Ereignissen an der Front erfahren, die er den täglichen Kriegsberichten in der Schlesischen Zeitung entnimmt und die seine Lehrer im Unterricht begeisternd erzählen. Ein Bericht über das Regimentsjubiläum des schleswig-holsteinischen Füsilier-Regiments 86, welches am 27.09.1915 im Feld stattfindet und über das die schlesische Zeitung in einem patriotischen Zeitungsartikel schreibt, beeindrucken Alfred besonders. Sein Onkel hat in den zahlreichen Briefen gar nichts von den vielen Liebesgaben, dem Festessen und der Verleihung von Eisernen Kreuzen am Jubiläumstag erwähnt. Alfred schneidet den Artikel aus der Zeitung und schickt ihn mit einem Brief an seinen Onkel ins Feld. Mit Spannung erwartet er die Antwort Onkel Hermanns, welche Ende Oktober 1915 bei ihm eintrifft.
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