Aus der Sicht der Fremden

Aus der Sicht der Fremden
Автор книги: id книги: 1940255     Оценка: 0.0     Голосов: 0     Отзывы, комментарии: 0 1670,22 руб.     (18,33$) Купить и читать книгу Купить бумажную книгу Электронная книга Жанр: Контркультура Правообладатель и/или издательство: Автор Дата добавления в каталог КнигаЛит: ISBN: 9783958408418 Возрастное ограничение: 0+ Оглавление

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Описание книги

Die Autorin beschreibt in eindrucksvoller und lebendiger Weise ihr Leben als Flüchtling aus Schlesien und ihre schicksalhafte Begegnung mit einem die Naturheilkunde praktizierenden Theologen, der als Radiästhet und mentaler Heiler weit über die Grenzen Deutschlands bekannt war. Die Prägung durch diesen universalen Geist hat ihr Leben verändert. Das Buch gibt unter anderem Einblicke in das humanitär dienende Wirken eines außergewöhnlichen Menschen.

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Maria von Hall. Aus der Sicht der Fremden

Impressum

Kapitel 1. Meine Heimatstadt Bielitz, in der meine Eltern, meine drei Geschwister und ich auf die Welt kamen und aus der wir 1944 vor der russischen Armee flüchten mussten, liegt im südlichen Teil Schlesiens, im heutigen Polen. Schlesien gehört zu den Ursprungsländern Polens und ist ein schönes und reiches Land, in dem sich die Deutschen ab dem 13. Jahrhundert angesiedelt haben. Die gutmütige einheimische Bevölkerung hat nichts dagegen gehabt, im Gegenteil, die Fremden wurden friedlich angenommen, und in späteren Jahrhunderten sind auch Juden aus Wien nach Bielitz ausgewandert und haben die Stadt mit ihrer Kultur bereichert. Kraft der ersten Teilung Polens im Jahre 1772 wurde Schlesien dem Kaiserreich Österreich zugeordnet, erst nach dem Ende des ersten Weltkrieges wurde ein Teil Oberschlesiens, darunter auch unsere Stadt Bielitz, wieder dem polnischen Staatsgebiet einverleibt. Das geschah im Rahmen des Friedensvertrages von Versailles. Eine Postkarte mit der Ansicht von Bielitz aus dem Jahre 1912

Nach dem ersten Weltkrieg, in den Jahren von 1918 bis 1939, ist es den Menschen in unserer Stadt allgemein betrachtet gutgegangen. Es herrschten Frieden und Freiheit, die Menschen konnten sich auf den Straßen ohne Angst laut auf Deutsch, Polnisch oder Hebräisch unterhalten. Die gesamte Atmosphäre innerhalb der Stadt war nach wie vor so wie in den Zeiten, als Schlesien noch zu Österreich gehörte. Damals galt die kaiserliche Konstitution Franz-Josefs, die so bis zum Jahre 1939 gelebt wurde. Als Hitler 1939 Polen überfallen ließ, war es mit der Freiheit und dem Frieden vorbei. Plötzlich lag eine ungekannte Anspannung und Furcht in der Luft, die Menschen verstummten und jeder wurde dazu verpflichtet, sich einen Ahnenpass ausstellen zu lassen, der mindestens bis zur dritten Generation zurückreichte! Die verschiedenen Nationalitäten Schlesiens waren seit vielen Jahrhunderten durch Eheschließungen vermischt und die meisten Kinder sind deswegen auch zweisprachig aufgewachsen. Dies führte dazu, dass damals kaum jemand keine polnischen und gleichzeitig deutschen oder jüdischen Vorfahren in seinem Ahnenpass hatte. Als das Land Polen jetzt aber inmitten eines Krieges stand, wurde damit begonnen, die Menschen mit polnischen Nachnamen zu verfolgen. Die Polen wagten sich damals kaum mehr auf die Straße und die jüdischen Einwohner wurden nicht nur verfolgt, sie wurden gleich verhaftet, nach Auschwitz gebracht und in den Gaskammern umgebracht. Dabei lag Auschwitz nur circa 30 Kilometer von Bielitz entfernt *** Mein Großvater Franz O. kam um das Jahr 1900 aus Mähren Österreich nach Bielitz, er ritt eines Tages als Ulan mit seinem Kavallerieregiment in die Stadt ein. Die Ulanen in ihren schönen Uniformen nahmen mit ihren Pferde die ganze Breite der Straße in Anspruch und machten mit ihrem langsamen Tritt einen großen Eindruck auf die Menschen, die auf dem Bürgerstieg stehen geblieben waren. Das war noch in der Zeit, in der es auf den Straßen kaum Verkehr gab, es war ein Spektakel, das nicht jeden Tag vorkam. Während des langsamen Aufmarsches des Regiments fiel meinem künftigen Großvater ein junges Mädchen auf, das mit zahlreichen anderen Zuschauern stehen geblieben war. Auf Grund der großen Sympathie für das Mädchen ist er in Bielitz geblieben, hat ihm einen Besuch abgestattet und um seine Hand angehalten. Sie war die Enkelin eines katholischen Priesters namens Franz Sniegon geboren am. 3. Oktober 1809 in Teschen, der von 1885 bis zu seinem Tod 1894 Weihbischof in Teschen im Bistum Breslau war. Das waren die Eltern meines Vaters Friedrich O. Mein Großvater war zu dieser Zeit von Beruf Gießmeister und fand Arbeit in einer Fabrik, wo Unterlagen und Teile für die Webmaschinen gegossen wurden. Er hat dabei sehr gut verdient und später eine eigene Gießerei in der Paderewski Straße in Bielitz aufgemacht. Meine Großmutter Maria O. geb. am 28. 08. 1878 in Teschen

Mein Großvater Franz O. geb. am 20. 12. 1875 in Mähren, Österreich

Nach einem Unfall in der Gießerei in den Dreißigerjahren wollte mein Vater diese nicht mehr übernehmen. Er hat auf dem Grundstück zusammen mit seinem Vater und meinem Großvater drei Garagen für Autobusse gebaut und ein Busunternehmen gegründet. Bischof Franz Sniegon (1809–1891)

Seine drei Chauffeure und mein Vater selbst trugen aus schwarzem Kammgarn genähte Uniformen mit silbernen Knöpfen, auf der Kopfbedeckung hatten alle Mitarbeiter das Monogramm des Familienunternehmens meines Vaters in Silber. Die Busse fuhren auch nach Auschwitz und weiter nach Krakau, aber vor allem sorgten sie für die Verbindung zwischen Bielitz und den umliegenden Dörfern. Mein Vater mit seinem Chauffeur, Krakau 1938

Mein Vater hatte zwei Busse der Marke Skoda und einen in Polen gefertigten Fiat, was zu dieser Zeit als der letzte Schrei auf dem Automobilmarkt galt. Die Firma war bis zum Überfall der Nazis im Besitz meines Vaters. Meine Familie lebte bis zu unserer Flucht aus Bielitz in der Mackensenstraße 11. In dem Haus lebten Familien dreier Nationalitäten, deren Kinder miteinander spielten und Freundschaften schlossen. Mein Bruder Friedrich, Jahrgang 1934, hat sich als Kind mit einem Jungen angefreundet, der in demselben Haus wie wir wohnte. Das war Alfred Korzeniowski, Jahrgang 1933, und die Freundschaft besteht bis heute. Beide haben sich nach dem zweiten Weltkrieg als Erwachsene in Deutschland wiedergefunden. Alfred Korzeniowski, der in Bornheim bei Bonn lebt, hat vor ein paar Jahren Kontakt zu mir aufgenommen, seitdem sind wir gute Telefonfreunde – obwohl wir uns noch nie gesehen haben. Er gehört zum Kreis der Menschen aus Schlesien und unserer Stadt Bielitz, die im Portal BESKIDIA im Internet Erinnerungen aus der alten Heimat sammeln. In diesem Portal hat Alfred Korzeniowski einen alten Fahrplan von der Firma meines Vaters gefunden, den er meinem Bruder Fritz, der mit seiner Familie in Ingolstadt lebt, zuschickte. Dieser war auf Polnisch gehalten, das bis 1939 die Amtssprache war. Der alte Fahrplan des Unternehmens meines Vaters

Ein Foto aus dem Familienalbum. aus dem Jahre 1938. Das Foto erinnert an einen Sonntagsausflug nach Porombka außerhalb der Stadt Bielitz. Das Bild stammt von meinem Vater Friedrich O. Vor dem Auto der Marke „Steyr-Puch“ stehen meine Mutter Maria O., meine Schwester Toni und mein älterer Bruder Fritz. Zu dieser Zeit war meine Mutter bereits mit meinem Bruder Karl schwanger. Ich kam schließlich als letztes Kind am 01. Januar 1940 zur Welt *** Unsere Heimatstadt Bielitz wurde am 03. September 1939 durch die Nationalsozialisten besetzt. Ab diesem Zeitpunkt hat sich alles in der Stadt von einem Augenblick auf den anderen geändert. Alle hatten plötzlich Angst, unabhängig von ihrer Nationalität oder Herkunft. Mein Vater weigerte sich, in die Hitlerpartei NSDAP einzutreten, woraufhin ihm als Strafe die Konzession für sein Unternehmen entzogen wurde. Zusätzlich erfolgte die Beschlagnahme aller Firmenwerte, obwohl er ein Deutscher war. Mein Vater musste sich mit dem Verlust seines Busunternehmens abfinden, aber er blieb nicht untätig. Er bekam schnell ein neues Einkommen durch ein Engagement in der Fabrik Schwabe. Deren Direktor und Besitzer Herr Schwabe stellte meinen Vater als Konstrukteur ein. Zu dieser Zeit wurden in der Fabrik Elektromotoren produziert. Mein Vater bei Schwabe, Bielitz 1942

*** Hitler war unberechenbar! Ihm hat das eingenommene Land Polen nicht gereicht, er jagte seine Soldaten weiter nach Osten, um Russland zu erobern, und das war sein großer Irrtum, denn er hat die niedrigen Temperaturen Russlands – bis minus 60 Grad in Sibirien – nicht berücksichtigt. Seine Armee ist nicht weiter als bis nach Stalingrad und zum Fluss Wolga gekommen. Die Soldaten waren gegen die Kälte nicht entsprechend ausgerüstet und dadurch unfähig zu kämpfen. Die Kälte lähmte sie und viele sind einfach erfroren. Zu dieser Zeit sind auch viele deutsche Soldaten von der russischen Front nach Bielitz geschickt und mit abgefrorenen Beinen und Händen in die Krankenhäuser der Stadt eingeliefert worden. Die Verluste der Deutschen waren enorm und ab diesem Zeitpunkt gewannen die Russen Oberhand, drängten die deutschen Soldaten unaufhaltsam zurück in den Westen und beendeten den Krieg mit dem Sieg in Berlin. So kam es, dass sich die russische Front im Winter 1943/44 unaufhaltsam unserer Stadt näherte. Damals hatte sich schon längst der polnische Untergrund gegen die Deutschen organisiert. Die Atmosphäre in der Stadt war angespannt und die Furcht war förmlich immer greifbar. Die Menschen verfolgten jeden Tag mit Angst die Nachrichten im Radio und es wurde täglich über die Erfolge der deutschen Armee berichtet, während die Realität an der Front ganz anders aussah. Eines Tages ließ der Fabrikant, Herr Schwabe, meinen Vater zu sich rufen und sagte: „Herr Ingenieur, Sie müssen Bielitz verlassen, der Russe steht schon vor der Tür!“ Mein Vater reagierte erschrocken: „Wieso denn? Ich habe doch niemandem was getan!“ Herr Schwabe blickte ihn ernst an und sagte: „Sie haben aber einen deutschen Namen und vier Kinder zu Hause, Sie müssen weg!“ Mein Vater war ratlos und perplex, während Herr Schwabe schnell weitersprach. „Ich schicke Sie zu meiner Tochterfirma in Bayern, ich bitte Sie aber, meinen verwundeten Sohn aus der Tschechei mitzunehmen. Sie bekommen auch eine Krankenschwester als Begleitperson mit.“ Ich war damals viereinhalb Jahre alt. Noch heute habe ich meine Eltern vor Augen und erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, wie erregt mein Vater an diesem Tag nach Hause kam und in die Küche stürzte. Er nahm meine Mutter in die Arme und sagte von Angst erfüllt: „Mitzi, wir müssen flüchten! Die Russen stehen kurz vor Bielitz! Du musst mit den Kindern sofort weg, leider alleine, am besten zu Hedi nach Graz! Mich schickt Herr Schwabe nach Bayern, denn sein Sohn ist in der Tschechei verwundet worden und ich muss ihn nach Bayern bringen!“ Mit dem Sparbuch in der Hand ging er zu meiner Mutter und sagte: „Vergiss das Sparbuch nicht und nehmt einen Teppich mit, damit ihr unterwegs nicht auf dem nackten Boden schlafen müsst! Und auch Zigaretten!“ Ich stand auf der Schwelle zwischen Küche und Balkon, die Sonne wärmte mir den Rücken und ich war gerade dabei, eine Dampfnudel mit Butter zu essen, die vom Mittag übriggeblieben war, als das Gehörte meine Sinne zutiefst erregte. Dieses Erlebnis grub sich tief in meine Erinnerung ein – so hatte ich meine Eltern schließlich noch nie erlebt! Kurz darauf ging mein Vater weg und meine Mutter machte sich auf den Weg nach Biala, einer kleinen Stadt auf der anderen Seite des Flusses Bialka, in der ihre Kusine wohnte. Meine Mutter wollte ihr Bescheid geben, dass wir Bielitz verlassen würden. Sie nahm meinen Bruder Fritz mit, der damals zehn Jahre alt war. Unterwegs aber ereignete sich etwas, weshalb sie nie in Biala ankommen sollte. Als meine Mutter an der Haltestelle „Stadtberg“ aus der Straßenbahn ausstieg, sah sie eine Frau, die in der wartenden Menschenmenge zusammengesunken war. Sie erkannte sofort, dass diese einen epileptischen Anfall hatte, und der starke, böige Wind entblößte den zuckenden Körper. Mutter eilte zu der krampfenden Frau und forderte andere Passantinnen dazu auf, ihr zu helfen. Gemeinsam schafften sie die kranke Frau in ein nahe gelegenes Treppenhaus und schlossen das Tor hinter sich. Mein Bruder musste draußen warten. Ein Mann in Zivil, der die ganze Szene an der Haltestelle beobachtet hatte, war den Frauen gefolgt. Er kam in das Haus und befahl: „Hören Sie sofort mit der Hilfe auf!“ Meine Mutter regte sich furchtbar auf. „Gehen Sie weg! Sie haben hier jetzt nichts zu suchen!“, schrie sie ihn an. „Aufhören! Das ist eine Polin!“ „Sie ist auch ein Mensch!“, schrie meine Mutter automatisch aufgeregt zurück, aber in diesem Moment erkannte sie, wen sie da vor sich hatte – leider zu spät. Der Mann verlangte nach ihrem Ausweis, notierte sich ihren Namen und ihre Adresse und verließ das Haus. Wie ein Blitz rannte meine Mutter hinaus, nahm meinen Bruder an der Hand und eilte nach Hause zurück. Als sie dort ankam, fing sie sofort an, unsere Sachen zu packen. Sie packte nur das Nötigste für uns Kinder ein und band den dicken Perserteppich zu einer Rolle zusammen. Wir sollten gleich schlafen gehen, denn am nächsten Tag mussten wir sehr früh aufstehen und unsere Wohnung in der Mackensenstraße 11 verlassen. Trotz der frühen Stunde bot sich uns auf dem Bahnhof ein ungewöhnliches Bild, und in dem Augenblick begriffen wir, dass wir nicht die Einzigen waren, die aus der Stadt flüchten wollten. Auf dem Bahnsteig und überall standen viele Menschen und weiter hinten kamen weitere, um den Zug zu erreichen. Dieser war aber schon voll. Die Menschen drängten jedoch weiter hinein und wir wurden förmlich mitgerissen, nur um uns wenig später dicht gedrängt im Inneren des Zuges wiederzufinden. Um mich herum wurde es plötzlich ganz dunkel und mir fehlte die Luft zum Atmen. Ich fing an zu schreien, ich wollte mich aus der Enge befreien, aber es ging nicht. Plötzlich hörte ich die Stimme meiner Mutter: „Vater ist da! Wir müssen raus! Schnell!“ Meine Mutter kämpfte sich den Weg nach draußen frei, meine Geschwister wurden hinuntergezerrt und ich spürte, wie mich starke Hände hochhoben. Ich wurde über die Köpfe der Menschen den nächsten Händen übergeben und durch das Wagonfenster hinaus meinem Vater gereicht. Ich war gerettet! Mein Vater hielt mich fest in seinen Armen und bahnte uns den Weg durch die Menschenmenge, damit wir in den ersten Wagon kommen konnten. Dieser war nicht so sehr überfüllt, aber wir saßen doch zusammengedrängt auf der Bank und versuchten, uns zu beruhigen. Ich saß mit Karl und Fritz der Mutter und Toni gegenüber, rundherum lagen Gepäckstücke, Koffer und Säcke auf dem Boden, zwischen den Beinen der stehenden Menschen. Es war still im Wagon. In der Luft war eine Spannung spürbar. Das Stadttheater in Bielitz, erbaut ab dem Jahre 1889, nach den Plänen von Emil Fürster

Gegenüber dem Theater stand das Schloss der fürstlichen. Familie Sulkowski aus dem 14. Jahrhundert

Wir sind rechtzeitig aus unserer Wohnung und unserer Heimatstadt geflüchtet, und waren zwei Jahre auf der Flucht und in der Fremde gewesen. Als wir 1946 aus Bayern nach Bielitz zurückkamen, erfuhr unsere Mutter von einer Frau, die damals noch unsere Nachbarin im Haus gewesen war, dass nur wenige Stunden, nachdem wir unsere Wohnung verlassen hatten, die Gestapo vor unserer Wohnungstür gestanden hatte! Wenn sie uns in der Wohnung angetroffen hätten, hätten wir unsere Mutter bestimmt verloren oder wir alle wären in Auschwitz gelandet. Der Zug, mit dem wir in letzter Minute aus Bielitz weggefahren waren, hatte erst in der Tschechei angehalten, und zwar in einer großen uns unbekannten Stadt – mitten in einem Luftangriff! Die Alarmsirenen heulten, die Menschen rannten aus dem Zug, den sie verlassen mussten. Die Straßen waren voller Menschen, die mit Handgepäck, Koffern und Rucksäcken beladen waren und eilig in verschiedene Richtungen liefen. Und über den Köpfen der Menschenmasse hörte ich eine sehr laute, schrille Stimme! Sie forderte über das Chaos hinweg Mütter mit Kindern, Kranke und Alte auf, in den zugeteilten Schutzräumen Zuflucht zu suchen. Ich war dermaßen erschrocken, dass ich mich krampfhaft an die Hand meiner Mutter klammerte und sie fragte, woher die Stimme kam, die so laut und erschreckend auf mich wirkte. Die Mutter zeigte mir einen Lautsprecher, der an einem Straßenmast befestigt war, und eilte mit mir weiter. In dieser fremden Stadt erlebte ich das erste Mal das Chaos des Krieges und Panik. An diesem und den folgenden Tagen saßen wir stundenlang in verschiedenen Luftschutzräumen oder Kellern und übernachteten im Sitzen mit unserem Gepäck in der Hand ständig woanders, wobei das Chaos, der Lärm und die Geschosse draußen weitertobten. Einmal übernachteten wir mit vielen fremden Menschen, die erschöpft und zusammengedrängt neben uns lagen, auf dem Boden eines Restaurants. Das Licht brannte die ganze Nacht, die Leute redeten laut und eine kranke Frau schrie, an Schlaf war gar nicht zu denken. Das Herz raste, der Schreck saß tief und schnürte uns die Kehle zu. Dann verbrachten wir jede Nacht in einem anderen Keller, weil die Mutter auf der Suche nach einer Bleibe war, aber immer noch nichts für uns finden konnte. Nach ein paar Tagen wurde es plötzlich still und die Leute trauten sich langsam, aus dem Keller hinauszugehen. Unsere Mutter machte sich auch auf den Weg, in der Hoffnung, dass wir ein eigenes Dach über dem Kopf finden würden. Kaum aber waren wir auf der Straße, fing die Sirene erneut zu heulen an und wir mussten schnellstens wieder untertauchen. Nun saßen wir wieder im Keller eines privaten Hauses und hörten, wie sich die Flugzeuge näherten und wieder davonflogen. Die ganze Zeit über haben wir gebetet, dass wir in dem Keller verschont bleiben und dieser nicht von einer Bombe getroffen wird. Der Lärm der heranfliegenden Flugzeuge war schrecklich laut! Kaum war es still, wollten wir wieder heraus, und kaum dass wir den Keller verlassen hatten, heulte schon wieder die schrille Alarmsirene auf, die ich kaum noch ertragen konnte. Eine furchtbare Angst schnürte mir die Kehle erneut zu. Die erste Begegnung mit dem Chaos des Krieges und die unerträgliche Angst, die ich in der fremdem Stadt erlebte, waren für mich wie der Weltuntergang. Irgendwann sind wir dann doch aus der Hölle entkommen und bei Tante Hedi, in Graz, der Schwester meines Vaters, gelandet. Bei ihr konnten wir jedoch auch nicht bleiben und so zogen wir mit vielen anderen Flüchtlingen im Kriegsgewirr weiter, während die Russen schon auf dem Weg nach Berlin waren. Wir Flüchtlinge wurden in kurzen Abständen auf Lastwagen von Dorf zu Dorf immer weiter nach Westen evakuiert. Die örtlichen Schulen waren vorlaufiges Zuhause. In einer Unterkunft angekommen, bemühte sich unsere Mutter, eine Ecke des Klassenraumes für uns zu bekommen und breitete dort unseren Teppich aus, das einzige Stück Heimat, das uns geblieben war. Die Ecke auf dem Boden bot für eine kurze Zeit Schutz, bis zur nächsten Evakuierung. Nachts rückten wir in unseren Kleidern dicht zusammen und mussten uns mit den vielen fremden Menschen in dem großen Raum abfinden. Meistens wurden wir in den Schulen auch versorgt. Nach jeder Ankunft in einem neuen Ort folgte ich gleich dem Geruch des Essens, der in der Luft hing. Die provisorische Küche fand ich meistens im Keller, in dem schon eine lange Schlange Menschen stand. Dort teilte man uns aus einem großen Kessel eine heiße Suppe aus. Jeder musste ein eigenes Geschirr mitbringen. Ich erinnere mich auch an die herrlichen Semmelknödel, die es einmal gab. An einem verschneiten und ruhigen Sonntag, es muss schon in Bayern und im Winter 1944/45 gewesen sein, stand ich vor einem kleinem Haus gegenüber der Schule, in der wir gerade untergebracht waren, und beobachtete die Gegend. Vor der Dorfkirche spielten die Jugendlichen mit Schneebällen, die Buben und Mädchen bewarfen sich gegenseitig, lachten und hatten dabei viel Spaß. Die Kirchenglocke läutete die nächste Messe. Dann sah ich einen Mann, der aus dem kleinen Haus kam und etwas am Zaun machte. Als er mich erblickte, kam er langsam auf mich zu und fragte mich, warum ich vor seinem Haus stehe. Ich zierte mich, fragte ihn dann jedoch ganz verlegen, ob er Hühner auf seinem Hof hat. Als er bejahte, bot ich ihm an, für jedes Ei eine Zigarette zu bringen. Nachdenklich schaute mich der Mann an und verlangte dann nach meiner blauen Zipfelmütze. Zögerlich gab ich ihm diese und er bat mich, an Ort und Stelle zu warten. Er entfernte sich schweigend und verschwand hinter dem Haus. Die Kälte war erträglich und ich wartete geduldig. Als er dann zurückkam, reichte er mir die mit Eiern gefüllte Zipfelmütze. Während unserer ganzen Flucht nach Bayern hatten wir keine Eier gegessen, und voller Stolz brachte ich sie jetzt zu meiner Mutter. Sie war sehr überrascht, als ich sie ihr reichte, und ich sagte schnell, dass sie mir die Zigaretten für den Mann geben sollte, der so großzügig gewesen war. Die Mutter zählte die Eier und gab mir zehn Zigaretten. Ich eilte zu dem Mann zurück, um die Eier zu bezahlen. Ich hatte die Worte meines Vaters bei unserem Abschied in Bielitz nicht vergessen, nämlich dass Zigaretten im Krieg ein gutes Zahlungsmittel sind. Eines Tages stand erneut ein Lastwagen vor unserer Unterkunft und wir wurden weiter nach Westen verlegt. Unsere Mutter hatte es während dieser Kriegszeit mit uns vier Kindern und dreizehn Gepäckstücken auf der Flucht sehr schwer. Sie hat uns und das Gepäck oft nachgezählt, und trotzdem beklagte sie sich nie, immer strahlte sie eine Ruhe aus, die uns ein Sicherheitsgefühl gab. Was unsere Eltern während des Krieges alles erlebten und mitmachen mussten, wurde uns Kindern erst Jahre später wirklich klar. Die schrillende Sirene, die heulenden Flieger, Geschosse und Granatenexplosionen, die dunklen, überfüllten und stinkenden Luftschutzräume – das waren unsere täglichen Begleiter. Diese Erinnerungen sind es, die wir nie vergessen haben. Diese Erlebnisse haben unser ganzes Leben geprägt und beeinflusst. Wir waren zu früh gereifte Kinder. Überall, wo wir in dem Kriegsgewirr auf dem Weg nach Westen untergebracht waren, mussten wir auf dem Boden schlafen. Unser Teppich von zu Hause, der schön dick war und uns nachts Wärme spendete, war für uns in dieser Zeit eine echte Wohltat. Dank des Teppichs, den die 13-jährige Toni und der 10-jährige Fritz tragen mussten, sind wir alle trotz der Mangelernährung nie krank geworden. Meine Eltern haben sich während der Kriegszeit nie aus den Augen verloren. Der Kontaktpunkt war Tante Hedi. Ich erinnere mich, wie unsere Mutter nach jeder Evakuierung eine Postkarte an sie geschrieben hat. Mein Vater, der sich auch ständig woanders aufhalten musste, hat seiner Schwester ebenfalls seine Adresse mitgeteilt. Meine Tante hat dann sofort dem anderen die aktuelle Adresse per Postkarte mitgeteilt und dank ihrer Unterstützung konnte uns unser Vater immer finden. Bewundernswert war die Post in diesen unruhigen Zeiten. Es ist nie eine Postkarte verloren gegangen und jeder wusste, wo sich der andere befand. Das deutsche Geld auf dem Sparbuch war im Krieg noch gültig, aber unsere Mutter konnte unterwegs nicht immer Brot kaufen. Wir haben aber nie nach Essen verlangt. Die stete Angst, die uns jeden Tag begleitete, hat uns die Kehle zusammengeschnürt *** Kurz vor Kriegsende in Bayern angekommen, waren wir einmal stundenlang mit einem Zug unterwegs. Vater saß mit uns in dem überfüllten Abteil. Es war still im Wagon. Es war ein herrlicher Sommertag, die Sonne schien durch das Fenster des Wagons direkt auf mich, meine beiden Brüder schliefen wie immer wieder fest auf ihren Rucksäcken und der Zug fuhr durch eine schöne, ländliche Landschaft, die mich froh stimmte. Das monotone Klappern des Zuges auf den Schienen wollte mich gerade in den Schlaf wiegen, als der Zug plötzlich mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam. In unserem Wagon brach Panik aus. Die Leute griffen schnell nach ihrem Handgepäck und ihren Koffern und rannten aus dem Zug. Meine Brüder wurden von den Eltern aus dem Schlaf gerissen, wir eilten auch aus dem Zug und folgten den Menschen Richtung Wald, der am Horizont zu sehen war. Da hörten wir schon das tiefe Brummen der Propellermaschinen und kurz darauf das Heulen von Maschinen im Sturzflug, die immer näher kamen. Wir rannten um unser Leben! Am Waldrand angekommen, ließen wir uns erschöpft und atemlos nieder und schauten zurück. Das Heulen der Flieger und das laute Stakkato der Maschinenkanonen hatte aufgehört, aber uns bot sich ein schreckliches Bild! Der Zug, in dem wir gerade noch gesessen hatten, stand in Flammen, die hoch in den Himmel loderten! Die Wagons waren durchschossen und brannten lichterloh. In diesem Moment wurde uns bewusst, wie knapp wir dem Tod entkommen waren! Unser Leben hatten wir der Aufmerksamkeit der Zugbesatzung zu verdanken. Der Lokführer hatte die schwarzen Punkte am Himmel richtig gedeutet und rechtzeitig den Zug angehalten, sonst hätten wir alle unser Leben verloren. Wir waren wie durch ein Wunder gerettet, keiner war verletzt, geschweige denn getötet worden. Der Wald um uns herum war voller Menschen. Bald bildete sich eine Kolonne und die Leute marschierten gemeinsam los. Wir schlossen uns an. Der Marsch durch den Wald hielt erst an, als wir eine asphaltierte Straße erreicht hatten. Hier wurde beraten, wohin und in welche Richtung es weitergehen sollte. Hinter uns lag der Wald und vor uns rechts und links zogen sich Getreidefelder die Straße entlang. Niemand wusste, wo wir uns genau befanden, geschweige denn, wohin die Straße führte. Die Menschen aus dem Zug hielten zusammen, sie bildeten erneut eine Kolonne und es ging nach links. Wir waren stundenlang zu Fuß unterwegs, es waren nur noch die Felder und Wiesen rechts und links zu sehen. Als am Abend schließlich die Sonne unterging, fing es an zu nieseln, und ging in einen starken Regen über. Wir marschierten trotzdem die ganze Nacht weiter, wir hatten keine andere Alternative. Die Kolonne bewegte sich schweigend, resigniert und schleppend durch die dunkle Nacht. Jeder war durchnässt und sehnte sich nach einem warmen Bett. Mein Vater trug mich und meinen Bruder Karl abwechselnd auf seinen Schultern, dazu noch einen Rucksack und einen Koffer. Ich sah trotz der Dunkelheit, dass an beiden Seiten der Straße in regelmäßigen Abständen schmale, aber sehr hohe Bäume wuchsen. Die gaben uns aber keinen Schutz. Es war eine harte Nacht, die wir nie vergessen haben. Die gesamte Menschenkolonne schob sich schweigend und leise voran, ohne jegliche Hoffnung, bald auf eine Siedlung zu treffen. Es war noch ganz dunkel, als eine Frau meinem Vater plötzlich ein Fahrrad in die Hand drückte und gleich darauf verschwand. Dies passierte so schnell und überraschend, dass weder mein Vater noch meine Mutter wussten, woher die Frau gekommen und wohin sie verschwunden war. An diese Nacht und die plötzliche Rettung in der Not erinnerte sich unser Vater noch viele Jahre später, als wir schon wieder in Schlesien lebten. Wir saßen alle zusammen beim Abendbrot, als unser Vater, der nachdenklich war und geschwiegen hatte, plötzlich leise sagte: „Es war Rettung in letzter Minute. Ich war schon so schwach, dass ich keine Kraft zum Weitergehen hatte, dann kam die Frau mit dem Fahrrad. Das war die Hilfe, um die ich Gott die ganze Nacht gebeten hatte. Er hat mich erhört.“ Wir wussten sofort, von welcher Nacht er sprach, aber keiner von uns sagte darauf ein Wort. Wir alle waren wieder mitten im Geschehen dieser Nacht und schwiegen. Wie es schien, waren die Kriegserinnerungen auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen. Unser Vater war nach dem sechsjährigen Krieg erst dreiundvierzig Jahre alt. Als die schwere Nacht schließlich vorüber war und die Menschenkolonne in den Morgenstunden in einem Dorf ankam, breitete sich Erleichterung unter den erschöpften Menschen aus. Leider durften nicht alle bleiben. Der Bürgermeister ließ nur einige Familien mit Kindern im Ort, eben so viele, wie er auf die umliegenden Bauernhöfe verteilen konnte. Der Rest musste wieder aufbrechen. Wir durften bleiben und bekamen ein sehr kleines Zimmerchen bei einem Bauern namens Ziesel zugewiesen, der uns Flüchtlingen nicht wohlgesonnen war. Wir waren dermaßen erschöpft, dass wir den ganzen Tag und die folgende Nacht ohne etwas zu essen durchgeschlafen haben. Am nächsten Morgen wollte mich meine Mutter nach draußen an die frische Luft schicken, doch ich wollte nicht gehen. Ich fürchtete mich vor dem Bauern. Meine Mutter nahm mich aber an der Hand und führte mich durch den langen, dunklen Flur hinaus. Ich blieb vor lauter Angst vor dem Haus stehen. Ich spürte den bösen Mann hinter der Tür, an der wir eben vorbeigegangen waren, und schaute ängstlich meiner Mutter nach, die zurückging und die Tür hinter sich schloss. In diesem Moment kam der Bauer mit einem Beil in der Hand aus der Küche heraus und ging wütend auf mich los. Der Schreck verlieh mir Flügel und ich rannte um das Haus herum. Meine Mutter stand am offenen Fenster, als hätte sie es geahnt, und hob mich schnell nach oben und ins Innere. Da stand der große Mann auch schon schwer atmend vor dem Fenster und blaffte meine Mutter an: „Ihr! Dahergelaufene Polen!“ Meine Mutter schrie wütend zurück: „Und Sie sind für mich der Teufel!“ Bis dahin hatte ich meine Mutter noch nie so aus der Haut fahren sehen. Mein Herz pochte wie verrückt, ebenso wie ihres. Der Bauer verschwand, weil er begriffen hatte, dass wir keine Polen waren, und ließ uns dann in Ruhe. Seine Frau, die nie gekämmt war, lud meine Mutter sogar einmal zum Essen zu sich in die Küche ein. Es gab damals Knödel aus gekochten Kartoffeln, die sogenannten „Fingerchen“, die sie nicht in Wasser gekocht, sondern in Schweinfett gebräunt hatte. Ich durfte mitessen. Das war für mich etwas Herrliches und es schmeckte hervorragend. Später erfuhr ich, dass man das Gericht Schupfnudeln nennt. Und noch eine Episode aus der Zeit bei dem Bauern ist mir in Erinnerung geblieben. Der Bauer hatte einen Sohn in meinem Alter. Er hatte krumme Beinchen und ein großes Bäuchlein. Meine Mutter erklärte mir, dass der kleine Luis die englische Krankheit hat. Der Bub, der kleiner als ich war, rannte einmal unerwartet auf mich zu und biss mich in meinen Bauch. Ich schrie und die blauen Spuren seiner Zähne konnte ich lange Zeit sehen. Es waren dunkle Blutergüsse *** In diesem Dorf, an dessen Name ich mich nicht mehr erinnere, erlebten wir schließlich auch das Ende des Krieges. Mein Vater hatte zu dieser Zeit alle Hände voll zu tun. Er reparierte im Dorf und in der Umgebung Feldmaschinen, Traktoren und sogar Uhren. Dafür entlohnte man ihn mit Lebensmitteln. Am 09. Mai 1945, nach der Friedensproklamation, fuhr der Bürgermeister unseres Dorfes mit dem Auto und einer weißen Fahne an die Dorfgrenze und übergab das Dorf den Amerikanern. Damit hat er vernünftigerweise ein unnötiges Blutvergießen vermieden, und nach der Übergabe kamen die Amerikaner ins Dorf. Ihre riesigen, schweren Panzer schoben sich sehr langsam vor unsere Augen. Wir Kinder standen vor dem Haus und schauten erstaunt und mit großer Neugier zu. Die Panzer waren so breit, dass sie die ganze Straße in Anspruch nahmen. Die Soldaten waren nicht zu sehen, sondern nur ihre Schuhe – wahrscheinlich steckten sie die schmerzenden Beine in die Klappe oben. Sie haben uns aber gesehen und warfen uns Kaugummi zu. Das war etwas, was wir auch noch nicht kannten. Am 01. Juni 1945 haben die Amerikaner ein Fest für alle Dorfkinder veranstaltet. Sie bauten auf dem Flugplatz am Rande des Dorfes viele Zelte auf und in jedem gab es etwas für die Kinder. Es wurden Orangen, Schokolade, Kekse und Kaugummi verteilt und die Mutter bezahlte die Präsente mit einer Bonuskarte, die sie vom Bürgermeister für jedes Kind bekommen hatte. Die Überraschung und Freude der Kinder war groß und die Stimmung auf dem überfüllten Flugplatz war heiter, die Menschen haben gejubelt und sich gefreut, dass der Krieg endlich vorbei war, und die Jugendlichen durften noch eine zusätzliche Attraktion erleben. Die amerikanischen Soldaten, unter denen auch Farbige waren, haben die Buben in ihren Jeeps um den Flugplatz herum gefahren, dabei gesungen und Spaß gemacht. Ich staunte sehr, als ich erfahren habe, dass es auch Menschen gibt, die eine dunkle Hautfarbe haben. Es war für mich ein einmaliges Erlebnis, die Farbigen zum ersten Mal zu sehen, und auf meine Frage, wer sie sind, hörte ich, dass es Neger seien. Heute bezeichnet man sie als Afroamerikaner. Nach der Friedensproklamation fand unser Vater gleich eine Beschäftigung bei der Firma Stehle in Memmingen. Wir wohnten vorerst direkt bei der Fabrik in einer Baracke, in der während des Krieges die Zwangsarbeiter untergebracht waren. Nach einiger Zeit wurde uns eine große Wohnung in einem Zweifamilienhaus zugeteilt. Diese war voll möbliert und sah so aus, als hätten die Leute, die hier gewohnt hatten, das Haus gestern erst verlassen – vielleicht waren sie Juden gewesen. Eines Tages, meine Geschwister waren schon in der Schule und Vater in der Arbeit, ist eine Frau zu uns nach Hause gekommen. Sie war eine Beamtin aus dem Rathaus und hat ein großes Buch mit Bildern von Häusern mitgebracht, das sie auf den Küchentisch legte. Die Frau machte meinen Eltern ein Angebot. Sie konnten ein Haus aus dem Buch aussuchen, der Staat würde dieses bauen und die Eltern würden es dann mit der Miete abzahlen können. Ich hörte neugierig zu. Meine Eltern waren über das Angebot verblüfft. Mein Vater meinte am Abend: „So früh nach dem Krieg? Ist das überhaupt schon möglich?“ Anscheinend war es möglich, sonst hätten meine Eltern das Angebot nicht bekommen *** Mein Vater war ein Familienmensch. Er dachte ständig an seine Eltern, die in Bielitz geblieben waren, und als er in Bayern einen Bielitzer traf, der unsere Familie gut kannte, lud er ihn nach Hause ein. Er durfte sogar bei uns übernachten. Von diesem Mann haben meine Eltern viel erfahren. Er erzählte, was sich nach unserer Flucht alles in unserer Heimatstadt zugetragen hatte. Die Russen haben sich wie ein wildes Volk aufgeführt! Sie waren ständig betrunken und klauten alles, was sie mitnehmen konnten. Erst haben sie alle Häuser in der Stadt durchsucht und alle Deutschen, die sich in den Kellern und Dachböden versteckt hatten, auf die Straße gejagt. Dort war schon eine Menschenkolonne, der sie sich anschließen mussten und die unter Bewachung Richtung Bahnhof gelenkt wurde. Dort wurden sie in die Viehwagons gedrängt und nach Sibirien abtransportiert. Die dicht zusammengedrängten Menschen waren in Dunkelheit, ohne Wasser und Essen tagelang unterwegs. Die Schwachen, die die Fahrt ohne Wasser und Essen nicht überlebten, sind bei der Öffnung des Wagons tot herausgefallen. In einem Keller hatte sich unter den erwachsenen Männern auch ein 15-jähriger Junge versteckt. Er wurde auch mitgenommen. Er hat die Fahrt nach Sibirien und die niedrigen Temperaturen dort überlebt. Nach vier Jahren Gefangenschaft ist er zu seiner Mutter in Bielitz zurückgekommen. Sein Vater war nicht mehr da, er war von den Russen erschossen worden. Der junge Mann war mein zukünftiger Schwager, Tonis Mann. Die Russen haben nicht nur die Dachböden und Keller durchsucht, sondern auch die Gärten und die Gartenhäuschen. Sie haben die Mädchen, die dort versteckt wurden, gefunden und vergewaltigt, sogar eines, das sich in einer Tonne versteckt hatte, und dieses haben sie beinahe umgebracht. Die Russen waren betrunken mit den Gewehrkolben und mit Gebrüll in jede Wohnung eingedrungen! Mein Großvater hatte sich dabei so erschrocken, dass er am ganzen Körper zu zittern begann. Er hat bis zu seinem Tod nicht zu zittern aufgehört. Die russischen Soldaten haben alle Betagten aus der Stadt, auch meine Großeltern, in das Hotel „Präsident“ in Bielitz gebracht und in den Keller gesperrt. Sie haben wenig Wasser und kaum etwas zu essen bekommen und mussten auf dem nackten Betonboden schlafen. Sechs Monate lang hat meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, den zitternden Kopf ihres Mannes auf ihrem Schoß gehalten. Mein Großvater hat das Kriegsende nicht erlebt. Nachdem der Krieg vorbei war, hat man die Menschen aus dem Keller freigelassen. Meine Großmutter hat Opa auf dem Friedhof gesucht, aber nicht gefunden. Er war mit anderen Verstorbenen dieser Zeit in einem gemeinsamen, namenlosen Grab beerdigt worden. Die schrecklichen Nachrichten aus der Heimat haben meine Eltern erschüttert. Vater machte sich jetzt große Sorgen um seine Mutter, und meine Mutter sich um ihren Vater. Sie haben angefangen zu überlegen, ob sie in die Heimat zurückkehren sollten oder nicht. Das Schicksal der beiden Elternteile hatte meinen Eltern ab diesem Zeitpunkt keine Ruhe mehr gelassen und sie sprachen jeden Tag darüber. Nach reiflicher Überlegung entschlossen sie sich dazu, zurück nach Schlesien zu gehen, obwohl mein Vater schon eine gute Arbeit und auch ein Haus in Aussicht hatte. Wir sind dann im Frühjahr mit einem großen Transport von Flüchtlingen in einem mit Stroh ausgelegten Güterzug nach Schlesien gefahren und in der Stadt Czechowice-Dziedzice angekommen. Der ganze Transport wurde unterwegs von einer amerikanischen Eskorte überwacht und alle Flüchtlinge wurden für den langen Weg mit UNRA-Paketen versorgt. Wir waren stundenlang mit dem Güterzug unterwegs und er hat selten angehalten. Während jedes Halts konnten die Menschen frische Luft schnappen und ihre Bedürfnisse erledigen. Nach einem Halt im Wald und Weiterfahrt des Zuges merkte eine junge Mutter in unserem Wagon, dass ihr Kind fehlte! Man sah sich im Wagon um, ob es sich versteckt hatte, aber es war nicht da. Es gab keine telefonische Verbindung mit dem Lokführer und man konnte niemanden benachrichtigen, somit ist das Kind auf der Strecke geblieben! Das Mädchen war in meinem Alter *** In der Heimat angekommen, merkte ich sofort, dass plötzlich alles anders als in Bayern war. Schon mit dem Wetter fing es an. Es war kalt, es hat geregnet und gleichzeitig geschneit, während wir in Bayern schon viele sonnige Tage erlebt hatten und der Frühling in der Luft gelegen hatte. Die nächste Enttäuschung war die Tatsache, dass es in unserer Heimatstadt schwer war, Lebensmittel zu bekommen, und das stimmte uns nicht gerade froh. Zum Mittagessen haben wir ständig das Gleiche bekommen, entweder waren es Karotten mit Kartoffeln oder Kartoffeln mit Sauerkraut, und fast bis 1950 hat sich kaum etwas daran geändert. Pflanzenöl zum Beispiel war eine Rarität. Erst als unsere Mutter 1950 in der nahe gelegenen Raffinerie eine Stelle in der Buchhaltung und zusätzlich zu ihrem Lohn einen Liter Sonnenblumenöl bekam, wurde das Essen schmackhafter. In Bayern dagegen hatte meine Mutter unmittelbar nach dem Krieg schon eine volle Einkauftasche mit Gemüse nach Hause gebracht, sogar Orangen hatte sie irgendwo bekommen. Einmal lief ich ihr entgegen, als ich sie vom Einkaufen zurückkommen sah, da zeigte sie mir eine volle Tasche mit Rosenkohl. Ich kannte das Gemüse damals nicht und staunte, dass das Kraut so kleine Köpfe hatte. Sie sagte mir, sie hätte es bei den Zwergen gekauft, deswegen hätte es diese Größe. Ich war so irritiert, dass die Mutter dann lachend zugab, dass das ein Witz war. Der einzige Trost für uns Kinder war damals die Tatsache, dass wir eine Wohnung in demselben Haus bekommen haben, aus dem wir 1944 vor der russischen Front geflüchtet sind. Das während der Flucht Erlebte, die Bilder aus dem Krieg haben wir lange im Gedächtnis getragen und nicht vergessen können. Meine älteste Schwester Toni war nach unserer Rückkehr in die Heimat erst fünfzehn Jahre alt, aber was sie gesehen hatte, hat sie noch mit einundzwanzig Jahren nicht vergessen und manchmal auch gezeichnet

Meine Schwester Toni war sehr ehrgeizig, sie hat mit dreizehn Jahren die englische Sprache schon verstanden. So konnte sie dem Bauern, bei dem wir damals in Bayern das kleine Zimmer gehabt hatten, bei der Forderung der Amerikaner nach Wein und Eiern behilflich sein. Diese waren nach der Ankunft im Dorf von einem Bauern zum anderen gegangen und hatten diese Produkte verlangt. Sie kamen mit einem Gewehr an der Brust, um den Leuten Angst zu machen, aber der Bauer verstand sie nicht. Später sind sie dann alleine in den Stall gegangen und haben die Eier roh getrunken. Nach unserer Rückkehr nach Bielitz wollte meine Schwester unbedingt, dass ich Englisch lerne. Sie hatte mit siebzehn Jahren schon im Büro des Vaters als Zeichnerin gearbeitet. Jede Woche drückte sie mir fünf Zloty in die Hand und ich musste die Englischlehrerin in der Stadt aufsuchen. Ich bin aber nicht sprachbegabt, für mich war Englisch wie ein Gesang. Der Traum meiner Schwester war, dass wir uns auf Englisch unterhalten können, wenn wir erwachsen sind. Im Jahre 1948 bot man auf dem Schloss in Bielitz einen Malkurs an und meine Schwester meldete sich dafür an. Sie wollte unbedingt daran teilnehmen. Der Professor, ein älterer Herr, kam aus Krakau und war Jude. Beim ersten Zusammenkommen der Teilnehmer wollte er die Interessierten erstmal testen. Er stellte verschiedene Gegenstände auf das Pult und jeder konnte sich einen aussuchen, den er malen würde. Da ein freies Thema auch erlaubt war, zeichnete meine Schwester ein schlafendes Kind. Sie zeichnete nur den Kopf mit lockigem Haar und die Hände. Als der Professor hinter Toni stand und das Kind betrachtete, sagte er leise, aber voller Wut: „Das Kind hat germanische Gesichtszüge!“ Die arme Toni war so tief getroffen, dass sie aufstand und schweigend den Saal verließ. Sie ist nie wieder zu dem Malkurs gegangen. Tonis Zeichnung

Meine Schwester Toni im Alter von 60 Jahren, München 1991

Die Flüchtlinge. Ein Werk von Toni,das sie im Alter von 65 Jahren angefertigt hat

*** Was unsere Gesundheit betraf, war der Krieg an uns Kindern doch nicht spurlos vorübergegangen. Ich habe nach dem Kriegsende am ganzen Körper große, braune Geschwüre bekommen, sogar hinter den Ohren. Gleich nach der Friedensproklamation ist meine Mutter mit mir nach München gefahren, um Hilfe zu suchen, obwohl sie noch nie in dieser Stadt gewesen war. Dort wurden wir von dem kaputten Tor des Bahnhofs empfangen und unser Zug konnte auf dem einzigen intakten Gleis einfahren. Alle anderen Gleise waren beschädigt, sie waren nach oben gekrümmt, was mich in Staunen versetzte, und jede Wand, jedes Gebäude wies Einschussspuren auf. Das Gesamtbild war für uns umso erschreckender, weil wir bis dahin die Folgen des Krieges, des Kampfes, in einer großen Stadt noch nie aus der Nähe gesehen hatten. Es war in meinem Alter von fünf Jahren überhaupt das erste Mal, dass ich so eine große Stadt sah. Alles kam mir unwahrscheinlich groß vor. Das breite Trottoir, auf dem kein Mensch zu sehen war, die breite und unendlich lange Straße, auf der kein Fahrzeug fuhr! Überall sah man nur Leere und in der Ferne die zahlreichen hohen und beschädigten Häuser. Der Bürgersteig an der breiten Doppelstraße schien kein Ende zu haben, aber meine Mutter, die mich an der Hand festhielt, ging einfach entschlossen weiter, bis wir bei einem großen Gebäude angekommen waren. Dieses war auch leer. Keinen Menschen haben wir darin gesehen. Wir haben viele Stockwerke mit langen Korridoren abgesucht, bis wir endlich eine Person angetroffen haben. Es war eine Krankenschwester in Zivil, die gerade von der anderen Seite des Flures hereingekommen war. Nachdem sie erfahren hatte, warum wir da waren, führte sie uns in ein kleines Zimmer, machte einen weißen, schmalen Schrank aus Glas auf und holte ein kleines Fläschchen mit einer grünen Flüssigkeit heraus. Mit dieser hat sie alle meine Geschwüre eingepinselt. Als wir das Krankenhaus verlassen hatten, stand wieder der lange Rückweg durch die Stadt bevor. Wir sind erschöpft am Bahnhof angekommen und mussten wieder lange warten, bis wir mit einem Zug nach Hause fahren konnten. Die einfache Behandlung wirkte nach einer kurzen Zeit, die Geschwüre sind verheilt und es sind nicht mal Narben zurückgeblieben *** Kurz vor Kriegsende, das war noch zu unserer Zeit in Bayern, sind meine beiden Brüder, damals sechs und elf Jahre alt, mit dem 16-jährigen Sohn eines Bauern mit einem Leiterwagen und einem Pferd hinaus auf eine Wiese gefahren. Plötzlich hörten sie das Brummen von Motoren am Himmel, dicht gefolgt vom mechanischen Geräusch des Maschinengewehrfeuer. Vom Boden her donnerten auch plötzlich Geschütze und leuchtende Geschosse zischten in den Himmel, den Fliegern entgegen. In diesem Geschosshagel und Lärm standen die drei Buben völlig schutzlos, mitten auf der Wiese! Mein jüngerer Bruder Karl erlitt in diesem Augenblick einen Schock. Er fing an, sich wie in Trance um die eigene Achse zu drehen und lief plötzlich schreiend los. Dabei fiel er in einen nahe gelegenen Bewässerungsgraben. Er wurde mit großer Mühe von den beiden anderen Buben aus dem Graben gerettet. Ganz in der Nähe, am Rande der Wiese, war ein Schützengraben ausgehoben und mit Sandsäcken und Tarnnetzen befestigt worden. Von dort kamen der Geschützdonner und die leuchtenden Geschosse, die himmelwärts jagten. Die Soldaten in der Stellung entdeckten die drei Buben und winkten ihnen zu, damit sie nicht auf dem offenen Feld stehenblieben. Die drei Jungen in ihrer Angst und Panik nahmen jedoch nichts weiter wahr als den Lärm und die Gefahr um sich herum. Letztendlich entdeckte einer von ihnen die winkenden Soldaten und sie liefen auf die Gräben zu. Dank der Hilfe der Soldaten überlebten alle den Angriff. Das erlebte Trauma löste bei meinem jüngsten Bruder Herzbeschwerden aus. Er musste sein ganzes Leben lang Herzmedikamente einnehmen. Nachdem wir nach dem Krieg wieder in Bielitz angekommen waren, wurde er eines Morgens bewusstlos. Er kam in die Küche und kippte plötzlich um. Karl und ich haben jahrelang jede Nacht im Schlaf geschrien. Ich erinnere mich, wie mein Bruder noch mit 16 Jahren so unruhig geschlafen hat, dass er jede Nacht aus dem Bett fiel. Ich musste in der Früh durch sein Zimmer gehen und fand ihn meist auf dem Boden schlafend. Was mich persönlich betrifft, so wachte ich bis in meine Dreißigerjahre hinein nachts oft noch mit Geschrei auf. Mein Bruder Karl im Alter von 16 Jahren, Swiebodzin 1955

Kurz nach unserer Rückkehr nach Bielitz erkrankte mein älterer Bruder schwer. Meine Eltern ließen sofort einen Arzt namens Dulawa rufen, der in der Stadt schon vor dem Krieg sehr bekannt und hochgeschätzt war. Er war immer zu meinen erkrankten Geschwistern gerufen worden. Der Arzt war Jude und hatte glücklicherweise den Krieg überlebt. Trotz seiner direkten Art mit Menschen umzugehen, war er in der Stadt beliebt. Doktor Dulawa konnte auch diesmal meinem Bruder helfen und nach der Heilung war es ihm sogar gelungen, ihn durch seine alten Verbindungen in einem Sanatorium unterzubringen. Dort ging seine Genesung schnell voran und mein Bruder schoss förmlich in die Höhe. Jetzt nach dem Krieg haben meine Eltern den Arzt oft eingeladen, um über das Erlebte im Krieg zu sprechen. Während eines Besuches beklagte sich meine Mutter, dass wir im Krieg alles verloren haben. Damit meinte sie die Firma meines Vaters und unseren ganzen Besitz … Der Arzt erwiderte sichtlich mit sich ringend; – Was sagst du da …? – Alles verloren? – Nichts hast du verloren! Du hast deinen Mann und alle deine Kinder behalten! – Ich habe alles verloren! – Meine ganze Familie wurde in Auschwitz umgebracht! Nur ich habe überlebt …

Das Haus in der Mackensenstraße 11. Nach unserer Rückkehr in das Haus in der Mackensenstraße haben wir dort kein einziges bekanntes Gesicht angetroffen. Nur die polnische Hausmeisterfamilie, die vor dem Krieg und währenddessen im Haus gewohnt hatte, war noch da. Die ersten Tage nach unserer Rückkehr haben wir beim Vater unserer Mutter verbracht, der uns in der Not aufgenommen hat. Nachdem wir die Zuteilung in die Wohnung bekommen hatten, haben wir jeden Tag unsere Habseligkeiten auf einem kleinen Zweiräderwagen dorthin gefahren. Ich erinnere mich noch genau an unsere erste Begegnung im Haus. Die Hausmeisterin hatte gerade das Trottoir vor dem Anwesen gekehrt und als sie uns erblickte, war sie erschrocken und schleunigst verschwunden. Sie bekam Angst, weil sie mit der Plünderung unserer Wohnung zu tun gehabt hatte. Die alte Betonbrücke in der Nähe des Hauses Nummer 11, die 1902 erbaut und 1945 von den Nazis in die Luft gesprengt wurde

Meine Eltern haben aber die beiden Hausmeister nie darauf angesprochen. Später, als meine Mutter eine Nachbarin aus dem Haus in der Stadt traf, erfuhr sie von dieser, dass der Hausmeister zusammen mit seinem Schwiegersohn das Piano unserer Mutter nach unserer Flucht aus der Wohnung abtransportiert hatte. Kinder aus dem Haus Kosciuszki-Straße 11, Bielitz 1950

Das Bild zeigt Kinder, die den Krieg überlebt haben, aber aus einer ganz anderen Region Polens nach Bielitz kamen. Das größte ist mein Bruder Fritz. Direkt vor ihm steht mein Bruder Karl, das Mädchen davor bin ich *** Nachdem Deutschland den Krieg verloren hatte und die Polen an die Macht kamen, waren die Deutschen in der Stadt nicht gern gesehen. Die Atmosphäre in der Stadt hatte sich total verändert. Als wir nach Bielitz zurückgekommen waren, hatte sich mein Vater sofort bei der polnischen Polizei gemeldet, obwohl ihm die politische Lage bewusst war. Die Polizisten haben nicht schlecht gestaunt, als sie einen Deutschen vor sich stehen sahen. Sie konnten seinen Namen nicht lesen, nicht aufschreiben, und nicht begreifen, dass er sich traute, in die Stadt zurückzukehren. Obwohl mein Vater kein perfektes Polnisch sprach, konnte er sich mit ihnen verständigen, und er nannte ihnen einige Polen, mit denen er vor dem Krieg zusammengearbeitet hatte. Mein Vater war ja wegen der Gießerei genauso in der Stadt bekannt wie sein Vater, und beide haben einen guten Ruf in der Stadt genossen. Darauf baute mein Vater jetzt, und er wartete, bis die polnischen Polizisten die genannten Personen aufgesucht und befragt hatten. Einige von ihnen, die meinen Vater näher kannten, haben sogar bestätigt, dass die Nazis meinem Vater seine Firma weggenommen hatten, weil er nicht in die Hitlerpartei hatte eintreten wollen. Nachdem sie die Bestätigung dafür hatten, dass mein Vater sich nichts zu Schulden hatte kommen lassen, ein guter Vorgesetzter und während des Krieges parteilos geblieben war, haben sie ihn gehen lassen und er kam an diesem Tag beruhigt nach Hause zurück. Er war sichtlich erleichtert. Wenige Tage darauf wurde mein Vater benachrichtigt, dass er sich beim Geheimdienst melden sollte. Vor diesem Termin hatte mein Vater aber große Angst, da in der Stadt Gerüchte umgingen, dass die Befragungen dort mit Schlägen und Folter einhergingen. Im Nachhinein waren die Sorgen, zumindest für ihn, unbegründet geblieben. Er kehrte nach dem Termin auch wohlbehalten nach Hause zurück. Das Wichtigste nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt war also erledigt *** Die Eltern meines Vaters hatten insgesamt sechs Kinder gehabt. Die drei ältesten haben sie verloren, sie waren an Keuchhusten erkrankt und da es Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts kein Mittel dagegen gab, sind alle drei in kurzen Abständen gestorben. Danach kamen mein Vater Friedrich, geb. 1903, sein Bruder Viktor, geb. 1905, und seine Schwester Hedwig, geb. 1911, zur Welt, alle in Bielitz. Nach unserer Rückkehr aus Bayern holte unser Vater seine Mutter zu uns. Sie war sehr verändert, schweigsam und in sich gekehrt. Ich ließ sie aber nicht in Ruhe, ich wollte so viel von ihr erfahren. Und eines Tages hatte ich sie so weit und sie fing an zu erzählen, dass mein Vater mit fünf Jahren schon Bücher gelesen hat, bevor er in der Früh zur Schule ging. Ich erfuhr auch, dass er in der Grundschule zweimal eine Klasse übersprungen hat. Den Krieg erwähnte sie mit keinem Wort. Nachher hatte mein Vater die Gewerbeschule in Bielitz besucht, aber das wusste ich schon von ihm selbst. Dort hat er die Examina zum Abschluß der Gewerbeschule bestanden und aufgrund seiner Jugend, schickte ihn sein Vater in die Schweiz, wo er bei Christiansen studierte und den Titel Maschinenbauingenieur erwarb. Die Gewerbeschule in Bielitz

Mein Großvater hat gut für seine beiden Söhne gesorgt. Der Bruder meines Vaters, Viktor, hat in Wien studiert und wurde Förster in Jankowitz bei Pleß in Oberschlesien. Er war ein sehr naturverbundener Mensch, der sich keinen anderen Beruf vorstellen konnte. Nach seinem Studium wurde er Angestellter des Fürsten von Pleß, der ihm sein Reservat mit Auerochsen in Jankowitz anvertraute. Meine Kindheitserinnerungen sind stark mit dem einzigen Onkel verbunden. Wir Stadtkinder hatten in der Kriegszeit die Ferien an Ostern und Weihnachten, jedes Jahr in Jankowitz bei Onkel Viktor und Tante Hilda verbracht. Sie hatten drei Kinder, Lydia, Ruth und Otto. Wir fuhren immer mit dem Zug von Bielitz nach Pleß und am Bahnhof wartete bereits der Knecht unseres Onkels auf uns. Im Sommer ist er mit einer großen Kutsche mit zwei eingespannten Pferden gekommen und im Winter mit einem großen Schlitten. Er versorgte uns mit Lammpelzen, damit uns während der Fahrt nicht zu kalt wurde. Der Weg in die Försterei führte uns durch den verschneiten Wald in das Paradies des Onkels. Das war eine besondere Fahrt, ein Erlebnis, das mich sehr beeindruckte, und das Klingeln der Glöckchen an den Pferdeköpfen empfand ich immer wie eine Melodie, die mich träumen ließ. Was ich auch nicht vergessen habe, sind die beeindruckenden, langen Spaziergänge im Sommer durch den schattigen, geheimnisvollen Wald, in dem uns das Jubilieren der Vögel entzückte. Dabei waren immer die beiden Dackelhunde Susi und Atti, die wir Kinder so liebten. Mein Onkel Viktor, geb. 1905

Mein Vater Friedrich, geb. 1903

Nachdem sich mein Vater nach unserer Rückkehr aus Bayern bei den polnischen Behörden in Bielitz gemeldet hatte, fuhr er nach Jankowitz zu seinem Bruder Viktor. In der Försterei fand er aber einen neuen Förster vor. Mit einem schrecklichen Gefühl im Herzen fuhr er sofort weiter nach Teschen, um die Frau seines Bruders aufzusuchen. Er traf sie tatsächlich mit den Kindern bei ihrer Mutter, bei der sie Zuflucht gesucht hatte. Hier erfuhr er von unserer Tante Hilda die schreckliche Wahrheit. Die Russen hatten seinen Bruder verhaftet und in die Gefangenschaft nach Russland verschleppt! Unserer Tante blieb nichts erspart. Im Sommer des Jahres 1947 hatte sie ihre ältere Tochter Lydia durch einen Blitzschlag verloren. Sie hatte gerade die Grundschule als Klassenbeste absolviert und alle Klassen der Schule waren zur Beisetzung gekommen. Viele Monate später sind einige Gefangene aus Russland zurückgekommen, darunter auch jemand aus Jankowitz. Er behauptete, dass er bei meinem Onkel war, als dieser gestorben war. Die Umstände der Gefangenschaft hätte er sehr schlecht ertragen und sehr unter der Sehnsucht nach seiner Familie gelitten. Unsere Tante konnte sich mit den Nachrichten nicht abfinden und wartete noch jahrelang auf seine Rückkehr. Tatsache ist, dass seine Kinder ihren liebevollen Vater verloren hatten, wir den besten Onkel, den man sich vorstellen kann und unser Vater seinen einzigen Bruder. Der Krieg hatte alles zerstört! Und es gab keine schönen Aufenthalte im Wald mehr. Wir mussten uns mit dem schmerzhaften Verlust ebenso wie mit den Kriegserlebnissen abfinden. Der Schmerz ist geblieben, aber auch die schönen Kindheitserinnerungen an das Paradies im Wald bei Pleß. Die wenigen Fotos aus der Zeit, die wir bei Onkel Viktor verbracht haben, sind uns Kindern nach dem Krieg und dem Verlust des Onkels sehr wichtig geworden. Sie haben plötzlich eine besondere Bedeutung für uns bekommen. Hier ein paar Bilder aus der glücklichen Zeit, die wir trotz Krieg bei Onkel Viktor erleben durften. Die Auerochsen im Reservat Jankowitz bei Pleß

Die Mutter meines Vaters, Maria O., geb. am 28. 09. 1878 in Teschen, mit ihrem. Sohn Viktor und seinen Kindern Ruth und Otto. Ein Bild aus den letzten gemeinsamen. Sommerferien in seiner Försterei in Jankowitz. Kurz darauf ist meine Familie. vor der russischen Armee geflüchtet

Otto bei der Jagd

Der Abschied – Fritz und Otto

Die letzten Ferien in Jankowitz, Sommer 1943

Der Abschied, Sommer 1943. Meine Eltern und alle sieben Kinder, Toni, Lydia, Ruth, Fritz, Karl, Otto und Maria

*** Nach unserer Rückkehr dauerte es nicht lange und unser Vater wurde von der Zentralregierung Polens nach Warschau eingeladen. Nach der Anmeldung und einem sachlichen, kurzen Gespräch wurde er gebeten, sich beim Industrieministerium zu melden. Ab diesem Zeitpunkt war mein Vater kein freier Mensch mehr. Er erhielt den Auftrag, die durch den Krieg zerstörte industrielle Infrastruktur wieder aufzubauen. Zu diesem Zweck hatte man das Büro für Wiederaufbau gegründet, welches mein Vater leiten sollte. Man gab ihm noch drei Ingenieure als Mitarbeiter. Hauptthemen waren zunächst die zwei Häfen an der Ostsee und deren Wiederaufbau. Anschließend sollten die Hütten und Gruben in Schlesien wieder in Betrieb genommen werden. Im Laufe der folgenden Jahre musste mein Vater die zerstörten Fabriken und Betriebe in verschiedenen polnischen Städten wiederaufbauen lassen und das Ganze beaufsichtigen. Das Ministerium, dem er jetzt unmittelbar untergeordnet war, schickte ihn durch ganz Polen, von einer Stadt zur nächsten, und schließlich mussten wir 1953 Bielitz verlassen und nach Breslau umziehen. Mein Vater war ein guter Organisator, er arbeitete effizient und schnell. Innerhalb von zwei Jahren konnten alle Fabriken in Breslau wieder in Betrieb genommen werden. Mein Vater arbeitete schon ein Jahr in Breslau, als er unsere Familie nachkommen ließ. Ein Jahr konnten wir dort gemeinsam mit unserem Vater verbringen, danach wurde er schon in die nächste Stadt, nach Swiebodzin bei Posen abkommandiert. Beim Umzug nach Breslau waren meine älteren Geschwister Toni und Fritz schon außer Haus, ich war vierzehn und Karl fünfzehneinhalb Jahre alt, als wir nach Breslau umziehen mussten. Das Team für den Wiederaufbau Polens (links mein Vater mit 44 Jahren)

Kapitel 2. Nördlich von meiner Heimatstadt Bielitz liegt die kleine Industriestadt Mikolow, die in den Sechzigerjahren ungefähr 22.000 Einwohner hatte. Es ist eine sehr alte, aber schöne und ruhige Stadt, die damals mit vielen Blumenrabatten geschmückt war. Das Zentrum der Stadt bildete ein großer Platz vor dem Rathaus, der damals noch mit Katzenkopfpflaster ausgelegt war. Um diesen herum befanden sich Lebensmittelgeschäfte, eine Apotheke, ein Restaurant, ein Kräutergeschäft und in einer schmalen und kurzen Gasse, die zum Rathaus führte, das einzige private Geschäft der Stadt, in dem ich Getreide kaufen konnte. Auch eine Buchhandlung und die Stadtbibliothek waren im Zentrum zu finden. Außerhalb befanden sich das Krankenhaus, das Kreisgericht und das Gymnasium, das meine beiden Töchter in den Siebzigerjahren besucht haben. Das Flair der Stadt hatte damals noch etwas Mittelalterliches. Fünfzehn Minuten Busfahrt von der Stadt Mikolow entfernt liegt das kleine Städtchen Laziska Gorne, in das ich im Jahre 1964 mit meinen beiden kleinen Kindern zog. Hier wohnten überwiegend Bergmänner, die in der Grube „Boleslaw Smialy“ beschäftigt waren, mit ihren Familien. Da meine Kinder ein Altersunterschied von vier Jahren trennt, musste ich acht Jahre lang um 06:30 Uhr in der Früh zum einzigen Kindergarten gehen, der zur Kohlengrube gehörte, und danach weiter zur Bushaltestelle am Rathaus eilen, um den Bus um 7:05 nach Mikolow zu erwischen. Auf dem großen Platz im Zentrum dieser Stadt befand sich eine Bushaltestelle, wo ich nach Tychy umsteigen musste. Ich habe dort im Gesundheitsamt gearbeitet, und wenn es mir gelang, um halb acht in Mikolow umzusteigen, bin ich trotzdem jeden Tag zwanzig Minuten zu spät im Amt angekommen. Unannehmlichkeiten habe ich deswegen aber nicht bekommen, weil der Chef wusste, dass es für mich keine andere Verbindung gab. Die rot bemalten Busse hatten damals noch ganz einfache Türen, die man selber aufmachen und schließen musste. Die Busse waren nicht immer pünktlich und jeden Tag gab es dasselbe Theater auf der weiteren Fahrt nach Tychy. Der Bus war in den Morgenstunden dermaßen überfüllt, dass die Menschen wie Trauben an den Treppen hängenblieben, um weiterzukommen. Der nächste Bus ist erst nach zwanzig Minuten gekommen und die meisten Bewohner der Stadt waren auf den Bus angewiesen, wenn sie nach Tychy oder weiter nach Bierun oder Auschwitz fahren wollten. Nur wenige Menschen konnten sich in den Sechzigerjahren ein Auto leisten. Es war ein Kampf hineinzukommen und ich musste oft auf einem Bein zwischen den anderen Passagieren stehen. Der Busfahrer, der sich an den Fahrplan halten wollte, hat den überfüllten Bus bei offenstehenden Türen in Fahrt gebracht, und die an der Treppe dicht aneinandergedrängten Menschen haben sich an den Innengriffen der Türrahmen festgehalten, die jederzeit abbrechen konnten. In Tychy angekommen hatte ich noch zwanzig Minuten zu Fuß zum Amt. Obwohl ich mich sehr beeilen musste, habe ich den Weg genossen, weil ich durchatmen konnte. Es waren extrem schwere Jahre für mich, die ich durchhalten musste. Ich war aber jung und gesund, und an jedem späten Abend war ich froh, wenn ich mit allen Pflichten und geplanten Arbeiten fertig geworden war. Das Haus, in dem ich die kleine Wohnung bekam, war ein Neubau, aber es hatte keine Zentralheizung. Jeden Abend, wenn die Kinder schon schliefen, holte ich die Kohle für den nächsten Tag in den zweiten Stock, und mit dieser Tätigkeit war der Tag für mich erst abgeschlossen. Das waren Jahre ohne freie Wochenenden und Urlaub. Meine einzige Schwester Toni, die neun Jahre älter war als ich, wohnte damals mit ihrem Mann Kurt und den beiden kleinen Kindern Halinka und Kornelius in der Stadt Beuthen, die nahe der Stadt Katowice liegt. Seitdem meine Schwester das Elternhaus in Bielitz mit neunzehn Jahren verlassen hatte und mit ihrem Mann nach Beuthen gezogen war, pflegte sie einen engen Kontakt zu mir. Ich war erst zehn Jahre alt gewesen, als sie uns verlassen hatte. Sie besuchte mich aber in Bielitz regelmäßig mit Kurt, der damals den Militärdienst als Deutscher unter der Erde in einer Grube in Beuthen leisten musste. In den späteren Jahren lief der Kontakt per Telefon während der Arbeit im Büro oder wir tauschten Briefe aus. Das war in der Zeit, in der sehr wenige Menschen sich ein Telefon zu Hause leisten konnten. Wir haben uns trotzdem unser Leben lang nicht aus den Augen verloren. Im Jahre 1968 wollte ich mit meinen beiden Kindern, die fünf und neun Jahre jung waren, in meinen ersten Urlaub fahren. Ich habe von der Firma meiner Schwägerin kostenlos ein Campinghäuschen, das sich in den Bergen befand, zur Verfügung gestellt bekommen. Ein solches Angebot wollte ich mir nicht entgehen lassen. Als ich meiner Schwester von dem Urlaub erzählte, fragte sie mich plötzlich, ob ich ihre Tochter Halinka mitnehmen würde. Ich habe mir bei der Frage nichts gedacht, wunderte mich aber, dass sie keinen Urlaub für diesen Sommer planten. Ich war natürlich einverstanden, und so bin ich dann mit meinen Kindern und der damals zwölfjährigen Halinka in die Berge in die kleine Touristenstadt Weishell gefahren, die an der südlichen Grenze Polens lag. Aus dem Zentrum der kleinen Stadt führte uns ein steiler Weg zu unserem Urlaubsziel. Es hat genieselt und fast eine Stunde lang gedauert, bis wir mit unseren Rucksäcken auf dem Berg angekommen waren. Auf dem kleinen Campingplatz auf der Alm befanden sich circa zwölf kleine Campinghäuser. Rundherum stand ein dichter Wald und neben den Häusern sprudelte ein Bach. Einfach herrlich! Es war kein Mensch zu sehen. Das Campinghaus war klein und die Ausstattung bescheiden. Wir hatten vier einfache Klappbetten zur Verfügung, weiters standen ein kleiner Tisch und vier Stühle darin. Zum Kochen gab es einen kleinen Kocher mit einer Platte. Das alles hat mich aber nicht erschreckt. Wichtig war, dass die Kinder aus der Stadt weg waren und die frische, kristallreine Luft atmen konnten. Die Kinder haben sich schnell eingelebt, der dichte Wald, der sprudelnde Bach, das waren natürlich Attraktionen für die Kinder und sie haben trotz des Nieselns Stunden am Ufer spielend verbracht, und die kleinen, zahlreichen Salamander haben zusätzlich Spaß gemacht. Jeden Tag nach dem Frühstück haben wir uns alle gleich auf einen Wanderweg begeben und die Bauern in der Gegend aufgesucht, um Eier, Butter und Quark einzukaufen. Den bescheidenen Rest wie Obst und Brot haben wir aus dem Städtchen holen müssen. Da hatten wir schon nach unserer Rückkehr den halben Tag hinter uns. Während ich mich schnell um das Mittagessen kümmerte, haben die Kinder am Bach gespielt und ich freute mich, dass sie dort so viel Spaß hatten. Nachdem das Mittagsessen auf dem Tisch stand, ging ich zum Bach, um die Kinder zu holen und zu sehen, was sie sich da aus den Steinen alles gebaut und einfallen lassen hatten. Ich staunte, die Kinder hatten Fantasie! Die Beschäftigung mit den Steinen hat die Kinder doch am Bach gehalten und machte sichtbar Freude. Die Sonne wollte sich in diesen Tagen nicht richtig zeigen, es hat überwiegend genieselt und war kühl. Die Kinder haben ständig die Pelerine tragen müssen, aber das hat sie nicht gestört. An all den Tagen hatte ich keine Urlauber auf der Alm und auf den Wegen durch die Berge getroffen. Zum Nachdenken hatte mich die Tatsache nicht gebracht, ich dachte, dass die Leute sich einfach im Campinghaus die Zeit vertrieben oder unterwegs waren. Ich hatte mit den Kindern kaum eine Woche in den Bergen verbracht, da weckte mich eines Tages – um 03:00 Uhr in der Früh – eine heftige Detonation! Sie war ganz nah und die Angst raubte mir sofort den Atem. Da ich wie ein Hase schlief, bin ich gleich erschrocken aus dem Bett hochgesprungen und ging wie ich war vor das Häuschen. Plötzlich hörte ich die nächste Detonation und Schüsse! Was war da los? Die Geräusche kamen von ganz nah. Dann schaute ich endlich genauer hin und merkte, dass an allen Campinghäusern eine Kette mit einem Vorhängeschloss hing! Das hat mich noch zusätzlich erschreckt, weil mir in diesem Moment klar wurde, dass ich mit den Kindern alleine auf der Alm war! Die Kinder haben tief geschlafen und nichts mitbekommen. Ich fing schnell an, unsere Sachen zu packen und das Frühstück vorzubereiten. Das schlechte Wetter war Ausrede genug, um den Urlaub abzubrechen. Erst bin ich mit den Kindern zu meinen Eltern nach Tychy gefahren, und als ich erzählte, was ich in der Früh erlebt hatte, sagte der Vater zu mir: „Bei uns haben die Fensterscheiben gezittert, wir haben es auch mitgekriegt.“ Mehr wollte er vor den Kindern nicht sagen, nur, dass ich zu Hause Radio einschalten sollte. Die Eltern haben jeden Tag die Nachrichten im Radio verfolgt und wussten, was los war. Dann zeigte mir die Mutter einen Brief von Toni, der grade angekommen war. Er war an mich adressiert. Ich machte schnell den Umschlag auf und las folgende Worte: „Liebe Maria, bitte kümmere Dich um unsere Halinka! Wir sind in den Urlaub nach Österreich gefahren und kommen nicht mehr zurück.“ Diese Nachricht hat das Kind nicht erschreckt, es schien, dass es sie noch nicht so richtig verstand. Ich bin mit den Kindern zurück nach Hause gefahren. Ab diesem Zeitpunkt habe ich regelmäßig Radio angehört. Es wurde über den Aufstand in der Tschechei berichtet. Das Land befand sich im Krieg. Kurz danach habe ich an einem Nachmittag Besuch vom staatlichen Geheimdienst bekommen. Der Mann fragte mich genau aus, stellte gezielte Fragen, wollte alles über meine Schwester und meinen Schwager wissen, aber ich konnte auf seine Fragen keine Antwort geben, weil mich Toni nicht in ihre Fluchtpläne eingeweiht hatte. Und das war richtig so, denn ich konnte wirklich keine Auskunft geben. Der Mann hat sich in meiner bescheidenen Wohnung umgeschaut und ist nicht wiedergekommen. In dem zweiten Brief, der schon nach Laziska Gorne adressiert war, bat mich meine Schwester um die Liquidation ihrer Wohnung in Beuthen. Die Sache mit dem Umzug war schnell erledigt. Mein Bruder Fritz hat mir mit seiner Frau und seinem Freund geholfen und wir haben uns sehr beeilt, die Wohnung zu leeren. Wir waren uns nicht sicher, ob uns doch jemand dabei hindern würde. Der Transporter, mit dem wir aus Tychy nach Beuthen gekommen waren, stand im Hof des Hauses, das zu der Firma gehörte, in der mein Schwager tätig war. Als wir die Möbel aus der Dreizimmerwohnung trugen, schauten uns die Nachbarn durch die Fenster schweigend zu, aber niemand stellte eine Frage, niemand sprach uns an, wahrscheinlich deswegen, weil sie mich als Schwester erkannt haben. Trotzdem haben wir in Eile gearbeitet, die Wohnung abgeschlossen und sind schnell weggefahren. Nachdem die Wohnung ausgeräumt war, wollte ich nach ein paar Tagen nochmal nach Beuthen fahren, um den Rest zu beseitigen und aufzuräumen. Meine zwölfjährige Nichte Halinka wollte mitfahren, also nahm ich das Kind mit. Als sie die leere Wohnung erblickte, fing sie bitterlich zu weinen an. Sie hatte begriffen, dass sie verlassen worden war. Sie tat mir in diesem Moment unheimlich leid und ich bereute es, dass ich sie mitgenommen hatte. Ich habe meine Nichte in der Schule in Laziska Gorne angemeldet und Halinka ging mit meiner ältere Tochter Renate um 7:45 Uhr allein zur Schule, während ich das Haus mit meiner jüngeren Tochter Neli schon um 6:25 Uhr verlassen musste. Ich habe nicht daran geglaubt, dass das Kind irgendwann aus Polen herauskommen würde, da die Grenzen zu waren, deswegen habe ich mich noch im selben Jahr um eine größere Wohnung gekümmert. Ich bin noch im November 1968 nach Tychy gefahren und suchte die Wohnungsgesellschaft Oskard auf. Das war die einzige Möglichkeit, eine Wohnung zu bekommen, weil die Stadt Tychy immer noch ausgebaut wurde. Mit jedem Jahr entstanden neue Siedlungen. Diese wurden mit Buchstaben bezeichnet und in Bau war erst die Siedlung E. Die nette Dame, mit der ich dort sprach, wollte wissen, wo ich arbeite und ob ich einen gut verdienenden Mann habe. Die neuen Wohnungen waren ja sehr teuer und ich habe damals im Gesundheitsamt nur 931 Zloty verdient. Das war sehr wenig! Ich war aber die jüngste Angestellte des Amtes. Als sie hörte, dass ich alleine bin und im Gesundheitsamt arbeite, sagte sie gleich mit Bedauern in der Stimme, dass ich auf eine Wohnung keine Chance habe. Das Gesundheitsamt galt eben als eine arme „Firma“, die über kein Geld für Wohnungszuschüsse verfügte. Ich war erstmal sprachlos. Ich dachte kurz nach und dann wagte ich ganz langsam und leise eine Frage auszusprechen: „Weil ich eine alleinstehende Mutter bin und mein Arbeitgeber kein Geld für einen Wohnungszuschuss hat, haben meine drei Kinder kein Recht auf normale Wohnverhältnisse?“ Jetzt war die nette Dame sprachlos. Da ich immer noch dastand, sagte sie nach einer Weile auch ganz leise und langsam zu mir: „Kommen Sie in einem Monat wieder zu mir.“ Das war unser ganzes Gespräch. Als ich nach einem Monat, vor Weihnachten 1968, die Wohnungsgesellschaft wieder aufsuchte, empfing mich die nette Dame mit Freude in der Stimme und sagte: „Sie haben Glück! Die Kommission unserer Wohnungsgesellschaft hat Ihren Fall untersucht und hat einen Zuschuss für Ihre künftige Wohnung bewilligt! Sie bekommen 19.600 Zloty Zuschuss von uns, aber sie müssen noch alleine 9.600 Zloty aufbringen. Sie haben wirklich Glück, weil es weitere Zuschüsse überhaupt nicht mehr geben wird. Das war die letzte Sitzung in diesem Jahr – zu diesem Zweck.“ Das war eine richtige Überraschung. Das war ein riesiges Geschenk, wie ein Lottogewinn! Die Wohngemeinschaft hatte mir 19.600 Zloty geschenkt! Okay, aber woher sollte ich die fehlenden 9.600 Zloty noch bekommen? Ich hatte keine Ersparnisse, ich war ja erst 28 Jahre alt. Mein Vater hat die Situation natürlich gerettet, er hat mir die fehlende Summe gegeben und ich wurde in die Warteliste für eine Wohnung aufgenommen *** Meine Nichte Halinka hat sich schnell an die neue Lebenssituation gewöhnt. Sie war ein kluges Kind mit einem hellem Kopf und eine sehr gute Schülerin. Auch in der Klasse hat sie schnell Anschluss gefunden und Kameradschaften geknüpft. Anfangs gab es keine Hoffnung, dass das Kind legal aus Polen ausreisen konnte, aber nach zwei Jahren hat sich die Situation doch geändert und sie durfte das Land verlassen. Es hieß, im Rahmen der Familienzusammenführung. Ich habe sie am Tag der Abreise mit meinem Bekannten nach Warschau begleitet. Dieser kannte die Stadt wie seine eigene Hosentasche, weil er dort geboren worden war. Er liebte die Stadt und besuchte sie mehrmals pro Jahr, weil er sehen wollte, wie sie sich entwickelt und was sich verändert hatte. Er half mir, wo er konnte – ohne seine Hilfe wäre ich total ratlos gewesen und die Sache war ja ernst. Halinka und ich waren um 04:00 Uhr morgens aufgestanden, die Verbindung sollte doch klappen, um den Flieger aus Warschau nach Wien nicht zu verpassen. Meine Nichte hatte vor dem Fliegen keine Angst und das war für mich schon sehr beruhigend. Um dieselbe Zeit warteten die Eltern auf dem Flugplatz in Wien auf ihre Tochter. Als wir so auf die Ansage des Fluges nach Wien warteten, schlug das Wetter um und der Flug nach Wien wurde abgesagt. Man hat umdisponiert und das Kind ist erst nach Paris geflogen, wo es umsteigen mußte, um weiter nach Wien zu fliegen. Halinka ist mit einer sehr großen Verspätung in Wien angekommen. Man hat die Wartenden in Wien nicht darüber informiert, dass der Flug aus Warschau nach Wien nicht hatte stattfinden können! Die Eltern haben schreckliche Stunden der Ungewissheit und Angst erlebt, aber sie haben konsequent so lange gewartet, bis sie schließlich ihre Tochter in die Arme schließen konnten. Das Kind war in der neuen Heimat aber nicht glücklich. Ich habe Briefe von ihr bekommen mit der Nachricht, dass sie zurückkommen möchte. Zu Hause bei den Eltern durfte sie nicht bleiben, sie wurde – so verlangte es das Gesetz – mit anderen gleichaltrigen Kindern, die aus verschiedenen Ländern stammten und auch wie sie erst Deutsch lernen mussten, in einem Internat untergebracht. Das Leben unter einem Dach mit den fremden Kindern hat sich nicht gerade erfreulich gestaltet, deswegen wollte sie unbedingt zurück *** Nach fünf Jahren Wartezeit hat sich im Jahre 1973 die Wohnungsgemeinschaft in Tychy bei mir gemeldet. Man hatte mich schriftlich informiert, dass ich eine Wohnung zugeteilt bekommen sollte und gratulierte mir sogar zu diesem Ereignis. Nachdem ich die gute Nachricht erhalten hatte, bin ich eines Tages nach Tychy gefahren und habe mich bei der Wohnungsgemeinschaft gemeldet. Diesmal hat mich eine andere Dame empfangen. Sie gab mir den Schlüssel und die Adresse der zugeteilten Wohnung und erklärte mir den Weg zu der Siedlung D, in der sie sich befand. Das Hochhaus habe ich gleich gefunden. Die Wohnung befand sich im achten Stock. Ich öffnete sie mit klopfendem Herzen und bin ganz erschrocken im ersten Zimmer stehengeblieben. Die Wohnung hatte denselben Grundriss und dieselbe Größe von 35 Quadratmetern wie die in Laziska Gorne. Außerdem habe ich festgestellt, dass an der längsten Wand im ersten Zimmer der Heizkörper in der Mitte der Wand befestigt worden war. Noch dazu war die Miete viermal höher als meine bisherige. Sehr enttäuscht bin ich in die Wohnungsgemeinschaft Oskard zurückgekommen, habe den Schlüssel abgegeben und gesagt, dass ich dazu bereit bin, weitere Jahre abzuwarten, bis man vernünftige Wohnungen in der Stadt bauen wird. Die Dame sagte daraufhin nichts – sie wusste genau, was für eine Wohnung man mir angeboten hatte. Die Sache war für mich vorläufig erledigt. Die folgenden Jahre, die mit Pflicht und ständiger Arbeit erfüllt waren, gingen schnell vorbei, aber ich hatte auch viel Zeit zum Nachdenken. Ich habe mir einen Plan zurechtgelegt, um unsere Wohnsituation zu verbessern. Es ging darum, wie ich meine zukünftige Wohnung in Tychy annehmen und dabei gleichzeitig die in Laziska Gorne behalten konnte. In meiner Stadt hat nur die Grube „Boleslaw Smialy“ ein paar Häuser bauen können, weil sie den Bau für die Bergmänner auch finanzieren konnte. Die Stadt selbst war arm und konnte keine Häuser bauen. Meine ältere Tochter war erst vierzehn Jahre alt und ich war dazu bereit, die nächsten vier Jahre, bis sie volljährig wurde, abzuwarten. Diese beiden Tatsachen habe ich in meinen Plan eingebaut. Ich war überzeugt davon, dass dies mir bei der Durchführung meines Planes behilflich sein würde. Als es dann so weit war und meine Tochter volljährig war, bin ich eines Tages in das Rathaus im Ort gegangen. Ich habe aber nicht die Wohnungsabteilung aufgesucht, sondern im Sekretariat um ein persönliches Gespräch mit dem Bürgermeister gebeten. Dieser hat mich freundlich empfangen und auch mein Anliegen geduldig angehört. Sein freundliches Verhalten mir gegenüber hat mir mein Vorgehen sehr erleichtert und am Schluss rückte ich mit meiner gut überlegten Frage heraus: „Ich möchte Sie fragen, ob Sie mir eine größere Wohnung geben können. Wie gesagt, meine beiden Töchter sind fast erwachsen und wir treten uns schon auf die Fersen, so klein ist meine Wohnung für uns drei.“ Seine Antwort überraschte mich nicht, ich hatte sie erwartet! Ich wusste, was er sagen würde, weil die Stadt doch keine Wohnungen zur Verfügung hatte. Ich habe diese Antwort in meinem Plan eingebaut. Er sagte mir also, dass er mir leider keine größere Wohnung geben könne, weil er keine hatte. Mir ging es nur darum, dass der Bürgermeister sich an mich und unser Gespräch erinnern würde, wenn ich später nochmal wegen meines Anliegens zu ihm kommen würde. Ich habe dann bewusst zwei Monate abgewartet, dann wieder das Sekretariat des Bürgermeisters aufgesucht und erneut um ein persönliches Gespräch mit ihm gebeten. Er hat mich wieder sehr freundlich empfangen. In seinem Gesicht konnte ich aber eine Frage ablesen. Deswegen fragte ich ihn auch gleich, ob er sich an mich und mein Anliegen erinnerte. Natürlich hat er das. Alles ist nach meinem Plan weitergelaufen und ich richtete meine nächste Frage an ihn: „Wenn ich eine Lösung für mein Problem finden würde, würden Sie mir dabei helfen?“ „Aber natürlich“, sagte er sofort und überraschend für mich. Ich war gerettet! Mein Plan hatte funktioniert! Und ich fragte ihn weiter: „Wenn ich zum Beispiel mit der jüngeren Tochter in eine andere Stadt umziehen würde, wären Sie dann dazu bereit, die kleine Wohnung meiner volljährigen Tochter zuzuteilen? Damit wäre uns sehr geholfen.“ Der Bürgermeister sagte nach ein paar Sekunden höflich: „Legen Sie Ihre Wohnungssituation schriftlich dar und geben Sie das Schreiben bei unserem Juristen in der Rechtsabteilung ab. Er ist schon über Ihren Fall informiert.“ „Das ist ja ein Ding“, dachte ich überrascht. Ich bedankte mich sehr für seine Freundlichkeit und das Entgegenkommen und ging zufrieden nach Hause zurück. Trotzdem war ich überrascht, dass mein Plan geklappt hatte. Nachdem meine ältere Tochter problemlos unsere kleine Wohnung zugeteilt bekommen hatte, bin ich nach den weiteren vier Jahren nach Tychy gefahren und habe die Wohngesellschaft wieder aufgesucht. Meine Akte war nach so vielen Jahren nicht leicht zu finden. Man hatte sie in drei Büros gesucht und vorläufig nicht gefunden. Dann hatte sich eine Angestellte gefunden, die sich an meinen Fall erinnerte und schließlich hat diese meine Akte in einem Schreibtisch in der untersten Schublade gefunden. Die nette Dame hat sich meine Akte genau angeschaut und vor allem geprüft, wie lange ich schon auf die Wohnung gewartet habe. Dann fragte sie mich freundlich, warum ich die vor vier Jahren angebotene Wohnung nicht angenommen habe und ich konnte ihr jetzt den Grund erklären. Daraufhin habe ich erfahren, dass schon seit Jahren schönere und größere Wohnungen in der Stadt gebaut wurden und dass sie mir jetzt wegen der langen Wartezeit von neun Jahren zwei Wohnungen zur Auswahl geben würde. Ich war überrascht und freute mich, dass sie mir so freundlich entgegenkam. Ihre Haltung mir gegenüber machte mich einfach glücklich. Die zwei Wohnungen befanden sich in der Siedlung mit dem Buchstaben W, die weit vom Zentrum der Stadt und auch von der Wohngesellschaft entfernt lag. Ich musste den Bus nehmen. Beide waren überraschend groß, sehr schön und trotz Erdgeschoßlage sehr hell. Nachdem ich mich für eine Wohnung entschieden hatte, fuhr ich zur Wohngesellschaft zurück. Da ich diese nun endlich annehmen musste und auch wollte, bekam ich noch an diesem Tag die Zuteilung in die Hand. Da sagte ich mit Bedauern, dass ich doch lieber in der Stadt Mikolow als in Tychy gewohnt hätte. Kaum hatte ich das ausgesprochen, kam die nächste frohe Überraschung. Die Dame sagte nämlich gleich, dass in der Stadt Mikolow auch gebaut wurde. Es wurden gerade eben noch zwei Häuser fertig gebaut und verteilt. „Dort könnten Sie nachfragen, ob jemand die Wohnung mit Ihnen tauschen möchte.“ Das war die perfekte Lösung für mich! Das war tatsächlich ein Glücksfall für mich, weil die Wohnungen zwar zugeteilt worden, aber die künftigen Bewohner noch nicht eingezogen waren. Die nette Dame gab mir die Adresse der Wohngesellschaft in Mikolow und ich habe auf meinem Rückweg nach Hause auch gleich diese aufgesucht. Hier ging es problemlos weiter. Ich bekam die Adresse von einem jungen Ehepaar, das in einem der neu gebauten Häuser in Mikolow eine Zweizimmerwohnung zugeteilt bekommen hatte und lieber in Tychy gewohnt hätte. Ich habe mich sofort mit den jungen Menschen in Verbindung gesetzt und als sie meinen Vorschlag über den eventuellen Umtausch der Wohnungen hörten, waren sie sofort dazu bereit, sich meine Wohnung in Tychy anzuschauen. Ich hatte also wieder Glück. Sie gefiel ihnen sofort und sie haben sich gleich dazu entschieden, sie anzunehmen. Sogar die Lage der Wohnung in der Siedlung W hat den jungen Menschen entsprochen. Nach so vielen Jahren und Strapazen konnte ich mein Wohnungsdilemma endlich lösen. Auch meine ältere Tochter war zufrieden, dass sie jetzt unsere kleine Wohnung in Laziska Gorne für sich alleine nutzen durfte. Nach dem Abitur hat meine Tochter eine Stelle in der Universitätsbibliothek in Katowice angenommen und somit konnte sie schon auf eigenen Beinen stehen. Alle waren zufrieden! Im Jahre 1979 bin ich dann von Laziska in die schöne und ruhige Stadt Mikolow umgezogen. Meine jüngere Tochter war damals 16 Jahre alt. Unsere neue Wohnung befand sich im zweiten Stock eines vierstöckigen Hauses, das sich an der Hauptstraße befand, die nach Tychy führte, und aus Betonplatten gebaut worden war. Zum Zentrum hatten wir nur 15 Minuten zu Fuß. Wir alle hätten Grund gehabt, zufrieden zu sein, wenn sich die politische und vor allem die wirtschaftliche Lage im Lande nicht so rapide verschlechtert hätte *** Ein paar Monate später reichte das Geld plötzlich nicht mehr zum Leben. Die Lebensmittelpreise stiegen in kürzester Zeit und meine Rente, die ich aus gesundheitlichen Gründen seit Jahren bezogen hatte, reichte plötzlich nur noch für die ersten beiden Wochen im Monat. Die teuerste Ware in den Achtzigerjahren waren eben die Lebensmittel geworden. Nicht nur mir hat die Rente nicht gereicht, sondern auch den Arbeitern und Kleinangestellten der Lohn. Die Menschen in der Stadt haben sogar laut über das Problem zu sprechen angefangen. Die Unzufriedenheit hatte Monat für Monat zugenommen, und als die Regierung Polens im Herbst 1981 wieder die Preise für die Lebensmittel erhöhen wollte, gingen die Menschen im Land auf die Barrikaden. Die ersten Unruhen gab es in der Helling in Danzig unter Lech Walesa, der eine freie und unabhängige Gewerkschaft, die „Solidarnosc“, gründete. Damit hat er in Polen eine gewaltige Volksbewegung ausgelöst. Das war der erste Aufstand gegen das sozialistische Regime, nicht nur in Polen, sondern überhaupt in ganz Europa! Am 13. Dezember 1981, einem Sonntag, ging ich wie immer in der Früh ins Bad und schaltete um 06:00 Uhr das Radio an. Was ich da hörte, ließ meinen Atem stocken. Wir hatten Krieg! Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich realisieren konnte, dass die polnische Regierung einen Bruderkrieg in Kauf nahm. Wie ich später erfahren habe, war der Krieg schon in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember per Radio proklamiert worden. Ich konnte die Stunden bis Montag nicht abwarten. Ich machte mich gleich am Montagmorgen auf den Weg ins Zentrum, um zu sehen, was sich in der Stadt tat. Ich eilte voller Angst und mit pochendem Herzen die Hauptstraße entlang zum Rathaus. Und tatsächlich, das, was ich da sah, war überwältigend! Der riesige Platz vor dem Rathaus wurde belagert. Die Menschenmenge war in Bewegung und redete laut. Ich blieb in der engen, kurzen Straße, die zum Platz führte, stehen – in das Gedränge wollte ich nicht hinein. Plötzlich merkte ich, dass die Straße hinter mir auch schon voller Menschen war und um mich herum wurde es eng. Ich wollte mich schnell zurückziehen, aber es gab keine Möglichkeit mehr. Ich wurde zusammengedrückt und in diesem Moment habe ich das Bewusstsein verloren. Ich wachte im Krankenhaus auf, wo mir ein junger Arzt sagte, dass an diesem Vormittag noch sehr viele weitere Menschen in das Krankenhaus eingeliefert worden waren und dass alle Geschäfte heute geschlossen blieben. Die Stimme des netten Arztes war von tiefem Mitgefühl erfüllt. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause. Die Angst saß mir weiterhin im Nacken und ich wählte die kleinen Nebenwege, die mich parallel zur Hauptstraße nach Hause führten. An diesem Tag konnte ich nichts einkaufen, ich bin nach diesem beängstigenden Erlebnis mit leeren Händen nach Hause zurückgekommen. Am nächsten Tag ging ich wieder frühmorgens in die Stadt, um einzukaufen. Das Bild, das sich mir nun bot, war ungewöhnlich. Die Mitte des Platzes war zwar frei, aber vor jedem Geschäft war eine unglaublich lange, doppelte Schlange und vor der Tür des Metzgers, der Molkerei und des Lebensmittelgeschäfts stand jeweils ein Soldat mit einem Gewehr auf der Brust! Die Menschen standen still und ich stellte mich am Ende der Schlange dazu. An diesem Tag konnte ich auch nichts kaufen, weil die Lieferung so knapp gewesen war, dass nur wenige Personen von dem kleinen Angebot Gebrauch machen konnten. Außerdem waren die Regale in allen Geschäften leer! Um etwas Essbares zu bekommen, bin ich dann jeden Tag früher aus dem Haus gegangen. Vor der Molkerei stand ich einmal eineinhalb Stunden in der Schlange und habe nur noch 250 Gramm Quark bekommen, der auch rationiert wurde. Die Milch und der gelbe Käse waren schon ausverkauft. Es gab nichts anderes mehr. Meine 16-jährige Tochter, die glaubte, nicht ohne Fleisch auskommen zu können, hat dann die Initiative ergriffen. Sie hat sich den Wecker am Abend auf 03:00 Uhr. gestellt, ist schlafen gegangen und tatsächlich um 03:00 Uhr aufgestanden, um sich beim Metzger in die Schlange zu stellen. Hier gab es aber auch keine Auswahl; die Lappen, die auf den Haken hingen, waren nur für die Suppe geeignet und die Schlange vor dem Metzger war lang! Ich habe meine Tochter still bewundert, sie fürchtete den Weg zu der frühen Stunde nicht *** Zur Zeit des Bruderkrieges haben meine Schwester und ich uns weiterhin regelmäßig Briefe geschrieben. Sie wollte genau wissen, wie es uns geht, und ich war auch auf ihre neue Heimat neugierig, in der sie seit 1968 lebte. Ihr Mann als Ingenieur hatte damals sofort eine gute Stelle in München bekommen, sie waren beide mit ihren Zukunftsaussichten zufrieden. Toni hat mich in dieser Zeit finanziell unterstützt, vier Mal im Jahr überwies sie mir 150 DM. Ohne ihre finanzielle Hilfe wäre es für uns drei kritisch geworden und mein Herz hätte geblutet, hätte ich meine Töchter in die Fabrik statt auf ein Gymnasium schicken müssen. Eines Tages, das war schon im Sommer 1982, habe ich von meiner Schwester, die mit ihrem Mann in Urlaub in Italien weilte, eine Postkarte bekommen. Sie haben schon damals einen Wohnwagen gehabt und sind jedes Jahr nach Italien gefahren. Auch dieses Mal waren sie schon dort und warteten auf den Besuch von ihrem Sohn. Dieser hatte Polen mit fünf Jahren verlassen, war inzwischen zwanzig Jahre alt und in München bei der Bundeswehr bei der Radarüberwachung tätig. Er bekam einen Kurzurlaub und wollte ihn mit den Eltern am Meer verbringen. Die Freude darüber wie auch über das schöne Wetter und den sonnigen, sauberen Strand war groß. Ich freute mich sehr über die guten Nachrichten *** Nachdem ich die Postkarte erhalten hatte, habe ich monatelang nichts mehr von meiner Schwester gehört. Dann, eines Tages, habe ich einen langen Brief erhalten. Dieser brachte aber keine guten, erfreulichen Nachrichten. Er war ausführlich und voller Kummer um den einzigen Sohn. Dieser hat wie geplant seinen Kurzurlaub mit den Eltern am Meer verbracht. Nach dem ersten Bad im Meer zeigte er seiner Mutter seine Achseln, die ihm Sorgen machten. Meine Schwester tastete sie ab und stellte auch fest, dass die Lymphdrüsen verdächtig hart und geschwollen waren. Nach dem zweiten Bad klagte er schon über Schmerzen in den Lymphdrüsen. Als er dann zurück nach München zu seiner Einheit musste, hat er den Eltern versprochen, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen. Die Eltern waren aber dermaßen beunruhigt, dass sie sich dazu entschließen, den Urlaub zu unterbrechen. Sie packten ihre Sachen zusammen und fuhren mit dem Wohnwagen auch gleich nach München zurück. Die weitere Nachricht im Brief war erschreckend, sie haben ihren Sohn nämlich auf einer Krebsstation im Krankenhaus im Münchener Stadtteil Schwabing vorgefunden. Die Blutuntersuchungen waren noch nicht abgeschlossen und weder er noch die Eltern ahnten, was da auf sie zukommen würde. Dann kam die schreckliche Diagnose: Leukämie! Ich konnte zwischen den Zeilen dieses Briefes spüren, wie verzweifelt meine Schwester und mein Schwager waren. Dem Sohn ist es nicht anders ergangen. Man verordnete ihm eine Therapie, die nach dem neusten Stand der Wissenschaft zusammengestellt worden war. Sie bestand aus zwei Therapiestufen, den Verlauf steuerte ein Computerprogramm. Nach der ersten Stufe durfte er zur Erholung nach Hause gehen. Toni hat ihren Sohn zu sich genommen, obwohl er damals schon verheiratet war. Als er dann zurück ins Krankenhaus kam, stellte er fest, dass viele Betten nicht mehr belegt waren. Er fragte nach und erfuhr, dass die Zimmergenossen verstorben waren. In der zweiten Behandlungsphase ist es ihm von einem Tag auf den anderen immer schlechter ergangen. Als er dann so schwach wurde, dass er nicht mal mehr die Treppe hinaufsteigen konnte, leistete er Widerstand und verweigerte die beiden letzten Spritzen. Die Ärzte standen um sein Bett herum und wollten ihm klar machen, dass eine weitere Therapie nötig sei. Aber Tonis Sohn blieb bei seiner Entscheidung, die ihm letztendlich das Leben gerettet hat. Bei seiner Entlassung aus dem Krankenhaus konnte er nichts mehr essen, selbst Kamillentee hat er ausgespuckt. Seine Organe versagten und als Nebenwirkung der „Therapie“ bekam er eine schwere Hepatitis. Er war physisch und psychisch am Ende seiner Kräfte. Bei seiner Entlassung war sein Zustand mehr als Besorgnis erregend und er wurde als schwieriger Patient abgestempelt. Nach ärztlicher Diagnose war die Überlebenszeit nur noch sechs bis sieben Monate. Diese Prognose hatte man im Beisein der Eltern und seiner Frau ausgesprochen. Letztere, hat ihn anschließend verlassen und die Scheidung eingereicht mit der Begründung, dass sie nicht mit einer lebenden Leiche leben will. Der Inhalt dieses Briefes war für mich erschreckend. Mein Neffe tat mir wahnsinnig leid. In meiner Erinnerung als Fünfjähriger war er immer gut gelaunt und zufrieden und ohne jede kleinste Forderung an das Leben. Danach hofften die Eltern, dass ihr Sohn in der Natur neue Lebenskraft erfahren möge. Erst haben sie sich alleine auf die Suche gemacht, um einen Stellplatz für ihren Wohnwagen zu finden. An vielen Orten haben sie nachgefragt, aber keinen gefunden. Als sie dann bei dem letzten Campingplatzbesitzer auch keinen Platz gefunden haben, wollten sie schon aufgeben und zurückfahren. Der Wirt war aber ein empathischer Mensch und merkte, dass die beiden traurig waren, was nicht typisch für Urlauber war. Er fragte nach, was der Grund dafür sei. Meine Schwester war schon am Gehen, da drehte sie sich nochmal um und sagte, dass sie ihren todkranken Sohn nur noch an die frische Luft bringen wollten. Der Wirt hakte nach und wollte wissen, um welche Krankheit es sich handelte. Daraufhin antwortete Toni, dass ihr Sohn Leukämie hat. Der Wirt lachte plötzlich und sagte: „Ja wenn es weiter nichts ist. Das hat meine Frau auch gehabt.“ Meine Schwester reagierte ganz verwirrt! Wie getrieben fragte sie nach und erkundigte sich, wie es der Frau des Wirtes ging und ob sie noch am Leben sei. Der Wirt lachte wieder und antwortete: „Ja, freilich, sie lebt!“ Somit kam meine Schwester mit dem Wirt ins Gespräch und erfuhr, dass seine Frau vor fünfzehn Jahren auch an Leukämie erkrankt war. Im weiteren Verlauf des Gesprächs hat meine Schwester die ganze Krankengeschichte erfahren, den erfolglosen Weg von Arzt zu Arzt, bis sie dann endlich unerwartet von einem Heilpraktiker geheilt worden war. Meine Schwester war wie elektrisiert und bat den Wirt um die Adresse des Heilers. Er holte einen Zettel und einen Kugelschreiber und schrieb die Adresse und die Telefonnummer des Heilers auf. Der Name war Pater Ober. Die Eltern sind mit ihrem kranken Sohn sofort und ohne Termin zu Pater Ober nach Aschau gefahren. Er brauchte nicht zu warten, Pater Ober hat sich wegen seines elenden Zustands sofort seiner angenommen. Kornelius war so geschwächt, niedergeschlagen und verzweifelt, dass er anfangs nicht bei der Therapie mitmachen wollte. Pater Ober wandte eine Blutwäsche mit Ozon an und verordnete lange Spaziergänge tagsüber. Dabei sollte er fünf Liter Tee trinken. Er sagte ihm auch klipp und klar, dass er mitmachen müsse, sonst könne er ihm nicht helfen. Meine Schwester war diszipliniert und konsequent, er musste mitgehen. Sie sprach ihm unterwegs ständig Mut und Zuversicht zu. Es war schließlich ein Kampf um sein Leben! Toni gab nicht auf und der Kampf um sein Leben ging jeden Tag weiter. Meine Schwester war viel kleiner als ihr Sohn, sie war zart gebaut, dabei hat sie aber die fünf Liter Tee für die fünf Stunden Bewegung im Rucksack mit sich getragen. Das war eine sehr schwere Zeit für die beiden. Die Blutwäsche mit Ozon hat nur vier Wochen gedauert! Danach durfte er nach Hause fahren. Die weitere Behandlung des Paters hat noch volle zwei Jahre gedauert. Diese sowie die Überwachung erfolgten durch Ferndiagnose und Fernbehandlung. Die nötigen Medikamente, die Naturheilmittel, die der Pater ihm verordnet hatte, schickte ihm die Schloß-Apotheke Aschau nach München. Die Geschichte der Heilung, die ich durch die Briefe meiner Schwester erfahren durfte, faszinierte mich. Die unglaubliche Heilung meines Neffen hat mich innerlich lange Zeit beschäftigt. Ich wollte alles darüber wissen und fragte mich, warum diese Art der Heilung den Ärzten nicht bekannt war. Warum müssen so viele an Leukämie sterben, wenn schon eine gezielte Methode erfolgversprechend ist? Warum fehlt an den Universitäten das Fach Naturheilkunde im Lehrplan? Die volle Genesung meines Neffen war für mich wie ein Wunder. Ich empfand dabei eine große Hochachtung und Respekt diesem fremden Heiler aus Bayern gegenüber. In den nächsten Briefen meiner Schwester habe ich ihre weiteren Bemühungen erfahren. Da die Behandlung von Pater Ober teuer war, haben die Eltern versucht, von der Techniker-Krankenkasse eine Rückerstattung zu bekommen – vergeblich. Auch das Gerichtsverfahren hat nichts genutzt, weil die Heilerfolge der Heilpraktiker damals – wie auch heute noch – in Deutschland nicht anerkannt waren! Nachdem Tonis Sohn aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hat man seine Unterlagen aus dem Krankenhaus an seinen Hausarzt geschickt. Nach zwei Jahren, völlig geheilt, besuchte er wegen eines Attests seinen Hausarzt Dr. med. Tietz. Als dieser ihn erblickte, sagte er staunend: „Sie leben? Wer hat Sie geheilt?“ Er kannte Pater Ober und sagte: „Ah ja! Den kenne ich, der kann was! Ich habe schon viel über seine Heilerfolge gehört.“ Dr. Tietz untersuchte Tonis Sohn gründlich und konnte seine volle Genesung nur bestätigen. Auch nach fünf Jahren und einer weiteren Untersuchung zeigten sich keinerlei Spuren der früheren Krankheit. Eine Ärztin aus dem Krankenhaus in Schwabing, aus dem er damals entlassen worden war, hat sich bei meiner Schwester noch ein Jahr lang telefonisch gemeldet und den Heilungsverlauf verfolgt. Weil die Eltern für das Gerichtsverfahren und die damit verbundene Kostenerstattung einen Nachweis brauchten, der den Krankheitsverlauf wiedergab, hat Dr. Tietz dieses Dokument für sie geschrieben. Auf den folgenden Seiten ist dieses abgedruckt und beweist den Heilerfolg. Nach der Gerichtsverhandlung betonte der Richter, dass er nach geltendem Recht keinen positiven Bescheid geben kann, er bat sie aber, den Fall zu publizieren oder an den Bund zu schicken, damit das Gesetz geändert würde. Auch der Krankenkassenvertreter war dieser Meinung und bedauerte, dass die Kosten nicht übernommen werden konnten ***

Kapitel 3. Während der Fahrt nach München haben wir kein einziges Mal angehalten. Den Ortsteil Neuaubing und das hohe Gebäude, in dem meine Schwester mit ihrer Familie wohnte, haben wir problemlos gefunden – als wären wir den Weg schon einmal gefahren. Es war später Nachmittag, als wir vor dem Haus ankamen. Mein Schwager spazierte mit hängendem Kopf vor dem Haus hin und her und wartete auf uns. Diese Tatsache habe ich als sehr beglückend empfunden. Als Bogdan das Auto angehalten hat und wir ausgestiegen sind, bemerkte uns Kurt und kam auf uns zu. Er führte uns in das hohe, schmale Haus, und als wir aus dem Lift im achten Stock ausgestiegen sind, stand Toni schon vor der geöffneten Wohnungstür und empfing uns mit offenen Armen. Die Begrüßung war herzlich. Wir hatten uns zwanzig Jahre nicht mehr gesehen! Das Abendessen hat auch schon auf uns gewartet und es gab viel zu erzählen. Dennoch, wir waren nach der langen Reise sehr müde und konnten auch gleich schlafen gehen, weil auch die Schlafplätze für uns vorbereitet waren. Ich fühlte mich angekommen. Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, verabschiedete sich Bogdan von uns und fuhr nach Mönchengladbach im Rheinland, wo er seinen Studienfreund besuchen wollte. Sie hatten sich seit der Abreise des Freundes aus Polen auch nie mehr gesehen. Am Abend, als Toni, Kurt und ich zusammen beim Abendbrot saßen, teilte ich ihnen mit, dass ich in Deutschland bleiben wollte. Toni war nicht überrascht. Sie hatte es geahnt. „Ich will euch aber nicht zur Last fallen und auch nicht bei euch bleiben“, versicherte ich gleich. „Aber ich werde eine kleine Hilfe von euch brauchen. Ich möchte nur, dass ihr mich dorthin begleitet, wo ich mich als Flüchtling anmelden muss.“ Mein Schwager schaute mich an und fragte: „Sag mal, was willst du in Deutschland eigentlich machen?“ Er zählte dazu gleich langsam meine „Minuspunkte“ auf: „Du bist eine Frau, 47 Jahre alt, hast keinen Beruf – das polnische Abi zählt hier nicht –, kannst nicht Deutsch sprechen, bist eine Rentnerin …“ Ich empfand seine Worte wie einen Schlag ins Gesicht, aber ich konnte mich beherrschen und wartete, was er noch zu sagen hätte, während mein Herz raste und mir die Luft abdrückte. Das, was mich so tief traf, war seine Feststellung, dass mein Frausein ein Nachteil ist. „Sind denn in Deutschland Frauen Menschen zweiter Klasse?“, war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf ging. Ich war in seinen Augen also eine Null für Deutschland, anderseits konnte ich ihm seine Aufzählung nicht übel nehmen, er hatte ja nichts Unwahres gesagt. Trotzdem musste ich mich erstmal innerlich sammeln. Währenddessen sprach mein Schwager weiter und sagte, dass Deutschland schon 30 % Arbeitslose hätte und ich keine Arbeit finden würde … Ich konnte ihn gut verstehen, er fürchtete, dass ich an seinem Portemonnaie hängenbleiben könnte. Ich habe ihm zugehört, aber einschüchtern wollte ich mich nicht lassen und sagte leise, aber entschlossen zu ihm: „Ich bin aber davon überzeugt, dass jeder, der hier arbeiten will, auch eine Arbeit finden wird. Außerdem hat Jaruselski im polnischen Fernsehen gesagt, dass Personen, die sich während der ersten fünf Jahre in Deutschland noch nicht zurechtgefunden haben, nach Polen zurückkommen können, ohne Konsequenzen zu befürchten. Ich habe also fünf Jahre Zeit und möchte die Chance nutzen.“ Meine treue Schwester hat am Montag fast den ganzen Vormittag am Telefon verbracht, bis sie herausfand, wo sich die Stelle für Flüchtlinge befand. Sie war in Nürnberg. Wir sind dann am 12. August 1987 gleich nach dem Frühstück mit dem Mercedes von Kurt dorthin gefahren und Toni hat für den Weg eine schmackhafte Brotzeit vorbereitet. Wir sind am Nachmittag in Nürnberg angekommen und haben vor zwei „Wolkenkratzern“ angehalten, die von einem Drahtzaun umgeben waren. Wir waren uns aber nicht sicher, ob wir richtig waren, weil keine Adresse zu sehen war. Wir sind aus dem Auto ausgestiegen, in den Hof hineingegangen und haben fast eine Stunde unruhig herumgestanden, ohne zu wissen, ob wir wirklich richtig sind und was wir weiter machen sollten. Inzwischen bekamen wir die Gewissheit, dass wir doch richtig sein mussten, weil durch das kleine Tor am Drahtzaun immer wieder ein Mensch hineinging. Um 17:00 Uhr kam aus dem ersten Gebäude eine Frau heraus und schloss die Türe hinter sich. Von dieser hat Toni die Information bekommen, dass um 19:00 Uhr ein Beamter kommen würde, um die Menschen zu registrieren. Mein Schwager, der die ganze Zeit schon unruhig auf die Uhr geschaut hatte, atmete auf. Wir haben uns auch gleich verabschiedet und ich setzte mich auf die einzige vorhandene Bank. Intuitiv habe ich Toni im letzten Moment meine zweite, schwere Tasche gegeben. Ich bin auf der Bank sitzen geblieben, fühlte mich sehr schwach, dennoch beobachtete ich ständig das kleine Tor, durch das ab und zu ein dunkelhäutiger Mensch ging. Die Unsicherheit der Eintretenden war nicht zu übersehen. Plötzlich überfiel mich ein Gedanke: „Was mache ich, wenn um 19:00 Uhr niemand kommt?“ Und in diesem Moment überkam mich eine wahnsinnige Angst. Ich spürte, wie mir das Fieber in den Kopf stieg. „Was mache ich ohne Geld und ohne Deutsch sprechen zu können? Wie komme ich nach München zurück? Während ich mich mit den düsteren Gedanken beschäftigte, merkte ich nicht mal, wie schnell die Zeit vorbeiging. Pünktlich um 19:00 Uhr betrat ein Mann das erste Gebäude und schloss die Türe hinter sich nicht. Ich atmete tief durch – ich war gerettet. Die wartenden Menschen folgten dem Mann und bildeten eine Reihe an der Wand im Erdgeschoß. Vor mir standen circa 20 Personen, sie waren ganz still. Plötzlich ist es vor dem Fenster laut geworden. Es gab einen Streit zwischen einer älteren Frau und dem Beamten. Die Frau war sehr aufgeregt und verließ die Reihe. Bei ihr sah ich einen circa 16-jährigen Jungen und ein etwas jüngeres Mädchen. Sie ging zur Seite, sprach aber immer noch sehr laut mit den Kindern – aber diesmal auf Polnisch! Das war meine Rettung. Ich verließ die Reihe und ging auf sie zu. Zunächst achtete sie nicht auf mich, aber als sie bemerkte, dass ich sie sprechen wollte, fragte sie mich nach meinem Wunsch. Ich fragte sie, ob sie so freundlich wäre abzuwarten, bis ich an die Reihe komme, weil ich noch kein Deutsch spreche und gerne verstehen würde, was der Beamte zu mir sagt. Die Frau war bereit mir zu helfen und wartete, bis ich dem Beamten gegenüberstand. Als er den Mädchennamen in meinem Reisepass erblickte, gab er mir einen Schlüssel und reichte mir einen Stapel von Vordrucken zum Ausfüllen. Dabei war seine Stimme sehr freundlich, aber wie gesagt habe ich zu diesem Zeitpunkt kein einziges Wort verstanden. Ohne die Hilfe der fremden Frau aus Schlesien hätte ich das Zimmer für die Übernachtung nicht gefunden, zu dem mir der Beamte den Schlüssel gegeben hatte. Inzwischen hatte sich die Frau beruhigt und wir kamen ins Gespräch. So habe ich erfahren, dass sie mit den Kindern lange unterwegs war, und da sie keine zwei Zimmer für die beiden Kinder bekommen hatte, mussten sie sich wieder auf den langen Weg nach Hause machen. In diesem Moment habe ich den Beamten und die ganze Aufregung der Frau verstanden, sie hatte nämlich zwei getrennte Zimmer für die Kinder verlangt! Nachdem wir uns verabschiedet hatten, machte ich mich auf den Weg zu dem Zwillingsgebäude. Dabei handelte es sich um eine Unterkunft für die Flüchtlinge. Im Haus war es ganz still und es war kein Mensch zu sehen. Die Treppe war breit und der Korridor war mit rotem Fußbodenbelag ausgekleidet. Mein Zimmer mit den Betten aus Eisen habe ich im fünften Stock gefunden. Auf dem Stockbett lagen schon einige Kleidungsstücke, also legte ich meine Tasche auf das Einzelbett und machte mich, obwohl ich sehr müde war, noch auf den Weg, um weitere Hilfe zu suchen. Ich ging langsam den Korridor entlang und orientierte mich. Plötzlich hörte ich vor einer Türe ein Lachen und laute polnische Worte! Ich hatte wieder Glück. Das waren Studenten aus Polen, die auch aus der Heimat geflüchtet waren. Sie waren gut gelaunt und dazu bereit, mir bem Ausfüllen der Anträge zu helfen. Auf dem Rückweg zu meinem Zimmer fand ich noch eine große Küche, die mit weißen, niedrigen Küchenschränkchen ausgestattet war. Das Schränkchen mit meiner Zimmernummer habe ich gleich entdeckt. Drin waren drei Teller, drei Tassen und Besteck für drei Personen. Ich habe über die Organisation staunen müssen. Mit einem Glas Wasser in der Hand kehrte ich in mein Zimmer zurück und konnte jetzt das Antibiotikum einnehmen. Im Zimmer habe ich eine junge Frau aus Polen mit einem etwa 12-jährigen Jungen vorgefunden. Sie war voller Freude und sagte mir, dass sie schon neun Stockwerke, das heißt neun Büros in dem Bürogebäude, hinter sich gebracht hatte, morgen nur noch das letzte auf sie wartete und sie am Nachmittag von ihrem Bekannten abgeholt würde. Im weiteren Verlauf unseres Gespräches habe ich von ihr erfahren, dass das Röntgen der Flüchtlinge zehn Tage lang dauert und dass man für diesen Zeitraum Essenskarten bekommt. Sie sagte mir weiter, dass ich um 03:00 Uhr in der Früh aufstehen müsste, um überhaupt in das Bürogebäude hineinzukommen, weil schon so viele Menschen da sein werden. Die junge Frau hat tatsächlich nicht übertrieben. Ich bin aber erst um 05:00 Uhr zum Bürogebäude gekommen und sah, dass sich mindesten schon hundert Menschen versammelt hatten! Woher kamen sie? Wo hatten sie übernachtet? In meinem Hotel hatte ich keinen einzelnen Menschen angetroffen! Da jede Person als Erste in das Gebäude kommen wollte, standen sie alle dicht an der Tür. Die Menge stand still und wartete. Ich bin dann jeden Tag auch so früh aufgestanden und musste mit den vielen Menschen warten, bis das Gebäude aufgemacht war. Es ging nicht anders. Drinnen waren später die schmalen, aber langen Gänge voller Menschen. Alle Stühle waren natürlich auch belegt. Hier musste ich wieder stundenlang warten, bis ich in das Büro gebeten wurde. Dieses war um Punkt 08:00 Uhr geöffnet worden und ein Beamter hatte sich vor dem geschlossenen Eingang mit gespreizten Beinen vor die Menge gestellt. Ich war am ersten Tag völlig irritiert. Der Beamte sah so aus, wie die Nazis in den polnischen Kriegsfilmen – mit denen die polnische Bevölkerung jeden Abend gefüttert wurde. Der Beamte trug zwar keine Uniform, aber immerhin eine Reithose und hohe Stiefel, die ihn so ähnlich erscheinen ließen. Er sah in die Menge, dann sagte er in einem ruhigen und nicht besonders lauten Ton folgende Worte: „Bitte stellen Sie sich in einer Reihe hin.“ Die Menge reagierte natürlich nicht, und ich habe ihn zuerst auch nicht verstanden. Er wiederholte geduldig: „Bitte stellen Sie sich in einer Reihe hin.“ Jetzt begriff ich, was der Beamte von der Menge verlangte und sagte ganz laut auf Polnisch: „Wir müssen uns in einer Reihe hinstellen, sonst werden wir nicht eingelassen!“ Die Menge fing an, sich zu bewegen. Der Beamte wartete geduldig ab und die Zeit lief. Nach einer Weile war so etwas wie eine Viererreihe entstanden und der Beamte fing an, die Menschen abzuzählen. Er hat nur zwölf Personen reingelassen, dann kurz abgewartet und die nächsten zwölf Personen in das Gebäude gehen gelassen, und so ging es weiter. Als ich reingehen durfte, wurde mir klar, warum er so gehandelt hatte. Das Hochhaus hatte keine Treppe, man konnte sich nur mit dem Lift zwischen den Stockwerken bewegen. An den folgenden Tagen bin ich dann doch um 03:00 Uhr in der Früh aufgestanden, um früher reinzukommen, es hat aber nichts genutzt. Das war ein Ding! In den frühen Morgenstunden waren jeden Tag schon so viele Wartende vor dem Gebäude und immer gab es denselben Ablauf. Ich konnte tatsächlich jeden Tag nach einer langen Wartezeit in den schmalen und überfüllten Korridoren nur eine bestimmte Angelegenheit erledigen. Es war immer knapp vor 12:00 Uhr, als ich das Gebäude mit dem Lift verlassen konnte, danach wurde pünktlich geschlossen. Jeden Tag befand ich mich also ein Stockwerk höher. Die Korridore waren sehr schmal, aber lang und ständig überfüllt. Die Luft wurde mit jedem Stockwerk knapper. Die Korridore hatten aber zum Glück an jedem Ende eine Balkontür, die zu einem Notausgang führte. Ich habe jeden Tag an der Balkontür gestanden, weil ich spürte, dass in der knappen Luft einmal eine Notsituation auf mich zukommen würde. Der August in diesem Jahr war sehr heiß und eines Tages, als ich in dem engen, überfüllten Gang Atemnot empfand, machte ich die Balkontür ein wenig auf und schnappte nach Luft. In diesem Moment kam die Beamtin aus dem ersten Büro sofort heraus und schrie mich an: „Wenn Sie krank sind, dann zurück nach Polen mit Ihnen! Wir brauchen hier keine Kranken!“ Und sie machte die Türe wieder zu. Der Hass in ihrer Stimme hat mich tief getroffen, sodass ich automatisch die Treppe runtergelaufen bin. „Aber nein! Halte durch!“, ging es mir durch den Kopf. Mit den Augen voller Tränen ließ ich mich auf einer Bank nieder und heulte mich so richtig aus. Es dauerte eine Weile, bis ich mich einigermaßen beruhigen konnte. Als es mir besser ging, verspürte ich einen riesigen Hunger. Ich hatte ja am ersten Tag bei der Anmeldung Essenskarten für zehn Tage bekommen. Man konnte wählen: Entweder hat man Trockenproviant für den ganzen Tag gewählt oder man konnte zum Mittagessen gehen. Dafür musste man aber alle drei Abschnitte für den ganzen Tag abgeben. An diesem Tag habe ich mich aus Trotz für das Mittagessen entschieden. Die Kantine war überfüllt, die vorherrschende Hitze war unerträglich und in der Luft hingen verschiedene Gerüche. Ich habe ein riesiges Schweinekotelett mit Kartoffeln bekommen, aber das Fleisch war hart wie eine Schuhsohle, sodass ich es nicht essen konnte. Da ich drei Abschnitte für ein einziges Mahl abgeben musste, bin ich an diesem Abend hungrig schlafen gegangen. Meine junge Zimmergenossin hat an diesem Tag den Registrierschein bekommen und wurde als Deutsche anerkannt. Am Nachmittag wurde sie von ihrem Freund abgeholt. Mein Aufenthalt in der Durchgangsstelle in Nürnberg hat auch zehn Tage gedauert und leider habe ich nicht verstanden, was all die Beamten von mir wissen wollten. Nicht alle Beamten waren unfreundlich und voller Hass auf die Fremden. Ich erinnere mich an einen sehr netten, höflichen Beamten, einen älteren Herrn, der sich mit mir auch nicht verständigen konnte. Als er dann meinen Mädchennamen sah, hob er seine beiden Hände ans Gesicht und klagte laut: „Deutschland, Deutschland, du hast Kinder, die deine Muttersprache nicht kennen! Er war außer sich, seine Worte habe ich aber verstanden. Wie die hasserfüllten Worte der Beamtin zuvor auch. Die Zeit, in der meine Unterlagen geprüft wurden, verging sehr schnell. Am letzten Tag war es so weit – ich musste mich entscheiden, in welche Richtung Deutschlands ich mich begeben wollte. Die nette Beamtin zeigte mir eine Landkarte Deutschlands, zeigte mit dem Zeigefinger auf München und schaute mich fragend an. Als ich ihre stumme Frage mit einem Kopfschütteln verneinte, zeigte sie auf Regensburg. Mit der Richtung war ich einverstanden und dachte an Toni und Kurt. Ich sollte mich ja nicht für München entscheiden. Danach musste ich noch auf meine Fahrkarte warten. Diese war keine reguläre Karte. Auf ihr stand: Regensburg – Regenstauf. Am Schluss wurde ich ins Erdgeschoß geschickt, wo ich von der Kasse 200 DM bekommen habe. Mit dem Geld bin ich sehr sparsam umgegangen, weil ich nicht wusste, für wie lange es reichen sollte. Es hat den ganzen Monat gereicht. Heute, 2016, wäre es unmöglich, mit 100 Euro im Monat auszukommen, es würden nicht einmal 300 reichen – was 600 DM entspricht *** Am nächsten Tag um 06:00 Uhr in der Früh hat mich eine sehr laute, befehlende Stimme aus dem Bett gerissen: „Achtung, Achtung!“ Die laute Warnung hatte mich dermaßen erschreckt, dass ich sofort aus dem Bett sprang. „Luftangriff! In den Keller!“, war mein erster Gedanke. Das war dieselbe laute, harte Stimme wie im Krieg, die uns vor den Luftangriffen gewarnt und in einen Schutzraum befohlen hatte. Ich war blitzschnell angezogen und lief mit rasendem Herzen die Treppe aus dem fünften Stock hinunter. Vor dem Hotelgebäude war kein Mensch. Ich war aufgeregt und total desorientiert. Was war los? Nach einer Weile wurde mir bewusst, dass nach der Warnung, die mich so aus dem Gleichgewicht geworfen hatte, noch weitere Worte gefolgt waren, die ich aber nicht weiter wahrgenommen hatte. Und jetzt stand ich da. Nachdem der Schreck vorbei war und ich mich beruhigt hatte, sah ich vor dem Bürogebäude einen kleinen Bus stehen und ein Mann winkte mir schon eine ganze Weile zu. Ich ging langsam auf den Bus zu. Aus dem Bus sagte jemand auf Polnisch: „Steigen Sie doch ein! Wir werden zum Bahnhof gebracht! Wir warten nur noch auf die anderen.“ Als der kleine Bus besetzt war, brachte uns der Fahrer zum Bahnhof. Dieser kam mir sehr groß und schön vor. Was mir gleich auffiel, war die geringe Zahl von Reisenden. Ich musste sofort an Katowice denken und an den ständig überfüllten Bahnhof. Der Busfahrer brachte jeden von uns auf einen anderen Bahnsteig. Auf diesem war kein einziger Mensch zu sehen! Nachdem ich auf den richtigen Bahnsteig gebracht worden war, setzte ich mich auf eine Bank und atmete erstmal tief durch. Die Leere auf dem Bahnsteig und der fehlende Zug signalisierten mir, dass ich noch viel Zeit bis zur Abfahrt hatte und das beruhigte mich. Nach einer guten Stunde stand ich auf, um die Abfahrtzeit auf dem Fahrplan zu suchen. Es dauerte aber lange, bis ich sie gefunden hatte, weil der Fahrplan in ganz kleinem Schreibmaschinendruck geschrieben war. Diese Tatsache hat mir nicht gefallen. Konnten ältere Menschen diese kleine Schrift überhaupt lesen? Ich fand jedenfalls heraus, dass ich noch eine volle Stunde Wartezeit vor mir hatte und das war gut so. Ich setzte mich wieder auf die Bank und dachte über das in den letzten Tagen Erlebte nach. Durch den Kopf ging mir vor allem die perfekte Organisation, die mich so beeindruckt hatte, die Begegnung mit der hasserfüllten Beamtin und die heiße Luft im Flur, an der ich zu ersticken drohte. Dann dachte ich an den netten, älteren Beamten, der mit mir sprechen wollte, aber nicht konnte. Als der Zug gekommen war, hatte ich mich schon wieder im Griff. Komischerweise war immer noch kein einziger Mensch auf dem Bahnsteig zu sehen! Nachdem ich in einem Wagon Platz genommen hatte, musste ich weiter staunen! Es war weit und breit kein Mensch im Zug zu sehen und ich saß die ganze Zeit alleine im Abteil. Die einzige Person, die ich während der Fahrt nach Regensburg sah, war ein Schaffner, der mich mit einem forschenden Blick betrachtete. Schließlich bin ich in Regensburg ausgestiegen. Der Bahnhof hat mir ebenfalls sehr gefallen und mich beeindruckt. Vor diesem fand ich einen sehr großen Platz mit vielen Bushaltestellen. Auch hier waren die Fahrpläne sehr klein gedruckt, was mich ärgerte, obwohl ich damals noch keine Brille brauchte. Es hat lange gedauert, bis ich auf einer Tafel Regenstauf gefunden hatte. Inzwischen war mir ein Bus in diese Richtung vor der Nase weggefahren, was mich zusätzlich ärgerte. Das Fieber war längst hochgestiegen und ich fühlte mich krank. Bis ich endlich weiterkam, dauerte es wieder lange. Im Übergangswohnheim in Regenstauf bin ich am späten Nachmittag angekommen. Der Blockleiter des Heimes war aber da. Er gab mir einen Zettel mit drei Adressen, unter denen ich mich in drei Tagen anmelden sollte. Diese Info wiederholte er mehrmals, bis ich sie verstanden hatte. Dann führte er mich gleich in eine Dreizimmerwohnung, die im Erdgeschoß lag. Mein Zimmerchen war circa neun Quadratmeter groß und ich sollte es mit einer älteren Frau aus Rumänien teilen. „Sie ist noch nicht von einem Spaziergang zurückgekommen“, erklärte mir der nette Blockleiter. Diese Information habe ich komischerweise verstanden. Im Zimmer befanden sich zwei normale Betten, ein kleiner Tisch, zwei Stühle und ein schmaler Schrank, den ich mit meiner Zimmergenossin teilen durfte. Etwas später begrüßte diese mich und lächelte mich an. „Die ist aber alt“, dachte ich im ersten Moment. Ihr Gesicht bestand nur noch aus tiefen, dicken Falten. Sie war aber erst 68 Jahre alt! Dass die Frau ein Schuldeutsch sprach, habe ich gleich erkannt. Sie sprach mich ständig an, doch ich habe kaum etwas verstanden. Mein erster Weg am nächsten Tag führte mich in das Rathaus. Den Zettel, den ich von Herrn König bekommen hatte, hatte ich dabei, damit der Beamte wusste, warum ich hergekommen war. Der weitere Weg führte mich mit dem überfüllten Bus nach Regensburg, wo ich mich beim Arbeitsamt, dem Sozialamt und der AOK anmelden musste. Im Sozialamt hat man mich registriert. Nun stand ich vor einem großen Kalender und der höfliche Beamte zeigte auf den 25. September. Da wir erst den 25. August hatten, habe ich begriffen, dass ich in einem Monat wiederkommen durfte. Das Geld, das ich in Nürnberg bekommen hatte, musste also für einen Monat reichen. Im Arbeitsamt nahm man mich in die Kartei auf und der Beamte schüttelte nur den Kopf. Hier verstand ich kein einziges Wort. Es war bedrückend für mich. Der junge Beamte machte ein trauriges Gesicht, streckte die Hände aus und schüttelte den Kopf. Später habe ich erfahren, dass ich als Rentnerin kein Recht auf Arbeit, Arbeitslosengeld oder einen Sprachkurs hatte. Nachdem ich mich in den drei Ämtern angemeldet hatte, schaute ich mich kurz in der Stadt um und blieb eine Weile auf der alten, schönen und breiten Betonbrücke an der Donau stehen. Es gefiel mir hier, ich eilte aber zum Bus, um mich schließlich in meinem neuen Zuhause ausruhen zu können. Ich habe weiter krankhaft geschwitzt und müde war ich auch. Die hohen Temperaturen in diesem Sommer machten mir sehr zu schaffen, vor allem in dem überfüllten Bus. Die Tatsache, dass ich an diesem Tag alle drei Amtswege hatte erledigen können, ließ mich innerlich aufatmen. Nachdem ich mich ausgeruht hatte, machte ich mich am Abend auf den Weg zu einer Telefonzelle, um mich endlich bei Toni zu melden. Sie hatte schon ungeduldig auf meinen Anruf gewartet. Nun konnte ich ihr endlich erzählen, was in den letzten Tagen alles passiert war und was ich bereits erledigt hatte. Vor allem wollte sie wissen, wo ich gelandet war. Mein Bericht war lang und voller Emotionen. Dann bekam ich von Toni eine Anweisung, an die ich mich von diesem Tag an halten sollte, nämlich alle amtlichen Briefe sofort an sie weiterzuschicken, damit sie im Bilde war, in welcher Situation ich mich befand, weil ich doch kein Wort aus dem Schreiben verstehen würde. So sind wir an diesem Tag auch verblieben *** Nach ein paar Tagen in Regenstauf bekam ich von meiner Nichte zwei Wörterbücher. Von da an habe ich jeden Tag ein paar Worte für meinen täglichen Gebrauch aus den Wörterbüchern gelernt. Wir hatten keinen Fernseher im Zimmer, auch kein Radio, also waren die beiden Bücher für mich eine wertvolle Hilfe, um die deutsche Sprache zu erlernen. Die Worte, die ich lernen und behalten wollte, habe ich in großer Schrift auf ein Blatt geschrieben und in der Früh um 06:00 Uhr beim Aufwachen gleich gepaukt. So ging es dann die ganze Zeit konsequent weiter. Jeden Tag! Ich wusste, dass ich jetzt von der Sprache abhängig war und ohne sie nicht weiterkommen würde. Ich war zufrieden, dass ich endlich etwas für mich selber machen konnte. Die polnische Stagnation war damit beendet und vorbei. Eines Tages zeigte mir meine Zimmergenossin, Frau Elisabeth, die Kleiderkammer, die sich in unserem Keller befand. Darin habe ich alles gefunden, was ich für den Herbst und Winter brauchte. Das hat mich beruhigt, weil die 200 DM tatsächlich nur für das Überleben reichten. An einem anderen Tag erlebte ich wieder ganz überraschend die heulende Sirene. Sie war dermaßen schrill und laut wie die, die ich als Kind während des Krieges erlebt hatte. Ich stürzte aus der Wohnung und blieb vor dem Haus stehen, es war aber kein Mensch zu sehen. Ich war sehr aufgeregt und konnte nicht verstehen, dass niemand auf den Alarm reagierte. Als der letzte Klang der Sirene verloschen war, wartete ich ab. Es tat sich aber weiterhin nichts. Ich ging dann weiter auf die Hauptstraße und schaute mich um. Ganz weit weg sah ich Menschen, die sich langsam bewegten und nicht nervös wirkten. Wahrscheinlich kamen sie von einem Spaziergang ins Heim zurück. Nach einer Weile erkannte ich zwischen den Spaziergängern eine Frau aus Mikolow! „Die Welt ist aber klein!“, dachte ich. Wir kannten uns nur vom Sehen her, aber jetzt ging sie auf mich zu und wir begrüßten uns wie alte Bekannte. Die Überraschung war groß und wir freuten uns über diese unerwartete Begegnung. Ich fragte sie natürlich gleich, was es mit dem Alarm auf sich hatte. So erfuhr ich, dass in dem nahe liegenden Wald eine amerikanische Einheit stationiert war und die Sirene die Soldaten zu Übungen aufgefordert hatte. „Gott sei Dank, ich dachte schon, dass ein Krieg ausgebrochen wäre“, sagte ich. „Muss da gleich der ganze Ort in Schrecken versetzt werden?“ Ich habe in Schlesien nach dem Krieg keinen Alarm mehr erlebt, deswegen habe ich mich beim lauten Schrillen der Sirene so erschrocken. Der nächste Alarm hat mich nicht mehr in Panik versetzt, aber trotzdem musste ich mich erst daran gewöhnen *** Nachdem ich mich in Regensburg beim Arbeitsamt angemeldet hatte, bekam ich nach wenigen Tagen ein amtliches Schreiben, das ich sofort an Toni weiterschickte, so wie wir das verabredet hatten. Kaum dass es versandt war, bekam ich plötzlich einen überraschenden Besuch von Toni und Kurt. Ich stand gerade im Bad und schaute aus dem Fenster, da sah ich unerwartet ihr Auto auf den Parkplatz fahren. Rechts stieg Toni aus und eilte ins Heim, während Kurt sich eine Pfeife anzündete und sich mit dem Rücken zum Heim am Auto anlehnte. Ich ging Toni entgegen und öffnete die Wohnungstür. Sie kam ohne Begrüßung herein und fragte: „Wann fährst du?“ Ich wusste sofort, worauf sie hinauswollte und sagte ganz gelassen zu ihr: „Toni, beruhige dich, alles ist gut, ich habe Sozialhilfe bekommen. Hol doch den Kurt“, sagte ich beruhigend. Ein paar Minuten später kam mein Schwager schweigend herein und setzte sich auf den Stuhl. Toni nahm das Schreiben vom Arbeitsamt aus ihrer Tasche heraus und gab es mir zurück. Dabei erklärte sie mir, was darin stand. „Du bekommst kein Arbeitslosengeld und auch keine Rente!“, sagte sie, immer noch erregt. Daraufhin sagte ich wieder ganz gelassen: „Bitte Toni, beruhige dich doch, ich habe Sozialhilfe bekommen, damit wird alles gut! Ich bin nicht im Stich gelassen worden, ich hab Geld zum Leben bekommen und ich habe fünf Jahre lang Zeit! Ich werde Deutsch lernen und damit arbeiten können. Das ist doch die Chance, die ich brauche!“ Ich habe damals schon ein kleines Licht am Horizont für mich gesehen *** Während ich mich jeden Tag auf das Lernen konzentrierte und für nichts anderes mehr einen Kopf hatte, machte sich Toni Sorgen um meinen gesundheitlichen Zustand. Ohne mein Wissen hatte sie in der Praxis von Pater Ober einen Termin für mich vereinbart und eines Tages bat sie mich, nach München zu kommen. Am 10. Oktober 1987 bin ich dann mit Toni und Kurt nach Aschau gefahren. Nachdem wir das Auto auf dem Campingplatz abgestellt hatten, führte mich Toni durch die großen Wiesen in die Praxis. Dass Pater Ober nicht in Aschau weilte, wusste Toni nicht. Seine Assistentin, Frau D. J., ebenfalls eine Heilpraktikerin, empfing uns. Sie untersuchte mich genau und verabreichte mir am Schluss eine Spritze in die Halswirbelsäule, was überhaupt keinen Schmerz verursachte. Das wunderte mich sehr. Während ich noch auf der Liege ruhte, unterhielt sich die Heilpraktikerin die ganze Zeit mit Toni, wobei ich kein einziges Wort verstand. Nachdem ich aufstehen durfte und mich zu Toni auf einen Stuhl setzte, sagte Toni mit staunendem Gesicht zu mir: „Frau D. J. will dich im Haus behalten, sie sagt, dass du hierher passt. Sie bietet dir eine Zweizimmerwohnung und 1200 DM im Monat an!“ „Aber Toni!“, sagte ich sofort, „das geht doch nicht! Ich muss doch erst die Sprache lernen, in eine Schule kommen, ich verstehe sie doch gar nicht!“ Jetzt stand die Heilpraktikerin auf und nahm ein Foto in die Hand, auf dem eine Nonne abgebildet war. Sie sagte zu Toni: „Diese Nonne hat Pater Ober das Pendeln beigebracht. Er hat es dann mir beigebracht und heute mache ich ihrer Schwester den Vorschlag, es zu erlernen.“ Toni war immer noch verblüfft und übersetzte mir gleich ihre weiteren Worte. Ich war von dem gesamten Angebot genauso überrascht wie Toni, sagte aber nochmal: „Bitte sag ihr, dass mich ihr Angebot zwar ehrt, aber bleiben kann ich nicht. Sag ihr, dass ich erst in eine Schule gehen möchte.“ Die Heilpraktikerin sah meine Entschlossenheit und bedauerte meine Entscheidung, stellte sich aber nicht dagegen. Wir kehrten in Gedanken versunken durch die großen Wiesen zum Campingplatz zurück. Toni erzählte Kurt immer noch staunend gleich von dem Angebot, das mir die Heilpraktikerin gemacht hatte. Er staunte natürlich auch, sagte aber nichts. Keiner von uns dreien konnte damals ahnen, dass ich nach vielen Jahren als staatlich anerkannte Pflegekraft und nach zehn Jahren Erfahrung in der Pflege und Geriatrie eines Tages nach Aschau zurückkommen würde, um Pater Ober beizustehen *** Wir fuhren nach dem Mittagsessen gleich nach München zurück, wo ich den Zug nach Regenstauf nahm. Es wurde mir klar, dass ich nicht nur die Sprache erlernen musste, sondern auch einen nützlichen Beruf, in dem ich in meinem Alter noch eine Chance hätte. Vorerst paukte ich die Worte aus dem Wörterbuch jeden Tag weiter und weiter. Ich habe mit der Zeit auch meine Zimmergenossin Elisabeth immer besser verstanden, aber für die Spaziergänge mit ihr hatte ich leider keine Zeit. Ich fing auch an, Bücher zu lesen. Erst war es die einfache Schriftstellerin Courths-Mahler mit ihrem begrenzten Wortschatz. Natürlich habe ich auch sie am Anfang gar nicht verstanden, aber ich las weiter. Dann kam der Zeitpunkt, ab dem ich immer mehr aus den Büchern verstand. Es waren Romane mit gutem Ausgang. Ich habe die Autorin dafür bewundert, dass sie sich zutraute, Bücher zu schreiben. Das war nämlich eine Frau ohne Ausbildung, und die Themen für ihre Romane entnahm sie den Gesprächen der Damen, die Stoffe für ihre Krinolinen und modernen Kleider in dem Geschäft kauften, in dem sie als Verkäuferin arbeitete. Das waren noch die alten Zeiten, in denen sich die Damen für ihre Einkäufe viel Zeit nehmen konnten und dabei mit der Freundin im Geschäft plauderten. Die junge Verkäuferin – sie war damals 16 – hörte neugierig zu und sammelte Stoff für ihre künftigen Romane. Ein mutiges, talentiertes Mädchen! Der nächste Autor war Konsalik, aber auch die dünnen Heftchen, die Arztromane, in denen ich die Gespräche der Personen verfolgen konnte. Eines Tages während des Lernens fiel mir plötzlich ein Satz aus der Bibel ein: „Bittet und ihr werdet erhört!“ Nachdem mir die Worte auf Polnisch so plötzlich in den Sinn gekommen waren, wusste ich, was ich machen musste. Ich habe mich sofort auf ein Gespräch beim Arbeitsamt vorbereitet und am nächsten Tag fuhr ich nach Regensburg. Ich wollte den Beamten um einen Sprachkurs bitten, wohlwissend, dass ich eigentlich keinen Anspruch darauf hatte. Wie ich es erwartet habe, nahm der Beamte meine Kartei in die Hand, schaute sie lange an und fing an, den Kopf zu schütteln. Darauf war ich vorbereitet. Ich wartete ab. Dann sagte er mir, dass ich keinen Anspruch auf einen Sprachkurs habe, weil ich als Rentnerin nach Deutschland gekommen bin. Das wusste ich ja auch schon. „Bitte! Machen Sie mir doch das Leben nicht so schwer, ohne die Sprache kann ich doch nicht arbeiten gehen“, sagte ich schließlich. „Bitte, bitte, helfen Sie mir doch.“ Der Beamte blieb dabei. Das Gespräch war beendet und ich fuhr sehr enttäuscht und niedergeschlagen nach Regenstauf zurück. Kurz nach dem Besuch erlebte ich aber eine unerwartete Überraschung: In einem Schreiben teilte mir das Arbeitsamt mit, dass ich einen Sprachkurs besuchen durfte, und zwar vom 19. November 1987 bis zum 06. Mai 1988. Als ich Toni die gute Nachricht mitteilte, fragte sie nur staunend: „Wie hast du das geschafft?“ *** Das Institut für Ganzheitliches Lernen, das IGL, befand sich in der Leopoldstraße 3 in Regensburg. Am ersten Tag mussten sich alle Personen, die sich für den Sprachkurs angemeldet hatten, einem Test unterziehen. Mit diesem hat man unsere Deutschkenntnisse geprüft, danach wurden wir in zwei Gruppen aufgeteilt. Ich kam natürlich in die erste Gruppe, die bei null anfangen musste. In die zweite Gruppe kamen die Personen, die schon ein wenig sprechen konnten und im Test besser abgeschnitten hatten. In den ersten Tagen bin ich mit dem Bus nach Regensburg gefahren, was für mich natürlich eine große Ausgabe bedeutete. Dann erfuhr ich, dass manche Personen aus meinem Übergangswohnheim mit dem Auto in die Schule kamen. Es hat sich dann die Möglichkeit ergeben, dass ich mitfahren konnte, somit wurde ich wieder mal gerettet. Meine Gruppe zählte vierzehn Personen. Die Teilnehmer kamen aus verschiedenen Ländern wie Russland, Polen oder Rumänien, einer war sogar aus Arabien. Unser Unterricht hat schon am nächsten Tag begonnen. Wir haben uns in einer Reihe auf die Stühle vor der Tafel hinsetzen müssen und der junge Lehrer hat den ersten Unterricht mit uns mithilfe eines Balles begonnen. Diesen hat er jedem von uns zugeworfen, dabei sprach er einen kurzen Satz aus, aber ganz langsam und deutlich und daran angepasst, aus welchem Land der Schüler kam, zum Beispiel: „Ich komme aus Russland. Ich komme aus Arabien.“ Der junge, aber sehr erfahrene Lehrer hat den Ball jeder Person so lange zugeworfen, bis sie den Satz übernehmen und wiederholen konnte. Dabei hat er während des ganzen Unterrichtes kein anderes Wort gesprochen und jeder von uns konnte sich den Satz merken, weil er für ihn gegolten hat. Auch die Bedeutung hat jeder verstanden. Der Lehrer hat uns also ein einfaches Erfolgserlebnis beschert, ohne zu hohe Anforderungen zu stellen. Es war interessant und ich habe den Lehrer bewundert. Am nächsten Tag brachte er uns bei, wie wir uns vorstellen konnten, und an jedem weiteren Tag lernten wir neue Sätze. Wir konnten das in der Schule Gelernte zu Hause wiederholen und festigen, weil wir das, was er an die Tafel schrieb, in unser Heft abschreiben mussten. Der junge Lehrer, Herr Gottfried Schünner, hat sich auf jede Unterrichtseinheit sehr gut vorbereitet. Er hat sich viel Mühe gegeben, um uns die Sprache gut beizubringen. Manche Worte oder Unterschiede zwischen den Worten hat er sogar bildlich erklärt. Eines Tages ging es um den Unterschied zwischen „ich möchte“ und „ich will“. Herr Schünner hat sich in einen Schauspieler verwandelt und zeigte uns, wie sich ein Kellner bei der jeweiligen Phrase verhalten würde. Er brachte uns zum Lachen und wir haben den Unterschied sehr gut verstanden und auch behalten. An einem anderen Tag erzählte uns Herr Schünner, wie es war, als er als Kind mit den Eltern nach Deutschland kam. Er erwähnte dabei, dass seine Mutter immer noch „Kiche“ statt „Küche“ sagte. An diesem Tag habe ich auch erfahren, wie alt er war. Er kam am selben Tag, im selben Monat und im selben Jahr wie meine ältere Tochter auf die Welt! Er war also erst achtundzwanzig Jahre alt, hatte aber eine sehr große Erfahrung im Umgang mit uns Anfängern. Und nicht nur das, er verfügte auch über ein großes Einfühlungsvermögen, er erkannte sofort unsere Schwächen, unsere Schwierigkeiten und Probleme, die mit dem Lernen der neuen Sprache verbunden waren. Er konnte sich aufgrund eigener Erfahrungen sehr gut auf uns einstellen. Er war als Lehrer in seinem Element *** Vor Ostern 1988 wurde meine Gruppe geprüft. Wir mussten einen Test schreiben und das fand ich gar nicht gut, es war einfach zu früh! Danach mussten die Personen, die den Test gut geschrieben hatten, in die zweite Gruppe wechseln. Eine Frau aus Opeln und ihre Tochter sowie ich haben den leichten Test bestanden und mussten die Gruppe von Herrn Schünner verlassen. Nun hatten wir einen anderen Lehrer. Ab diesem Zeitpunkt habe ich nichts mehr gelernt, auch mein Heft blieb leer. Ich habe zehn kostbare Tage verloren, weil wir jeden Tag – zehn Tage lang! – stundenlang ein blödes Lied über einen schwarzen Vogel singen mussten. Die Situation machte mich nervös, ich konnte den Zustand nicht mehr ertragen und musste etwas unternehmen. Ich habe mich mithilfe des Wörterbuches auf ein Gespräch mit dem Lehrer vorbereitet, weil ich ihn am nächsten Tag in der Pause darauf ansprechen wollte. Ich war mir aber nicht sicher, wie er reagieren und ob er sich nicht beleidigt fühlen würde. Ich musste ihn aber sprechen. Am nächsten Tag, als wir wieder dieses Lied singen mussten, ging ich in der Pause zu ihm und redete mittels der dafür erlernten Sätze mit ihm. Ich bat ihn, sich für den Unterricht vorzubereiten, weil ich schon zehn Tage verloren und nichts gelernt hatte. Und in meinem Heft stand auch nichts, wie ich mutig zugab. Mehr konnte ich nicht sagen. Für die holprige Darstellung meines Wunsches habe ich mich natürlich geschämt, aber der Lehrer hat begriffen, dass ich lernen und nicht nur herumsitzen wollte. Der Lehrer, der einen polnischen Namen hatte, sagte kein Wort, und ich bekam Angst, dass er sich beleidigt fühlte und bei der Leitung über mich beklagen würde. Ich fürchtete, dass ich womöglich aus dem Kurs fliegen könnte. Vor lauter Kummer konnte ich nachts nicht schlafen. Am nächsten Tag habe ich einen tollen Unterricht erlebt! Sogar die Tafel wurde vollgeschrieben, ich konnte alles in mein Heft abschreiben und zu Hause lernen. Ich war sehr zufrieden, obwohl der Unterricht nicht an den von Herrn Schünner anknüpfte. Nach dem Unterricht kam der junge Lehrer auf mich zu und fragte mich, ob ich jetzt zufrieden sei. Ab da bereitete er sich für jeden Unterricht sorgfältig vor. Tatsache aber blieb, dass ich zehn kostbare Tage verloren hatte. Der Unterschied zwischen den beiden gleichaltrigen Lehrern war groß und ich empfand es als ungerecht und sehr schmerzhaft, dass ich die erste Gruppe hatte verlassen müssen. Anfang Mai war der Sprachkurs für mich beendet. Viel hatte ich aber nicht gelernt, weil die kurze Kurszeit zusätzlich von Weihnachts- und Osterferien unterbrochen wurde. Die anderen Kursteilnehmer durften bleiben und das hohe Arbeitslosengeld zehn Monate lang beziehen, obwohl der größte Teil während des Unterrichtes geschlafen hatte und außerdem Deutsch reden konnte. Die Leute gaben es aber nicht zu, es ging ihnen nur darum, das hohe Arbeitslosengeld zu bekommen. Sie waren im Vorteil, weil sie bis zur Ausreise nach Deutschland gearbeitet und somit ein Recht auf Arbeitslosengeld hatten. Sie freuten sich, dass sie nicht arbeiten mussten. Sie machten aber den Sprachkurs mit, um die 800 DM im Monat zu bekommen, weil das sehr viel Geld für sie war. Ich dagegen musste mich mit 200 DM abfinden, obwohl ich lernen und arbeiten wollte. Nachdem die Zeit des Kurses für mich abgelaufen war, musste ich eine Prüfung schreiben. Man hatte mich in einem leeren Schulraum allein sitzen gelassen und ich bekam zwei Aufgaben zur Auswahl. Ich entschied mich für das Thema „Mein erster Tag in Deutschland“. Ich schrieb die Arbeit, ohne auf die Grammatik zu achten. Es sind mehrere Seiten geworden. Dabei dachte ich: „Was soll’s, ich schreibe, wie ich kann.“ Am nächsten Tag erlebte ich eine Überraschung. Der Lehrer kam mit meiner Arbeit in der Hand in die Klasse und sagte: „Das war die beste Arbeit, die man seit Jahren in diesem Institut geschrieben hat!“ Ich wurde sehr verlegen – „machte er sich über mich lustig? Die fehlende Grammatik! Die ungeschickten Sätze …“, dachte ich. Er meinte es aber ernst. Er zitierte sogar manche Ausdrücke aus meiner Arbeit, die ihm angeblich so gefallen haben. Während er meinen Aufsatz lobte, wurde mir bewusst, dass er den Inhalt und nicht die Fehler beurteilt hatte. Darüber verlor er kein einziges Wort, weil ihm klar war, dass ich in der kurzen Zeit nur den Akkusativ und den Genitiv gelernt hatte *** Meine Unterkunft in Regenstauf, in der ich das kleine Zimmerchen mit Frau Elisabeth aus Rumänien teilte, war gut ausgelastet. Insgesamt haben in unserer Dreizimmerwohnung acht fremde Menschen zusammengelebt. Das größte Zimmer bewohnte ein junges Ehepaar mit zwei Kindern im Schulalter, das zweite kleine Zimmer ein älteres Ehepaar aus der DDR. Diese Frau hat ständig geweint und kam selten aus dem Zimmer heraus. Der Mann war schon ganz verzweifelt. Unsere gemeinsame Zeit in der Unterkunft verlief reibungslos, wir haben unter dem gemeinsamen Dach in Harmonie gelebt. Wir Frauen haben uns die Küche geteilt und manchmal auch zusammen gekocht und nachmittags geplaudert. Die Heimleitung hat für uns Flüchtlinge gesorgt. Unter anderem gab es jeden Monat einen Ausflug, an dem man teilnehmen konnte. Auch an Weihnachten und Ostern wurden wir alle zu einer Feier eingeladen, man beschenkte uns sogar. Zur ersten Weihnachtsfeier wurde jeder einzelne mit einem gefrorenen Hühnchen beschenkt, was alle in Staunen versetzte, so groß war die Überraschung. Ich lebte sehr bescheiden, sodass meine Sozialhilfe für den ganzen Monat reichte. Ich konnte sogar jeden Monat 20 DM sparen und das Geld einmal an die eine und im nächsten Monat wieder an die andere Tochter schicken. Das war viel Geld für die beiden. Ich war zufrieden mit dem, was ich hatte, vor allem mit der Möglichkeit, in Ruhe Deutsch lernen zu können, deswegen habe ich kaum an den Ausflügen teil genommen. Aber einmal ging es nach Bamberg und da wollte ich mitfahren. Bamberg ist eine sehr alte, schöne Stadt mit vielen Sehenswürdigkeiten und zahlreichen Kirchen. Man hat uns erst in eine alte und berühmte Bibliothek geführt, die nicht besonders groß war, aber ich glaube, dass sie die ältesten Ausgaben besaß. An den drei Wänden des großen Raumes befanden sich Regale, die mit sehr alten Büchern gefüllt waren. Da waren zahlreiche große, dicke Bücher in goldenen Umschlägen und man hatte den Eindruck, dass es die ersten Ausgaben waren, die man nach der Erfindung des Buchdrucks in Europa geschrieben und veröffentlich hatte. Wir hatten ja keinen Führer, der uns etwas Näheres über die alte Bibliothek hätte sagen können. Sie war sehr beeindruckend, vor jedem Regal standen Skulpturen aus Holz in Menschengröße. Diese zeigten außergewöhnliche Gestalten aus der Vergangenheit Anders konnte ich mir die Bedeutung der komischen, aber auch interessanten Gestalten nicht erklären, und die Bibliothek besaß auch eine besonders eindrucksvolle Atmosphäre. Wir haben an diesem Tag auch eine sehr alte Kirche mit künstlerischen Kostbarkeiten besucht. Vor der Kirche stand eine Tafel mit folgenden Worten: „Fotografieren verboten!“ Doch die Kunstwerke, die wir hier zu sehen bekamen, waren wunderschön, deswegen wollte ich einfach alles fotografieren. Da ich noch einen halben Film zur Verfügung hatte, fing ich an, heimlich zu fotografieren und ich freute mich innerlich, dass mich niemand dabei erwischte. Ich wollte eben Bilder für meine Kinder machen. Das schmackhafte Mittag- und Abendessen bekamen wir in einem Restaurant serviert und wir übernachteten in einem großen, alten Haus mit gutem Klima, in dem die breiten Korridore mit Parkett ausgekleidet waren. Am nächsten Tag sind wir zum Frühstück in einen großen Speisesaal geführt worden. Neben mir am Tisch hat eine ältere Dame aus meinem Übergangswohnheim Platz genommen, mit der ich noch nie gesprochen hatte. Ich kannte sie nur vom Sehen und von manchen Personen aus meinem Sprachkurs wusste ich, dass sie allen jungen Heimbewohnern, die noch kein Wort Deutsch sprechen konnten, beim Ausfüllen der verschiedenen Formulare behilflich gewesen war. Sie war eine reife Frau und älter als ich. Sie sprach ein perfektes Deutsch. Nachdem wir uns einander vorgestellt hatten, erfuhr ich, dass sie aus Niederschlesien kam, und ich hakte gleich nach, weil ich wissen wollte, aus welcher Stadt. Sie kam aus Prudnik, wie mein Mann, und in diesem Moment war ich wie elektrisiert. „Was für ein Zufall“, dachte ich. Ich nannte ihr seinen Namen und fragte, ob sie ihn kenne, was sie bejahte. Sie wusste gleich, dass sein Vater der Polizeikommandant von Prudnik gewesen war. Dann wollte ich noch wissen, ob sie diesen persönlich gekannt hatte. Das verneinte sie, aber sie meinte, dass jeder in der Stadt wusste, dass er ein Trinker war und alle sechs Kinder geschlagen hatte. Zum Glück hatte mich die neue Bekannte nicht gefragt, warum mich die Person interessierte. Es ging ja um meinen Schwiegervater, den ich nie kennengelernt hatte, weil er im Jahre 1960, in dem ich meinen Mann geheiratet hatte, längst nicht mehr gelebt hatte. Ich wollte aber noch sichergehen, dass wir tatsächlich über dieselbe Person sprachen, und setzte das Gespräch mit ihr fort. Ich erfuhr, dass der Kommandant aus der Stadt Dabrowka Wielka nach Prudnik gekommen war und drei Kinder mitgebracht hatte. In Prudnik hatte er eine reiche Bäuerin geheiratet, die auch drei Kinder gehabt hatte. In diesem Moment erinnerte ich mich, worüber mein Mann sich damals beklagt hatte: Alle sechs Kinder hatten auf dem Feld arbeiten müssen und zum Mittagsessen hatte die Stiefmutter erst ihre Kinder gerufen und dann die anderen. Er klagte, dass sie ständig hungrig gewesen waren. Die Informationen, die ich jetzt von dieser Frau bekam, haben mir gereicht, um zu wissen, dass wir tatsächlich über die gleiche Person sprachen. Ich wunderte mich nur, woher sie so viel über ihn wusste. Auf diese Weise lernte ich meinen Schwiegervater nach siebenundzwanzig Jahren über eine fremde Frau kennen. Da wurde mir bewusst, dass mein Mann kein gutes Vorbild gehabt hatte. Er war zehn Jahre älter als ich, aber klüger war er deswegen nicht. Bevor wir verheiratet waren und er das erstes Mal betrunken nach Hause kam, brach er in Tränen aus und beklagte sich bitter über seine schwere Jugend und das Leid, das er bei der Stiefmutter hatte ertragen müssen. Ich war über das Gehörte erschrocken und er tat mir in diesem Moment sehr leid. Mein Mann wurde irgendwann grundlos aggressiv und ich habe mit dem kleinen Kind aus der Wohnung flüchten müssen. So etwas hatte ich zum ersten Mal erlebt und der Schreck war groß. Die Erinnerungen wurden wieder lebendig, aber ich behielt sie für mich. Ich war froh, dass mich die neue Bekannte nicht fragte, warum mich der Kommandant aus Prudnik so interessierte. Auf diese Idee ist sie zum Glück nicht gekommen. Dann gingen mir die Erzählungen meines Mannes von damals weiter durch den Kopf: Zwei Jahre nach dem Krieg war mein Mann im Alter von siebzehn Jahren vor der Stiefmutter nach Sosnowiec zu der Schwester seiner Mutter, die 1942 verstorben war, geflüchtet. Nach zwei Jahren war der jüngere Bruder nachgekommen und nach weiteren Jahren auch die kleine Schwester. Ich fragte mich, wie mein Mann nach so vielen schlechten Erfahrungen mit dem eigenen Vater doch in dessen Fußstapfen hatte treten können, indem er dasselbe tat. Der Ausflug nach Bamberg hatte mich mit Eindrücken und Erinnerungen erfüllt, die mich auf der Rückfahrt nach Regenstauf immer noch die ganze Zeit beschäftigt haben. Den Film, den ich während des Ausfluges und am Schluss in der Kirche zu Ende geknipst hatte, brachte ich noch am selben Tag zum Entwickeln. Ich habe mit Freude und Ungeduld auf die schönen Bilder aus der Kirche gewartet. Meine Enttäuschung war aber sehr groß, als ich die Fotos in den Händen hielt. Die Aufnahmen aus der Kirche waren allesamt misslungen! Die Bilder sahen so aus, als wären sie doppelt belichtet worden. Ich bin so richtig ins Staunen geraten, weil alle andere Aufnahmen völlig unversehrt waren. Es war ein unglaubliches Erlebnis. Ich fragte mich, was hinter dem Verbot steckte, was für eine Macht, was für eine Kraft und welches Geheimnis die alte, hochinteressante und wunderschöne Kirche wohl in sich trug. War das nicht ein Fall von vielen, die zwischen Himmel und Erde passieren und die für uns Menschen unbegreiflich sind? Ich hatte mich nicht an das Verbot gehalten und dafür die Quittung bekommen. Das war wieder ein Erlebnis, das mich lange beschäftigte *** Im ersten Jahr, das ich in Regenstauf verbrachte, wurde ich drei Mal zu verschiedenen Ärzten eingeladen. Die letzte Frau Doktor, bei der ich mich vorstellen musste, war eine ältere Dame, die mich mit folgenden Worten empfing: „Ach, so eine junge, hübsche Frau! Haben Sie keine Lust zu arbeiten?“ Der unerwartete Schlag hatte gesessen. Die Ironie in Ihrer Stimme zu hören, traf mich tief. Ihre Worte verschlugen mir die Sprache und meine Augen füllten sich mit Tränen. Mit einer Handbewegung zeigte sie auf einen Stuhl, auf dem ich Platz nehmen sollte. Dieser stand vor einem großen Tisch. Ich war so aus dem seelischen Gleichgewicht geworfen worden, dass ich nicht gleich erkannte, dass ich vor einem Gerät saß. Die Ärztin legte einen Ledergürtel um meinen Kopf, meine Hände und meine Beine. Dann schloss sie an alle Gürtelchen dünne Kabel an, die sie dann weiter mit dem Gerät verband, dann wurde es eingeschaltet. Über dem Tisch liefen schmale Papierstreifen, über die sich dünne, lange Nadeln wie bei einem Seismographen hin- und herbewegten Die Nadeln zeichneten eine Zick-Zack-Bewegung auf, deren Amplituden zunächst klein waren, aber nach jeder weiteren Sekunde wurden sie größer. Die Untersuchung konnte ich kaum abwarten, ich wurde nervös! Die Ärztin schaltete das Gerät ab und befreite mich aus den Gürteln und Kabeln. Sie bat mich zu ihrem Schreibtisch. Ich fühlte mich nach dem unfreundlichem Empfang immer noch niedergeschlagen, deswegen sagte ich ihr beim Hinsetzen nur, dass ich arbeiten will. Mehr konnte ich nicht sagen, denn meine Kehle war immer noch zu. Die Ärztin schaute mich jetzt ernst an und sagte ganz höflich zu mir: „Bei diesem Untersuchungsergebnis kann ich sie unmöglich arbeiten lassen, zuerst schicke ich Sie in ein Sanatorium.“ Nach diesen höflichen Worten spürte ich, wie sich mein Körper entspannte. Es fielen keine Worte mehr zwischen uns und ich verließ ihre Praxis schweigend. Ich kehrte erschöpft und mit einer gewissen Erleichterung und Zufriedenheit in mein Übergangswohnheim nach Regenstauf zurück. Am Abend suchte ich wieder eine Telefonzelle auf, um Toni mitzuteilen, was ich erlebt hatte. Die gute Nachricht, dass ich in ein Sanatorium kommen sollte, freute sie ebenso wie die Tatsache, dass ich einen Schritt weitergekommen war. Es hat dann nicht lange gedauert, bis ich ein Schreiben aus dem Sanatorium bekam. Man teilte mir mit, dass ich mich am 19. November 1988 melden sollte *** Das Sanatorium lag in Norddeutschland. Die lange Reise hatte mich sehr viel Kraft und Geduld gekostet. Ich war sehr geschwächt und verschwitzt angekommen. Das Sanatorium lag abseits einer kleinen Stadt und war von Wäldern umgeben. Die Gegend war schön, aber es war sehr windig. Als ich in mein Zimmer geführt wurde, konnte ich durch das Fenster einen Blick in die wunderbare Ferne werfen. Das Zimmer selbst war schön und mit dem Nötigsten ausgestattet. Ich atmete auf und legte mich hin, bis mich später eine Frau durch das Sanatorium führen wollte. Von Anfang an habe ich es als seltsam empfunden, weil nirgends der weiße Kittel eines Arztes oder einer Krankenschwester zu sehen war. Auch wurde ich weder zu einem Arzt gebeten noch nahm man mir Blut ab, wie ich es erwartete. Über meinen gesundheitlichen Zustand habe ich erst mit Karin gesprochen, mit der ich zu Mittag an einem Tisch saß. Von ihr erfuhr ich erst, dass das Personal des Sanatoriums sich in Zivil unter den Patienten bewegte, deswegen hatte ich keinen Arzt erkennen können. Karin machte mich auf eine Frau aufmerksam und sagte, dass sie eine Ärztin sei. Sie habe ich dann bei der ersten Gelegenheit auch angesprochen und um ein Gespräch gebeten. Nach diesem wurde ich nach ein paar Tagen mit einem PKW in die nahe liegende Stadt zu einem Arzt gebracht. Der ältere Herr war sehr höflich, er untersuchte mich gründlich und machte sogar ein EKG. Er stellte eine starke Angina fest und verschrieb mir Penizillin, was aber nicht half. Ich war schon ganz verzweifelt, weil ich wegen des krankhaften Schwitzens das Gebäude nicht verlassen konnte, und schwach war ich auch. In meiner Not wendete ich mich telefonisch an die Heilpraktikerin, die in der Praxis von Pater Ober arbeitete. Sie untersuchte mich fern und verordnete die entsprechenden Naturmittel. Die Medikamente habe ich dann per Post von der Schloß-Apotheke in Aschau zugeschickt bekommen. Jetzt hatte ich aber ein Problem, weil ich mir damals die zugeschickten Spritzen noch nicht selbst verabreichen konnte. Inzwischen hatte ich schon zwei Schwestern kennengelernt, aber die weigerten sich, mir die Spritzen zu verabreichen. Sie konnten nicht verstehen, wie mir jemand etwas verordnen konnte, ohne mich vorher gesehen zu haben. Dann sprach ich mit der Ärztin, die mich zum Arzt geschickt hatte. Sie strahlte so eine große Ruhe aus, dass ich ihr das Problem langsam erklären konnte. Sie hat mich doch gut verstanden und war dann dazu bereit, mir die Spritzen zu geben. Ich war wieder mal gerettet. Nach Ablauf von zehn Tagen war das krankhafte Schwitzen vorbei und ich konnte endlich mit Karin in der windigen Umgebung spazieren gehen. Das Sanatorium hatte einen riesigen Speisesaal. An einer Wandlänge waren lange Tische zusammengestellt, auf denen sich das üppige Buffet befand. Die Auswahl zu jeder Mahlzeit war sehr groß und man konnte sich selber bedienen und so viel von allem nehmen, wie man wollte. Nach den schweren, mageren Zeiten in Polen kam mir alles hier wie in einem Märchen vor. Noch dazu genoss ich die volle Freiheit. Ich konnte, wie alle anderen Patienten auch, zu jeder Zeit das Gebäude des Sanatoriums verlassen, man musste niemanden um Erlaubnis bitten oder sich abmelden, und von Karin erfuhr ich, dass man auch so lange hierbleiben durfte, wie man wollte. War das nicht wunderbar und märchenhaft? Nachdem das Schwitzen und die Schwäche vorbei waren, konnte ich mich während der langen Spaziergänge im Wald erholen. Es war eine herrliche Zeit und jeden Abend habe ich mit Karin, die Malerin war, die Zeit mit Malen verbracht. Ich habe wieder mal an die Zeiten gedacht, in denen ich im Gesundheitsamt in Tychy gearbeitet hatte und unter anderem für die Zuteilung der Sanatoriumsaufenthalte zuständig war. Der Bedarf war in unserem Bezirk riesig und ich habe nur einen oder höchstens zwei Plätze im Monat für die ernsthaft Kranken bekommen. Der größte Teil hat jahrelang vergeblich auf so einen Platz im Sanatorium gewartet. Außerdem waren die Aufenthalte zeitlich begrenzt und haben in jedem Fall nur einundzwanzig Tage gedauert *** Im Sanatorium lebte ich wie in einem Luxushotel! So gut ist es mir in meinem ganzen Leben noch nicht gegangen: keine Arbeit und keine Pflichten – außer einer Sache: Die Patienten waren in kleine Gruppen eingeteilt worden und jede Gruppe musste sich um eine bestimmte Zeit zu einer Sitzung versammeln, das war die einzige Pflicht an jedem Tag. Meine Gruppe versammelte sich um 15:00 Uhr im Erdgeschoß in einem großen Raum, wo sich nur Stühle für die Patienten befanden. In diesem Raum mit gutem Klima waren tatsächlich keine anderen Möbel vorhanden. Jede von uns acht Personen nahm sich einen Stuhl und wir setzten uns in einen kleinen Kreis. Am ersten Tag hatte sich jede Person mit dem Vornamen vorgestellt, ihren Beruf und die Gegend von Deutschland, aus der sie kam, genannt. Die Sitzung hatte eine volle Stunde gedauert und alle hatten über ihre eigenen, persönlichen Probleme gesprochen. Es sind auch keine Gespräche zwischen den Teilnehmern entstanden, weil keiner sich für die Probleme des anderen interessierte. Das verblüffte mich. Lange habe ich nicht verstanden, wozu das Ganze gut sein sollte. In meiner Gruppe gab es einen älteren Herrn, der sich als Atomphysiker ausgab. Er erzählte uns über die Probleme, die er mit seiner kranken Frau hatte und beklagte sich, dass er mit der gesamten Situation nicht klar kam. Er machte sich Sorgen um sich selbst und um seine Frau. Er wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Dann gab es eine junge Frau mit drei Kindern im Schulalter, die zum dritten Mal geheiratet hatte. Der dritte Mann, diesmal ein älterer Herr, konnte die lebhaften Kinder nicht akzeptieren und sie ihn auch nicht. Sie liefen ständig von zu Hause weg und sie wusste nicht, wie sie die Situation in den Griff bekommen sollte. Sie beklagte sich weiter, dass die Kinder dem Mann egal waren und so stand sie mit dem Problem alleine da. Die Geschichten der anderen waren auch voller Alltagsproblemen. Sie alle fanden sich im Leben nicht alleine zurecht. Ich fragte mich, ob diese Probleme die Menschen ins Sanatorium gebracht hatten. Diese Leute waren doch nicht krank! Sie brauchten einen Lebensberater, der ihnen aus der Patsche half, oder einen Partner, der sie an der Hand durchs Leben führte! Dass alle diese Menschen überfordert und gesundheitlich angeschlagen waren, war ja sichtbar. „Aha“, dachte ich weiter. Dieser Sanatoriumsaufenthalt sollte den Menschen ermöglichen, durch Ruhe und gute Ernährung wieder auf die Beine zu kommen. „Na ja, so ein Fall bin ich ja jetzt auch.“ Ich verstand, warum ich hierhergeschickt worden war. Nur drei Personen haben während der zahlreichen Sitzungen kein einziges Wort über sich oder ihre Probleme verloren. Das waren Beate, ein junger Mann und ich. Den jungen Mann habe ich ständig beobachtet, weil er so seltsam und verstört wirkte. Er hat sich auch nicht vorgestellt. Ich fragte mich, was für ein psychisches Problem er haben könnte, er lag ja fast im Stuhl, seine Beine gekreuzt aufeinander, den Oberkörper 45 Grad nach links oder nach rechts gebeugt, während der Kopf in die gegenseitige Richtung zeigte. Dabei haben seine Augen auch in die andere Richtung geschaut und die Decke betrachtet. Die Menschen im Raum beachtete er nicht. Er war in eigene Gedanken versunken, nicht da! Nach mehreren Sitzungen wagte ich meine Nachbarin zu fragen, was es mit dem jungen Mann auf sich hatte. Sie beugte sich zu mir und sagte ganz leise: „Das ist unser Therapeut.“ „Therapeut? Warum redet er dann nicht mit den verlorenen Menschen?“ Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Eines Tages versetzte ein Ereignis im zweitem Stock das Sanatorium in Aufregung. Eine junge Frau wollte sich das Leben nehmen. Eine Putzfrau fand sie um 06:00 Uhr in der Früh im Vorzimmer des Appartements bewusstlos auf dem Boden vor. Sie alarmierte sofort die Schwester, es wurde ein Notarzt gerufen und die junge Frau wurde ins Krankenhaus gebracht. Dieses Ereignis wurde dann auch zum Thema unserer Gruppe, als wir uns um 15:00 Uhr versammelten. Alle waren wie elektrisiert! Wir hatten kaum Platz genommen, da fingen alle gleichzeitig an, jeder über den anderen und etwas anderes über die arme Frau zu berichten. So erfuhr ich, dass die junge Frau verheiratet war und zwei Kinder hatte. Der Ehemann besuchte sie jeden Sonntag mit den beiden Kindern. Da gab es aber noch einen heimlichen Verehrer, der sie jeden Abend besuchte! Jetzt wollte die verzweifelte Frau scheinbar diesem Dilemma entkommen und hatte keinen besseren Ausweg gefunden, als sich umzubringen! Die junge Frau hatte sich mithilfe von Schlaftabletten das Leben nehmen wollen. Die Zeit unserer Sitzung ging an diesem Tag schnell vorbei. Als sie schon fast zu Ende war, da machte Beate das erste Mal ihren Mund auf und sprach ganz leise und langsam folgende Worte vor sich hin: „Vor zehn Jahren wollte ich mir auch das Leben nehmen.“ Ich war wie vom Blitz getroffen! „Was? Du? So eine intelligente, schöne Frau mit zwei kleinen Buben noch dazu?“ Diese Worte sind mir aufgrund der Empörung nur so aus dem Mund herausgesprudelt. Die Stunde war gerade vorbei. Jeder stand auf und brachte seinen Stuhl an die Wand. Niemand sonst hatte sich für ihre Äußerung interessiert. Beate und ich verließen den Raum als Letzte. Ich legte meinen Arm über ihre Schulter und im Korridor blieben wir automatisch stehen. Ich war noch tief bewegt, als mich Beate anschaute und mir folgende Frage stellte: „Sag mal, was willst du in Deutschland machen?“ Ich musste mich erstmal sammeln, bevor ich ihr eine Antwort geben konnte und sagte schnell: „Ich muss nach München, dort wohnt meine Schwester. Ich muss unbedingt eine Schule besuchen, weil ich arbeiten will, aber wie ich es anstellen soll, weiß ich leider noch nicht.“ Beate sagte kurz zu mir: „Ich reise morgen ab. Warte nicht, fahr gleich zu deiner Schwester nach München und warte auf einen Brief von mir.“ Ich eilte sofort in mein Zimmer und kam mit der Adresse von Toni zurück. Es war seltsam, aber ich wusste sofort, dass ich mich auf Beate verlassen konnte! Sie nahm die Adresse wortlos entgegen, reichte mir die Hand und entfernte sich wortlos. Das Schicksal nahm seinen Lauf. Noch am selben Nachmittag suchte ich die Ärztin auf, mit der ich schon zweimal gesprochen hatte, und bat sie um ein Gespräch. Sie kam dann auch gleich in mein Zimmer. Ich war von dem Ereignis mit Beate noch ein wenig aufgeregt, aber ich habe der Ärztin kein Wort darüber erzählt. Ich sagte ihr nur, dass ich schon abreisen möchte, weil ich die Sprache lernen und arbeiten gehen muss. Die Ärztin hat mich vollkommen verstanden, fragte aber noch einmal nachdrücklich, ob ich mir wirklich sicher bin, dass ich jetzt schon abreisen will. „Ja“, sagte ich. „Ich bin mir ganz sicher, ich fühle mich schon erholt, ich muss weg, ich muss die Sprache erlernen und arbeiten gehen.“ Sie glaubte mir und versprach, mir am nächsten Tag einen Entlassungsschein auszuhändigen, den ich dann tatsächlich erhielt. Auf dem Dokument stand Schwarz auf Weiß, dass ich arbeitsfähig war. Das war natürlich mein Freibrief für das, was ich vorhatte: Lernen und arbeiten! Am folgenden Tag konnte ich abreisen. Die lange Reise von Norddeutschland nach Süden hat den ganzen Tag gedauert, dann stand ich vor Tonis Tür. Das Staunen war riesig. Die erste Frage war natürlich: „Wie hast du den langen Weg alleine geschafft?“ „Ich habe am Bahnhof niemanden um den weiteren Weg zu dir gefragt“, sagte ich. „Gott führte mich!“ Dann fragte sie, noch ganz außer sich: „Was ist passiert? Warum bist du da?“ Ich wusste erst gar nicht, wie ich alles so schnell erzählen sollte, ich musste mich auch erst ein wenig ausruhen „Setzt euch“, sagte ich später. „Ich möchte euch bitten, mich ein paar Tage zu ertragen. Ich muss auf einen Brief warten, der an eure Adresse gerichtet sein wird.“ Nachdem ich es ausgesprochen hatte, konnte ich jetzt alles der Reihe nach erzählen. Toni und Kurt hörten mir zu, immer noch mit einem Staunen in den Augen. Die Geschichte klang ja auch unwahrscheinlich. Mein Schwager sagte kein einziges Wort, ich spürte, dass er mir nicht glaubte. Die folgenden Tage lag Spannung in der Luft. Ich blieb aber ganz ruhig, obwohl ich überhaupt nicht wusste, was mir Beate schreiben wollte. Ich war aber ganz sicher, dass ein Brief ankommen würde. Zu Heiligabend waren wir alle bei meinem Neffen eingeladen. Den hatte ich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Das letzte Mal im Jahre 1968, bei der Ausreise mit den Eltern aus Schlesien, damals war er erst fünf oder sechs Jahre alt gewesen. Jetzt sah ich einen erwachsenen Mann mit einer netten Frau und einem kleinen Baby. Es war einfach schön! Kurz nach Weihnachten, es waren nicht mal zehn Tage vergangen, kam der erwartete Brief von Beate an. Diesen habe ich gleich Toni zu lesen gegeben. Sie las ihn laut vor. Beate schrieb, dass sie für mich zwei Termine in München ausgemacht hatte und dass ich mich unter angegebener Adresse melden sollte, ich würde nämlich erwartet. Toni konnte ihren Augen nicht trauen, so groß war die Überraschung. „Ich begleite dich natürlich!“, sagte sie gleich. Die erste Adresse, bei der ich mich vorstellen sollte, war eine Fachschule für Pflegekräfte. Wir sind fast durch die ganze Stadt gefahren, bis wir an dieser ankamen. Die Direktorin hat uns sehr freundlich, fast herzlich empfangen. Dass es mit meinem Deutsch noch haperte, machte ihr nichts aus und sie sagte gleich, dass mehrere Schüler mit dem Wörterbuch unter dem Arm herumliefen. Es handelte sich um eine berufsbegleitende Ausbildung, die drei Jahre dauern sollte. Da die Ausbildung am 01. April 1989 beginnen sollte und das Jahr 1988 sich erst dem Ende nahte, sagte ich, dass ich für die Zeit bis dahin eine Arbeit bräuchte. Die Schuldirektorin griff in die Schublade, nahm einen Stapel Papiere heraus und nannte mir eine Adresse in Ebenhausen bei München, wo ich ab dem 01. Januar schon anfangen konnte! „Ein Appartement würde am 31. Dezember auch schon auf Sie warten.“ Als wir die Schule verlassen hatten, sagte Toni ganz verblüfft zu mir: „Ja, du hast wieder gewusst, wo du den Mund aufmachen sollst!“ Die zweite Vorstellung an diesem Tag haben wir auch noch erledigen können. Wir fuhren noch einmal durch die ganze Stadt in eine andere Richtung und kamen bei meinem künftigen Arbeitgeber an. Das Haus kam mir riesig vor! Der Direktor, der sein Büro im Erdgeschoß hatte, empfing uns sehr freundlich, und als er hörte, dass wir aus Schlesien stammen, sprach er mit uns wie mit alten Bekannten. Er selbst kam nämlich aus der Hauptstadt Schlesiens, Katowice. Nachdem mir der Direktor den Arbeitsvertrag ab dem 01. April 1989 zugesichert hatte, konnten wir nach Hause zurückfahren. Wir sind müde, aber zufrieden darüber, dass alles so gut geklappt hatte, angekommen. Ehrlich gesagt hätte ich die beiden Termine ohne Toni nicht erledigen können, ich sprach doch noch kaum Deutsch! Am 31. Dezember 1988 haben mich Toni und Kurt nach Ebenhausen gebracht. Das Altersheim befand sich in einem sehr großen, alten und schönen zweistöckigen Gebäude in einer ländlichen Umgebung. Neben dem Heim befand sich ein Haus, in dem sich die Appartements für die pflegenden Schwestern befanden. Das mir zugeteilte Appartement haben wir im Erdgeschoß vorgefunden, es war groß, hatte ein Balkonfenster und ein gutes Klima. Die Wiese draußen war noch nicht mit Schnee bedeckt, obwohl es schon Dezember war. In Schlesien war um diese Zeit der Winter in vollem Gange. Toni half mir, meine Sachen hineinzubringen, während mein Schwager das schöne, alte Gebäude von allen Seiten betrachtete. Die idyllische Landschaft gefiel mir. Meine Arbeit in dem Heim habe ich an meinem Geburtstag, dem 01. Januar, begonnen. Der erste Arbeitstag war sehr angenehm, weil ich nur zuschauen durfte. In den geräumigen, weißgestrichenen Zimmern standen nur zwei Pflegebetten. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich so viele stumme, unbewegliche und versteifte Menschen gesehen. Die Schwester, die ich begleiten durfte, hat alle Menschen im Bett von Kopf bis Fuß gewaschen und gewickelt. Alle wurden auch im Bett gefüttert, sie wurden nicht rausgesetzt. In diesem Heim verspürte ich keine Hektik. In den nächsten Tagen konnte ich schon mithelfen und nach einer Woche allein arbeiten. Die stummen Menschen haben mich sehr beeindruckt, sie haben mir aber gleichzeitig leidgetan. Vom ersten Tag an konnte ich feststellen, dass die Arbeit für die Menschen die richtige für mich war, trotzdem wollte ich noch weiterlernen. Ich habe auch hier jeden Tag Wörter aus dem Wörterbuch gelernt. Auf die Schule in München habe ich mich auch schon gefreut und seelisch vorbereitet. Die drei Monate sind schnell vorübergegangen. Nach dem Arbeitsplan habe ich die letzten Tage im März frei gehabt, sodass ich mich schon für den Umzug nach München vorbereiten konnte. Am 30. März 1989 teilte man mir telefonisch mit, dass ich mein Zimmer in der Schwesternschule in München am nächsten Tag würde beziehen können. Die gute Nachricht habe ich gleich an Toni weitergegeben und am nächsten Tag brachte sie mich mit Kurt nach München zurück. Das Zimmerchen war sehr klein und lag im Erdgeschoß der Schule. Die sanitären Anlagen befanden sich am Ende des engen Flurs. Das Zimmerchen war aber mit den nötigen Möbeln ausgestattet und das war das Wichtigste. Der Umzug von Ebenhausen nach München ist gut verlaufen. Ich bin wieder einen Schritt weitergekommen und das war wieder ein Grund zur Freude für Toni. Mein Arbeitsverhältnis mit dem Altersheim begann, wie versprochen, am 01. April 1989, mit einem Schulblock *** Wir waren in der Klasse fünfundzwanzig Personen verschiedenen Alters. Die älteste Schülerin, eine ehemalige Übersetzerin, war um ein Jahr älter als ich. Ein paar Personen waren um die vierzig, der Rest zwischen zwanzig und dreißig. John kam aus Polen und sprach ziemlich gut Deutsch. Der Unterricht begann um 08:00 Uhr und endete um 16:00 Uhr. Eine Unterrichtseinheit dauerte neunzig Minuten und die Pausen dazwischen waren sehr kurz. In den ersten Tagen war der Unterricht für mich eine reine Katastrophe! Die tausenden unverständlichen Worte, die so schnell gesprochen wurden, jagten mir furchtbare Angst ein. Es wurde so viel geredet, dass ich die Schule jeden Tag mit Kopfschmerzen verließ. Der erste Schulblock war für mich die schlimmste Anfangsphase meiner dreijährigen Ausbildung. Ich war danach dermaßen seelisch angeschlagen, dass ich die Schule aufgeben wollte. Aber bevor ich eine Dummheit machte, wollte ich mit der Personalchefin des Hauses sprechen. Diese zeichnete sich durch eine sehr feine Persönlichkeit aus. Mit ihr war ich bereit über meine Probleme zu sprechen und ich konnte ihr tatsächlich nicht nur meine täglichen Schwierigkeiten schildern, sondern mir auch meine Ängste und meine Verzweiflung von der Seele reden. Sie hat mich vollkommen verstanden. Das war schon eine große Erleichterung für mich, hatte ich doch sonst nur Toni, die mir jeden Abend Mut zusprach. Während des Gespräches sagte sie zu mir, dass sie überzeugt ist, dass ich die Schule schaffen werde und dass sie mich besser findet als eine ausgebildete alte Krankenschwester. Sie nannte sogar deren Namen. Die kannte ich schon und ich wusste um ihren Umgang mit den verwirrten, hilflosen Bewohnern. Trotzdem haben mich ihre Worte verblüfft. Insgesamt tat mir das Gespräch sehr gut, sie nahm mir die Ängste, ich bekam wieder Mut und lernte weiter. „Ich muss Geduld haben“, sagte ich mir. Ich hatte doch nichts zu verlieren und wenn ich der Schule ferngeblieben wäre, dann hätte ich meine einzige Chance verloren. Das wurde mir jetzt klar. Um in der Schule während des Unterrichtes mehr zu verstehen, lernte ich jetzt während des Arbeitsblocks Worte aus den Fachbüchern, und zwar jeden Tag nach dem Frühdienst – bis Mitternacht. Die wichtigste Unterstützung in dieser sehr schweren Zeit war für mich meine Schwester Toni. Sie sprach mir jeden Abend Mut zu. Jedes Gespräch mit ihr gab mir Kraft und war eine große Hilfe für mein Durchhaltevermögen. Heute weiß ich, dass ich ohne ihre seelische Unterstützung die Ausbildung nicht geschafft hätte. Die sprachliche Barriere war damals das größte Hindernis, das ich nehmen musste. In der Anfangsphase habe ich zwei Lehrerinnen in der Schule sehr gefürchtet. Eine unterrichtete Pflege, die andere das Fach Psychiatrie. Beide haben sehr schnell gesprochen! Die Lehrerin für die Pflege sprach in einem sehr hohen Ton, ohne Punkt und Komma, zumindest war das mein erster Eindruck. Nach ihrem Unterricht hatte ich immer Kopfweh. Das Fach Psychiatrie habe ich für das wichtigste gehalten, und da die Ärztin so schnell sprach, entstand für mich eine sehr schwere, unerträgliche Situation, die mich seelisch noch zusätzlich zu den allgemeinen Schwierigkeiten bedrückte. Nach jeder Unterrichtseinheit, während der ich kaum etwas verstehen konnte, wuchs meine Angst immer mehr an. Schließlich habe ich die Psychiaterin gebeten, langsamer zu sprechen, damit ich die einzelnen Wörter besser hören und mir merken konnte. Sie versprach es zwar, aber sie hat es immer wieder vergessen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als geduldig weiter alleine aus den Fachbüchern und meinen beiden Wörterbüchern Deutsch zu lernen. Meine Anstrengung hat sich gelohnt und obwohl ich nach Monaten immer noch nicht alle Worte verstehen konnte, begriff ich eines Tages, worüber die Psychiaterin überhaupt sprach. Da mir die Themen nicht fremd waren, verspürte ich eine große Erleichterung und war mir gewiss, dass ich die Ausbildung doch schaffen würde. Die Psychiaterin hat mir das Lernen nur dadurch leichter gemacht, dass sie während der ganzen Ausbildung keinen einzigen schriftlichen Test angeordnet hat. Sie hat mir Angst und unnötigen Druck erspart, den ich mir jeden Tag schon selbst gemacht habe. Im Gegensatz zu der Psychiaterin ist eine Frau Doktor mit uns Schülern anders umgegangen, obwohl sie wusste, dass ich und eine andere Frau in meinem Alter noch große Sprachschwierigkeiten hatten. Sie hat von Anfang an am Ende jedes Schulblocks eine Prüfung angekündigt. Für uns beide war das immer eine Katastrophe. Nachdem sie die erste Prüfung angekündigt hatte, fühlte ich mich wie an die Wand genagelt! Das war ein schreckliches Gefühl, reine Panik! Die Tatsache, dass sie auf unsere Schwierigkeiten keine Rücksicht nahm, hat mich sehr geärgert. Aber da musste ich durch. Ich wusste, dass ich die Prüfung nicht bestehen würde, ich wollte aber nicht untätig herumsitzen und ein leeres Blatt abgeben. Ich musste mir etwas einfallen lassen! Ich habe mir einen langen Textabschnitt aus einem Fachbuch ausgesucht und auswendig gelernt. Diesen Text wollte ich auf das Prüfungsblatt schreiben, damit sie sah, dass ich doch lernte und nur mit der Sprache noch nicht so weit war. Am nächsten Tag während der Prüfung habe ich fleißig den gepaukten Text auf das Prüfungsblatt geschrieben. Dieser hat fast drei Viertel der DIN-A4 Seite ausgefüllt, und so habe ich schließlich das Blatt abgegeben. Beim nächsten Unterricht hat die Frau Doktor kein Wort über meine Arbeit verloren und ich bekam natürlich eine Sechs. Das war aber die erste und letzte Sechs, die ich während der dreijährigen Ausbildung bekommen habe. Nach einer weiteren Unterrichtseinheit habe ich die Lehrerin in der Pause angesprochen und um eine Information gebeten, nämlich in welchem Buch ich den Unterricht nachlesen konnte, damit ich die neuen, fremden Wörter zu Hause übersetzen kann. Sie sah mich auf seltsame Weise an, gab mir keine Antwort, ließ mich einfach stehen und verließ den Klassenraum. Nach diesem erniedrigenden Erlebnis habe ich mir ein Abspielgerät gekauft und während ihres Unterrichtes auf den Tisch vor ihr Pult gestellt. Sie war verblüfft und nicht gerade begeistert, als sie das Gerät sah, sagte aber kein einziges Wort. Sie musste schlucken und doch akzeptieren, dass ich ihren gesamten Unterricht aufnahm. Somit konnte ich endlich die Worte übersetzen und lernen, die ich noch nicht kannte. Mein Fleiß zeigte mit der Zeit Früchte, ich verstand immer mehr. So erfuhr ich, dass so mancher „Unterricht“ aus Erzählungen bestand, in denen sie über ihre Arbeit und Erfahrungen im Beruf berichtete. Im Fach Pflege verstand ich auch immer mehr, aber das Herumreden um ein Thema hat mir doch immer wieder zu schaffen gemacht. Eines Tages habe ich die Lehrerin darauf angesprochen und gefragt, ob es nötig ist, so viel über Selbstverständliches zu sprechen. Daraufhin sagte sie wörtlich zu mir: „Ja Sie, Schwester, Sie wissen Bescheid, worum es geht, aber die Jugend weiß es nicht, deswegen muss ich jedes Detail, jeden Schritt so ausführlich und genau erklären.“ Mit der Zeit habe ich mich an alles gewöhnt, auch an ihren hohen, gleichmäßigen Ton während des gesamtes Unterrichtes. Nachdem die dreijährige Ausbildungszeit vorbei war, übte die Psychiaterin einen ausführlichen Prüfungstext mit uns. Sie hat für uns mehrere A4-Blätter mit Fragen vorbereitet, denen sie jeweils drei Antworten zugeordnet hatte. Unsere Aufgabe war es, die richtige Antwort anzukreuzen. Ich war nicht nur überrascht, sondern erleichtert und dankbar, dass die Psychiaterin die Prüfung mit so viel Verständnis für unsere Sprachschwierigkeiten in dieser Form vorbereitet hatte. Ich habe diese Tatsache als eine verständnisvolle Geste uns beiden gegenüber empfunden. Ohne Angst fing ich an, jede Frage zu analysieren, um die richtige Antwort anzukreuzen. Ich habe die Arbeit auch rechtzeitig abgegeben. Das Ergebnis der Prüfung war für die ganze Klasse überraschend. Als die Psychiaterin nach einer Woche mit den Prüfungen in der Hand den Klassenraum betrat, blieb sie vor dem Pult stehen und schaute uns alle erstmal schweigend an. Dann betonte sie, vielleicht ein wenig enttäuscht, dass nur eine Person eine Eins hatte. Sie wiederholte dies: „Nur eine einzige Person hat alle Fragen richtig beantwortet; sogar die schriftliche Aufgabe, in der ich einen jungen Mann mit Krankheitssymptomen beschrieben habe, war mit der richtigen Diagnose beantwortet worden.“ Alle warteten, wer die einzige Eins bekommen hatte. Es war ganz still, als die Psychiaterin verkündete, dass ich es war. Die Klasse reagierte mit Staunen und Brummen. Die Ärztin ergänzte noch, dass die Diagnose bei der Textaufgabe auf Schizophrenie gelautet hatte. Die gelungene Prüfung empfand ich als Genugtuung, trotz oder gerade wegen der Sprachschwierigkeiten, die ich während der Ausbildung gehabt hatte. Nachdem wir das Fach Psychiatrie mit dem Examen abgeschlossen hatten, machte die Frau Doktor uns einen Vorschlag. Sie wollte uns ein Autogenes Training zukommen lassen, sie sagte aber gleich, dass es keine Pflicht sei, und wer nicht mitmachen wollte, konnte nach Hause gehen. Fast die Hälfte hat dann den Klassenraum verlassen. Die wenigen Personen, die sich für das Experiment interessierten und geblieben sind, haben sich auf Stühlen in einem Kreis hingesetzt. Es fing spannend an. Unsere Lehrerin hat weiße Papierblätter an uns verteilt und sagte: „Bitte, zeichnen Sie etwas, egal was!“ Über ein bestimmtes Thema ist kein einziges Wort gefallen und für die Aufgabe haben wir dreißig Minuten Zeit bekommen. Alle haben schweigend kurz nachgedacht und fingen an zu zeichnen. Es war ganz still. Ich saß neben der Ärztin und habe meine Schulkollegen nur beobachtet. Ich war sehr auf die Themen neugierig. Kurz vor Ablauf der dreißig Minuten bin ich aufgestanden, um den Kreis der Sitzenden herumgegangen und habe über die Schulter einen kurzen Blick auf die Zeichnungen geworfen. Als hätten sich alle abgesprochen, hatten sie dasselbe Thema gewählt! Urlaub am Meer, Urlaub in den Bergen, Urlaub an einem See. Ich war sehr enttäuscht und setzte mich zurück auf meinen Platz. Die 30 Minuten waren eben vorbei. Ich nahm schnell mein Blatt Papier und zeichnete mit ein paar Strichen in wenigen Sekunden ein Damenprofil und legte das Blatt mit der Zeichnung zu Boden, so wie sich die Ärztin das gewünscht hatte. Gleich danach begann sie mit dem eigentlichen Autogenen Training. Es ging spannend weiter. Wir mussten die Augen schließen und nur zuhören. Sie fing an, leise und ganz langsam zu sprechen. Wir sollten ihre Worte innerlich wiederholen. Sie sprach jeden Teil unsere Körpers an; sie begann mit dem Kopf und endete mit den Füßen. Mit ihrer beruhigenden Stimme und den langsam ausgesprochenen Worten hatte sie jedes Körperteil, das sie aufgezählt hatte, beeinflusst. Das ganze Vorgehen geschah in absoluter Stille und dauerte lange an. Ich spürte die Entspannung, die sich in meinem Körper ausbreitete. Nachdem ihre Worte erloschen waren, durften wir die Augen wieder aufmachen. Es war weiter ganz still im Raum und keiner sagte ein Wort. Wir warteten jetzt, was als Nächstes kommen würde. Die Frau Doktor stand nach einer Weile auf und verteilte wieder leere Blätter! Wir waren überrascht, als sie uns dazu aufforderte, nochmal dasselbe Bild zu zeichnen. Wir hatten erneut dreißig Minuten für die Aufgabe Zeit. Meine Klassenkollegen arbeiteten in aller Stille. Die Ärztin saß auf ihrem Stuhl und beobachtete uns weiter. Ich saß neben ihr und tat dasselbe, ich schaute auch nur den anderen zu. Die dreißig Minuten waren fast wieder abgelaufen, als ich den Bleistift in die Hand nahm und erneut mit wenigen Strichen und in wenigen Sekunden dasselbe Damenprofil zeichnete und das Blatt auf den Boden legte. Als alle Teilnehmer mit der Zeichnung fertig waren, sagte die Ärztin zu uns: „Bitte nehmen Sie jetzt beide Zeichnungen und vergleichen Sie sie.“ Sie stand jetzt auf, ging im Kreis herum und schaute jeder Person über die Schulter, um die Zeichnungen zu betrachten. Sie sagte dabei kein Wort, ging auf ihren Platz zurück, drehte sich jetzt zu mir um und fragte ganz leise: „Und Sie, Schwester?“ Jetzt beugte ich mich zum Boden, nahm meine beiden Skizzen in die Hand und wir schauten uns gemeinsam die Bilder an. Das, was ich da sah, versetzte mich in unglaubliches Staunen! Der Unterschied zwischen den beiden Profilen war deutlich zu erkennen! Die erste Dame wirkte ganz ernst, während die zweite Freude und gute Laune ausstrahlte! Das war eine Überraschung! Die Psychiaterin sagte plötzlich ganz leise zu mir: „Sie, Schwester, wären ein gutes Medium.“ Dieses Wort hörte ich damals zum ersten Mal, und da ich seine Bedeutung noch nicht kannte, blieb ich still und schweigend sitzen. Das Experiment war abgeschlossen. Niemand hatte das Bedürfnis, darüber zu reden. Die Ärztin sagte auch nichts mehr, nicht mal eine Bemerkung über die Zeichnungen ließ sie fallen. Ich ahnte, dass die Ärztin genauso über das Thema „Urlaub“ enttäuscht war wie ich. Anschließend durften wir nach Hause gehen und alle haben den Klassenraum schweigend verlassen. Ich war tief bewegt. Das Experiment war sehr überraschend und hochinteressant gewesen. Das Resultat brachte mich zum Nachdenken und gleichzeitig machte es mir bewusst, dass unsere im Geiste ausgesprochenen Worte eine Kraft besitzen, weil sie uns doch beeinflusst hatten! Sie enthalten, dachte ich weiter, ein Energiepotenzial, das sich wiederum in unserem Gehirn befinden muss. Das war eine spannende Erkenntnis, die damals ein Ansporn für mein Interesse war, mich auf diesem neuen Gebiet mehr zu informieren, um weitere Erkenntnisse zu gewinnen. Das war eine unsichtbare Welt, die sich mir da eröffnete. Ich glaube, dass uns die Psychiaterin mit diesem Autogenen Training diese Erkenntnis, dass wir im Kopf ein Energiepotenzial haben und es auch nutzen können, bewusst machen wollte. Das Wort „Medium“ habe ich mir gemerkt, obwohl ich die Bedeutung des Wortes nicht verstanden habe und auch nichts damit anfangen konnte. Nachdem wir den Lernstoff der dreijährigen Ausbildung abgeschlossen hatten, bekamen wir sechs Monate Zeit für unsere Diplomarbeiten. Das war erneut eine große Herausforderung für mich, die wie ein Damoklesschwert über mir hing. Ich musste aber wieder alleine mit dem Problem fertig werden. Ich wusste anfangs nicht, wie ich die Aufgabe bewältigen sollte, ich spürte nur, dass ich mir wieder etwas einfallen lassen musste, also schrieb ich die Arbeit erst auf Polnisch. Meine Schwester, die Deutsch beherrschte, hat mir dann die Arbeit ins Deutsche übersetzt und die Frau von Tonis Sohn habe ich dann um weitere Hilfe gebeten. Obwohl sie hochschwanger war, hat sie mir gerne geholfen und die Arbeit auf dem Computer abgetippt. Dann war meine Diplomarbeit fertig und ich konnte sie abgeben. Nach dem Colloquium Ende März 1992 war ich endlich frei von Zwängen, Zeitdruck und Terminen, ein herrliches Gefühl der Freiheit. Nachdem wir alle das Staatsexamen hinter uns hatten, haben wir uns ein letztes Mal in unserem Klassenraum versammelt. Unsere Lehrerin, die bei uns Pflege unterrichtet hatte, wollte sich von uns mit einem kleinem Plädoyer verabschieden. Neben den freundlichen und tröstenden Worten, die unseren Beruf betrafen, sagte sie plötzlich, dass wir dieselbe Ausbildung genossen hätten wie die frischgebackenen Krankenschwestern aus unserer Schule! Anschließend eröffnete sie uns, dass wir sogar mehr als diese Krankenschwestern gelernt hatten, weil wir zusätzlich das Fach Geriatrie belegt hatten. Dann folgte eine Erklärung, worin der einzige Unterschied in unseren Berufen lag und ich wurde in diesem Moment hellhörig! „Eine Altenpflegerin“ – ach, wie schrecklich das klingt – „darf die Verabreichung einer Injektion verweigern, wenn sie davor Angst hat, eine Krankenschwester dagegen nicht!“ Das war alles! Dass der Titel „Krankenschwester“ Vorteile mit sich bringt, betonte unsere Lektorin natürlich nicht! Eine Krankenschwester darf nämlich überall arbeiten, egal ob im Krankenhaus, im Altersheim oder in einer Klinik, während eine Altenpflegerin an das Altenheim gebunden ist. Sie ist zur Knochenarbeit verurteilt. Was mich persönlich betrifft, habe ich die ärztlich verordneten Injektionen immer problemlos, ohne Angst zu haben, verabreicht. Nach der Ausbildung habe ich nicht aufgehört zu lernen. Jetzt, ohne Zwang und Zeitdruck, machte das Lernen so richtig Spaß. Jetzt konnte ich mich in den wenigen freien Stunden damit beschäftigen, was mich weiterhin interessierte. Der Ansporn dafür war die Psychiaterin aus der Berufsschule, Frau Doktor L. Wie mein weiteres Leben aussehen würde, habe ich nach der Ausbildung schnell erfahren. Jetzt fielen die Schulblöcke weg, die einzige und erforderliche Erholungsphase für meinen Körper nach jedem Arbeitsblock, die uns Ruhe und Entspannung garantierte. Jetzt blieb mir nur noch die schwere Zeit der ununterbrochenen Anstrengung bei der Knochenarbeit, die nicht nur mich körperlich und seelisch kaputt machte. Als ich 1989 in das noble Altersheim kam, zählte das Haus insgesamt circa vierhundertfünfzig Bewohner. Den Wohnsitz hat damals der Sohn des Gründers, eines Pastors, geleitet. Sein Büro mit den zahlreichen Mitarbeitern befand sich im 10. Stock und die Verwaltung des Hauses war teilweise im Erdgeschoß. Diese war für die Pflegekräfte, das Personal des Hauses und die reibungslose Organisation im Haus verantwortlich. In den vielen Etagen des Gebäudes und teilweise auch im Erdgeschoß haben die Bewohner des Wohnsitzes ihren letzten Lebensabschnitt verbracht. Es war ein Haus für die gut situierten Menschen. Hier wohnten Ärzte, Juristen, Maler, Schauspieler, ein Botschafter und all jene, die in der Gesellschaft eine hohe Position bekleideten. Es gab auch einen SS-Mann, den jede Schwester fürchtete. Die meisten Bewohner des Hauses, die uns Schwestern in den Fluren begegneten, strahlten Bescheidenheit, Respekt und gutes Benehmen aus. Sie hatten nichts dagegen, dass sich im Wohnsitz weiß bekleidete Schwestern bewegten, deren Anblick an ein Krankenhaus erinnerte. Es gab aber auch Bewohner, die mit unserer Anwesenheit nicht einverstanden waren. Manche Männer zeigten sich uns gegenüber auch respektlos, sie gingen stolz an uns vorbei, als ob sie zeigen wollten, dass sie uns nie brauchen würden – bis sie dann doch von uns abhängig wurden. Dann waren sie froh, dass wir für sie da waren und sie ihr Zuhause nicht verlassen mussten. Mit der Abhängigkeit ging es manchmal schneller, als man dachte. Es reichte ein Sturz um 03:00 Uhr morgens, um mit einem Oberschenkelhalsbruch ins Krankenhaus zu kommen. Diese betagten Personen kamen dann als Pflegefall zu uns zurück. Ich habe mit Absicht die frühe Morgenstunde erwähnt, weil es die Zeit ist, in der den Betagten die meisten Unfälle beim Aufstehen passieren. Der Blutdruck erreicht in den Morgenstunden den niedrigsten Wert und wenn man schnell aufsteht, rutscht er noch tiefer in den Keller. Dabei kann Schwindel entstehen, der Mensch verliert das Gleichgewicht und stürzt. Wenn man aber erst für ein paar Sekunden auf der Bettkante sitzen bleibt und ein paarmal tief ein- und ausatmet, reguliert sich der Blutdruck und man kann gefahrlos ins Bad gehen. Ich habe erlebt, wie schrecklich es für einen Menschen war, wenn er plötzlich nach einem Sturz als Pflegefall aus dem Krankenhaus zurückkam und von den Schwestern abhängig wurde, die nur dreimal am Tag und zweimal in der Nacht hereinkamen, um das Nötigste zu tun. Das war eine sehr harte Erfahrung für die Menschen, die vorher noch voll im Leben gestanden hatten. An meinem ersten Arbeitstag habe ich von der Verwaltung des Hauses eine Kassette geschenkt bekommen, die ich nach dem Dienst auch gleich neugierig anhörte. Nach dem Abhören dachte ich, dass wahrscheinlich jeder neue Mitarbeiter des Hauses dasselbe Geschenk bekam, damit ihm bewusst wurde, in welch noblem Haus er arbeiten durfte. Die Kassette erzählte nämlich die Geschichte der Entstehung dieses Hauses, die mir sehr gefiel. Nach dem Krieg gab es in München einen empathischen und engagierten Pastor, der nach dem Religionsunterricht gerne seine Schüler zu Hause besuchte. Bei diesen Besuchen ist ihm aufgefallen, dass die Großeltern, die den Krieg überlebt hatten, meistens sich selbst überlassen waren, während die Kinder in der Schule weilten und die Eltern arbeiteten. Oft sah er Menschen, die pflegebedürftig waren und alleine nicht zurechtkamen. Der Pastor hatte eine Idee und wollte sie in die Realität umsetzen. Er stellte sich ein Haus für Betagte und Pflegebedürftige vor, in dem sich jeder Bewohner rund um die Uhr an eine Schwester wenden konnte. Er rief seine Freunde zusammen und diskutierte mit ihnen seine Idee durch. Alle waren davon begeistert und jeder von ihnen war dazu bereit, etwas von seinem Vermögen zu geben, um so ein Haus zu bauen. So wurde die Idee Wirklichkeit. In diesem Altersheim hat jeder Bewohner eine Wohnung oder ein Appartement bekommen, das nach seinem Wunsch vorbereitet wurde. Es wurde umgebaut, renoviert, ausgemalt. Die künftigen Bewohner sind dann mit eigenen Möbeln und sogar Sammlungen eingezogen. Alle Bewohner durften im Falle einer Erkrankung oder Pflegebedürftigkeit in den eigenen vier Wänden bleiben, genauso, wie sich das der Gründer vorgestellt hatte, und sich jederzeit an eine Schwester wenden. Er brauchte seinen Wunsch nur per Telefon beim Empfang im Erdgeschoß zu melden und die Nachricht wurde sofort an eine Schwester weitergeleitet, weil jede Schwester, wie auch jede Etagendame, mit einem Piepser in der Tasche arbeiten musste. Die Organisation im Haus war perfekt und Disziplin wurde groß geschrieben. Wenn ein gesunder Bewohner erkrankte oder pflegebedürftig wurde, hat ihn die Pflege übernommen und eine Dokumentationsmappe für ihn angelegt. Diese hatte bunte Blätter, damit man das entsprechende Blatt für Eintragungen schnell finden konnte. Auf dem weißen Berichtsblatt wurden Vorkommnisse notiert, die den Pflegefall betrafen. Das gelbe Blatt war für den Arzt gedacht, der die von ihm angeordneten Medikamente und dazu das Datum der Verordnung samt seiner Unterschrift eintragen musste. Das Absetzen eines Medikaments musste ebenso dokumentiert werden. Das blaue Blatt war für die Badetermine und den Stuhlgang. Jeder Pflegefall wurde regelmäßig im Pflegebad gebadet, das sich im Keller befand und mit einem beweglichen Lift ausgestattet war. Der Lift hat die Arbeit der Schwester sehr erleichtert und Sicherheit gegeben. Auf dem Rücken des Dokumentationsordners befanden sich sogenannte Reiter. Diese wurden bei wichtigen Informationen, die man an den folgenden Dienst weitergeben musste, nach oben gezogen, und jede Schwester war dazu verpflichtet, ihren Dienst mit der Kontrolle der hochgezogenen Reiter zu beginnen, um die Information umzusetzen; entweder war eine sofortige Reaktion oder eine sorgfältige Beobachtung notwendig. Nach Erledigung wurde der Reiter wieder nach unten gezogen. Der Wohnbereich im Haus war auf drei „Pflegestationen“ mit je circa hundertfünfzig Bewohnern verteilt. Auf meiner Station hatten wir anfangs fünfzehn Pflegefälle und fünfundzwanzig Personen, die von uns Medikamente bekamen. Für die Letzteren musste man einmal in der Woche und für sieben Tage insgesamt hundertfünfundsiebzig Behälter mit Medikamenten bestücken, und zwar fehlerfrei! Das war immer die Aufgabe der Schwester, die zum Spätdienst kam, und sie musste sie zusätzlich zu ihren Aufgaben schaffen! Man kann sich vorstellen, unter welchem Zeitdruck die arme Schwester an diesem Tag stand. Wenn sie es während des Dienstes nicht geschafft hatte, musste sie es danach zu Ende bringen. Die Behälter wurden dann im Medikamentenschrank im Dienstzimmer unter Verschluss aufbewahrt und in der Früh mit dem Frühstück in die Wohnung des jeweiligen Bewohners gebracht. Außer den Schwestern, die für die Pflegefälle zuständig waren, hat zusätzlich auf jeder Etage eine Etagendame gearbeitet, die die erste Ansprechperson für jeden Bewohner war. Die Mahlzeiten, für die die Etagendame zuständig war, wurden in einem großen Wagen mit dem Lift von der Küche auf jede Etage gebracht. Für die Bestellungen war sie auch zuständig, wenn ein Bewohner lieber in der eigenen Wohnung essen wollte. Die meisten sind aber mit dem kleinen Lift in den Speisesaal gefahren und haben gemeinsam gespeist. Die Etagendamen haben den Bewohnern, die noch nicht in die Pflege übergeben worden waren, aber schon Hilfe brauchten, beim Aufstehen, Anziehen und auch beim Baden im eigenen Appartement geholfen. Auch kleine Einkäufe haben sie für die Bewohner erledigt. Um das Wohl der vierhundertfünfzig Bewohner im Hause hat sich eine Abteilung gekümmert, die verschiedene Veranstaltungen, Ausstellungen und auch Verkaufsmöglichkeiten organisierte. Es gab im Erdgeschoß sogar eine echte Bühne für Theaterbesuche. Im Haus befand sich auch ein Café, in dem sich die Bewohner gerne getroffen haben *** Wir Schwestern haben unseren Frühdienst um 06:00 Uhr mit der Übergabe des Protokolls der Nachtschwester begonnen, das über alle Vorkommnisse in der Nacht und bei Änderungen über die Pflegefälle berichtete. Das größte Problem in der Nacht waren die verwirrten Bewohner, die am Abend oder in der Nacht ihre Wohnungen verließen und durch das Haus und die Keller irrten. Die Übergabe musste schnell gehen, dann eilten wir zu unseren Pflichten. Bis halb zwölf mussten wir mit dem Waschen und Versorgen der Pflegefälle, mit unserem Arbeitsquantum, fertigwerden. Laut Arbeitsplan waren im Frühdienst für die fünfzehn Pflegefälle drei Schwestern vorgesehen. Meistens aber haben wir zu zweit gearbeitet, weil die dritte krank war. Das war unser Dauerzustand. Wenn die dritte Pflegekraft wieder da war, hat sich die Nächste krank gemeldet, die nicht mehr dazu in der Lage war, weiterzuarbeiten. Also musste jede von uns beiden sieben Personen im Frühdienst waschen, pflegen, versorgen, wickeln und auf die regelmäßige Lagerung im Zweistundentakt achten. Eine Etagendame musste zusätzlich zu ihrer Arbeit einen Pflegefall übernehmen. Die Tatsache, dass die dritte Schwester im Frühdienst fast immer fehlte, setzte uns unter enormen Zeitdruck und Stress. Dazwischen mussten wir zahlreiche andere Tätigkeiten und Handgriffe erledigen, zum Beispiel bei den Pflegefällen den Tropf überwachen, denen, die künstlich ernährt wurden, Tee kochen, den man nach der durchgelaufenen Nahrung hinhängen musste und die verbrauchten Nahrungsbeutel waschen, um sie für den Tee benutzen zu können. Man hatte ja an allem sparen müssen. Die kleinen zusätzlichen Tätigkeiten und die langen Wege von einem Fall zum nächsten haben auch zusätzliche Zeit in Anspruch genommen, sodass wir ständig im Laufschritt gearbeitet haben. Nachdem die Nahrung oder der Tee angehängt worden waren, sind wir nach kurzer Zeit noch mal hin, um zu kontrollieren, ob alles reibungslos lief. Der Pflegebedürftige musste ja die entspreche Menge an Nahrung und Flüssigkeit bekommen. Während der Arbeit bekamen wir Anrufe, Hilferufe von Bewohnern oder von einer anderen Station bei unerwarteten Vorkommnissen, oder der Urologe kam ins Haus, um bei einem Pflegefall einen Katheter zu legen oder zu wechseln, wozu er eine Schwester als Helferin brauchte. Es ist einfach unmöglich, alle Tätigkeiten zu erwähnen, mit denen die Schwestern während des Dienstes bis halb zwölf (!) fertig werden mussten. Die nächste halbe Stunde war für die Eintragungen in das Berichtblatt gedacht. Wenn man das bis zwölf nicht schaffte, musste man die Eintragungen nach 14:00 Uhr, das heißt nach dem Dienst, tätigen. Dann erst hatten wir unsere Dienstleistung für den Tag erbracht. Um 12:00 Uhr gab es Mittagsessen und nur dreißig Minuten, um alle Pflegefälle satt zu kriegen. Dann begann die Mittagsrunde, die nur eine Stunde dauerte. Die einzelnen Pflegefälle, die noch bewegliche Hände hatten und damit alleine am Tisch essen konnten, haben wir vom Bett auf den Rollstuhl gesetzt und zum Tisch gefahren. Das war für uns eine zusätzliche körperliche Anstrengung. Da ein Pflegefall wegen starker Kontrakturen und Versteifungen nicht mehr auf den eigenen Beinen stehen konnte, musste die Schwester dazu in der Lage sein, das ganze Gewicht des Menschen beim Umsetzen in den Rollstuhl und später zurück auf das Bett für ein paar Sekunden alleine tragen zu können! Dabei haben manche Männer bis zu hundert Kilo gewogen, aber mit dem geschulten Griff musste es gelingen. Während der Mittagsrunde musste jede Schwester alle sieben Pflegefälle neu wickeln und die bei Tisch Essenden zurück ins Bett bringen und wickeln. Bei Bedarf, wenn die Hose voll war, musste auch der Intimbereich gewaschen werden. Außerdem musste die Schwester nach ihren Tätigkeiten für die Ordnung in jedem Zimmer sorgen und den Müll entsorgen. Wer nicht in der Pflege gearbeitet hat, kann sich gar nicht vorstellen, was für ein schwerer Job das ist, gerade für eine Frau *** Im Spätdienst habe ich von Anfang auch als Schülerin oft alleine gearbeitet. Ich habe ja als eine starke und erfahrene Frau gegolten. An diesen Tagen war ich für die ganze Station, also für hundertfünfzig Bewohner, verantwortlich und am Abend musste ich dreiundzwanzig Personen, darunter die fünfzehn Pflegefälle, für die Nacht vorbereiten, das heißt zu Bett bringen, allein umsetzen, wickeln und entsprechend lagern. Außer den Pflegefällen waren auch Bewohner zu versorgen, die noch nicht in der Pflege waren, aber am Abend schon Hilfe benötigten. Alle diese Menschen bekamen für die Nacht eine Windelhose und wurden entsprechend gelagert. Anfangs habe ich am Abend immer die Oberschwester im Flur getroffen, sie lachte mich nur an und ging schnell weiter – und ich bin nicht auf die Idee gekommen, dass sie mich kontrollieren könnte! Ich habe die selbständigen Spätdienste aber gemocht. Gleich nach dem Eintritt in den Spätdienst habe ich zuerst alle Informationen bei den gezogenen Reitern an den Dokumentationsmappen durchgesehen und anschließend alle Pflegefälle und Personen angeschaut, mit denen ich im Spätdienst zu tun hatte. Somit habe ich mir einen Überblick verschafft und wusste, wer mich sofort braucht und wer später drankommt. Dadurch konnte ich unnötigen Anrufen und Hilferufen vorbeugen und Zeitdruck vermeiden. Der Dienst nahm dann einen ruhigen Verlauf, trotz der vielen Arbeit – außer ich habe einen Hilferuf von einer anderen Station erhalten. Dann mussten meine Pflichten warten. Manche Bewohner litten an Verstopfung und haben im Spätdienst sehnsüchtig auf mich, das heißt auf meine Hilfe, gewartet. Beim ersten Rundgang haben alle ein Glas Wasser in die Hand bekommen, dann ging ich der Reihe nach weiter, bis ich zur ersten Person zurückkam und ihr das zweite Glas Wasser in die Hand gab. Beim dritten Rundgang setzte ich die Personen aufs Klo und gab die dritte Portion Wasser in die Hand. Sie bekamen auch die entsprechende Zeit dafür. Alle diese Personen waren schon sehr unbeweglich, manche musste ich schon beim Gehen unterstützen. Diese Aufgabe, die ich mir selber am Anfang des Dienstes angeordnet habe, machte mich sehr zufrieden, weil ich dann in das blaue Blatt der einzelnen Person die Verdauung eintragen konnte. Durch diese Tätigkeit nachmittags wurde auch der nächste Frühdienst entlastet *** Wir Schwestern und die Etagendamen haben uns kaum gekannt. Wir sind uns im Flur jede auf ihrem Pflichtweg, in Eile begegnet oder auch nicht. Dann saßen wir erst bei der Übergabe nach der Mittagsrunde alle zusammen. Die Etagendamen haben es in ihrer Arbeit auch nicht leicht gehabt. Die kleinen Unterstützungen, die sie anfangs bei den noch selbständigen Bewohnern geleistet haben, waren mit der Zeit immer schwerer geworden, und erst, wenn der Bewohner bettlägerig wurde, hat man ihn in die Pflege zu uns gegeben. Dann hatten wir Schwestern einen Pflegefall mehr zu versorgen. Die Situation war auf allen drei Stationen im Haus gleich. Das führte dazu, dass die Schwestern immer mehr leisten mussten und die Eile der Versorgung und der Stress immer größer wurden. Eines Tages ist eine Etagendame während ihrer Arbeit im Frühdienst zusammengebrochen. Der Notarzt, der zu Hilfe gerufen wurde, diagnostizierte einen Herzinfarkt und sie wurde mit dem Sanka ins Krankenhaus gebracht. Wir haben davon erst nach der Mittagsrunde bei der Übergabe an den Spätdienst erfahren. Der Fall hat uns alle tief bewegt und bestürzt. Als wir nach der Neuigkeit eine Weile schweigend dasaßen, machte plötzlich eine neue, junge Etagendame, die aus dem Ausland kam, ihren Mund auf und sagte: „Die Arbeit mit den alten Menschen, das ist doch eine schwere Arbeit für eine Frau.“ Daraufhin sagte unsere Oberschwester mit fester Stimme streng: „Ihr Ausländer, ihr solltet zufrieden sein, dass ihr in Deutschland überhaupt arbeiten dürft!“ Nach ihren Worten wurde es im Stationszimmer ganz still und ich war sprachlos. Ich wusste nämlich, dass sie selber von der Tschechei nach Deutschland gekommen war. Ihr Vorteil aber war, dass sie einen deutschen Namen hatte und ein perfektes Deutsch sprach. Mit dieser Überlegenheit hatte sie einen leichteren Anfang und mehr Glück eine Arbeit zu bekommen als wir, die sich erst durch die Sprachbarriere hatten durchkämpfen müssen. Nach der Äußerung von der Oberschwester ist kein einziges Wort mehr im Stationszimmer gefallen *** Nach diesem Vorfall habe ich von der Oberschwester erfahren, dass das Altersheim einen Personalschlüssel von 1:1 hatte. Diese Äußerung hat mich aus dem Gleichgewicht geworfen. Meine Empörung war grenzenlos und mir schoss in diesem Moment ein blitzartiger Gedanke durch den Kopf, den ich nicht sofort in Worte fassen konnte. „1:1! – 1:1!, und wir müssen im Laufschritttempo arbeiten, geteilten Dienst leisten und den ständigen Personalmangel ertragen?“ Ich verstand die Welt nicht mehr. Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, hat die Oberschwester mir erklärt, wie man den Personalschlüssel berechnet: Wenn das Haus zum Beispiel sechzig Pflegefälle hatte, wurden auch sechzig Pflegekräfte eingestellt. Diese wurden dann auf den Frühdienst, den Spätdienst und die Nachtschicht verteilt. Ich war wieder sprachlos. Ich habe sofort an die Menschen gedacht, die in diesem Haus leben wollten! Wenn diese beim ersten Bewerbungsgespräch hörten, dass das Haus einen Personalschlüssel von 1:1 hatte, dann dachten sie doch sofort, dass sie bei einer Erkrankung oder Pflegebedürftigkeit eine Pflegekraft für sich alleine bekommen, was überhaupt nicht der Fall war! Ein Personalschlüssel von 1:1 klang so fantastisch, dass niemand auf die Idee gekommen wäre nachzufragen. Dies schuf den Eindruck, dass das noble Altersheim die beste Pflege garantierte, und das fand ich unverschämt. Diese Täuschung, die da im Gespräch entstand, hat mich tief empört und mir keine Ruhe mehr gelassen *** Nach meiner Ausbildung war ich im Spätdienst sehr oft als einzige ausgebildete Pflegekraft für das ganze Haus, also vierhundertfünfzig Bewohner, verantwortlich. Diese Tatsache wurde mir immer erst dann bewusst, wenn ich einen Hilferuf von einer Etagendame aus einer anderen Station bekommen habe. In solchen Fällen musste ich sofort meine eigene Arbeit unterbrechen und ihr zu Hilfe eilen. Eines Tages habe ich gegen 17:00 Uhr einen Hilferuf von einer Etagendame bekommen, die in der ersten Station im Erdgeschoß arbeitete. Diese hat in einem Appartement beim Servieren des Abendbrotes eine Bewohnerin nach Luft ringend vorgefunden. Also rannte ich aus dem achten Stock hinunter, weil der kleine Lift besetzt war. Als ich hineinkam, saß die Dame im Rollstuhl und schnappte tatsächlich nach Luft. Ich bat die Etagendame, bei ihr zu bleiben und sie zu beruhigen, so gut sie konnte. Ich musste in den Keller, um Sauerstoff zu holen. Es hat aber eine Weile gedauert, bis ich mit der großen Metallflasche, die mit Sauerstoff gefüllt sein sollte, zurück war. Die Flasche durfte man nämlich auf den Rädern nicht schnell fahren. Als ich der Bewohnerin den Sauerstoff verabreichen wollte, habe ich mit Entsetzen festgestellt, dass die Flasche leer war! Ich rannte zurück in den Keller, um die nächste Sauerstoffflasche zu holen. Ich bin wieder in das Büro des Pflegedienstleiters gegangen, wo die drei Flaschen als Vorrat für den Notfall stehen sollten, und nahm die zweite Flasche mit. Es hat wieder eine ganze Weile gedauert, bis ich mit der zweiten Flasche zurückgekommen bin. Die Bewohnerin schnappte immer noch nach Luft. Die Etagendame wollte mich schon verlassen, um der eigenen Arbeit nachzugehen, aber ich hielt sie intuitiv zurück. Ich musste bald feststellen, dass die zweite Flasche auch leer war! Die Etagendame musste wieder bei der Bewohnerin bleiben und sie beruhigen, bis ich mit der dritten Flasche kam. Unser Entsetzen war grenzenlos, als sich herausstellte, dass auch diese leer war. Der obligatorische Vorrat an Sauerstoff war nicht vorhanden! Mir blieb nichts anderes übrig, als die Klinik anzurufen. Als ich meinen Fall geschildert hatte, durfte ich die Bewohnerin sofort rüberbringen. Ich habe die Bewohnerin im Laufschritt mit dem Rollstuhl durch den langen, unterirdischen Korridor gefahren. Dann erst war mein Notfall für mich erledigt. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Klinik ist die Bewohnerin mit einem Herzschrittmacher zurückgekommen. Jeder Notfall hat mich viel Zeit gekostet, während der meine eigene Arbeit liegenblieb. An solchen Tagen musste ich länger arbeiten und durfte erst dann nach Hause gehen. Diese Überstunden wurden nicht angerechnet und auch nicht bezahlt. Nach dem beschriebenen Notfall im Spätdienst hatte ich am nächsten Tag Frühdienst mit der Oberschwester. Ich erzählte ihr, was ich erlebt hatte. Sie war stocksauer, sagte aber nicht, dass der Leiter für den Sauerstoffvorrat verantwortlich war. Diese Tatsache habe ich erst später vom Haustechniker erfahren, dem der Leiter die leeren Sauerstoffflaschen melden sollte. Er hatte es aber vergessen. Der Leiter hat natürlich auch erfahren, welche Schwester sein Versäumnis gemeldet hat und hatte mich ab diesem Zeitpunkt auf dem Kicker! Seine Schikane habe ich sofort bemerkt, als er manchmal für die dritte fehlende Schwester im Frühdienst einsprang. Er hat sich dann nur drei Pflegefälle statt fünf für sein Arbeitspensum genommen, die andere Schwester und ich haben einen zusätzlichen Fall bekommen. Sechs statt fünf Fälle zu waschen und zu versorgen, war noch zu verkraften. Dann aber, als ich vor 12:00 Uhr in das Stationszimmer kam, fand ich auf dem Tisch einen Zettel von ihm, der an mich gerichtet war: „Bitte übernehmen Sie meine Pflegefälle für die Mittagsrunde.“ Das war der Gipfel der Unverschämtheit, der mich sprachlos machte. Das bedeutete für mich, dass ich in der Mittagsrunde, die nur eine Stunde dauerte, mit neun Pflegefällen fertig werden musste, also alle wickeln und die Pflegefälle, die am Tisch saßen ins Bett bringen, wickeln, lagern und bei Bedarf noch waschen. An den Tagen, an denen er für die fehlende Schwester einsprang, habe ich auch die schwierigsten Fälle zu meinem Arbeitspensum bekommen. Vor allem die relativ junge, aber stark gebaute Frau mit MS. Sie war groß und schwer, dazu war sie total versteift und hatte starke Kontrakturen in beiden Ellbogen. Ihre Behandlung in der Früh erforderte viel Geschick und vor allem Kraft. Schon das Umsetzen aus dem flachen Bett auf den Rollstuhl war bei den langen, dicken und versteiften Beinen schon eine Kunst und Leistung für sich. In dieser Zeit hat der Leiter auch angefangen, mich in sein Büro in den Keller einzuladen. Erst merkte ich nicht, dass dies regelmäßig im Abstand von sechs Monaten geschah. Jedes Mal hat er in den Händen ein grünes Blatt Papier gehalten, aus dem er meine angeblichen beruflichen Fehler vorgelesen hat. So las er mir zum Beispiel vor: „Du benutzt einen eigenen Blutdruckmesser, obwohl wir auf der Station drei haben. Du redest mit der neuen Bewohnerin, obwohl sie noch nicht bei uns in der Pflege ist! Du schreibst die RR-Werte im Berichtblatt auf Rot, das macht keine Schwester außer dir.“ Und so ging es weiter. Hätte er mich zu Wort kommen lassen, hätte er zu hören bekommen, dass die drei Blutdruckmesser auf unserer Station entweder kaputt oder in Reparatur waren, wenn man sie dringend brauchte, und ich nur deswegen von meinem eigenen Geld den neuen und besten Blutdruckmesser gekauft hatte. Dieser hatte 200 DM gekostet. Dass die neue Bewohnerin, die gegenüber unseres Stationszimmers ein Appartement bewohnte, sich nicht an das neue Zuhause gewöhnen konnte und Zuspruch brauchte, interessierte ihn auch nicht. Dass ich die RR-Werte auf Rot eintrug, damit sie der Arzt schnell finden konnte, wollte er auch nicht wissen. Er ließ mich einfach nicht zu Wort kommen. Jede Einladung und sein Vorgehen mir gegenüber haben mich sehr aufgeregt. Dazu kam noch die Tatsache, dass ich mich damals noch nicht verbal wehren konnte. Der Leiter hat meine Aufregung natürlich gesehen, ich habe ja innerlich gekocht, dabei lächelte er zauberhaft – was ich dann wieder nicht übersehen konnte. Es war mir vollkommen bewusst, dass er mich körperlich und seelisch kaputt machen wollte. Dass sein ungerechtes Vorgehen mir gegenüber Mobbing heißt, wusste ich damals noch nicht. Dass er mich kaputt machen und loshaben wollte, spürte ich. Ich musste mich sehr zusammenreißen, um die regelmäßigen Einladungen in sein Büro zu verkraften und auszuhalten. Dieses Mobbing hat jahrelang gedauert, und da ich daran gewöhnt war, mit allem im Leben alleine klarzukommen, bin ich nicht mal auf die Idee gekommen, mich bei der Oberschwester zu beklagen. An Tagen, an denen wir den Personalmangel richtig hart zu spüren bekamen und jeden Tag eine von uns einen geteilten Dienst leisten musste, war das Leben extrem schwer. Das war ein immer öfter vorkommender Zustand, in dem wir unser Leben zwischen Dienst und eigenem Bett verbrachten *** Als ich eines Tages nach Monaten wieder eine Einladung in den Keller bekommen habe, war ich so sauer, dass ich intuitiv einen Bleistift und ein Stück Papier in meine Tasche steckte, obwohl mir noch nicht ganz klar war, wozu. Ich setzte mich dem Leiter gegenüber an den Schreibtisch, legte das Papier an den Rand des Schreibtisches und wartete, was für „Sünden“ er sich diesmal wieder ausgedacht hatte. Als er dann die erste vorlas, fing ich an zu schreiben, aber mit der linken Hand nach links, weil ich rechts keinen Platz fand. Dass die Tatsache ihn erschrecken könnte, hatte ich nicht gedacht. Als er das wahrnahm, war er plötzlich ganz irritiert und fragte mich: „Was machst du da?“ „Du siehst ja“, sagte ich mutig, „ich schreibe meinen angeblichen Fehler, den du mir jetzt vorgelesen hast, auf“, und schrieb weiter. Im nächsten Moment erlebte ich etwas, was ich nicht erwartet hatte: Er zerriss das grüne Blatt Papier vor meinen Augen und warf es in den Papierkorb! Ich stand auf und verließ ihn wortlos. Ab diesem Vorfall hat er mich endlich in Ruhe gelassen, womit ich nicht gerechnet hatte. Er hat auch damit aufgehört, mir seine Arbeit und die Mittagsrunde aufzubürden. Es sind weitere Wochen vorbeigegangen, aber diese Zeit war die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm … *** Nachdem mich der Leiter in Ruhe ließ, wurden meine Dienste erträglicher und ich konnte trotz Stress in der Arbeit tief aufatmen. Ich wurde aber immer öfter im Spätdienst eingesetzt und war damit alleine für das gesamte Geschehen und für alle vierhundertfünfzig Bewohner verantwortlich. Natürlich habe ich es weiterhin erst dann erfahren, wenn ich einen Notruf von einer anderen Station bekam. Trotzdem mochte ich den selbständigen Spätdienst, er hat mir nichts ausgemacht. Eines Tages rief mich währenddessen eine Etagendame aus dem fünften Stock an. Sie sagte mir, dass eine Bewohnerin unter Atemnot leide. Es war 17:00 Uhr. Ich habe sofort meine Arbeit unterbrochen und eilte zu ihr. Als ich dann gesehen habe, dass die zarte, kleine und abgemagerte Frau tatsächlich unter Atemnot litt, war ich schon „auf der Hut“ und mied die Sauerstoffflaschen. Das Risiko wollte ich nicht wieder eingehen. Ich habe sofort die Klinik angerufen. Die Ärzte standen uns ja jederzeit zur Verfügung. Der Arzt war blitzschnell da und die betagte Dame schnappte immer noch nach Luft. Sie saß an ihrem Tisch und klagte jetzt leise: „Ich bekomme keine Luft. Ich bekomme keine Luft.“ Der junge Arzt ist vor ihrem Tisch stehen geblieben und schaute ihr nur zu. Ich stand zwei Meter hinter dem Arzt an der Seite und beobachtete, was er tun würde. Die kleine, arme Frau klagte noch mal ganz leise und langsam: „Ich bekomme keine Luft.“ Der Arzt wartete ab! Nachdem die zarte Dame zum dritten Mal diese Worte ausgesprochen hatte, fiel ihr Kopf auf den Tisch und sie war tot! Mit Staunen und großem Interesse hatte ich das Szenario beobachtet. Jetzt kam der Arzt zu der Toten, nahm den leichten Körper in seine Arme und fragte mich nach dem Schlafzimmer. Ich eilte ins Zimmer und warf das ganze Bettzeug vom ersten Bett auf das zweite, damit der Arzt ihren Körper auf die Matratze legen konnte. Er sagte mir noch, dass er in zwei Stunden wiederkommen würde, um den Totenschein auszufüllen, und ging. Die Verstorbene machte aber keinen toten Eindruck! Aus dem Bad holte ich einen kleinen Spiegel, den ich ihr unter die Nase hielt. Keine Spur von Atmung. Die Frau war tatsächlich tot. Jetzt konnte ich sie versorgen, wie es meine Pflicht war. Ich habe sie ausgezogen, ihren ganzen Körper gewaschen und ihr eine Windelhose gegeben. Aus dem Schrank bekam sie ein frisches Nachthemd und ihren ganzen Körper habe ich auch mit einem frischen Bettlaken zugedeckt. Nachdem ich die Heizung in der ganzen Wohnung ausgeschaltet und das Fenster aufgemacht hatte, suchte ich noch die Etagendame auf, um ihr Bescheid zu geben, dass die Frau verstorben war und der Arzt in zwei Stunden nochmal kommen würde. Jetzt erst war der Notfall für mich erledigt und ich konnte meine eigene Arbeit auf der Station wieder aufnehmen. An diesen Tag bin ich wieder sehr spät nach Hause gekommen. An einem anderen Tag hat uns um die Mittagszeit herum ein Fall ins Schwitzen gebracht. Eine Etagendame, die gerade an einem Appartement vorbeiging, hörte aus der Wohnung Hilferufe! Sie reagierte blitzschnell und öffnete die Wohnungstür mit ihrem Dienstschlüssel. Hier lebte ein Mann, der als selbstständig galt und von niemandem Hilfe benötigte, zu den Mahlzeiten war er bis jetzt immer mit dem Lift in den Speisesaal hinuntergefahren. An diesem Tag ist der Mann aber in eine extreme Notsituation geraten, und das Bild, das sich der Etagendame bot, erschreckte sie. Der Bewohner lag mit dem Körper nach unten in seiner Sitzbadewanne! Sein Kopf war zwischen Boden und Badewannenrand abgeknickt, der Po ist auf dem Sitz der Wanne hängen geblieben und seine Beine hingen am Rand der Sitzbadewanne draußen. Zum Glück war die Badewanne nicht mit Wasser gefüllt, sonst hätte die Etagendame seine Hilferufe nicht mehr gehört. Diese hatte erst eine Kollegin aus einer anderen Etage zu Hilfe gerufen, aber die beiden konnten den Mann nicht aus der gefährlichen Lage befreien. Er war zu schwer und nackt. Dann wurde ich zu Hilfe gerufen. Als ich hineinkam und die drohende Gefahr sah, reagierte ich sofort, ging schnell in das Zimmer und schaute mich um. Dabei fiel mir der neue Ledergürtel an einer Hose ins Auge und ich zog ihn schnell aus den Schlaufen. Die Stimme des Mannes wurde immer leiser. Er konnte die unbequeme und gefährliche Lage kaum noch ertragen. Schnelles Handeln war angesagt. Ich erklärte den beiden Etagendamen, was wir jetzt schaffen mussten, damit er nicht vor unseren Augen starb. Ich konnte den Gürtel mit großer Mühe um seine Schultern herum und unter die beiden Achseln legen, und jetzt gab es nur noch eines, das Wichtigste, zu tun: Mit unserer ganzen Kraft den Mann nach oben ziehen! Er war groß, sehr schwer und hatte keine Pyjamajacke an. Mit der größten Anstrengung und im Bewusstsein, dass wir den Mann retten mussten, ist es uns gelungen, ihn erstmal in eine sitzende Position zu bringen. Der Mann war gerettet, aber noch nicht ganz außer Lebensgefahr. Ich war fix und fertig, weil ich alleine an der unbequemen Seite an der Wand am Gürtel gezogen hatte. Es war aber um Leben und Tod gegangen, wir hatten es schaffen müssen. Der Mann hätte sich das Genick brechen können! Wir mussten ihn noch aus der Badewanne herausbringen, dann hatte der Spuk ein Ende. Der Mann war genauso erschöpft wie wir! Er atmete heftig. Wir hielten ihn noch an den Armen fest, damit er nicht wieder ausrutschte, er war ja noch ganz benommen und außer sich. Wir drei aber auch, und nach einer Verschnaufpause wollten wir erfahren, wie er in die Badewanne gefallen war. Er war immer noch erschöpft, aber wollte uns doch sagen, wie es passiert war. Er hatte sich rasieren und frisch machen wollen, um in den Speisesaal zu fahren, und hatte die Pyjamajacke ausgezogen, wobei ihm schwindelig geworden war. Er hatte sich auf die Kante der Badewanne gesetzt und dabei das Gleichgewicht verloren. Es war wieder mal nachmittags. Ich ging den langen Flur entlang und eilte zu meinem nächsten Pflegefall. Da kam mir eine fremde Frau entgegen und sprach mich an. Sie sagte mir, dass ihre Mutter zwar nicht bei uns in Pflege, jetzt aber krank sei und eine Schwester vom Haus zu sprechen wünsche. Sie führte mich in die Wohnung der Mutter und ließ mich mit ihr alleine. Die Stille im Zimmer der Kranken empfand ich als sehr seltsam. Die kranke Frau lag ganz ruhig und still im Bett. Als ich langsam zu ihr kam und vor ihr stand, schaute sie mich nur an und schwieg. Das war ein bewusster Blick. Sie atmete regelmäßig, und als sie nach meiner Hand griff, hielt sie mich fest. Die Hand war warm. Unsere Blicke haben sich getroffen und wir schauten uns eine Weile an. In ihren Augen lag etwas Seltsames, was auch mich schweigen ließ. Sie sagte kein Wort. Schließlich fragte ich sie behutsam, ob sie mir was mitteilen wollte, aber sie bewegte langsam ihren Kopf von rechts nach links. Da sah ich plötzlich, wie ihr rechtes Auge aus der Augenhöhle herauskam, als hätte es eine unsichtbare Kraft herauspressen wollen. Dabei hat sie tief eingeatmet. Gleich danach bewegte sich das Auge wieder zurück, dabei atmete sie tief aus und schloss beide Augen. Das war ihr letzter Atemzug gewesen. Die Frau war tot. Ich befreite mich aus ihrem Griff und ging langsam zu der Tochter in das zweite Zimmer. Bevor ich ein Wort sagen konnte, sagte die Tochter zu mir: „Ich weiß, was Sie mir sagen möchten, Schwester. Meine Mutter ist verstorben. Ihre Standuhr ist eben stehen geblieben.“ Ihr Mann nahm sie fest in den Arm, und als sie sich so fest umarmten, verließ ich die Wohnung. An meinem letzten Arbeitstag, unmittelbar vor meinem Urlaub, kam mittags unser Hausarzt zur Übergabe in das Stationszimmer. Als wir ihm berichteten, dass es einem Pflegefall, einer Frau, sehr schlecht ging, sagte er zu uns: „Gut, dann setze ich ihre Medikamente ab, damit sie in Ruhe sterben kann.“ Dies vermerkte er mit Datum und Unterschrift auf dem gelben Blatt der Dokumentationsmappe. Der Fall war erledigt. Als ich nach dem Urlaub zum Frühdienst kam, habe ich diesen Pflegefall zu meinem Arbeitspensum für die Versorgung bekommen. Ich war auf das Schlimmste vorbereitet. Doch als ich in die Wohnung der Frau kam, was sah ich da? Der Pflegefall, die liebe, arme Frau, saß auf ihrem Bett und lachte mich an! Ich staunte nicht schlecht und freute mich gleichzeitig für sie. Nachdem ich sie gewaschen und versorgt hatte, wollte sie aus dem Bett raus und am Tisch frühstücken! Natürlich habe ich sie in den Rollstuhl gesetzt, sie zum Tisch gefahren und einen guten Appetit gewünscht. Das Erlebte machte mir bewusst, dass es dieser Frau nur deswegen immer schlechter ergangen war, weil sie mit den „Medikamenten“ vergiftet worden war. Sie ist ja schließlich im Bett liegen geblieben und machte den Eindruck, dass sie kurz vor dem Sterben steht. In der neunten Etage lebte in einer Zweizimmerwohnung eine Frau, die ich schon erwähnt habe. Sie litt an MS und ihre Krankheit war schon weit fortgeschritten. Die starken Versteifungen und das angegriffene Nervensystem, haben ihre Versorgung sehr erschwert. Bei diesem Fall war vor allem unsere Kraft gefragt, weil die Frau groß und stark gebaut war. Sie hatte noch dazu Sprachstörungen und konnte sich nicht artikulieren. Da ihr Kopf zitterte, musste man ihr die Mahlzeiten sehr vorsichtig eingeben, ansonsten hätte sie sich verschluckt, was in ihrem Fall eine Katastrophe gewesen wäre. Für diesen Fall haben wir für die Versorgung morgens eine volle Stunde gebraucht. In ihrem ersten Zimmer stand noch ein zweites Bett, auf das wir sie nach dem Frühstück umgesetzt haben, damit sie bequem fernsehen konnte. Wie das Leben so spielt: Diese Frau hat als junges Mädchen in einer Bank gearbeitet und dann einen reichen Mann geheiratet, der um dreißig Jahre älter war als sie. Er hatte sie in der Hoffnung geheiratet, dass sie ihn im Alter pflegen würde. Sie ist aber früher als er pflegebedürftig geworden. Der Mann lebte in einem anderen Wohnheim und bezahlte ihr das Altersheim und zwei private Pflegerinnen, die sie immer gemeinsam spazieren fahren mussten wegen der ständigen Gefahr, dass sie aus dem Rollstuhl rutschen könnte. Ihre Nachbarin in der Etage war eine 80-jährige Frau Doktor, die mit siebenundzwanzig Jahren an Kinderlähmung erkrankt war. Das war eine sehr nette Frau, sie erzählte mir so manches aus ihrem Leben und ich musste sie für die Geduld bewundern, mit der sie ihr Schicksal ertrug. Die Frau war federleicht und hatte kein Gefühl in den Beinen. Diese waren weich und nicht versteift. Sie hatte am Leib keine Wunden, sie wurde noch aus dem Bett auf einen Stuhl gesetzt. Da sie das Tageslicht nicht ertragen konnte, war das große Balkonfenster immer mit einem weißen Bettlaken bedeckt. Ihr Zimmer wirkte wie eine Todeshalle. Alles war weiß, es gab nirgendwo eine andere Farbe, auch keine Bilder. Das Zimmer machte einen sehr armseligen Eindruck, obwohl die Frau betucht war. Sie war nicht in Pflege. Sie hatte auch zwei private Pflegerinnen, die zu ihr ins Haus kamen. Sie wurde pünktlich im Zweistundentakt gelagert oder umgesetzt. Die gesamte Pflege war bei ihr nicht leicht, deswegen haben die Pflegerinnen oft gewechselt. Wir Schwestern des Hauses mussten pünktlich um 03:00 Uhr morgens bei ihr erscheinen, um sie neu zu lagern. Zu ihr sind immer zwei Nachtschwestern gekommen. Sie diktierte jeden Handgriff, sonst wäre sie mit der Lagerung der Beine nicht zufrieden gewesen

Krankheitsbild: Kinderlähmung. In der neunten Etage wohnte auch ein ausgesprochener Gentleman, der über 90 Jahre alt und blind war. Sein ganzes Benehmen ließ erkennen, dass er ein Mann der alten Schule war. Außerdem war er sehr bescheiden, er forderte nichts, war diszipliniert und hatte Manieren. Wir fanden es bewundernswert, wie der Mann in seinen eigenen Wänden zurechtkam. Er hatte eine Freundin, die ihn jede Woche besuchte. Der Bewohner war nie krank und bekam von uns auch keine Medikamente. Wenn ich Frühdienst hatte, war es meine Pflicht, den Mann mit dem Lift in den Speisesaal im Erdgeschoß zu führen. Ich habe ihm eine Stunde lang das Essen eingegeben. Er lauschte dabei den Stimmen im Saal und nach dem Essen führte ich ihn wieder zurück in seine Wohnung. An einem Nachmittag hat er nach mir verlangt. Er sprach die Etagendame an und sagte, dass er mich sprechen möchte. Da ich an diesem Tag frei hatte, rief sie den Leiter an und fragte ihn, ob sie mich rufen dürfe, ich wohnte ja fast im Haus. Der Leiter hatte es aber nicht erlaubt, mit der Begründung, dass ich einen freien Tag habe und nicht im Haus sei. Am nächsten Tag kam ich zum Frühdienst und erfuhr von der Nachtschwester, dass der alte Herr in der Nacht gestorben war. Als ich die Nachricht hörte, bin ich gleich nach oben gegangen und suchte ihn in seiner Wohnung auf. Der Herr lag mit gefalteten Händen auf dem Bett, während sein Kopf stark nach hinten gebeugt war. Sein Mund war aufgerissen. Er musste nach Luft geschnappt haben und ich dachte, dass er seinen Übergang in das Jenseits wahrscheinlich gespürt hatte. Er wollte sich einfach von mir verabschieden. Ein armer Kerl. In die Erzählungen über meine Arbeit in der Pflege habe ich bewusst ein paar schwere Fälle eingebaut, damit der Leser einen Eindruck von den täglichen Bemühungen einer Pflegekraft bekommt. Es geht mir auch darum, dem Leser klar zu machen, wie elend und schwer der letzte Lebensabschnitt sein kann und auch ist, wenn man lebenslang die gesunde Lebens- und Ernährungsweise nicht beachtet. Es gab Pflegefälle, für die wir Schwestern eine volle Stunde gebraucht haben. Das waren Menschen, mit denen man sehr vorsichtig umgehen musste, um Schmerzen zu vermeiden. Bei solchen Fällen konnte man sich auch nicht beeilen und mit jedem musste man auch anders umgehen. Deswegen kann man die Zeit auch nicht pauschal abrechnen! Es gab ein Ehepaar, das in einer Zweizimmerwohnung lebte. Die beiden waren über 80 Jahre alt. Die Frau, die noch ganz fit war, konnte sich in der Stadt bewegen und alles erledigen. Sie war im Krieg Krankenschwester gewesen. Ihr Mann dagegen, der in jungen Jahren auch ein Fußballspieler war, war ein totaler Pflegefall mit zwei künstlichen Kniegelenken. Seine Behinderung lag nicht nur an den beiden versteiften Knien. Mit Erlaubnis der Oberschwester und der Ehefrau durfte ich ein Knie mit dem künstlichen Gelenk fotografieren. Man konnte auf dem Bild erkennen, dass sich an der Haut am und um das Knie herum Wunden und Narben gebildet hatten. Es ist logisch, dass das künstliche Material des Gelenkes nicht mit dem lebendigen menschlichen Gewebe verschmelzen kann! Es bildete sich mit der Zeit Eiter an der Berührungsstelle, dieser ist ein gefährliches Gift und will heraus. Er drückt an die Haut und verursacht kleine Löcher. Ich habe beobachtet, wie sich ein Loch nach der medizinischen Behandlung geschlossen hatte, aber an der nächsten Stelle weitere kleine Löcher entstanden! Das Knie war voller Narben. Bei der Versorgung dieses Falles habe ich nicht auf die Uhr geschaut, sonst hätte mich der Zeitdruck, unter dem ich gestanden habe, nervös gemacht. Seine Frau sagte mir einmal, dass ich die einzige Schwester sei, bei der ihr Mann während der Versorgung nicht schreit. Ich möchte an dieser Stelle allen Sportlern mitteilen, dass beim Laufen das Vierfache des gesamten Körpergewichts auf ein Knie prallt! Diese Tatsache ist unter anderem die Ursache für Knieprobleme im Alter. Durch den Eiter wird mit der Zeit der ganze Körper vergiftet und der Mensch stirbt schließlich nicht, weil er alt geworden ist, sondern an einer Vergiftung! Aber wer prüft das schon nach dem Tod. Das Knie mit dem künstlichen Gelenk, total versteift

Ein anderer Fall hat uns Schwestern zweimal am Tag auch fast eine Stunde Zeit gekostet. Das war eine sehr anspruchsvolle, 86-jährige Dame, die querschnittsgelähmt und adipös war. Sie bewegte sich den ganzen Tag mit einem elektrischen Rollstuhl in der Gegend herum. Sie hat mittags die dringende Entlastung des Körpers verweigert und wollte sich nicht ins Bett legen. Die Folge davon war eine sehr tiefe Wunde am Gesäß. Am folgenden Foto sieht man den nackten Knochen am Steiß. Da die Wunde keine Schmerzen verursachte, wollte die Dame auch nichts davon wissen. In meiner zehnjährigen Arbeit in der Pflege war das der einzige Dekubitus vierten Grades, den ich zu Gesicht bekommen habe – ein Beispiel für die komplett fehlende Entlastung. Über diesen Fall habe ich mit der Oberschwester gesprochen und meinte, wenn die Frau die Wunde auf einem Foto sehen würde, dann würde sie vielleicht der Entlastung mittags doch zustimmen. Die Dame hat mir zwar erlaubt, den Dekubitus zu fotografieren, aber sie wollte das Foto nicht sehen! Es war einfach nichts zu machen. Wir Schwestern waren froh, dass wir die tiefe Wunde mit unserer Sorgfalt überhaupt sauber halten konnten. Dekubitus vierten Grades mit dem sichtbaren Knochen

Die obligatorische Entlastung im Intimbereich im Zweistundenrhythmus ist die einzige Voraussetzung dafür, dass die Haut intakt bleibt! Bei jedem Menschen, der sich im Bett nicht mehr bewegen kann, entstehen Wunden, und je länger jemand bettlägerig ist, desto tiefer werden die Wunden, wenn er nicht umgelagert wird. Schließlich stirbt das Gewebe bei fehlender Entlastung ab. Man erkennt die abgestorbene Haut an den schwarzen Spuren daran. Auf den folgenden Seiten finden sich weitere Beispiele der fehlenden regelmäßigen Entlastung auf meiner Station

*** In den ruhigen Monaten, in denen ich nicht mehr unmittelbarem Mobbing ausgesetzt war, musste ich immer öfter geteilten Dienst leisten. Der Personalmangel war deutlicher zu spüren als sonst. Der geteilte war der schwierigste von allen drei Diensten. Ich habe ihn immer widerstandslos angenommen und der Leiter musste eigentlich zufrieden mit mir sein. Es ist mir aber nicht entgangen, dass er mich weiterhin auf dem Kieker hatte und mein Gespür hatte mich auch nicht getäuscht. Diese Tatsache wurde mir wieder mal bewusst, als mich das nächste Erlebnis wachrüttelte. Nach einem schweren Spätdienst habe ich vergeblich auf die Nachtschwester gewartet. Erst dachte ich, dass sie sich verspäten würde, also teilte ich für sie die Schlaftabletten an die Bewohner aus. Aber nachdem ich diese verteilt hatte und in das Stationszimmer zurückkam, war sie immer noch nicht da. Dass ich die Station nicht verlassen durfte und die Nachtwache übernehmen musste, wusste ich, das war meine Pflicht, also arbeitete ich weiter. Die Nachtschicht habe ich bei dem Pflegefall begonnen, den ich im Spätdienst um 17:00 Uhr für die Nacht vorbereitet hatte. Dann ging es der Reihe nach weiter. Alle Pflegefälle wurden in der Nacht zweimal gewickelt und gelagert. In dieser Nacht war die verwirrte Frau S. wieder mal unterwegs. Um 22:00 Uhr war sie nicht mehr in ihrer Wohnung und um 23:00 Uhr war sie immer noch nicht da! Ich lief durch alle neun Etagen, während der Nachtportier die Keller durchsuchte, wo er Frau S. in einer Ecke am Boden sitzend und ganz verzweifelt vorfand. Ich habe sie dann in ihre Wohnung begleitet, sie ausgezogen, ihr das Nachthemd angezogen und sie ins Bett gelegt. „Was war los? Wo wollten Sie denn hin?“, fragte ich sie beim Abschied. Sie sagte ganz leise und beschämt: „Ich wollte doch nur zu meiner Tochter.“ Als die Nacht vorbei war, meldete ich beim Leiter, dass die Nachtschwester nicht gekommen war und ich ihren Dienst übernommen hatte. Er war nicht überrascht, sondern erwiderte in einem ganz ruhigen Ton: „Ich weiß, sie hat sich krank gemeldet.“ Und nach einer Weile folgte eine ganz gleichgültige Erklärung: „Ich habe vergessen, eine Vertretung zu organisieren.“ In seiner Stimme war kein Bedauern zu hören und eine Entschuldigung folgte auch nicht. Ich fragte mich, ob es wirklich ein Versäumnis oder doch Absicht gewesen war?! Seine Gleichgültigkeit traf mich und gab mir Anlass nachzudenken. Als ich ins Stationszimmer kam, um den Arbeitsplan für den heutigen Tag zu kontrollieren, sah ich mit Entsetzen, dass ich am selben Tag noch Spätdienst hatte. Ich musste also „schnell schlafen“, um nach den zwei Diensten (!) wieder fit und um 12:30 Uhr wieder hier zu sein. Jetzt wusste ich, dass es seine Absicht und eine Schikane war, dass er mich weiterhin auf dem Kieker hatte und mich fertigmachen wollte. Auf dem Weg in mein Dienstzimmer dachte ich: „Wenn ich gestern nach dem Spätdienst nicht auf die Nachtschwester gewartet und ihren Dienst nicht übernommen hätte, hätte er jetzt einen festen Kündigungsgrund in der Hand, das ist sicher. Das ist einer!“, dachte ich. Als ich pünktlich zum Spätdienst kam, ist er im Flur mit einem Lächeln im Gesicht an mir vorbeigegangen. Das Mobbing ging weiter. Die geteilten Dienste wurden zum Alltag für mich. Ich habe sie so lange durchgehalten, bis ich eines Tages nicht mehr arbeiten konnte. Ich war am Ende meiner Kräfte. Es fing mit einer Erkältung an, die sich rapide zu einer Bronchitis entwickelte, und ob ich wollte oder nicht, ich musste mich beim Arzt melden. Kaum war ich krankgeschrieben, da rief mich schon der Leiter zu Hause an und sagte: „Wenn du nicht mehr belastbar bist, dann solltest du dir überlegen, ob du den Arbeitsplatz nicht wechseln möchtest!“, und legte auf. Das war wieder ein Schlag, der gesessen hat. Zu meiner körperlichen Belastung kam jetzt zusätzlich die seelische dazu. Ich war am Ende. Bei der nächsten Visite beim Hausarzt schickte dieser mich gleich zum Lungenarzt weiter. Die Lage war ernst. Das Röntgenbild zeigte Änderungen in der Lunge. Als der Lungenarzt mir Medikamente verschreiben wollte, fragte ich ihn ganz unsicher: „Bitte, darf ich die schulmedizinische Behandlung verweigern?“ Der erfahrene Arzt schaute mich nachdenklich an und wartete auf eine Erklärung. „Ich möchte mich an einen Heilpraktiker wenden, der meinem Neffen vor zwölf Jahren das Leben gerettet hat, dieser hatte Leukämie und er lebt heute noch.“ Der Arzt sagte nur: „Ich habe nichts gegen Mittel, die helfen.“ Ich war gerettet und sehr erleichtert zugleich. Ich bedankte mich für sein Verständnis und ging. Sein Verständnis und seine Toleranz, aber vor allem die Tatsache, dass der Arzt sich nicht beleidigt gefühlt und mit Wut oder Ignoranz reagiert hatte, tat mir gut. Zu Hause angekommen, habe ich sofort Pater Ober angerufen. Das war das erste Mal, dass ich mich hier in Deutschland an ihn gewendet habe, und zwar mit vollem Vertrauen. Ich war überrascht, dass ich ihm nicht viel sagen musste. Er hat auch keine einzige Frage gestellt, ihm hat die Information gereicht, dass ich mich beim Lungenarzt hatte melden müssen. Die fernangeordneten Medikamente sind bei mir in drei Tagen angekommen. Es folgte eine schwere Zeit für mich. Ich war dermaßen geschwächt, dass ich mich nicht selber versorgen konnte. In der Not hat mir meine treue Schwester wieder geholfen. Sie ist jeden Tag mit dem Bus aus Neuaubing zu mir gekommen und hat das Mittag- und Abendessen für mich vorbereitet. Das waren schmackhafte Salate – bei meiner Appetitlosigkeit habe ich sowieso nichts anderes essen können, und das, was sie vorbereitet hatte, war eine Vitaminbombe, also aß ich es. Jeden Tag habe ich zweimal um die gleiche Zeit das Fieber gemessen, das nicht hoch war, und zweimal den Blutdruck, der erschreckend war und mir Angst einjagte. Beide Werte lagen über 100. Es ging mir dabei dermaßen schlecht, dass ich dachte, ich müsse sterben. Ich habe den ganzen Tag resigniert, hoffnungslos und total geschwächt im Bett verbracht. Nach wenigen Tagen hat mich überraschenderweise Pater Ober angerufen! Er sagte ganz direkt zu mir: „Sie sollten nicht ständig im Bett liegenbleiben, sondern sich an der frischen Luft bewegen!“ Das war alles, er legte gleich auf. Der Anruf hatte mich doch verblüfft. Es ist mir klar geworden, dass Pater Ober mich überwachte! Ich war sehr geschwächt, aber nach dem Anruf habe ich mich zusammengerissen und bin in die kleine Parkanlage vor meinem Haus gegangen. Ab diesem Tag habe ich mich bemüht, mich zweimal pro Tag an der frischen Luft zu bewegen und tief zu atmen. Als ich mich nach langer Zeit beim Lungenarzt melden musste, machte dieser ein Röntgenbild zur Kontrolle. Die Lunge war einwandfrei und der Arzt staunte. Als ich ihm gesagt habe, dass der Heilpraktiker mich gar nicht gesehen hatte, war sein Staunen noch größer und er wollte wissen, wie das möglich war. Ich sagte nur kurz, dass Pater Ober eine Ferndiagnose und -behandlung angewendet hatte. Mehr konnte ich ihm sowieso nicht sagen, weil ich damals noch nicht wusste, wie ich es ihm genauer erklären konnte. Der Lungenarzt war sehr freundlich zu mir, er hat mich sogar in ein Sanatorium geschickt. Die Hilfe, Treue und Fürsorge meiner einzigen Schwester hat mir in den ersten Jahren meines Aufenthaltes in Deutschland ein warmes Gefühl gegeben und die Gewissheit, dass ich in der Fremde, in der neuen Heimat, doch nicht alleine bin *** Das Sanatorium befand sich in Todtmoos in einer herrlichen Gegend des Schwarzwaldes, mitten im Wald. Man konnte meinen, in dieser herrlichen Gegend und frischen Luft konnte man den ganzen Tag im Wald verbringen, es war ja ein Aufenthalt in einem Sanatorium. Dem war aber leider nicht so! Obwohl ich alle erforderlichen Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungen mitgebracht und abgegeben hatte, wurde ich jeden Tag einer neuen Untersuchung unterzogen. Jeden Vormittag musste ich in einem Flur lange darauf warten, die Zeit danach war zu knapp, um einen Spaziergang im Wald zu unternehmen. Dafür gab es dreimal in der Woche Atemgymnastik im Hof des Sanatoriums, unmittelbar vor dem Mittagsessen für dreißig Minuten. Auch dreimal in der Woche haben wir Patienten uns in einer Turnhalle zur Atemgymnastik nachmittags versammelt, diese dauerte eine Stunde lang. Die Bewegung, die Spaziergänge im Wald und in den Bergen wären aber die bessere Atemgymnastik gewesen, wenn es einen Führer gegeben hätte. Diese Wanderungen im Wald durch die bergige Gegend, die es nie gegeben hat, habe ich sehr vermisst. Ob die anderen Patienten den Aufenthalt in der herrlichen Umgebung auch so wie ich empfanden? Das habe ich bezweifelt. Unmittelbar vor dem Hauptgebäude des Sanatoriums haben sich jeden Tag nach dem Mittagsessen die Raucher in einer Ecke versammelt, diesen Leichtsinn habe ich überhaupt nicht verstanden. Sie wirkten zufrieden und plauderten miteinander. Der Aufenthalt in dem Sanatorium hat mir trotz allem gut getan, ich konnte ruhen. Meine Lunge hat sich in der kurzen Zeit doch erholt. Nach der Rückkehr nach München war ich gestärkt und wieder einsatzfähig für den schweren Dienst *** Mit Bangen bin ich zurück in meine Arbeit gekommen und so, wie ich es vermutet hatte, hat sich an den Arbeitsumständen in meiner Gruppe leider nichts verändert. Im Frühdienst konnte ich nur zwei Tage normal arbeiten, das heißt bei voller Besetzung mit drei Schwestern. Schon am dritten Tag fehlte die dritte Pflegekraft und alles ging wieder von vorne los. Wir arbeiteten im Frühdienst wieder zu zweit. Zusätzlich kam der Pflegedienstleiter eines Tages mit der Information zu uns, dass es keine zusätzlichen freien Tage mehr gibt. Somit haben sich unsere Arbeitsbedingungen noch weiter verschlechtert. Dass der Leiter mich weiterhin loshaben wollte, spürte ich jeden Tag an seinem Benehmen mir gegenüber, und seinem falschen Lächeln traute ich auch nicht. Die Gefahr verspürte ich jeden Tag, weil sie einfach in der gesamten Atmosphäre lag. Ich musste weiterhin auf der Hut sein. Da er mir bis dahin in den vielen Jahren immer noch keinen beruflichen Fehler hatte nachweisen können, fürchtete ich jetzt seine Tricks, die er weiterhin anwenden konnte. Dieser Situation war ich nicht gewachsen, sie machte mich seelisch fertig. Ich habe angefangen, nach jedem Dienst den Dienstplan darauf zu kontrollieren, ob er nicht in letzter Minute geändert worden war, ohne dass mich der Leiter darüber informiert hätte. Erst dann habe ich die Station verlassen. In dieser Zeit, in der wir alle vom Personalmangel betroffen waren und unsere Pflegefälle notgedrungen nur „abgefertigt“ wurden, haben wir unser Leben zwischen den Diensten und dem eigenen Bett verbracht, um am nächsten Tag den Dienst schaffen zu können. Die Leitung des Hauses wusste natürlich nicht, unter welchen Umständen wir unsere Pflichten bewältigen mussten. Ich saß einmal alleine mit der Oberschwester im Dienstzimmer zusammen und wir redeten über die Arbeitsumstände. Da hörte ich auch, dass unser Leiter oft gefragt wurde, wie es in der Pflege läuft und ob er nicht mehr Pflegekräfte braucht, aber er hat nicht zugegeben, dass es an Schwestern mangelte. Er hat immer nur behauptet, dass er alles im Griff hätte. Das hat die Oberschwester natürlich genervt. Darüber mit ihm zu reden wagte sie jedoch nicht. Die Fluktuation der Pflegekräfte im Haus ist der Leitung des Altenheimes aber doch nicht entgangen, sie machte sich darüber Gedanken, wie man dieser vorbeugen könnte. Und noch jemand machte sich Gedanken darüber, und nur diese eine Person ist auf die Idee gekommen, unmittelbar mit uns Schwestern zu sprechen, um an den Kern der Sache zu kommen, nämlich die Witwe des Gründers des Hauses, eine Frau mit einer großen Lebenserfahrung und Menschenkenntnis. Sie hat uns einmal zu einem Treffen in das Café eingeladen, um mit uns zu sprechen. Zu diesem Treffen sind Schwestern gekommen, die ihren Frühdienst gerade beendet hatten. Wir hatten uns gerade am Tisch versammelt, da sah ich die Oberschwester kommen! Dass sie wegen mir gekommen war, konnte ich mir denken. Sie wusste, dass ich über unsere Arbeitsverhältnisse nicht schweigen würde. Mit ihrem Kommen hat die Oberschwester uns allen den Mund verboten. Auch ich wollte mich nicht mit ihr anlegen. Ich war gespannt, ob sie etwas über unsere Arbeitssituation sagen würde. Da sie kein Wort über unsere schweren Arbeitsbedingungen verlor und das Gespräch nicht mal die Situation berührte, wusste ich, dass sie den Leiter in Schutz nahm. Also hatte sie doch Angst vor ihm und wollte ihn nicht bloßstellen. Das fand ich gar nicht gut, weil wir alle unter der Verschwiegenheit litten, die Schwestern wie auch die Pflegefälle. Also ist nichts geschehen. Die einzige Person, die die Wahrheit erfahren wollte, die Witwe des Gründers, hat nichts erfahren. Ihr Versuch ist gescheitert. Ich habe mich natürlich gefragt, warum die Oberschwester den Leiter in Schutz nahm. Weil er ihr Vorgesetzter war? Oder hatte er von dem Treffen gewusst und sie hingeschickt? Wie auch immer es gewesen war, das Treffen mit der Witwe hat unsere schweren Arbeitsverhältnisse nicht ins rechte Licht gerückt und alles blieb beim Alten. Auch die hohe Fluktuation im Haus ist geblieben, weil die neuen Schwestern die ständige Überlastung und Überforderung nicht in Kauf nehmen wollten und gingen. Jedes Mal, wenn eine junge Schwester uns verlassen wollte, habe ich sie unschuldig gefragt, warum sie ging, obwohl ich den Grund genau kannte. Die Antworten waren immer die gleichen: „Ich lasse mich doch nicht kaputt machen!“, war die erste. „Und was willst du jetzt machen?“, fragte ich unschuldig weiter. „Jaaa, erstmal werde ich mich natürlich ein paar Monate ausruhen! Dann sehe ich weiter, und ob ich überhaupt in dem Beruf bleibe, weiß ich noch nicht.“ *** Das Phänomen der Begründung, „sich nicht kaputt machen lassen wollen“, habe ich schon in der Fachschule von Anfang an beobachten können. Nach jedem Arbeitsblock ist ein Schüler weniger in die Schule gekommen. Er hat nicht nur die Schule verlassen, sondern gleichzeitig auch den Arbeitsplatz gekündigt. Was dabei interessant war: Das waren nicht die Ausländer! Das war die deutsche Jugend, die schnell begriffen hat, dass unser Beruf gesundheitsschädlich ist. Die Leitung des Hauses musste sich genauso stark um neue Arbeitskräfte bemühen, wie alle anderen Altersheime der Stadt München auch, denn was zu meiner Zeit in diesem noblen Haus mit einem Personalschlüssel von 1:1 fehlte, waren die obligatorischen, monatlichen Meldungen der Pflegedienstleitung an die obere Leitung des Hauses, wie viele Personen aus dem Wohnbereich von der Pflege übernommen wurden, damit die Leitung auch sofort dieselbe Zahl von neuen Pflegekräften einstellen konnte, um den Schlüssel zu erhalten. So wäre es nicht zur Überarbeitung, zu den geteilten Diensten und der hohen Fluktuation der Pflegekräfte gekommen. Der Kalender zeigte das Jahr 1994. Es war Sommer. Die Leitung des Hauses war wie jedes Jahr um diese Zeit wieder mal dabei, ein Fest zu organisieren. Es sollten die Pflegekräfte geehrt werden, die fünf Jahre Arbeit im Hause hinter sich hatten. Die Feier mit einer Geschenkübergabe hat jedes Jahr in der evangelischen Kirche stattgefunden, die unmittelbar gegenüber dem Haus stand. In dieser Kirche wurde jeden Sonntag eine Messe abgehalten, an der die gesunden Bewohner teilnehmen konnten. In diesem Jahr war ich auch dabei. Die Feier selbst wurde sehr schön gestaltet. Dafür hat sich schon die entsprechende Abteilung des Hauses gekümmert. Sie begann mit einer Messe an einem sonnigen Nachmittag. Nach der Messe hat man alle Personen, die geehrt werden sollten, vor den Altar gebeten. Man hat uns mit einer goldenen Kette mit Anhänger beschenkt. Diese wurde uns in einem weißen Etui übergeben. Der Anhänger zeigte den griechischen Buchstaben Phi, der Brüderlichkeit symbolisiert. Die Zeremonie der Geschenkübergabe zelebrierte ein Herr aus der Gewerkschaft. Es war ein feierliches und schönes Erlebnis. Zum Schluss gab es ein Glas Sekt im Foyer des Hauses. Die Ehrung der Pflegekräfte in der evangelischen Kirche im Jahre 1994

Kapitel 4. Das, was ich am Schluss in diesem Haus als „Belohnung“ für meine gewissenhafte Arbeit ertragen musste, empfand ich nicht nur als eine tiefe Ungerechtigkeit, sondern ich erlebte es wie ein Erdbeben in der Zeit meines Lebens, in der ich meine Existenz in Deutschland aufzubauen versuchte. Ich befand mich in einem tiefen seelischen Loch und es dauerte einige Zeit, bis ich meinen Blick nach vorne richten konnte. Erst am letzten Tag meines neuntägigen Urlaubs habe ich mich auf die Suche nach einer neuen Arbeitsstelle gemacht. Ich bin mit der U-Bahn Richtung Stadtzentrum gefahren, aber nach ein paar Stationen bin ich intuitiv ausgestiegen. Die Hauptstraße war breit und lang und ich habe mich in Richtung Kreuzung zu den Lichtern der Ampel begeben. Auf der anderen Seite sah ich ein großes Gebäude, das ich mir näher anschauen wollte. Ich befand mich vor einem Altenheim, und ohne nachzudenken bin ich reingegangen und fragte bei der Pforte nach der Pflegedienstleitung. Die Eingangshalle war groß, hell und hatte ein gutes Klima. Die sympathische Pflegedienstleiterin, die ich im ersten Stock sprechen konnte, bot mir gleich einen Platz am kleinen Tisch an und stellte überhaupt keine Fragen. Es hat ihr gereicht, dass ich eine Arbeit als Pflegekraft suchte. Ich bekam einen Personalbogen zum Ausfüllen, wobei sich die Dame neben den Tisch stellte und zusah, wie schnell ich den Personalbogen ausfüllte. Nachdem sie ihn zurückbekommen hatte, sagte sie freundlich zu mir: „Sie können gleich morgen anfangen.“ Ihre Worte haben mich überrascht, und da ich kein Wort sagte, fügte sie noch hinzu: „Den Arbeitsvertrag für Sie erledige ich schon alleine, die Verwaltung befindet sich nämlich in einem anderen Stadtteil.“ Das war alles! Somit habe ich keine Unterbrechung in meiner beruflichen Laufbahn gehabt. Am nächsten Tag habe ich mich erst bei der Pflegedienstleiterin gemeldet und sie führte mich gleich auf eine Station. Auf dem Weg dorthin sagte sie mir: „Das ist aber eine reine Pflegestation.“ „Das macht nichts“, sagte ich, „ich bin schwere Arbeit gewohnt.“ Die Leiterin der Station, die wir im Stationszimmer antrafen, war gerade mit den Medikamenten beschäftigt und unterbrach ihre Tätigkeit nicht, als ich vorgestellt wurde. Die Pflegedienstleiterin stellte mich kurz als die neue Schwester vor und ging. Die Leiterin warf einen kurzen Blick auf mich und sagte kein einziges Wort. Die Spannung in der Luft war spürbar und die Abneigung mir gegenüber spürte ich auch sofort. Es war deprimierend. „Ich gefalle ihr nicht“, ging es mir durch den Kopf, „hier muss ich auch sehr wachsam bleiben.“ Die Stationsleiterin hat auch später kein Gespräch mit mir gesucht und mich wie Luft behandelt. Die Station bestand aus sechs nebeneinander liegenden Zimmern auf beiden Seiten des kurzen Korridors. Die Menschen hier hatten außer dem staatlichen Pflegebett und den Nachtschränkchen nichts Eigenes mehr. Es war eine reine Pflegestation mit 24 Plätzen. In jedem Zimmer standen zwei Betten. Eine Ausnahme war ein Mann, der als Maurer beim Bau des Hauses gearbeitet hatte. Er bewohnte allein ein Zimmer und bewegte sich auf einem elektrischen Rollstuhl. Sein einziges Eigentum war das Radio auf dem Tisch. Das hatte er bei jeder Mahlzeit eingeschaltet, um Nachrichten zu hören. Der Mann war ein dankbarer und zufriedener Mensch. Er fühlte sich hier zu Hause. Eine weitere Ausnahme auf der Station war eine kleine, zart gebaute und freundliche Frau, die über 90 Jahre alt war. Wie ich mit der Zeit von ihr erfahren habe, war sie als Waisenkind bei den Nonnen in einem Kloster aufgewachsen. Sie war die einzige bewegliche Person auf der Station, die auch zu jeder Zeit die Station verlassen konnte und auch den ganzen Tag fernbleiben durfte. Sie bekam auch als Einzige keine Medikamente. Das war eine ganz bescheidene und zufriedene Person. Zum Abendessen hat sie nur eine halbe Schnitte Brot angenommen, auf die Butter hat sie aus Gewohnheit verzichtet. Hier auf der Station wurden auch alle Pflegefälle in der Früh im Bett von Kopf bis Fuß gewaschen und vor oder nach dem Frühstück auf den Toilettenstuhl gesetzt. Die überwiegende Zahl der Menschen war schon versteift und auch verstummt. Sie redeten nicht mehr und lebten mit geschlossenen Augen in ihrer eigenen Welt. Trotzdem wurden sie bei der Pflege angesprochen. Obwohl die Pflegefälle keine feste Nahrung zum Kauen bekamen, mussten sie doch oft das Abführmittel „Laksoberal“ bekommen. Allgemein gesagt, die Menschen auf der Station waren gut versorgt. Was ich hier erstaunlich fand, war die Tatsache, dass kein Pflegefall eine Wunde am Körper hatte! Die Türen standen den ganzen Tag offen, damit die vorbeigehende Schwester die Menschen auf den Toilettenstühlen im Auge behalten konnte. Wir Schwestern haben im Frühdienst immer zu viert gearbeitet, jede hatte sechs Personen zu waschen und zu versorgen und wir haben jeden Tag die Seiten der Station gewechselt, damit die Arbeit gerecht verteilt wurde *** Eines Tages hat sich die Stationsleiterin um eine Stunde zur Arbeit verspätet. Ich habe automatisch nach 06:00 Uhr ihre Tätigkeit übernommen und die Medikamente für den Tag vorbereitet und verteilt. Auch zwei Spritzen gab ich statt ihr. Nachdem sie gekommen war, begann sie mit der Kontrolle und sagte kein Wort. Ich spürte, dass sie mir nicht gewogen war und der heutige Tag eine Prüfung für mich war. Bei der Übergabe an den Spätdienst sprach ich die Medikation an: „Ich werde die beiden Spritzen nicht mehr verabreichen, weil die Anordnung zwei Jahre alt ist.“ Niemand sagte etwas. Die Leiterin auch nicht, sie hat aber später wenigstens den Arzt des Hauses angerufen und mit ihm darüber gesprochen. Beide Spritzen wurden abgesetzt. Man muss sich vorstellen, der arme Pflegefall, der sich nicht mehr wehren konnte, hatte zwei Jahre lang eine unnötige Spritze bekommen. Unter den Schwestern in meinem Team war eine junge, sehr feine Schwester, mit der ich mich gut verstanden habe. Wir haben in den kurzen Pausen gerne miteinander gesprochen, über unsere Probleme natürlich auch. Und als ich ihr eines Tages sagte, dass ich für mein 50 Quadratmeter großes Appartement über 700 DM zahle, bekam ich von ihr einen wertvollen Hinweis: „Wir Pflegekräfte haben doch ein Recht auf eine bezahlbare Wohnung, wir haben einen Pool an Wohnungen. Bewirb dich dort.“ Tina gab mir die Adresse, und an einem freien Tag fuhr ich in die Stadt. Das Büro befand sich in einer kurzen und schmalen Gasse direkt am Rathaus. Erstaunlich schnell habe ich das erste Angebot bekommen. Tina freute sich, dass ich mich dort gemeldet hatte, und gab mir eine weitere Information: „Du bekommst insgesamt drei Angebote“, sagte sie. „Das erste brauchst du nicht gleich anzunehmen, wenn die Wohnung oder die Lage dir nicht gefallen.“ Das war gut zu wissen, weil die erste Wohnung, die ich angeboten bekam, sich im Zentrum der Stadt in einem Haus an einer Hauptstraße mit dichtem Verkehr befand. Der Lärm war hier enorm. Die Wohnung lag noch dazu im Erdgeschoß. Für diese Wohnung habe ich mit der Begründung, dass ich eine Wohnung im ersten Stock bevorzuge, abgesagt. Das zweite Angebot bekam ich gleich danach und diese Wohnung gefiel mir auf Anhieb sehr. Sie hatte auch 50 Quadratmeter und lag im ersten Stock. Das wichtigste dabei war, dass die Miete um 300 DM niedriger als die meiner damaligen Wohnung war. Ich habe die Wohnung auch gleich genommen, obwohl ich jetzt einen weiteren Weg zu meiner Arbeitsstelle hatte. Sie lag in einer ruhigen Siedlung nicht ganz weit von der Hauptstraße entfernt. Der Umzug lief mit der Hilfe meiner Schwester und meines Schwagers wieder reibungslos und die Freude über die schöne Wohnung war groß *** Viele Monate nach dem Umzug habe ich die Zeitverschiebung im Sommer sehr zu spüren bekommen. Damit ich pünktlich um 06:00 Uhr Früh in die Arbeit kam, musste ich das Haus fünfzehn Minuten vor 05:00 Uhr morgens verlassen. Aufstehen musste ich fünfzehn Minuten nach vier. Aber in Wirklichkeit, nach der normalen Zeit, musste ich fünfzehn Minuten nach 03:00 Uhr aufstehen! Ich habe mich vor jedem Frühdienst unterwegs zur Arbeit im Bus oder der Straßenbahn gefragt, wer sich die Sommerzeit eigentlich ausgedacht hat? Natürlich waren es Menschen, die am Schreibtisch arbeiteten und um acht oder sogar 09:00 Uhr mit der Arbeit beginnen konnten und keine Ahnung von der schweren Arbeit hatten. Die armen Arbeiter in Deutschland. Jeden Tag habe ich an alle gedacht, die wie ich in der Früh unterwegs zur Arbeit waren. Kein Wunder, dass das auch die Menschen waren, die zuerst aus gesundheitlichen Gründen in Frührente gingen. Ich war jetzt nur eine unter Tausenden im Lande, denen man mit der Zeitverschiebung eine Stunde Schlaf raubte! Es wurde mir bewusst, dass die Zeitverschiebung vor allem den Schwerstarbeitern schadet! Aus diesem Grund kamen nicht nur ich, sondern auch die jungen Schwestern, die im Haus ein Zimmerchen hatten, nicht ausgeschlafen zum Frühdienst. Auch in diesem Altenheim meldete sich ständig eine Person aus unserem Team krank. Auch ich habe aufgrund meiner schlechten Erfahrung mit den „Erkältungen“ diesmal nicht in der Hoffnung, dass es von selbst besser wird, gewartet, sondern mich auch krank gemeldet. Als die Neue auf der Station konnte ich mir das selbstverständlich nicht gleich leisten, ich habe lange mit einem Tuch um den Hals gearbeitet. Aber später ging ich sofort zum Arzt und ließ mich krankschreiben. Die Situation nach einer weiteren Angina hat aber meine Schwester gerettet, indem sie mich in den Urlaub nach Italien mitnahm. Somit konnte ich dank des Klimawechsels fast ein Jahr beschwerdefrei arbeiten. Als die Erkrankung dann immer öfter kam, haben drei HNO-Ärzte entschieden, dass ich meine Mandeln entfernen lassen muss. Keiner von den drei Spezialisten wusste einen anderen Rat. Einer von ihnen wollte mir noch helfen und ordnete eine „Aufbauspritze“ an. Die erste habe ich gut überstanden, aber nach der zweiten wurde mir schlecht. Der Arzt fragte nach jeder Spritze, wie es mir ging und ordnete dann keine weitere mehr an. Er wusste, was er mir da verabreicht hatte. Es waren künstliche Vitamine, die natürlich nicht geholfen, sondern geschadet haben. Ich wusste es damals noch nicht, dass das reine Chemie und damit auch Gift für den Körper ist. Da ich aber damals immer noch in einem Arbeitsverhältnis stand und von der Schulmedizin abhängig war, konnte ich mich nicht an Pater Ober wenden. Diese Tatsache wurde mir in den fünf künftigen Jahren nach der OP zum Verhängnis. Aber der Reihe nach: Ich bin in das Krankenhaus in München-Pasing gekommen. In meinem Zimmer waren noch zwei Frauen, die auch eine OP vor sich hatten. Wir alle wurden an einem Tag operiert. Man hatte die erste Frau im Zimmer schon ausgezogen, ihr ein Flügelhemd angezogen und sie gleich auf der fahrbaren Liege aus dem Zimmer gefahren. Nach einer Stunde schon wurde sie zurück ins Zimmer gebracht. Dann war die nächste dran. Sie war auch nach einer Stunde wieder da. Als man mich holte, war es 12:00 Uhr. Unmittelbar vor dem OP-Saal hat man mir in einem Vorraum eine Betäubungsspritze gegeben, nach der ich sofort das Bewusstsein verlor. Nach der Operation wurde ich in einem großen Raum wach. In diesem waren nur leere Liegen zu sehen. Ich war ganz alleine. Ich wurde nur kurz wach, schnappte nach Luft und wollte mich aufrichten, aber es ging nicht! Ich war zu schwach und fiel wieder in Ohnmacht. Dann wurde ich mit sanften Schlägen ins Gesicht zurück ins Leben geholt. Ich wurde auf der Liege ins Krankenzimmer gefahren und beim Vorbeifahren an der Wanduhr sah ich, dass es 16:00 Uhr war! Im Bett liegend dachte ich nach, warum meine Aufwachzeit so lange gedauert hatte. Ich war ja insgesamt vier Stunden weg gewesen, während die zwei Frauen vor mir schon nach einer Stunde zurück gewesen waren. „Habe ich zu viel Narkosemittel bekommen oder war mein Herz zu schwach für die Operation? Es hat mich ja niemand nach meiner Tätigkeit gefragt! Oder haben sie mich im Aufwachraum vergessen?“ Vor der Operation hatte zwar ein Arzt mit mir gesprochen, aber nicht nach meinem Beruf gefragt und nicht nachgeforscht, in welchem Zustand mein Herz war. Am nächsten Tag, gleich nach der Operation, hat man uns Eis angeboten! Eine Zuckerbombe! Man sagte uns, dass das Eis Schmerzen lindert, was gar nicht stimmt. Nach drei Tagen wurden wir alle drei entlassen und ich bekam Antibiotika für zwei Tage mit. Danach sollte ich mich beim HNO-Arzt zur weiteren Behandlung melden. Ich war aber so schwach, dass ich das Haus fast einen Monat nicht verlassen konnte. An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass ich vor der Operation bei der Anmeldung in das Krankenhaus gefragt wurde, wann ich operiert werden möchte. Diese Frage hatte mich damals verblüfft und ich konnte sie mir auch nicht erklären. Heute weiß ich, dass man keine Operation im Bereich des Halses vornehmen darf, wenn der Mond im Stier steht. Unglücklicherweise wurde ich an einem Tag operiert, an dem der Mond in diesem Zeichen stand. Ich hatte es nach vielen Jahren geprüft. Nach den sechs Monaten, in denen die Wunde hätte verheilt sein sollen, schmerzte sie immer noch und war noch nicht verheilt. Ich konnte all diese Monate nichts Festes essen. Es ist also etwas an der Sternenkonstellation dran, sonst hätte man mich vor der OP nicht nach dem gewünschten Termin gefragt. Später habe ich mich dann auch für die Stellung des Mondes in den verschiedenen Sternzeichen interessiert, was bevorstehende Operationen betrifft. So bin ich mir darüber klar geworden, warum meine Wunde im Hals damals nicht hatte heilen wollen. Nach der OP hat man mir ein starkes Antibiotikum gegeben. Es war Cefaclor 500 und nach der Einnahme von 46 Kapseln habe ich die erste Vergiftung erlitten. Dass mich das Antibiotikum vergiftet hatte, war mir nicht gleich bewusst. Am 23. Tag der Einnahme empfand ich gleich nach dem Aufwachen, dass ich mich in Gefahr befand. Nachdem ich die Augen geöffnet hatte, drehte sich das ganze Schlafzimmer stark und auf der Bettkante konnte ich das Gleichgewicht nicht halten! Ich fiel zurück aufs Bett. Was nun? Ich musste ins Bad! In meiner Not bin ich mit dem schrecklichen Schwindel auf allen Vieren ins Bad gekrochen. Danach habe ich noch mit einer gewaltigen Überwindung neun Gläser Wasser auf das Nachtkästchen gebracht, dann fiel ich kraftlos auf das Kopfkissen, ich war fix und fertig. Ich konnte mich sehr lange Zeit nicht aufrichten, um das Wasser zu trinken. Es war mir aber bewusst, dass dieses meine einzige Rettung war. Die ganze Zeit, den ganzen Tag, habe ich unter unerträglichem Schwindel und einer Schwäche gelitten. Mit großer Anstrengung habe ich doch das ganze Wasser bis zum Abend ausgetrunken. Dann war ich vor Erschöpfung eingeschlafen. Das war der schlimmste Tag in meinem Leben, es war ein Kampf ums Überleben gewesen. Am nächsten Tag war der Spuk vorbei! Ich war schwindelfrei und fühlte mich wieder normal. Es war unglaublich, das Wasser hatte mich tatsächlich gerettet! Als ich mich beim HNO-Arzt meldete und das Erlebte berichtete, war der Spezialist von meinem Bericht überhaupt nicht beeindruckt. Er sagte nur ganz ruhig, dass er die Antibiotika für drei Monate absetzen würde und dass ich mich danach wieder bei ihm melden sollte. Danach verordnete der Spezialist wieder dasselbe. Ich musste weiterhin zweimal am Tag Cefaclor 500 schlucken. Also habe ich artig weiter um acht in der Früh und um 20:00 Uhr abends das „Medikament“ eingenommen. Diesmal ist die Vergiftung schon nach fünf Tagen eingetreten und ich war gelähmt! Der Tag hat wie immer begonnen, ich fühlte mich nach dem Aufstehen noch ganz normal. Ab 10:00 Uhr spürte ich, dass ich mich nicht mehr normal bewegen konnte! Ich wollte schnell zum Telefon, aber es ging nicht! Als ich mit Mühe zum Telefon kam und eine nahe liegende Praxis anrief, konnte ich nicht normal reden! Ich brachte kein Wort heraus! Zum Glück war die erfahrene Sprechstundehilfe sehr geduldig, sie hörte meinem Stottern genau zu und sagte dann, dass ich mich einen Augenblick gedulden sollte. Ich wartete. Nach kurzer Zeit meldete sich die Sprechstundehilfe wieder und sagte, dass ich sofort in die Praxis kommen sollte. Es hat aber sehr lange gedauert, bis ich in meinem eingeschränkten Zustand die hundert Meter zur Praxis schaffen konnte. Trotz des vollen Wartezimmers führte mich die junge Frau sofort in den Raum von Frau Doktor U. H. Das war meine erste Begegnung mit der älteren, erfahrenen und sehr bescheidenen Frau. Sie warf einen kurzen Blick auf mich und griff nach einer Spritze. Ich musste mich auf die Liege legen, dabei sagte die Ärztin, dass ich so lange liegen bleiben sollte, bis sich mein Zustand normalisierte. Nach dreißig Minuten konnte ich schon von alleine und ganz normal aufstehen! Es war wie ein Wunder! Die Lähmung war weg und ich konnte wieder normal sprechen. Die Ärztin wollte jetzt wissen, welches „Medikament“ ich eingenommen hatte, und bei welchem Arzt und wie lange ich schon in Behandlung war. Wegen derselben Spritze musste ich noch zweimal im Abstand von einer Woche kommen. Mit der Spritze bekam ich ein Mittel namens Fluspirilen. Nachdem ich die dritte Spritze bekommen hatte, sagte mir die Ärztin, dass sie mich gerne zu einem Neurologen schicken würde, um das Nervensystem zu stärken. Ich war natürlich einverstanden und auch neugierig, wie er mir die Nerven stärken würde. Die Fahrt zu dem nächsten Spezialisten war lang und anstrengend. Die Praxis befand sich in einem Privathaus in einem weit entfernten Stadtteil. Das Wartezimmer war sehr dunkel und es saßen nur wenige Patienten darin. Es hat nicht lange gedauert, bis ich zum Arzt gerufen wurde. Als ich ihm sagte, warum ich da war und ihm die Meinung der Frau Doktor mitteilte, stand der Neurologe auf, öffnete den großen Medikamentenschrank und holte eine Schachtel heraus. Er reichte mir diese und sagte, dass das Johanniskraut sei und ich zwei Tabletten täglich einnehmen sollte. Das war alles und der nächste Patient wurde gerufen. Die Tabletten habe ich artig nach Anweisung des Spezialisten eingenommen, ohne mir Gedanken darüber zu machen. Nach einigen Tagen hat sich mein Allgemeinzustand so rapide verschlechtert, dass ich im Bett liegen geblieben bin. Jetzt war das Maß aber voll! Es hat mir gereicht. Ich habe die Tabletten weggeworfen und am nächsten Tag Johanniskraut in Kräuterform aus der Apotheke geholt und am Nachmittag jeden Tag eine Tasse Tee getrunken. Ich habe auch intuitiv angefangen, mehr Wasser zu trinken, um die Gifte aus dem Körper auszuspülen. Ich habe mir damals die Frage gestellt, warum die Ärzte nicht wissen, wie man das Nervensystem stärkt. Auf diese habe ich erst nach vielen Jahren eine Antwort gefunden, und sie war ganz simpel: Den Studierenden an der Uni fehlt das Fach Naturheilkunde. In dieser Zeit, in der ich nach der Mandeloperation um meine Gesundheit kämpfte, habe ich auch angefangen, Bücher zu lesen, die etwas mit Heilkunde und Medizin zu tun hatten. Ich habe langsam verstanden, dass das Antibiotikum mich nicht nur vergiftet hatte, sondern dass mein Körper durch dieses auch übersäuert worden war und ich überwiegend basisch wirkende Lebensmittel essen musste, um in das normale Säure-Basen-Gleichgewicht zurückzukommen. Dass das lange dauern würde, war mir auch klar. Gleichzeitig habe ich auch auf Zucker verzichtet und ihn nicht mehr gekauft. So war ich mir sicher, dass ich ihn nicht mehr verwenden würde. Nach der Pause von drei Monaten hat mir der HNO-Arzt trotz der zwei Vergiftungen weiterhin Cefaclor 500 verschrieben! Ich musste mich wieder fügen, weil ich doch krank war und die Krankschreibung brauchte. Während der „Heilungsphase“ hatte mich meine Hausärztin, Frau Doktor U. H., vor der weiteren Einnahme des Antibiotikums gewarnt. Man konnte sich vorstellen, wie verunsichert ich war: Der Spezialist ordnete an und eine Hausärztin warnte vor der weiteren Einnahme. Würde mich der HNO-Arzt weiter krankschreiben, wenn ich das Cefaclor 500 verweigerte? Ich saß damals zwischen zwei Stühlen. Es war ein großes Problem für mich. Schließlich habe ich dieses offen mit Frau Doktor U. H. besprochen. Sie hat mich vollkommen verstanden, aber die Entscheidung lag bei mir. Kurz danach, als ich weiter das Antibiotikum einnehmen musste, machten mir auf dem Weg zum HNO-Arzt die Abgase auf der Hauptstraße plötzlich sehr zu schaffen. So stark hatte ich sie vorher noch nie empfunden. Was war mit mir los? Als ich beim Arzt ankam, teilte ich ihm meine Empfindungen auch gleich mit. Er sagte kein einziges Wort, griff nach einem Überweisungsschein und schickte mich zum Lungenarzt! Dass er mich mit dem Cefaclor 500 schädigte, kam ihm überhaupt nicht in den Sinn! Die Lungenärztin ordnete natürlich ihre „Medikamente“ an und fragte gar nicht, was ich bis dahin eingenommen hatte. Ich habe dann selber das Cefaclor 500 weggelassen und nur ihre drei „Medikamente“ eingenommen. Ich hatte von ihr sogar einen Plan bekommen, nach dem ich sie einnehmen sollte. Ich habe mich wieder mal gefügt, ich wollte ja eine brave Patientin bleiben und die Schulmedizin weiter prüfen! Ich brauchte ja die verflixte Krankschreibung! Nach einem Monat spürte ich eine Sperre im Brustkorb, ich konnte plötzlich nicht mehr richtig ausatmen. Die Atmung war dermaßen gestört, dass ich Angst bekam. Ich habe gleich die Ärztin angerufen und sie darüber informiert, in welchem Zustand ich mich befand. Diese hörte zu, sagte dann nur kurz: „Dann lassen Sie doch die Medikamente weg!“, und legte auf. Meine Hausärztin war die einzige schulmedizinisch ausgebildete Person, die sich damals ernsthafte Sorgen um mich machte. Ich habe sie dann auch auf den neusten Stand der Dinge gebracht. Frau Doktor U. H. hat sich sofort mit den zwei „Spezialisten“ in Verbindung gesetzt. Sie hat ausgehandelt, dass ich keine Medikamente mehr einnehmen musste. Sie sagte mir aber auch nicht, was ich weiter machen sollte. Die Wunden im Hals waren immer noch nicht verheilt und schmerzten! Alle drei Ärzte hatten keinen Rat für mich, ich wurde mir selbst überlassen. Nach den Erfahrungen mit der Schulmedizin hatte ich auch keine Absicht mehr, mich an den nächsten Arzt zu wenden. Fazit: Ich habe in der Zeit von 12. September 1998 bis Juni 1999 insgesamt 318 Kapseln Cefaclor 500 eingenommen und war immer noch nicht geheilt! Ende Juni 1999 wurde der HNO-Arzt darum gebeten, einen Bericht über meinen Heilungsverlauf an den medizinischen Dienst des Arbeitsamtes zu schreiben. Da ich den Bericht persönlich abgeben musste, habe ich ihn erst selber gelesen. Mit Staunen las ich, dass der HNO-Arzt über einen Heilungserfolg berichtete. Die zwei Vergiftungen durch Cefaclor 500 hat er nicht mal mit einem Wort erwähnt! Dass sich die Wunde noch nicht geschlossen hatte und ich immer noch Schmerzen hatte, auch nicht! Ich habe den Bericht ohne Kommentar abgegeben *** An diesem Abend lag ich abends im Bett und dachte über die gesamte Situation nach. Ich habe plötzlich an meine verstorbene Mutter gedacht und stellte mir die Frage, was sie zu meinem Problem gesagt hätte. Was hätte sie mir geraten? Ich habe nur an meine Mutter gedacht und an diese Frage. Ich habe sie um nichts gebeten! Und mit diesem Gedanken bin ich dann eingeschlafen. Am nächsten Tag beim Aufwachen, ich hatte meine Mutter längst vergessen, wusste ich plötzlich, was ich zu tun hatte! Ich habe mich schnell fertig gemacht und eilte in den kleinen Laden in meiner Siedlung. Ich habe mir, ohne lange nachzudenken, den Kefir Kalinka gekauft. Ich hatte noch keinen festen Plan, aber ich habe angefangen, den Kefir tagsüber schluckweise zu trinken. Vor dem Schlucken habe ich ihn mit dem Speichel vermischt und lange im Mund gehalten. Dazwischen habe ich nichts gegessen und ich machte jeden Tag dasselbe. Nachdem zehn Tage vorbei waren, spürte ich beim Aufwachen keine Schmerzen! Im Spiegel sah ich auch keine Rötung mehr! Das Beste dabei war, dass auch die Atemstörungen weg waren! Es war wieder wie ein Wunder! Ich habe keine Ärzte über meine plötzliche Heilung informiert. Sie hätten diese bestimmt mit den Antibiotika in Verbindung gebracht. Also schwieg ich und war einfach glücklich, dass ich wieder schmerzfrei essen konnte. Obwohl sich meine Wunden im Hals geschlossen hatten und ich keine Schmerzen mehr hatte, war mein ASL-Wert am 06. September noch sehr hoch, nämlich bei 456, und der ASD-Wert lag bei 278 *** Ab dem 01. Januar 2000 war ich in Rente und nicht mehr von der Schulmedizin abhängig. Die Menge des Giftes Cefaclor 500 ist aber nicht ohne negative Wirkung geblieben. Ich hatte inzwischen Schmerzen an der Schilddrüse und mit diesem Problem habe ich mich erst bei meiner Hausärztin Frau Doktor U. H. gemeldet. Ich wollte den freundlichen Kontakt zu der Ärztin nicht abbrechen, weil ich sie mittlerweile sehr zu schätzen gelernt hatte. Sie hatte einen sehr freundlichen Umgang mit allen Patienten, auch mit jenen aus dem Ausland, und er war nicht gespielt, man spürte die menschliche Zuneigung, und das war einmalig. Gegen die Schmerzen in der Schilddrüse bekam ich Tabletten. Laut Verordnung sollte ich zwanzig Minuten vor dem Frühstück eine halbe Tablette einnehmen. Dies befolgte ich wieder und beobachtete die Folgen. Nach der ersten Einnahme fühlte ich keine Wirkung, Nach der zweiten wurde mir komisch und am dritten Tag wurde ich so schwach, dass ich mich nach dem Frühstück hinlegen musste. Da ich jetzt in Rente und nicht mehr von der Schulmedizin abhängig war, wendete ich mich endlich an Pater Ober. Ich habe ihm in nur wenigen Worten meine Situation geschildert und das Gespräch war kurz. Er hat mir ein flüssiges Naturmittel aus der Schloß-Apotheke in Aschau zukommen lassen, mit der Empfehlung, dass ich dreimal täglich 30 Tropfen einnehmen sollte. Nach zehn Tagen habe ich das Gefühl gehabt, dass ich nicht mehr eine so große Menge Tropfen brauchte. Deswegen rief ich Pater Ober an und teilte ihm meine Empfindung mit. Nach ein paar Sekunden sagte er zu mir: „Ja, Sie haben recht, nehmen Sie jetzt nur noch dreimal täglich zehn Tropfen, bis das Medikament verbraucht ist.“ Seine Empfehlung befolgte ich natürlich. Nach Einnahme des Naturheilmittels – es war ein Fläschchen von nur 30 ml Inhalt – hatte ich jahrelang keine Schmerzen an der Schilddrüse. Meine Hausärztin habe ich darüber informiert, dass ich die Tabletten weggeworfen habe. Sie wollte natürlich wissen, was für ein Medikament mir Pater Ober verordnet hatte. Sie kannte es nicht. Mit ihr konnte ich über alles reden. Sie war eben eine tolerante und erfahrene Frau mit einem hellen Köpfchen, und immer noch dazu bereit, etwas dazuzulernen. Dass die 318 Kapseln Cefaclor einen Schaden in meinem Körper verursacht hatten, war uns beiden klar. Noch im Herbst des Jahres 2000 machte ich die nächste Erfahrung mit der Schulmedizin. Ich entdeckte eines Tages einen harten, bohnengroßen Knoten in meiner linken Brust und ging erstmal zu meiner Hausärztin. Sie untersuchte mich sorgfältig, um den Knoten zu bestätigen. Sie gab mir einen Überweisungsschein zu einem Frauenarzt, den ich dann auch gleich aufsuchte. Frau Doktor U. H. bereitete mich freundlicherweise auf die Visite beim Frauenarzt vor und erklärte mir Folgendes: „Wenn Sie auf dem Bildschirm des Computers einen Kreis sehen, dann haben Sie eine Zyste. Wenn Sie aber eine geschlossene Einheit sehen, dann haben Sie einen Tumor.“ Die manuelle Untersuchung beim Frauenarzt ist nicht so behutsam wie bei der Hausärztin verlaufen und ich sah auf dem Bildschirm eine geschlossene Einheit. Ich hatte also einen Tumor in der Brust. Diese Tatsache machte mir aber keine Angst. Der Frauenarzt schaltete den Computer aus und setzte sich wortlos hinter seinen Schreibtisch. Er fing an zu schreiben. Ich habe mich vor ihn hingesetzt und sagte ganz leise: „Herr Doktor, ich habe doch Krebs, nicht wahr? Sie können mir das ruhig sagen, ich habe nämlich keine Angst davor.“ „Ja“, sagte der Arzt, „Sie haben einen Tumor.“ „Ich werde eine Kur machen“, sagte ich sofort. „Ich gehe nicht zu weiteren Untersuchungen. Ich werde mich nicht länger von der Schulmedizin beschädigen lassen.“ Der Arzt fragte nicht mal nach, welche Kur ich machen wollte, machte eine verachtende Handbewegung in meine Richtung und sagte dabei nur: „Die können Sie später machen.“ Er wollte tatsächlich nicht wissen, was ich vorhabe, und reichte mir den Überweisungsschein zur Tomographie. Ich habe seine Praxis wortlos verlassen. Jetzt stand ich an der Bushaltestelle und dachte: „Jetzt, meine Liebe, hast du keine Wahl mehr, jetzt musst du die Kur machen, denn wenn du nichts tust, stirbst du.“ Zu Hause angekommen nahm ich das Büchlein „Krebs. Leukämie und andere scheinbar unheilbare Krankheiten mit natürlichen Mitteln heilen“ von Rudolf Breuß aus dem Bibliotheksschrank heraus und fing an zu lesen. Den Inhalt kannte ich schon, ich hatte das Büchlein vor sieben Jahren schon mal gelesen, aber jetzt musste ich mich ganz genau auf die Kur vorbereiten und mich auf das Buch konzentrieren

Der Überweisungsschein zur Mammographie. Ehrlich gesagt hatte ich vor der Kur, die ich auf eigene Verantwortung durchführen wollte, große Angst – weil es eine Hungerkur war! Das Büchlein hatte ich sieben Jahre zuvor von der Tochter eines Pflegefalles bekommen. Sie hatte mir damals das Büchlein in die Hand gedrückt und gesagt: „Schwester, ich danke Ihnen für die gute Pflege meiner Mutter!“ Ich hatte das Buch zu Hause sofort gelesen und der Inhalt hatte mich fasziniert! Von Anfang an hatte ich beim Lesen schon das Gefühl, dass alles, was da geschrieben stand, die pure Wahrheit war. Rudolf Breuß war kein Mediziner, aber er hatte sich sein Leben lang mit krebskranken Menschen befasst, die von der Schulmedizin als unheilbar aus der Klinik entlassen wurden. Er hatte noch tausende Heilerfolge erzielen können. Er heilte die Todkranken mit einem einfachen Gemüsesaft! Damals wusste ich schon, dass man den Tumor nicht drücken und auch nicht mit Metall berühren darf. Ich habe daran geglaubt und mich daran gehalten. Deswegen war ich auch so fest entschlossen, die Hungerkur durchzuführen. Ich war so überzeugt davon, dass ich das Richtige tue, dass ich mich nicht mal an Pater Ober wandte. Das, was ich vorhatte, die Hungerkur, war ja ein natürliches Verfahren *** In den ersten Tagen habe ich versucht, den empfohlenen Gemüsesaft nach dem Rezept von Rudolf Breuß selber herzustellen, musste es aber aufgeben, weil es ein zu großer Zeitaufwand war. Den Saft habe ich dann im Reformhaus in meiner Siedlung gefunden. Die Halbliterflasche hat für einen Tag gereicht. Außerdem habe ich noch zwei Sorten von Tees gekocht, die in dem Büchlein gegen Brustkrebs empfohlen wurden. Den richtigen Gemüsesaft nach Rudolf Breuß produziert eine Firma in der Schweiz. Die Flasche ist an dem weißen Kreuz auf einem roten Hintergrund zu erkennen. Meine Hausärztin informierte ich darüber, dass der Frauenarzt bei mir einen Tumor diagnostiziert und bestätigt hatte und ich mich dazu entschlossen hatte, die Mammographie nicht durchführen zu lassen. Erst war die Ärztin erschrocken, sie sah aber meine Entschlossenheit und hörte mir genau zu. Ich sagte ihr auch ganz offen, dass ich nicht vorhabe, mich von der Schulmedizin weiterhin beschädigen zu lassen und dass ich eine Hungerkur durchführen würde. Meine Hausärztin kannte Rudolf Breuß nicht. Ich war also auf mich alleine gestellt, aber das machte mir keine Angst. Ohne eine Begleitperson habe ich dann konsequent 51 Tage lang die Kur durchgeführt, obwohl gegen den Brustkrebs nach Rudolf Breuß 42 Tage gereicht hätten. Die Erfahrung, die ich mit der Kur gemacht hatte, war hochinteressant! Da ich keine Begleitperson hatte und auch niemanden kannte, der diese Kur schon mal durchgeführt hatte, habe ich die Reaktionen meines Körpers ganz genau beobachtet. Nur an den zwei ersten Abenden habe ich Hunger verspürt, dann nicht mehr. Um den Hunger am Abend zu überlisten, habe ich mich schon um 20:00 Uhr für die Nacht ins Bett gelegt und meinen Kopf mit einem Kopfkissen zugedeckt. Die entstandene Wärme ließ mich schnell einschlafen. Nach 48 Stunden hatte sich mein Körper schon umgestellt und ging in die Ausscheidungsphase über. Somit verspürte ich keinen Hunger mehr. Rudolf Breuß erlaubte für das Mittagsessen um 12:00 Uhr eine Zwiebelsuppe, die ich sehr genoss. Das war eigentlich der Sud der gekochten Zwiebeln, die ich samt Schale ganz klein geschnitten hatte. Nach den ersten beiden gut überstandenen Tagen ohne Essen merkte ich plötzlich, dass sich verschiedene andere körperliche Beschwerden bemerkbar machten. Diese Tatsache hat mich natürlich erstmal erschreckt. Ich wurde auch sehr unsicher, ob ich alles richtig machte. Ich fragte mich sogar, ob ich die Kur tatsächlich weitermachen sollte. Dann wurde mir bewusst, dass ich diese Beschwerden in jungen Jahren schon einmal gehabt hatte, aber in ausgeprägterer Form. Die Beschwerden traten sogar an derselben Stelle auf wie damals! Diese Tatsache hat mich beruhigt und brachte mich auf die Idee, dass mein Körper jetzt das verarbeitet, was damals nicht auskuriert worden war. Es waren doch nur die Symptome behandelt worden und nicht die Ursache. Also machte ich die Hungerkur beruhigt weiter. Nach 21 Tagen war ich beschwerdefrei, fühlte mich ganz gesund, leicht und wie neu geboren, aber ich machte weiter, die Kur war ja noch nicht zu Ende. Die 42 Tage, die Rudolf Breuß obligatorisch für die Bekämpfung des Brustkrebses vorgeschrieben hatte, waren dann vorbei, aber da ich keinen Hunger verspürte, machte ich intuitiv weiter. Am Abend des 51. Tages verspürte ich plötzlich Hunger. Das war für mich das Signal, dass ich wieder essen sollte und durfte. Man braucht also vor einer Hungerkur keine Angst zu haben. Während der Kur habe ich auch jeden Tag Verdauung gehabt. Die meiste Zeit der Kur musste ich aber zu Hause verbringen, weil ich ständig das Bad aufsuchen musste, habe ich doch jeden Tag insgesamt 3,5 Liter Flüssigkeit getrunken, was seine Wirkung gezeigt hat. Die Tatsache, dass ich die Hungerkur tapfer durchgeführt hatte und ich mich wie neu geboren und leicht fühlte, machte mich glücklich und frei. Es wurde mir bewusst, dass mein Körper dank der Kur gereinigt worden war. Insgesamt habe ich damals 17 Kilo abgenommen. Da ich wieder normal dreimal am Tag gegessen habe, fand mein Gewicht zu seiner Norm, und ab diesem Zeitpunkt habe ich nicht mehr zugenommen. Ich habe aber ab dann auf alle Nahrungsmittel verzichtet, die mir bis dahin geschadet hatten, und nach der Breuß-Kur konnte ich mich wieder meinen Büchern widmen *** Eines Tages fand ich in einem Buch einen Bericht über ein Experiment, das Naturwissenschaftler mit einem Kalb durchgeführt hatten. Sie hatten prüfen wollen, ob pasteurisierte Milch dem Kalb zugute kommt oder nicht. Sie hatten die Muttermilch des neugeborenen Kalbes in der Molkerei pasteurisieren lassen und sie erst dann dem Kalb gegeben. Das Ergebnis war erschreckend! Es war nach 40 Tagen tot gewesen! Die Wissenschaftler hatten so den Beweis erbracht, dass die behandelte Milch nicht nur ihre Vitamine und Mineralien verliert, sondern vor allem ihre Lebendigkeit! Deswegen hatte das Kalb sterben müssen! Die Milch ist also nach der Behandlung eine leblose, weiße Flüssigkeit! Außerdem kann unser Körper das für unsere Knochen nötige Kalzium nicht aufnehmen. Seitdem kaufe ich keine Milch aus dem Geschäft mehr. Die Naturwissenschaftler haben sogar behauptet, dass das tote Kalzium aus der behandelten Milch durch die Niere schwer auszuscheiden sei. Zu dieser Zeit habe ich auch angefangen, keine Nahrungsmittel zu kaufen, die industriell hergestellt werden. Das sind Produkte, die Gifte beinhalten, zum Beispiel Konservierungsstoffe, Emulgatoren, Geschmacksverstärker, künstliche Farbstoffe, Weichmacher etc. Allgemein und ganz simpel gesagt habe ich nach der überflüssigen Mandeloperation die Erhaltung meiner Gesundheit selbst in die Hand genommen. Auch Bücher über Wasser habe ich damals mit großem Interesse gelesen. Als ich das erste Buch zu diesem Thema in die Hände bekam, dachte ich: „Was kann denn so Interessantes in dem Buch stehen? Wasser ist doch Wasser!“ Das war damals meine laienhafte Meinung über unser kostbares Wasser. Als ich das Buch begonnen hatte, konnte ich es nicht mehr aus der Hand geben. Es war von Emoto Masaru, einem japanischen Wissenschaftler, verfasst worden. Er hat mit seinen zahlreichen Experimenten bewiesen, dass Wasser eine lebendige Flüssigkeit ist. Das Wasser kann nicht nur Informationen aus verschiedenen Stoffen und Metallen aufnehmen, es reagiert sogar auf unsere guten oder schlechten Worte und Gedanken! Ist diese Tatsache nicht faszinierend? Emoto Masaru hat Wassermoleküle fotografiert und damit gezeigt, dass das gesunde Wasser schöne, symmetrische, sechsförmige Formen aufweist, während das tote Wasser ein zerstörtes Bild zeigt. Diese Tatsache hat der Wissenschaftler und Forscher bewiesen, nachdem die Amerikaner 1945 die Atombombe auf die Stadt Hiroschima geworfen hatten. Er hat nämlich das Wasser in dieser Gegend nach der Katastrophe untersucht. Es war tot! Es ist schon allgemein bekannt, dass das Wasser, das die ganze Nacht in einer Wasserleitung steht, die aus Bleirohren besteht, das Blei aus den Rohren aufnimmt. Somit gelangt das Blei mit dem Wasser in den menschlichen Körper und vergiftet ihn. Das Blei lagert sich dann im Gewebe ab. Das viele Trinken hilft dann auch nicht mehr, das Blei schwemmt nicht aus. Der Mensch stirbt an der Vergiftung. Das Wasser nimmt auch Plastikinformationen aus der Plastikflasche auf, aus diesem Grund kaufe ich nur Wasser in Glasflaschen. Die Plastikpartikel sind auch tödlich und die kann man auch nicht durch viel Trinken aus dem Körper bringen. Der Mensch besteht zu 70 Prozent aus Wasser, manche Autoren behaupten sogar zu 80 Prozent. Schon aus diesem Grunde sollte man der Qualität des Wassers mehr Aufmerksamkeit schenken. Pater Ober hat seinen kranken Patienten das leichteste Wasser Europas empfohlen. Es heißt Lauretana. Das Wasser, das wenig Mineralien beinhaltet, reinigt den Körper am besten. Damit das Blut nicht dicker wird, ist es auch wichtig, die entsprechende Menge an Wasser zu trinken. Wann und wie man Wasser trinken sollte, ist auch eine Wissenschaft für sich *** Im Jahre 2001 habe ich erfahren, dass in Polen Bücher herauskamen, die eine echte Hilfe waren. Diese stammten von Doktor Michael Tombak. Er hatte in Moskau Biologie und Chemie studiert. Seine Mutter war Ärztin und er war in der Kindheit sehr oft krank gewesen. Die Tatsache, dass seine Mutter ihm nicht hatte helfen können, hatte ihn dazu veranlasst, nicht Medizin, sondern Biologie und Chemie zu studieren. Seine Bücher waren auf dem polnischen Markt sofort vergriffen und auch auf Englisch und Französisch erhältlich. Sie sind Bestseller geworden. Auf Deutsch ist nur ein Buch übersetzt worden. Er gehört zur Weltelite der Spezialisten für Naturheilkunde. Seine Bücher, die man mir aus Polen zuschickte, fand ich wegen der simplen und verständlichen Art der Erklärungen sehr wertvoll für die Kranken, die sich selber helfen wollen. Doktor Tombak behauptet unter anderem, dass sich die Menschen durch ihre falsche Lebensweise, ein Leben gegen die Naturgesetze und eine falsche Ernährungsweise die Krankheiten selber züchten. Diese Behauptung hat mir sehr gefallen, weil sie auch zutreffend ist. Die Tatsache, dass Michael Tombak Obst und Gemüse nicht zu den Kohlenhydraten zählt. sondern als Naturmittel bezeichnet, hat mir auch gefallen. Eine Ausnahme ist die Kartoffel, die er wegen des hohen Gehalts an Stärke zu den Kohlenhydraten zählt. Die Stärke verwandelt sich im Körper, wie man weiß, schnell zu Zucker. Er hat alles sehr genau erklärt. Die wichtigste Information für mich aber war, dass man Kohlenhydrate wie Getreide, Grütze, Gebäck, Zucker, Kartoffeln oder Honig nicht zusammen mit Eiweißen wie Linsen, Eiern, Fisch, Fleisch, Bohnen, Nüssen oder Rindssuppe essen darf. Daran halte ich mich heute noch. Die ganze Natur, von der wir Menschen ein Teil sind, unterliegt einem eigenen Rhythmus, gegen den man nicht verstoßen sollte. Dazu gehört die gesunde Lebensweise ebenso wie eine vernünftige, gesunde Ernährung. Diese Bemühungen nimmt uns kein Arzt und auch kein Heilpraktiker ab! Sie sollten aber die Menschen, die Hilfe suchen, aufklären. In einem Buch von Hulda Clark habe ich gelesen, dass ein gesunder Mensch einmal im Jahr seine Leber reinigen sollte. Da dachte ich gleich an meinen Zustand nach der durchgeführten Breuß-Kur und meinte, dass ich jetzt eigentlich die Reinigung der Leber durchführen könnte. Diese Maßnahme habe ich dann auch gleich mit meiner Hausärztin besprochen. Um auf Nummer sicher zu gehen, habe ich erst mein Blut untersuchen lassen. Das Ergebnis hat meinen guten Zustand bestätigt. Nur ein Wert hat nicht der Norm entsprochen. Das waren die Triglyzeride. Meine Hausärztin sagte damals zu mir: „Das Ergebnis, das Fehlen von Triglyzeriden, ist typisch für Vegetarier.“ Für sie war die Sache erledigt, für mich aber nicht. Ich habe gleich Pater Ober angerufen und teilte ihm den Wert mit. Er sagte nur: „Essen Sie jeden Tag ein Ei! Es beinhaltet lebensnotwendige Stoffe!“ Er legte gleich auf. Seinen Rat habe ich natürlich beherzigt und nach drei Monaten eine erneute Überprüfung meiner Blutwerte durchführen lassen. Wir waren beide auf das Ergebnis neugierig. Es hat sich herausgestellt, dass der Wert nun in der Norm lag. Wie war das möglich? Ganz einfach: Unser Knochenmark produziert täglich neue rote Blutkörperchen und die alten, die neunzig Tage hinter sich haben, sterben ab und werden durch die Leber abgebaut. Also, nach Ablauf von drei Monaten ist das Blut vollständig erneuert! Dieses Wissen kann man nutzen, um Gewissheit zu bekommen, dass diese oder jene Therapie auch die richtige ist. Wenn sich die Blutwerte nach zwei Blutkontrollen nicht verbessert haben, dann bekommen wir auch nicht die richtige Therapie. Auf diese einfache Regel war ich durch Pater Ober gekommen. Nach der Blutkontrolle, durch die ich mich vergewissert hatte, dass ich ganz gesund war, habe ich an einem Wochenende die Leberreinigung durchgeführt. Diese war ganz einfach. Ich musste mich nur ganz genau an die Anweisungen halten. Sie ist mir vollständig gelungen. Bei der Darmentleerung kamen hellgrüne, wie Eier geformte Steine heraus. Das größte „Ei“ war eineinhalb Zentimeter lang. Außerdem waren orangefarbige und weiße, dünne Plättchen dabei. Um die Steine aufzufangen, legte ich ein großes Sieb in die Toilettenmuschel, und nach jeder Entleerung spülte ich den Inhalt des Siebes unter fließendem Wasser aus. Die Steine waren nicht hart, sie hatten eine Konsistenz wie Gummibärchen. Ein kleines Gläschen konnte ich damit zu drei Vierteln füllen. Das Ergebnis der Leberreinigung zeigte ich meiner Hausärztin. Michael Tombak behauptet, dass man die Menschen in zwei Kategorien teilen kann, in die Trägen und die Fleißigen. Die Trägen warten auf Hilfe der anderen. Die Sorge um das eigene Leben und die Gesundheit legen sie in die Hände eines Arztes oder Heilpraktikers. Die Fleißigen möchten sich selber helfen, sie möchten die wahre Erkrankung ergründen und ihr vorbeugen, aber sie wissen nicht immer, wie man es macht. Es ist leider immer noch so, dass nur die wenigsten etwas für sich tun und die meisten sich der Schulmedizin ausliefern. Dann ist der Jammer groß *** Eines Tages rief mich die Sprechstundehilfe von Pater Ober an und sagte, dass dieser mich sehen will und ich nach Aschau kommen soll. Der Anruf überraschte mich sehr. Das war im Mai 2001. Pater Ober hatte mich noch nie gesehen, obwohl er mich seit 1993 behandelte. „Was ist los? Warum will er mich plötzlich sehen?“, habe ich mich gefragt. „Ich bin doch nicht krank!“ Darüber habe ich ständig nachdenken müssen, als ich auf dem Weg nach Aschau war. Ich saß Pater Ober gegenüber auf einem Stuhl vor seinem Schreibtisch. Zwischen uns war noch kein einziges Wort gefallen und ich wartete. Pater Ober pendelte und pendelte. Es dauerte eine Weile, bis er damit aufhörte und leise zu mir sagte: „Sie gehen karg mit sich um.“ Jetzt wartete er auf meine Reaktion. Es kam aber keine. Seine Worte überraschten mich, sodass ich kein Wort herausbrachte. Ich schwieg und wartete, während Pater Ober wieder pendelte und pendelte! Dann stellte er ein Rezept aus und schob es langsam und schweigend über den Schreibtisch zu mir herüber. Da ich weiterhin schwieg, sagte er zu mir: „Das Amalgam muss aus den Zähnen raus.“ Das Staunen machte mich weiterhin sprachlos. Dann nahm ich mich zusammen und wagte, meinen Mund aufzumachen, und sagte: „Wissen Sie, Pater, nach meiner Mandeloperation im Herbst 1998 war ich sehr geschwächt und meine Wunden wollten nicht heilen. Ich musste mich damals noch an einen Schulmediziner wenden, weil ich wegen meines Arbeitsverhältnisses von einer Arbeitsunfähigkeitsschreibung abhängig war. Ich konnte mich nicht an Sie wenden.“ Da Pater Ober jetzt schwieg und zuhörte, redete ich weiter: „Ich habe in verschiedenen Büchern Hilfe gesucht und wenig gefunden. Ich habe sogar feststellen müssen, dass ein Buch dem anderen widerspricht.“ Pater Ober lachte plötzlich schallend und sagte: „Nur fünf Prozent aller Bücher haben einen Wert! Den Rest können Sie vergessen!“ Ich wagte sein Lachen zu unterbrechen und sagte: „Lachen Sie bitte nicht, empfehlen Sie mir doch lieber ein wertvolles Buch!“ Er hat sofort angefangen zu pendeln. Dabei schaute er mich ab und zu an. Ich spürte, dass er mich wieder prüfte, dabei wartete ich geduldig ab. Dann griff er nach einem Zettel und kritzelte etwas drauf. Er schob ihn langsam und schweigend in meine Richtung über den Schreibtisch. Die Handschrift des Paters

Das empfohlene Buch von Candi habe ich nach meiner Rückkehr nach München bei Hugendubel gekauft. Das alte Buch hat mich sofort fasziniert. Es hat aber gedauert, bis ich mich an die Art der Ausdrucksweise des Autors, des Bischofs Prof. Doktor P. Leo Cunibert Mohlberg, gewöhnt habe. Das Buch war 1948 in der Schweiz herausgegeben worden. Die philosophische Ausdrucksweise des Bischofs war mir neu und fremd. Anfangs musste ich die ersten Seiten zweimal durchlesen, um die Essenz seiner Gedanken und Ausführungen zu verstehen. Mit Geduld und mit der Willenskraft meines Geistes, die Candi von mir in Anspruch nahm, führte mich der hochbegabte Bischof zum vollen Verständnis des gelesenen Textes. Sehr lange habe ich darüber nachgedacht, warum mir Pater Ober ausgerechnet dieses Buch empfohlen hatte. Mit der ständigen Frage nach dem Warum begriff ich seine Botschaft: Prüfe alles! Die Botschaft des Paters war der beste Hinweis auf meinem Weg der ständigen Suche nach Wahrheit und Richtigkeit. Es war ein kostbares Geschenk von einem außergewöhnlichen Menschen, der mich vorher noch nicht gesehen hatte, mir aber dank seiner Fähigkeit, eine Ferndiagnose und Fernbehandlung durchführen zu können, in meiner Not immer helfen konnte. Pater Ober hat bei unserer ersten Begegnung keine einzige Frage an mich gestellt und ich war überzeugt, dass er trotzdem alles über mich wusste, was er wissen wollte. Mit dem empfohlenen Buch von Candi brachte er mich auf den richtigen Weg und ich brauchte nicht mehr in der Dunkelheit zu irren *** Jetzt möchte ich dem Leser einen Beweis dafür liefern, dass die Ferndiagnose und Fernbehandlung per Telefon funktioniert. Wenn dem nicht so wäre, hätte Pater Ober keine Heilerfolge vorweisen können. Meine Geschichte der ernsthaften Erkrankung und des erfolgreichen Heilungsverlaufes begann an einem Samstag, das heißt an dem Abend, an dem ich mir einen Schimmelkäse für das Abendbrot kaufte. Es war der 02. April 2005 und ich lebte noch in München. Diesen Käse hatte ich vorher noch nie gekauft und auch noch nie gegessen. Beim Abendessen stellte ich fest, dass er mir überhaupt nicht schmeckte. Ich hatte ihn nur aus Neugier zum Ausprobieren gekauft. In der Nacht von Samstag auf Sonntag habe ich plötzlich sehr starke Bauchschmerzen bekommen. Die Schmerzen waren schwer auszuhalten, sie ließen mich gar nicht schlafen, aber einen Notarzt wollte ich nicht rufen. Ich habe mir fest vorgenommen, die Schmerzen bis Montag auszuhalten, um dann Pater Ober um Hilfe zu bitten. Die Nacht von Sonntag auf Montag war genauso qualvoll wie die Nacht zuvor. Am Montag um 06:00 Uhr in der Früh merkte ich, dass ich keine Schmerzen mehr hatte! Die qualvollen Stunden waren plötzlich vorbei! Es war der 04. April. Beim Waschen entdeckte ich unter meinem Nabel ein paar rosarote Sprossen von einem Ausschlag. An der Hüfte rechts haben sich auch schon welche gezeigt. Ich habe sofort erkannt, dass ich an Gürtelrose erkrankt bin, weil diese Ausschläge mir nicht unbekannt waren. Ich habe sie schon im Altersheim bei den zu Pflegenden behandeln müssen. Mir fiel plötzlich ein, dass ich meine Hausärztin mit der Ferndiagnose und Fernbehandlung des Paters bekannt machen könnte. Aber zuerst habe ich gleich um 08:00 Uhr Pater Ober angerufen. Ich hatte Glück, er war persönlich am Apparat. Ich brauchte nicht viel zu sagen. Als er hörte, dass ich zwei Nächte wegen qualvoller Bauchschmerzen gelitten und nicht geschlafen hatte, sagte er nach ein paar Sekunden wie immer in Eile: „Sie haben eine Virusinfektion!“ Ich wusste aus Erfahrung, dass Pater Ober meinen Fall schon übernommen hatte. Nachdem das Wichtigste erledigt war, rief ich meine Hausärztin an und bat sie um einen Hausbesuch. Sie versprach, gleich nachmittags nach der Sprechstunde zu kommen. Ich war sehr schwach und legte mich ins Bett. Ich hatte meinen Fotoapparat vorbereitet und wollte die Ärztin darum bitten, Aufnahmen von meinem Ausschlag anzufertigen. Frau Doktor U. H. ist pünktlich gekommen, wie sie es versprochen hatte, und hat mir die Gürtelrose bestätigt. Sie fragte mich, woher ich gewusst hatte, dass es Gürtelrose war. Daraufhin erzählte ich ihr, dass ich den Ausschlag bei den älteren Menschen monatelang mit einer weißen Tinktur hatte behandeln müssen, die Behandlung nichts genutzt hatte und die Patienten monatelang unter Schmerzen und unerträglichem Juckreiz gelitten hatten. Meine Hausärztin machte an diesem Nachmittag die erste Aufnahme, der Beginn meiner Erkrankung wurde festgehalten. Dass sie meiner Bitte nachkam, freute mich sehr, ich sagte ihr aber noch nicht, was ich da mit ihr vorhatte. Als ich sie wissen ließ, dass ich die schulmedizinische Behandlung ablehnte, war sie erst erschrocken, aber als sie dann erfuhr, dass ich mich schon an Pater Ober gewandt hatte, war sie beruhigt. Dann fragte ich sie, ob sie bereit wäre, mir Spritzen zu verabreichen, wenn ich zur Behandlung welche bekommen sollte, weil ich jetzt zu schwach war, um sie mir selber zu geben. Die liebe und verständnisvolle Frau Doktor U. H. war einverstanden und dazu bereit. Gürtelrose: Anfang der Erkrankung. Die erste Aufnahme am Montag, dem 04. April 2005

Am 06. April kamen die Medikamente nach Rezept von Pater Ober aus der Schloß-Apotheke in Aschau bei mir in München an und ich rief sofort meine Hausärztin an, um sie um einen Hausbesuch zu bitten. Sie versprach wieder, nach der Sprechstunde zu kommen. Als sie hier war, habe ich in ihrer Anwesenheit das Päckchen aus der Apotheke in Aschau aufgemacht, damit sie sich selber davon überzeugen konnte, dass mir die Medikamente aus Aschau zugeschickt worden waren und Pater Ober mich tatsächlich nicht gesehen hatte! In dem Päckchen waren das Rezept von Pater Ober, das er noch am Montag, gleich nach meinem Anruf, ausgestellt hatte, und die Rechnung der Apotheke, die beigefügt worden war. Beides hat die Schloß-Apotheke immer den verschickten Medikamenten beigelegt

Das Rezept von Pater Ober, das er noch am Montag, dem 04. April, nach meinem Anruf ausstellte. Die Rechnung aus der Schloß-Apotheke in Aschau für die Naturheilmittel

Meine Ärztin war verblüfft und wollte jetzt alles wissen. Sie fing an, Fragen zu stellen, weil sie sich vergewissern wollte. „Der Pater hat Sie also nicht gesehen? Er hat sie auch nicht persönlich untersucht? Er hat Medikamente angeordnet, obwohl er sie nicht gesehen und nicht untersucht hat?“ „Ja, so war es“, sagte ich. „Er hat aber per Telefon herausgefunden, was mit mir los ist, das heißt, dass er Ferndiagnose und Fernbehandlung angewendet hat.“ Meine Hausärztin kam aus dem Staunen nicht heraus und sagte: „Bitte, erklären Sie mir das genauer.“ „Pater Ober hat sich mit mir während meines Anrufs mithilfe meines Geburtsdatums verbunden. Natürlich mental, geistig, mit meinem Wesen, das aus Energie besteht. Dann suchte er nach der Ursache meiner Bauchschmerzen, das heißt wiederum, dass er Fragen an das Pendel stellte, und zwar so lange, bis dieses die Antwort gegeben hat. Er wusste aber schon, in welche Richtung er suchen musste, weil er doch ein Mediziner ist. Er fragte: ‚Ist das eine Virusinfektion?‘ Da die Vermutung richtig war, gab ihm das Pendel – eigentlich Gott – die Antwort durch die richtige Bewegung. Als er schon wusste, dass ich eine Virusinfektion hatte, fragte er weiter nach dem richtigen Medikament. Somit ordnete Pater Ober nur das Medikament an, das der Körper annimmt, und auch die entsprechende Dosis. Die Schloß-Apotheke versendet die vom Pater angeordneten Medikamente an die Patienten. Und jetzt liegen die Medikamente aus Aschau auf meinem Tisch in München. Das ist eben das Wunder der Radiästhesie, der Arbeit mit den unsichtbaren Kräften, die es ermöglichen, einem Menschen schnell zu helfen. Das ist eine Arbeit, die perfekt gelernt und beherrscht werden muss und der vollständigen Konzentration des Heilers bedarf.“ An diesem Mittwoch, dem 06. April, habe ich die zehn verschriebenen Injektionen zugeschickt bekommen und an diesem Tag verabreichte mir meine Hausärztin die erste Spritze. Am nächsten Tag, am Donnerstag, habe ich die zweite bekommen. An diesem Tag bat ich meine Hausärztin auch darum, eine zweite Aufnahme anzufertigen. Der Ausschlag war schon in voller Blüte, was auch die Fotografie deutlich zeigte. Die dritte Spritze habe ich am Freitag bekommen. Am Wochenende gab es eine Pause, das heißt, dass ich zwei Tage keine Spritze bekam. Interessant war, dass ich schon nach der dritten und vierten Verabreichung der Folsäure beobachten konnte, dass sich der große Ausschlag deutlich zurückbildete und die mit Flüssigkeit gefüllten Bläschen schon austrockneten! Dritte Aufnahme vor der Verabreichung der sechsten Spritze. Die Bläschen trocknen schon vollständig ab

Die zweite Fotoaufnahme vom 07. April 2005. Die Erkrankung war in voller Blüte

Kapitel 7. Ich hatte eine unruhige Nacht hinter mir, trotzdem stand ich rechtzeitig auf und machte mich auf den Weg nach Aschau. Als ich dann im Zug war, stand mir das Bild aus der zweiten Vision immer noch vor Augen und es bewegte mich immer noch tief. „Wenn er wüsste, was ich weiß“, ging es mir durch den Kopf. „War es gut, dass ich ihm die Vision verheimlicht habe?“ Ich wollte nichts riskieren, also war es gut so. Während der ganzen Fahrt nach Aschau ließen mich die Gedanken über mich selbst nicht in Ruhe. Ich dachte über die plötzliche Wende in meinem Leben nach, die durch mein Vorhaben und schließlich die zwei Visionen hervorgerufen worden war. Die Situation war für Pater Ober und auch für mich neu und ernst. Er war in seiner Not dazu bereit, einen fremden Menschen in sein Haus aufzunehmen, und ich musste der Herausforderung meines Schicksals folgen. Mein Gefühl schenkte mir die Sicherheit, das Richtige zu tun, und es erlaubte mir auch, mich in der eigenen Haut wohlzufühlen. Ich war so mit meinen Gedanken beschäftigt, dass ich gar nicht bemerkte, wie schnell die Zeit und die Fahrt vorbeigingen, beinahe hätte ich Rosenheim verpasst, wo ich umsteigen musste. Hier wollten aber sehr viele Leute aussteigen und die plötzliche Bewegung im Abteil brachte mich wieder auf den Boden. Ich stieg in letzter Sekunde aus. Ich war froh, dass ich keine Anbindung verpasste und zur vereinbarten Zeit ankam. Dann stand ich in der Blumenstraße vor dem kleinen Tor und sah, wie Pater Ober aus dem Haus auf mich zukam. Ich erschrak, als er vor mir stand, so sehr hatte er sich in den letzten Jahren verändert! Meine zweite Vision hatte mich nicht getäuscht, Pater Ober war tatsächlich in gesundheitliche Not geraten. Er wirkte sehr gealtert, krank, dazu noch resigniert und verbittert. Er hatte auch die Stimme verloren und flüsterte nur noch. Er lud mich mit einer Handbewegung in das Haus ein und ich folgte ihm in seine Praxis. Pater Ober bat mich erneut mit einer Handbewegung, vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und schaute mich eine Weile an. Als sich unsere Blicke trafen, ging alles sehr schnell. Er kam ohne Plädoyer gleich zur Sache und schüttete mir sein Herz aus. Ich musste mich sehr konzentrieren, um sein Flüstern zu verstehen, er sprach nämlich schnell: „Im Winter habe ich mir eine Grippe zugezogen, und die will nicht verschwinden. Ich habe starke Schmerzen im Gesäß und in der Lende. Diese habe ich seit einem Verkehrsunfall bei meinem Bruder in Pocking. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs und musste vor einem Lastwagen plötzlich bremsen, dabei bin ich mit dem Fahrrad nach vorne gestürzt. Zum Glück auf das Gesäß und nicht auf den Kopf. Ich schlafe schlecht, mein Herz bleibt stehen. Ich habe Herzrhythmusstörungen und immer einen Puls von 120.“ So sah Pater Ober aus, als ich ihn nach vier Jahren wiedersah

Als ich mich so auf das Flüstern konzentriert habe, um ihn gut zu verstehen und seine letzte Klage hörte, spürte ich plötzlich, dass ich auf seine Wellenlänge geraten war. Seine Klage drängte mich fast, schnell etwas zu tun und ich sagte ganz spontan und intuitiv zu ihm: – „Pater! Bitte, legen sie sich hin!“ – obwohl ich gar nicht wusste, was ich machen würde. Pater Ober reagierte blitzschnell, er stand auf, eilte aus der Praxis und ich folgte ihm automatisch. Er hatte sich in einem kleinen Therapieraum auf eine Liege gelegt. Er schloss seine Augen und wartete wortlos. Aus seinem Mund kam ein Seufzer. Ich spürte seine Erschöpfung und blieb kurz vor ihm stehen … Während ich seine kleine Gestalt so betrachtete, hatte ich das Gefühl, die Liege wollte ihn aufsaugen und in diesem Moment zog mich sein Herz an! Ich kam jetzt ganz nah und legte meine rechte Hand unter sein Hemd, direkt auf sein Herz. Er reagierte nicht, blieb aber ganz still liegen, dabei spürte ich, wie sich der Mensch ergab! Nach eine Weile nahm ich meine Hand weg, blieb aber in der Nähe stehen. Nun sprang Pater Ober energiegeladen auf und setzte sich auf die Kante, mit der rechten Hand fasste er sich jetzt seinen linken Radius an, schaute auf die Uhr, die er am rechten Handgelenk trug, und kontrollierte den Puls … Danach, als mich Pater Ober mit Staunen in den Augen ansah, wagte ich leise zu fragen: – „ Wie hoch ist ihr Puls jetzt …?“ – „80!“ sagte der Pater fest und schnell, sprang auf und rannte aus dem kleinen Raum. Ich folgte ihm langsam … Als ich in seine Praxis kam, saß er schon hinter seinem Schreibtisch und schaute mich immer noch mit großen Augen schweigend an – während ich in der Mitte des Raumes stehen geblieben bin. Ich war ganz benommen. Es ist etwas passiert, was ich nicht hätte voraussehen können. Ich hatte nicht wissen können, ob meine spontane Handlung etwas bewirken würde. Um vorher darüber nachzudenken, war ja keine Zeit gewesen, ich hatte ganz spontan reagiert! Ich spürte, dass wir beide sehr überrascht waren. Als ich da so benommen und schweigend stand, sprang Pater Ober wieder auf und eilte aus der Praxis – „Kommen Sie!“ rief er mir dabei zu und ich folgte ihm langsam. Pater Ober führte mich durch das ganze Treppenhaus in den zweiten Stock, machte eine Tür auf und sagte: – „Hier habe ich eine Zweizimmerwohnung! – die können Sie haben!“ Ich war völlig überrascht, und kam weiterhin nicht aus dem Staunen heraus. Er führte mich in die leere Wohnung hinein und zeigte mir die Räume. Die schmale und lange Küche war mit niedrigen, weißen Küchenschränkchen ausgestattet und am Ende stand eine Sitzecke, die mit rotem Stoff überzogen war. In dem großen Zimmer befand sich eine Wand aus Zedernholz, hier blieb Pater Ober stehen und sagte – „So eine Wand hat niemand in Aschau“ … Trotz des Flüsterns war der Stolz in seiner Stimme nicht zu überhören. Mir war die ganz Wohnung egal, was mich beunruhigte, war sein Zustand. Ich ahnte, dass Pater Ober nicht so schnell aus der gesundheitlichen Krise herauskommen würde. Wir verließen die Wohnung und Pater Ober führte mich weiter in ein schönes Appartement, das gegenüber der Wohnung lag. Der Raum war groß und hatte drei riesige Balkonfenster an der Westwand, die viel Licht spendeten. An der rechten Seite waren zwei Schlafplätze, die mich eher an ein Kloster mit Särgen zum Schlafen erinnerten. Die Wand gegenüber bestand aus eingebauten Schränken. Die winzige Küche machte einen sehr gemütlichen Eindruck, sie war dank des kleinen Fensters in der Decke hell. Hier waren helle, sehr schöne Küchenmöbel eingebaut, und an dem neuwertigen Zustand der Kochnische konnte ich erkennen, dass das Appartement noch nie bewohnt und benutzt worden war. Der ganze Boden in diesem Appartement war mit Holz ausgekleidet. Der machte auch einen neuen Eindruck. Es gab ein kleines Vorzimmer vor dem großen Raum und ein Bad mit Platz für eine Waschmaschine. Beim hinausgehen blieb Pater Ober an der Schwelle stehen. Er wirkte nachdenklich und sagte; Dieses Appartement habe ich für meinen letzten Lebensabschnitt vorbereitet. Als sich unsere Blicke wieder trafen, sagte er noch: „Ich werde an einem Herzschlag sterben.“ Bei diesen Worten haben wir das Appartement und damit den zweiten Stock im Haus verlassen und gingen zurück ins Erdgeschoß. Das Geländer in dem hellen Treppenhaus war ein Kunstwerk aus Eisen, an den vielen Verschlingungen waren kleine Engelchen zu sehen. Im Erdgeschoß angekommen, machte Pater Ober seine Wohnungstür auf und lud mich zum Mittagessen ein. Ich erlebte an diesem Tag eine Überraschung nach der anderen. Ich war noch benommen und kam aus dem Staunen nicht heraus, so schnell überschlugen sich die Ereignisse. Die Küche, in die mich Pater Ober führte, war dunkel und nach Norden ausgerichtet, sie war aber auch mit schönen, hellen Möbeln ausgestattet. Das breite und dicke Fensterbrett war aus hellem Marmor und zog sich nach links über den Herd und nach rechts über das Waschbecken. Pater Ober bereitete innerhalb von fünf Minuten eine große Schüssel mit Blattsalat vor und ich durfte zuschauen. Mit seiner Schnelligkeit machte mir der Pater klar, dass man für die Vorbereitung einer Mahlzeit nicht viel Zeit braucht, ich habe diese schweigende Botschaft sofort verstanden, dabei musste ich mir aber ein Lächeln verkneifen. Jetzt nahm er zwei Glasteller aus dem Hängeschrank und verteilte darauf den Salat, trug sie in das Esszimmer daneben und stellte sie auf den gedeckten Tisch. Der Raum war dunkel und klein mit einem Fenster nach Norden. An der Westwand des Raumes war noch ein zweites kleineres Fenster Durch dieses Fenster konnte man einen Blick durch das ganze große Anwesen bis zum Garten werfen. In der Ecke oben hing ein Kruzifix. Wir aßen schweigend. Dabei dachte ich, dass ich nach diesem Essen bestimmt nach einer Stunde gleich wieder hungrig sein würde. Nachdem wir den Salat verputzt hatten, sagte Pater Ober zu mir: „Wir sitzen ja nicht im Restaurant, wir können uns erlauben, die Salatsoße aus dem Teller zu trinken.“ Wir tranken das Dressing aus dem Teller, es schmeckte nach Olivenöl und Brottrunk „Wann können Sie kommen und bleiben?“, rutschte Pater Ober plötzlich die direkte Frage heraus und ich antwortete sofort: „Erstmal möchte ich zurück nach Hause fahren, Sie können sich inzwischen überlegen, wann ich kommen soll. Geben Sie mir dann Bescheid. Sind Sie damit einverstanden?“ Dabei stand ich auf und reichte Pater Ober die Hand. Der Händedruck war kraftvoll. „Danke für alles!“, sagte ich noch und verließ seine Wohnung. Pater Ober folgte, und als er durch den dunklen Warteraum hinter mir ging, machte er das Licht nicht an. Dabei sprach er eine Frage aus: „Haben Sie einen Mann?“ „Nein“, sagte ich sofort, „ich brauche keinen Mann und ich suche auch keinen. Ich möchte Ihnen nur helfen, aus der Krise herauszukommen.“ Das war sowieso schon zu viel gesagt. Ich habe mich dabei nicht mal zu ihm umgedreht und ging weiter die Treppe hinunter aus dem Haus. Ich habe ihn und sein Haus wortlos verlassen, während er in der Tür stehen blieb. Ich spürte seinen Blick auf meiner Schulter. Unterwegs dachte ich an seine Sparsamkeit. Ich sah ihn jetzt in seiner Küche vor dem Ausguss stehen, wie er den Salat in sehr wenig Wasser und nur einmal wäscht. Dann die Tatsache, dass er das Licht in dem dunklen Wartezimmer nicht eingeschaltet hatte. Da mir beides nicht gefallen hatte, ahnte ich schon, zu wem ich kommen würde. Ich musste erstmal weg und das Erlebte verarbeiten und verkraften. Alles ging doch so schnell, das Tempo war für mich einfach überraschend. Zu Hause in München angekommen habe ich festgestellt, dass ich immer noch keinen Hunger verspürte! Auch später verspürte ich keinen Hunger und ich brauchte abends nichts mehr zu essen. Ich legte mich gleich hin und vor meinem geistigen Auge lief das Erlebte wie in einem Film ab. Die ungewöhnliche Begegnung mit Pater Ober, den ich in so einem veränderten Zustand vorgefunden hatte. Durch meinen Kopf gingen verschiedene Gedanken und je länger ich über den ungewöhnlichen Menschen nachdachte, umso klarer wurde mir, dass Pater Ober eine sehr starke, aber gleichzeitig auch schwierige Persönlichkeit war. Diese Tatsache machte mir aber zum Glück nichts aus. In meinem Berufsleben war ich mit verschiedenen Persönlichkeiten konfrontiert worden. Ich war mit allen klargekommen. Ich war dazu entschlossen, Pater Ober beizustehen, ihn zu begleiten und aus der gesundheitlichen Krise herauszuholen. Das hatte zuvor schon festgestanden und daran hatte sich nichts geändert. Ich konnte lange nicht einschlafen, ich hatte wieder das Bild der zweiten Vision vor meinen Augen. Dann dachte ich wieder an meinen Neffen, dem Pater Ober das Leben gerettet hatte. Jetzt brauchte Pater Ober Hilfe und die sollte er auch bekommen. Er hatte sich meinen Beistand verdient. Mit diesen Gedanken auf meine künftige Aufgabe bin ich dann tief in der Nacht endlich eingeschlafen. Nach zwei Tagen klingelte um 22:00 Uhr das Telefon. Ich wusste sofort, wer um diese Zeit erst für sich selber Zeit hatte. Am Telefon war Pater Ober, der mich kurz und sachlich fragte, ob ich am nächsten Tag kommen konnte. Ich sollte auch meine eigene Bettwäsche mitnehmen. Meine Antwort war auch ganz kurz: „Morgen, Pater, werde ich bei Ihnen sein.“ Und er legte gleich auf. Mir war es recht so. „Pater Ober hat es eilig“, dachte ich, „ich aber auch.“ Dass er dringend Hilfe brauchte, war uns beiden bewusst. Als ich am nächsten Tag in Aschau bei Pater Ober angekommen war, begleitete er mich wortlos in den zweiten Stock in meine künftige Wohnung und entfernte sich gleich wieder. Ich kam in die kleine Küche und legte meinen Reisekoffer auf die Bank. Auf dem Tisch stand eine Vase mit drei roten Rosen. Das war die Begrüßung. Das verstaubte Bett im großen Zimmer habe ich gleich sauber gemacht und frisch bezogen. Dann machte ich mich auf den Weg ins Zentrum, um kleine Vorräte einzukaufen, ein Kühlschrank war ja auch vorhanden. Ich war auf alles vorbereitet. Pater Ober hat sich an diesem Abend nicht mehr gezeigt und da ich auch kein Mensch der vielen und unnötigen Worte bin, war mir sein zurückhaltendes Verhalten nur recht. Was zu tun war, wusste ich ja, und wie ich mit ihm umgehen musste, auch. Am nächsten Morgen stand ich wie immer früh auf, machte mich schnell fertig und ging gleich hinunter, obwohl mir Pater Ober keine Anweisungen gegeben hatte. Er saß schon mit dem Pendel in der Hand in der Praxis hinter seinem Schreibtisch. Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel von Patientenkarteien. Es war halb sieben! Er sah mich stumm an. Die Bitterkeit und Resignation in seinem Gesicht trafen mich tief. Ich kam langsam näher und lud ihn mit einer schweigenden Geste auf die Liege ein. Er reagierte sofort, stand auf, machte die Hose locker und legte sich auf den Bauch, als hätte er gewusst, was ich vorhatte. Das Anwesen von Pater Ober – die Praxisseite in den Asternweg 1

Es ist während der Behandlung kein einziges Wort zwischen uns gefallen. Es war auch keines nötig. Ich dachte an die Schmerzen in seiner Lende, die ihn bestimmt nicht ruhig sitzen und arbeiten ließen, die mussten weg! Der hohe Stapel auf seinem Schreibtisch sagte mir, dass Pater Ober Frühdienst hatte, also schaute ich auf die Uhr und begrenzte meine Behandlung auf fünfzehn Minuten. Gleich danach verließ ich ihn wortlos und still und ging zurück in die Wohnung. Kaum dort angekommen, kam Pater Ober herein und bat mich mit seiner flüsternden Stimme, ihn zu begleiten. Er führte mich in den ersten Stock, blieb vor einer Tür stehen und sagte: „Hier habe ich meine private Hausklinik gehabt.“ Er öffnete die Tür und bat mich hinein. Die Räume lagen direkt unter meiner Wohnung, aber sie waren ganz anders gestaltet. In der Mitte befand sich der größte Raum, aus dem die Türen in die zwei Badezimmer und weitere vier Zimmer führten. Er war sehr dunkel und hatte wahrscheinlich als Aufenthaltsraum für die anwesenden Patienten gedient. Wir standen in der Mitte des Raumes und Pater Ober flüsterte: „Seit zehn Jahren nehme ich keine Patienten mehr auf. Die wollten am Abend immer mit mir sprechen, aber dafür hatte ich keine Kraft und Geduld mehr.“ Er zeigte mir die große Küche und sagte: „Die Küche steht Ihnen zur Verfügung, hier finden Sie alles, was Sie oben in Ihrer Wohnung brauchen können.“ Da ich auf jede Situation vorbereitet war, nutzte ich den Zeitpunkt und sagte zu ihm: „Pater Ober, ich warte heute mit dem Mittagsessen auf Sie bei mir oben.“ Ich nannte dabei keinen Zeitpunkt. Er erwiderte nichts, als hätte er diese Worte von mir erwartet, und ging zurück in seine Praxis. Er kam im richtigen Moment in meine Küche. Ich war gerade seit zehn Minuten mit allem fertig. Wir setzten uns zum Tisch und Pater Ober sprach mit seiner flüsternden Stimme ganz leise ein kurzes Gebet. Die angenehme Stille beim Essen hat uns beiden in der ungewöhnlichen Situation gut getan. Nach dem Essen schaute mich Pater Ober an, als erwarte er noch einige Worte von mir. Ich sagte zu ihm: „Pater, ich werde Sie jetzt hier oben behandeln, bitte kommen Sie.“ Ich führte ihn in das kleine, leere Zimmer, in dem ich schon einen Platz für die nächsten Behandlungen vorbereitet hatte. Ich hatte einfach den geflochtenen Liegestuhl, den ich vor zwei Tagen bei der Besichtigung im Appartement gegenüber stehen gesehen hatte, geholt und ihn hier in das kleine Zimmer gestellt. Dort hatte ich auf den eingebauten Betten auch zwei Decken gefunden, die ich mit dem dort vorhandenen Hocker in mein kleines Zimmer gebracht hatte. Jetzt konnte die Behandlung beginnen. Pater Ober war überrascht, sagte aber kein Wort. Er fügte sich und legte sich gleich hin. Als er meine Hand auf dem Herzen spürte, schlief er sofort ein, und ich sah, wie sich sein Gesicht im Schlaf entspannte. „Na, der hat es aber nötig“, ging es mir durch den Kopf, „er schläft ja wie ein Stein!“ Das war jetzt das beste Medikament für ihn. Nach circa zwanzig Minuten nahm ich meine Hand von seinem Herz. Während der erschöpfte Pater weiterschlief, fing ich an, seine Beine und seine Füße zu behandeln. Ich habe ganz intuitiv gehandelt, ohne auf die Uhr zu schauen. Ich habe mich ganz nach dem Bedarf des Körpers gerichtet, der die Behandlungszeit bestimmte. Nachdem die Behandlung beendet war, zog ich mich ganz leise zurück, machte die Türe zu und räumte meine Küche nach dem Mittagessen auf. Dann schaute ich in das kleine Zimmer, aber Pater Ober war nicht mehr da. Ich bin gleich hinuntergegangen. Er war in der Praxis nicht zu finden, also ging ich in den Garten und schaute mich um, als ich plötzlich seine leise Stimme vernahm: „Sie beobachten mich?“ „Aber nein, Pater, ich suche Sie!“, erwiderte ich lachend. Nachdem ich die Worte ausgesprochen hatte, ging ich dem Pater gleich bei seiner Arbeit zur Hand, er schenkte mir dabei einen dankbaren Blick. Das Schweigen bei der Arbeit war mir ganz recht, deswegen habe ich es auch nicht unterbrochen. Dass sein Gehirn während der Arbeit die ganze Zeit auf Hochtouren arbeitete, habe ich an seinen Blicken erkannt, die er mir ab und zu zuwarf. Sie waren ausdrucksvoll in seinem verbitterten Gesicht. Wir haben bis 18:00 Uhr im Garten gearbeitet. Danach trennten sich unsere Wege und jeder ging in seine Wohnung, ohne ein Wort sagen zu müssen *** Wir haben überhaupt nicht über einen Tagesablauf gesprochen, dieser hatte sich von alleine ergeben, weil der Pater seinen schon längst hatte und ich wusste, wo ich anknüpfen musste, damit der Tag reibungslos für uns beide verlaufen konnte. Um halb sieben lief die Lendenbehandlung jeden Tag in seiner Praxis weiter, nach dem Mittagessen folgten die beiden weiteren Behandlungen bei mir oben. Wir haben uns also von Anfang an wortlos verstanden. Pater Ober ließ sich an der Hand führen, er fügte sich schweigend. Er spürte, dass meine Hände ihm guttaten. Diese persönliche Freiheit, die er mir gab, ließ mich mit Lust arbeiten und weitermachen. Ich wusste, dass wir beide schon einen gemeinsamen Weg der Heilung gefunden hatten, das Geben und Nehmen hatte sofort funktioniert und die entstandene Zufriedenheit auf beiden Seiten war eine Bestätigung dafür, dass ich mit meinem Vorgehen auch richtig lag. Pater Ober hat natürlich mich und mein Tun genau unter die Lupe genommen und ich habe mit meiner genauen Krankenbeobachtung das Wirken meines Tuns auch beobachtet. Wir haben von Anfang an jeden Tag am Nachmittag zusammen im Garten gearbeitet. Dieser war sehr verwahrlost und unsere gemeinsamen Bemühungen haben sich erst auf die Beseitigung des Unkrautes am westlichen, langen Gartenzaun konzentriert, was viel Zeit und Kraft in Anspruch nahm. Hier wuchsen dicke, eineinhalb Meter hohe Stängel, die mit dichtem Unkraut verwuchert waren, den Zaun entlang. Nach einer Woche fragte mich Pater Ober beim Mittagessen, ob ich mir vorstellen könnte, seine Küchenwirtschaft zu übernehmen. Er meinte, es wäre in seiner Küche ja alles vorhanden. Diese Frage überraschte mich sehr, denn mir war es peinlich, in einer fremden Küche in den vielen Schränkchen und Schubladen nach einem Gewürz zu suchen. Und ich sah mich schon aus seiner Küche im Erdgeschoß in den zweiten Stock zu mir laufen, um ein Gewürz oder etwas anderes zu holen, was ich bei ihm nicht finden konnte. Die Vorstellung, dass ich dann nicht zeitig mit dem Essen fertig sein könnte, machte mir Angst. Außerdem dachte ich an seine Sparsamkeit und eventuelle Kontrolle. Das wollte ich auf keinen Fall zulassen. Aussprechen konnte ich meine Befürchtungen natürlich nicht, er hätte sich gekränkt gefühlt. Ich brauchte das Freiheitsgefühl in der Küche genauso, wie bei meinem jetzigen Vorgehen, das seine Heilung betraf. Während Pater Ober schweigend auf meine Zustimmung zu seinem Vorschlag wartete, spürte ich, dass er mit meiner Reaktion nicht zufrieden war. Schließlich fragte ich ihn: „Ist es nicht gut so, wie es ist?“ Darauf sagte Pater Ober nichts. Wir aßen schweigend weiter. Dann fiel mir ein, dass Pater Ober an das Geld, das ich für die Lebensmittel ausgab, gedacht und er deswegen den Vorschlag gemacht hatte. Das war kein Thema für mich, ich dachte überhaupt nicht daran. Ich aß sowieso zu viel, also reichte das Mittagessen für uns beide. Das war meine unbewusste Einstellung überhaupt, was das Essen und das Geld anbelangte. Ich konnte nicht anders. Ich wollte meine Freiheit und Unabhängigkeit behalten, ohne es aussprechen zu müssen *** Nach etwa einem Monat merkte ich, dass Pater Ober seine Stimme wiedererlangte. Ein kleiner Fortschritt der Genesung war also zu hören, was mich natürlich freute. Das war schon die erste Besserung seines allgemeinen Zustandes, aber die Bitterkeit zeichnete sich immer noch in seinem Gesicht ab. Nach einiger Zeit merkte ich bei der Gartenarbeit, dass mich Pater Ober einmal mit Du und einmal mit Sie ansprach. Ich reagierte sofort und sagte lachend: „Aber Pater, Sie können mich doch ruhig duzen!“ Er lächelte zufrieden. Das war sein erstes Lächeln überhaupt, seit ich da war, und sein Gesicht entspannte sich. Dann fragte er mich eines Tages, ob ich schon mal über einen Umzug nach Aschau nachgedacht hätte. „Aber nein, Pater, ich weiß ja noch gar nicht, ob ich mich bewährt habe!“ „Aber längst!“, sagte Pater Ober zufrieden. Das war alles und wir arbeiteten weiter. Dieses Thema hatte ich bewusst offen gelassen, eilig hatte ich es nicht. Kurz danach, als Pater Ober zum Mittagessen zu mir nach oben kam, fragte er mich vorsichtig: „Hast du dich noch nicht eingelebt?“ „Aber ja“, sagte ich locker, „ich fühle mich schon fast wie zu Hause. Nur meine weißen Töpfe aus München vermisse ich.“ Am nächsten Tag, als er zum Mittagessen in meine Küche kam, sagte er fast feierlich: „Morgen fahren wir nach München, dann kannst du alles mitnehmen, was du brauchst.“ Ich war angenehm überrascht und freute mich. Ich dachte aber gleich an seine Lende und fragte, ob er wirklich schon mit dem Auto fahren könnte. Pater Ober sagte, dass er keine Schmerzen in der Lende mehr empfinde und wir auf die Behandlung morgens um halb sieben verzichten könnten. Am nächsten Tag während der Fahrt nach München merkte ich, dass die Konzentration und das Lenken den Pater sehr viel Kraft kosteten. Mir wurde klar, dass er längere Zeit nicht mehr mit dem Auto gefahren war. Es waren ja erst zwei Monate vergangen, seit ich zu ihm gekommen bin. Während der Fahrt fiel kein Wort zwischen uns und ich habe auch absichtlich geschwiegen, um seine Konzentration nicht zu stören. Ich war erleichtert, dass wir ohne Zwischenfall in München angekommen sind und habe bedauert, dass ich der Fahrt so schnell zugestimmt hatte. Er war noch nicht so weit. Beim Aussteigen bemerkte ich, dass sich Pater Ober seltsam benahm. Während er mich vorne gehen ließ, hielt er hinter mir einen gewissen Abstand. Als ich das merkte, musste ich mir wieder mal ein Lächeln verkneifen. In der Wohnung angekommen, zeigte ich Pater Ober, wie ich wohnte. Ich nahm die Bettlaken weg, mit denen die Stoffmöbel zugedeckt waren, und bat ihn, Platz zu nehmen. Pater Ober war aber ein unruhiger Geist. Statt sich hinzusetzen und auszuruhen, machte er sich gleich an die Arbeit. Ich schaute mit Staunen zu, wie er in der Küche nach einem Stuhl griff und ihn in das Schlafzimmer trug. Er machte die Türe des großen und langen Schrankes auf und stellte den Stuhl vor die geöffnete Tür. Er stellte sich auf den Stuhl und fing an, die obere Türkante mit den Fingern abzutasten! Die Prüfung ist schlecht ausgefallen, er sagte nämlich, dass die Möbel nicht aus vollem Holz waren. Diese Worte haben mich überrascht, weil ich doch davon überzeugt war, dass das Schlafzimmer es sehr wohl war, so wie man es mir beim Kauf versichert hatte. Meine Empörung war groß, weil ich nur für Vollholzmöbel dazu bereit gewesen war, den hohen Preis von 11.500 DM für das Schlafzimmer der Firma Stefan zu bezahlen. Ich erzählte Pater Ober weiter, dass ich für den Kauf selber einen freien Tag geopfert hatte, dass ich sogar erst nach Augsburg gefahren war, um mich in dem berühmten, großen Möbelhaus umzuschauen, um zu erfahren, was es so auf dem Markt gab. Ich hatte mir ein schönes, helles Schlafzimmer gewünscht, das mich an das meiner Eltern erinnerte, in dem mein Kinderbett gestanden hatte. Und das hatte ich ja auch gefunden, es gefiel mir immer noch, aber diese Überraschung gefiel mir nicht. Pater Ober war ein guter Zuhörer. Wir gingen in die Küche zurück und ich fing an, das Mittagessen vorzubereiten, dabei schaute er mir zu. Dann fragte er mich beim Essen, ob ich die Lebensmittel aus Aschau mitgebracht hatte. Das war wieder eine Frage, die mich überraschte. „Natürlich“, sagte ich, „hier ist doch der Kühlschrank ausgeschaltet.“ Dabei kam mir in den Sinn, dass sich Pater Ober wahrscheinlich vergewissern wollte, ob ich tatsächlich keinen Mann in München hinterlassen hatte. Nach dem Essen wollte Pater Ober auch nicht ruhen, er wollte einen Spaziergang machen und sich die Siedlung anschauen. Ich spürte, dass er mir den starken Mann vorspielen wollte, ich wusste aber, dass er jeden Tag bei seiner Nachmittagsbehandlung immer noch fest wie ein Stein schlief. Sein Wunsch war mir nicht ganz recht, aber ich machte mit. In der Nähe meines Häuserblocks befand sich eine kleine Parkanlage, die sich bis zu einem kleinen Altersheim hinzog. Durch diese Parkanlage führte ich jetzt Pater Ober. Das Altersheim war ein offenes Haus, das heißt, jeder konnte jederzeit hinein- und hinausgehen. Es gab auch keine Pforte. Wir gingen hinein, blieben in der Eingangshalle stehen und ich fing an, ihm zu erzählen, dass ich in diesem Heim jahrelang eine betagte, blinde Frau betreut hatte. „Vor einem Jahr habe ich die Betreuung aufgegeben, aber vorher habe ich Sie angerufen und gefragt, ob die Frau sterben wird, wenn ich sie verlasse. Erinnern Sie sich?“ Pater Ober schwieg, aber hörte zu. „Sie sagten mir damals, dass die Lebensvitalität der Frau bei eins liege und wenn ich sie verlasse auf null abfallen wird. Und dann würde sie sterben. Obwohl ich ein sehr schlechtes Gewissen hatte“, erzählte ich Pater Ober weiter, „habe ich die Betreuung doch gekündigt und es ist genau das eingetroffen, was Sie, Pater, gesagt haben. Die Frau ist binnen dreier Monate verstorben, obwohl sie gleich eine neue Betreuerin bekam. Und das Merkwürdige dabei war, dass die Tochter, die mir ihre Mutter anvertraut hatte, am selben Tag verstorben ist.“ Jetzt schaute mich Pater Ober an, er schwieg aber weiter. Er war sehr müde, aber er beklagte sich nicht deswegen. Wir verließen das Altersheim und gingen langsam die Straße entlang. In einer Nebenstraße blieb Pater Ober stehen und sagte kurz: „Hier, in diesem Haus, hat mein verstorbener Bruder gewohnt.“ Zu Hause angekommen, griff Pater Ober nach dem Buch, das auf meinem Schreibtisch lag. Das war das Buch von Candi, das Pater Ober mir vor Jahren empfohlen hatte. Er setzte sich mit einem gelben Stift in der Hand in einen Lehnstuhl und fing an, wichtige Sätze im Buch zu unterstreichen. Er machte das blitzschnell, Seite für Seite, als hätte er den Text des Buches auswendig im Kopf gehabt! Er hatte den ganzen Nachmittag über sehr wenig gesprochen. Während wir dann schweigend in der Küche zu Abend aßen, dachte ich an die anstrengende Fahrt in der Früh und an seinen Zustand. Ich hatte meine Bedenken diesbezüglich nicht ausgesprochen, ich sagte nur zu ihm, dass wir auch hier in München übernachten könnten, wenn er damit einverstanden wäre. Er war sofort einverstanden, sagte aber, dass wir morgen sehr früh abreisen müssten, er hätte nämlich Frühdienst. Im Bad legte ich ein Handtuch und einen Schlafanzug für ihn hin, dann zog ich mich in das zweite Zimmer zurück. Es war ein anstrengender Tag für uns beide gewesen. Pater Ober hatte sich den ganzen Abend über so still und unauffällig verhalten, als wäre er gar nicht da gewesen. Er hatte weder das Wasser noch den Schlafanzug benutzt! Ich musste wieder an seine Sparsamkeit denken. In der Früh sah er so schlecht aus, als hätte er gar nicht geschlafen. Ich ahnte, dass er in einem fremden Bett nicht schlafen konnte. Er tat mir leid und ich dachte schon an die bevorstehende Fahrt, die er in dem Zustand hinter sich bringen musste. Ich hatte ja keinen Führerschein. Ich war schon um 05:00 Uhr aufgestanden und hatte den Kofferraum mit meinen Sachen beladen, wir konnten also abreisen. Es war 06:00 Uhr in der Früh. Pater Ober kannte sich in München sehr gut aus. Wir sind von der Stadt problemlos auf die richtige Autobahn gekommen. Wir waren schon eine Weile unterwegs, als er plötzlich zu mir sagte: „Du kannst mich duzen! Ich bin der All!“ Beim Aussprechen der Worte benahm er sich wieder so merkwürdig. Vor lauter Überraschung konnte ich kein Wort herausbringen, dann fragte ich nach einer Weile: „Wie wäre es mit Alis?“ Er wiederholte langsam und leise: „Alis.“ Die Fahrt nach Aschau forderte wieder seine ganze Konzentration und Kraft. Wir haben während der Fahrt kein einziges Wort mehr gesprochen und ich betete um einen unfallfreien Rückweg nach Hause. Pater Ober saß auf einer dicken Unterlage, seine Hände zitterten und er sah hinter dem Lenkrad so klein aus! Der große BMW war für seine kleine Gestalt einfach zu groß. Er fuhr sehr schnell und wir sind kurz vor halb acht in Aschau angekommen, was ihn zufriedenstellte. Er fuhr das Auto in die offen stehende Garage, rannte aus dem Auto und verschwand im Haus. Während ich in Ruhe meine Sachen nach oben tragen konnte, musste Pater Ober um 08:00 Uhr seinen Dienst antreten. Gegessen hat er bestimmt nichts. Das angebotene Du habe ich sehr selten benutzt. Pater Ober, der mir sein Vertrauen schenkte und eine neue Heimat gab, ist für mich ein Herr geblieben. Ich fühlte mich unter seinem sicheren Dach ganz wohl. Mehr zum Glück brauchte ich nicht *** Von meinem ersten Tag bei Pater Ober an haben wir jeden Tag unter der Woche nach der Mittagsbehandlung pünktlich von 14:00 bis 18:00 Uhr im Garten gearbeitet. Wochenende gab es keines, das kannte Pater Ober nicht. Wir trafen uns am Samstag um 09:00 Uhr im Garten, wobei ich immer intuitiv um diese Zeit hinunterging. Er nannte ja keinen Zeitpunkt. Nach circa zwei Monaten war der Garten vollständig von Unkraut befreit, dabei haben wir die große Gartenmaschine benutzt, um das Unkraut zu zerkleinern, das wir anschließend auf den Kompost gebracht haben. Was mich bei der Arbeit gestört hat, war sein Husten, der immer noch nicht verschwunden war. Ich habe es nicht verstanden, es war doch Sommer und Pater Ober hustete immer noch! Es ärgerte mich, dass ich noch nicht auf die Ursache des Hustens gekommen war. Dann wagte ich es, Pater Ober darauf anzusprechen: „Ich verstehe es nicht, dass Sie immer noch husten!“, sagte ich, aber Pater Ober erwiderte nur gleichgültig: „Es ist ja nur ein Reizhusten.“ „Er gefällt mir aber nicht und irritiert mich!“, sagte ich betont. Wir arbeiteten weiter. Wir waren dabei, die zwei Regentonnen sauber zu machen, die stark verschmutzt und wahrscheinlich jahrelang nicht gesäubert worden waren. Das war eine Arbeit! Gut, dass wir zu zweit waren. Pater Ober stand in seinen hohen Gummistiefeletten am Boden der Tonne im Wasser und füllte einen Eimer nach dem anderen mit Wasser voll, hob ihn hoch und ich übernahm ihn von unten und brachte das Wasser unter die Bäume. Da die Tonne sehr groß und tief war, hat es lange gedauert, bis sie leer war. Danach haben wir im Wechsel die Betonwand mit einer Bürste gescheuert. Während einer die Wände mit der Bürste säuberte, hat der andere die Wand von oben mit Wasser aus einer Gießkanne begossen. Wir waren erst mittags mit einer Tonne fertig. Die zweite machten wir an einem anderen Tag, da es sonst zu anstrengend gewesen wäre. Kurz nach der Reise nach München fragte mich Pater Ober wieder mal bei der Gartenarbeit, ob ich schon über einen Umzug nach Aschau nachgedacht hätte. „Ich bin noch nicht so weit“, wich ich schnell aus. „Ich weiß ja nicht mal, wo im Haus sich die Waschmaschine befindet und welcher Geist meine schmutzige Wäsche holt und die saubere hinlegt.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sagte: „Aber, aber! Du kannst dich doch in meiner Wohnung selber umschauen, dafür brauchst du mich doch nicht!“ *** Die Wohnungstür des Paters war tatsächlich nicht abgeschlossen und die Waschküche im Keller habe ich auch gleich gefunden. Der Raum war groß, es standen drei Waschmaschinen verschiedener Größen darin und an der linken Seite in der Ecke befand sich ein großer Tisch zum Bügeln, der mir auf Anhieb sehr gefiel und auf dem jetzt ein Wäschekorb stand. Der war mit getrockneter Wäsche gefüllt, also erledigte ich gleich das Bügeln. Ich war gerade fertig, als Pater Ober mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck hereinkam. Seine Anwesenheit nutzte ich sofort aus und fragte ihn, welche Waschmaschine ich benutzen durfte. Er reagierte wieder mal ganz komisch. Als er meine Frage hörte, verschwand er blitzschnell aus der Waschküche! „Na sowas? Das ist einer!“, dachte ich. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu gedulden. Am nächsten Tag beim Mittagsessen sagte ich zu Pater Ober, dass ich nicht mehr in der Waschküche bügeln, sondern mit dem Wäschekorb lieber nach oben komme würde, weil es unten so kalt wie bei den Eskimos war. Pater Ober sagte nur kurz: „Ab jetzt wird es warm sein“, und das war wieder alles. Ich spürte, dass er eventuelle Fragen befürchtete. Ich stellte aber keine. Auf das Thema Wäsche bin ich nicht mehr eingegangen. Ich ließ Pater Ober damit noch in Ruhe. Ich spürte, dass es ein heikles Thema war. Mit der Zeit habe ich begriffen, warum ich keine Waschmaschine benutzen durfte. Pater Ober wollte sie nämlich alleine einschalten, weil er nur einen Teil des Programms nutzte. Dann habe ich den Besuch des Fachmannes auch verstanden, der die Maschine mehrmals reparieren sollte. Es war um den Wasserverbrauch gegangen. Auch wurde die bunte mit der weißen Wäsche zusammen gewaschen, so wusste ich, warum mir die weiße Wäsche beim Bügeln manchmal so „sauber“ vorkam. Es war gut, dass ich das heikle Thema so gelassen mit Schweigen umgehen konnte, wie auch andere Situationen, in denen sich der Pater das Leben selber schwer machte. Ich war davon überzeugt, dass sich mit der Zeit jedes Problem von alleine und dank meiner Geduld lösen würde. Ich wollte nämlich keine unnötigen Gespräche über selbstverständliche, simple Dinge führen. Das lag mir damals wie auch heute nicht *** Zwischen meiner Wohnung im zweiten Stock und dem Erdgeschoß gab es keine telefonische Verbindung. Es hing zwar ein Apparat an der Wand, aber er war kaputt. Ich habe auch deswegen auf einen Telefonanschluss verzichtet, damit Pater Ober sicher sein konnte, dass ich abends mit niemandem über ihn sprach, und das war für mich wichtig. Falls ich Pater Ober sprechen wollte oder musste, ging ich runter, und wenn er in der Praxis nicht zu finden war, traute ich mich jetzt in seine Wohnung zu gehen. Die Tür stand ja immer offen. An einem Nachmittag wollte ich Pater Ober sprechen, aber er war nicht in seiner Küche. Vor seiner Garderobe standen seine Schuhe, also musste er zu Hause sein! Ich blieb in dem großen Korridor vor der Küche stehen und rief nach ihm: „Pater Ober! Wo sind Sie?“ Ich bekam keine Antwort. Dann rief ich nochmal, aber er meldete sich nicht. Ich habe mich dazu entschlossen, nach ihm zu suchen, und ging durch den Hof in seine Werkstatt. Hier war Pater Ober auch nicht zu finden, also kam ich in die Wohnung zurück und rief nochmal nach ihm. Da ich wieder keine Antwort bekam, ging ich ins Subparterre. Der erste Raum rechts war seine Hauskapelle. Ich sah hinein und bemerkte, dass Pater Ober zusammengeschrumpft auf einem Stuhl vor dem Jesuskreuz saß! Er sah wie ein Häufchen Elend aus, und in diesem Moment tat er mir wahnsinnig leid. Er litt. Er merkte nicht mal, dass ich vor ihm stand, so tief war er in sich gekehrt. Ich berührte seinen tief gesunkenen Kopf behutsam und nach einer Weile hob er ihn langsam und schaute mich mit einem verschleierten Blick an. Er sah mich gar nicht! Er war immer noch weg. Ich konnte nicht anders, ich griff unter seine Arme, hob ihn langsam nach oben und nahm ihn in meine Arme. Pater Ober wehrte sich nicht und ließ sich langsam nach oben in seine Küche führen. Ich setzte ihn auf die Bank und obwohl er immer noch nicht ganz „da“ war, verließ ich ihn. In meinem Kopf liefen folgende Gedanken ab: „Zu sich muss er alleine kommen, er würde mir sowieso nicht sagen wollen, worunter er so leidet.“ Es ist auch kein einziges Wort zwischen uns gefallen. Das Erlebte hat mich tief bewegt und noch einige Zeit beschäftigt. In diesem seltsamen Zustand habe ich Pater Ober noch mehrmals in der Kapelle vorgefunden. Er ließ sich jedes Mal nach oben führen. Ich habe ihn nie darauf angesprochen. Die „Sitzungen“ vor dem Kreuz Jesu ließen mir aber keine Ruhe und eines Tages fragte ich vorsichtig, ob er mir nicht doch sagen wollte, worunter er so litt, aber ich bekam keine Antwort *** Jeden Sonntag hat Pater Ober zehn Minuten nach 07:00 Uhr in der Früh eine kurze Messe in seiner Hauskapelle gehalten. Er machte während dieser und der Lesung aus der Bibel ein sehr ernstes Gesicht. Nach dem Frühstück, das jeder in der eigenen Küche einnahm, machten wir einen obligatorischen gemeinsamen Spaziergang die Prien entlang. Der Weg führte uns bis zu einer kleinen Brücke im Wald, an der wir schweigend stehen blieben, jeder in eigene Gedanken versunken. Einmal fing ich an, die Selbstlaute A, E, I, O, U zu singen, wie es die Chinesen auch tun, und Pater Ober machte gleich mit. Das A ist für die Hände und Füße, das E für den Hals, das I für das Gehirn, die Augen und Ohren, das O für das Herz und U für den Unterleib. Das Vibrieren des gesungenen Lautes bewirkt eine innere Massage der Stelle, für die der Selbstlaut steht. Auf dem Rückweg schwiegen wir weiter. Wir nahmen keine Rücksicht auf das Wetter und später auf die Jahreszeit. Sogar im dichten Nebel sind wir mutig weitergegangen. Pater Ober. Die Brücke im Wald, Sommer 2006

Jedes Mal nach dem Spaziergang sagte Pater Ober immer, wenn wir uns dem Haus näherten: „Jetzt haben wir etwas für die Gesundheit gemacht“, und unsere Wege trennten sich. Er ging von der Praxisseite in das Haus und hörte das Band mit Hilferufen in seiner Praxis ab, ich kam von der privaten Seite des großen Anwesens, von der Blumenstraße, ins Haus. Auf dem Fensterbrett vor der Treppe, die zu mir nach oben führte, habe ich jeden Sonntag ein kleines Stück Fleisch vorgefunden, das in Vakuum verpackt war. In dieser Form gab mir Pater Ober anfangs zu verstehen, dass er sich zum Mittagessen Fleisch wünschte. Dann fragte er mich unsicher, ob wir immer „durch das Fensterbrett“ kommunizieren würden. Ab diesem Zeitpunkt bin ich jeden Tag um halb sieben heruntergekommen, um nach ihm zu sehen und eventuell kurz das Wichtigste zu besprechen. Der Spaziergang am Sonntag war für mich immer ein besonderes Erlebnis. Die Bewegung an der frischen Luft mit Pater Ober an der Seite stimmte mich jedes Mal fröhlich, weil ich in meinem Leben nie Zeit für Spaziergänge gehabt hatte, und so weite Strecken war ich auch nicht gewöhnt. Ich fühlte mich dabei frei, ich konnte singen, obwohl wir kein Wort wechselten. An der Prien standen viele Bänke. An den warmen Tagen im Sommer 2005 hat sich Pater Ober auf unserem Rückweg nach dem Spaziergang immer auf eine Bank gesetzt. Das war immer dieselbe Bank. Er bückte sich, stützte die Ellbogen auf die Knie, nahm dabei seinen Kopf in beide Hände und weg war er! Eines Tages konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und fragte ihn: „Bitte sag mir doch, was dich so bedrückt!“ Das war das erste Mal, dass ich Pater Ober geduzt hatte, und er antwortete ganz leise: „Das kann ich dir nicht sagen.“ Er stand auf und wir gingen schweigend nach Hause. Sein Kopf war ja voller Gedanken und ich vermutete, dass alles, was ihm durch den Kopf ging, mit der Vergangenheit zu tun hatte. An einem Tag erinnerte ich mich während des Spaziergangs an Worte, die er in den ersten Tagen meiner Anwesenheit in seinem Haus ausgesprochen hatte. Es war ein unerwartetes Bekenntnis gewesen: „Ich habe in meinem Leben viel falsch gemacht.“ Er hatte damals nichts mehr gesagt und jetzt dachte ich, dass er damals irgendwelche Fragen von mir erwartet hatte, aber ich war so überrascht und sprachlos gewesen, dass ich kein Wort hatte aussprechen können. Und Fragen an ihn zu stellen, das war für mich damals noch unmöglich gewesen! Also hatte ich geschwiegen, was er vielleicht als Desinteresse empfunden hatte. Und jetzt gingen mir die Gedanken von damals durch den Kopf. Ich sah das Bild vor meinem geistigen Auge, wie er die Treppe vom Haus in den Hof hinunterging und dieses Bekenntnis aussprach. Ich hatte mich damals nur gefragt, was er als Priester falsch gemacht haben könnte? *** An den sehr warmen Sommertagen habe ich die Behandlung des Paters nach dem Mittagessen auf seiner Hollywoodschaukel auf der Terrasse durchgeführt. Um diese Zeit ist der Postbote mit dem Auto an dem kleinen Tor stehen geblieben und ich nahm die Post entgegen, während Pater Ober noch schlief. Nach der Behandlung hat er sich die Post angeschaut und die private Korrespondenz auf die Seite des Tischleins gelegt, um sie später mitzunehmen. Den Rest konnte ich dann in den Papierkorb werfen. Bevor ich das tat, sah ich mir die Briefe aber nochmal an. Eines Tages war ein Brief von einem Hilfswerk in Aachen dabei, den ich auch wegwerfen sollte. Der Geschäftsführer, Herr Waskowiak, schrieb unter anderem wörtlich: „Mit Ihren großzügigen Spenden tragen Sie bis heute viele der Projekte, die unsere Partner in Afrika, Asien und Lateinamerika verwirklichen können!“ Dieses Dankschreiben habe ich aber nicht weggeworfen, ich habe es gut aufgehoben, obwohl ich damals gar nicht wusste, warum ich es tat. Während der extrem heißen Tage im Sommer 2005 haben wir das Mittagsessen auch nicht in meiner Wohnung oben eingenommen. Ich trug es in Thermoschüsselchen in den Lichttherapieraum hinunter, wo ich nach dem Essen auch Pater Ober behandeln konnte. Hier war es angenehm kühl und hier konnten wir uns auch kurz erholen und abkühlen. In der Ecke des Lichttherapieraumes befand sich ein buntes Fenster zu Therapiezwecken. Es war ein Kunstwerk aus Eisen und bunten Scheibchen, das nach den Vorstellungen von Pater Ober in Spanien angefertigt worden war. Es bestand aus verschiedenen, wunderschönen Motiven, und wie sich Pater Ober selbst ausdrückte, hatte das einst genau so viel gekostet wie ein Auto

Das große und schöne Anwesen von Pater Ober konnte man von der Straße aus gar nicht sehen, weil unmittelbar hinter dem niedrigen Zaun große Bäume wuchsen, die den Blick in das Besitztum unmöglich machten. Dann gab es den Garten um das Anwesen herum, in dem ich die meiste Zeit bei der Arbeit mit Pater Ober verbrachte. Das große Anwesen wirkte auf mich wie eine Festung, es schenkte mir Geborgenheit und Sicherheit. Hier habe ich meine zweite Heimat gefunden und somit kam es mir wie ein Geschenk vor. Im Garten, fast am Zaun an der Blumenstraße, stand ein kleines Gartenhaus, das man von der Straße her auch nicht sehen konnte. Als es Pater Ober nach Monaten wieder besser ging und er gesprächiger wurde, führte er mich eines Tages hinein. Im Vorraum standen verschiedene Gartenmöbel, und eine Betontreppe führte uns nach unten. Dort blieb Pater Ober vor einer großen, eisernen Tür stehen und sagte: „Die Türe konnte man von innen hermetisch schließen, es ist ein Atombunker.“ Er öffnete und führte mich hinein. Der Schimmelgeruch in der Luft nahm mir gleich den Atem. Ich war davon überwältigt und sagte spontan: „Wie konnte man auf die Idee kommen, so einen Bunker überhaupt zu bauen? Das war doch eine Schnapsidee! Die Menschen hätten zwar den Atomkrieg überlebt, aber was dann? Sie hätten doch nachher nichts Essbares gefunden!“ Pater Ober gab mir recht und ich war froh, dass er sich durch meine spontane Äußerung nicht beleidigt fühlte. Der kleine Raum war mit Stockbetten aus Holz ausgestattet, auf jedem Bett lagen eine Matratze und zwei Decken. Der Raum war für fünfundzwanzig Personen vorgesehen und alle, die hier Schutz finden sollten, waren schon vor Jahren bestimmt worden. Hier war auch Platz für die Nahrungsmittel, die für alle Personen für einundzwanzig Tage reichen sollten. Hier stand auch ein Gerät, das die Luft von außen nach innen führte und reinigen sollte. Ein kräftiger Mann für die Säuberung der frischen Luft war damals auch schon bestimmt worden. Der kleine Raum voller Schimmelluft hatte mich verängstigt, ich wollte so schnell wie möglich hinaus. Der Pater erzählte, dass es in den Fünfzigerjahren schon so weit war, dass die Welt vor einem Atomkrieg stand. Er hat an alles gedacht und den Aschauern gezeigt, was er alles auf die Beine stellen konnte *** Obwohl es Pater Ober schon wieder besser ging und er auch zufriedener wurde, wirkte er immer noch nachdenklich, machte kleine Bemerkungen und wurde wieder ganz still. An seinem Benehmen konnte ich erkennen, dass er mit seinen Gedanken in der Vergangenheit schwelgte und mit den alten, schmerzhaften Erlebnissen immer noch nicht abgeschlossen hatte. Eines Tages, wieder mal bei der Arbeit im Garten und ganz überraschend für mich, ließ Pater Ober seinen Erinnerungen freien Lauf und sagte ganz leise: „Ich habe sie geliebt und sie liebte mich auch. Ich wollte mich mit ihr versöhnen, ich habe neun Briefe an sie geschrieben, aber ich bekam keine Antwort. Es war mein Fehler, dass ich sie nicht geheiratet habe.“ Das waren ganz gut überlegte Worte! Sie haben mich tief bewegt, obwohl ich nicht wusste, wer die Frau war und wie ich ihn trösten sollte. Ich habe keine Worte gefunden. Eines war aber klar: Pater Ober hatte endlich das ausgesprochen, was ihm schon seit Jahren auf dem Herzen lag und ihn immer noch quälte. Das war schon einmal gut! Das war das erste Mal, dass Pater Ober so viel auf einmal über seine Gefühle sprach, und ich war dermaßen überrascht, dass ich keine tröstenden Worte fand, oder wollte ich ihn intuitiv gar nicht trösten? Ich wusste ja nicht, wie groß seine Schuld an der Katastrophe war, unter der er dann doch so leiden musste. Dass er unter der Trennung litt, war ja klar ersichtlich, wenn ihm das Problem von damals in seinem hohen Alter noch so stark zu schaffen machte. Dass er eine Schuld daran hatte, war ihm aber bewusst, sonst hätte er es nicht durch das Bekenntnis aussprechen und loshaben wollen. Das war ein Nachmittag voller Emotionen für uns beide, obwohl es jeder von uns anders empfinden musste. Dieses Erlebnis war wieder etwas, was mich lange beschäftigte. Schließlich wurde mir bewusst, dass Pater Ober durch die strenge Erziehung von zu Hause und die Prägung der katholischen Kirche ein zerrissener Mensch war. Sein Leben musste voller Kampf, Entbehrungen und vor allem Armut und viel Arbeit gewesen sein und das aus dem jungen Priester gemacht haben, was er heute war: Ein verbitterter, einsamer Mann! Pater Ober ist mit sich so wie auch ich mit mir karg umgegangen. Das war die Wirkung der Umstände, die man hatte durchmachen und auch aushalten müssen. Er hat von diesem Zeitpunkt an nie wieder über das Vergangene gesprochen *** Der Sommer 2005 war mit sehr viel Arbeit im Garten verbunden. Wir haben die ganze Erde für den Gemüsegarten umgegraben und dann gesiebt. Pater Ober hat zwischendurch alle Äste von den zahlreichen Obstbäumen abgeschnitten. Ich habe sie mithilfe der Häckselmaschine zerkleinert und mit der Karre auf den Kompost gefahren. Das Wetter hat mitgespielt, es gab kaum Regen und alles lief nach Plan und zur Zufriedenheit des Paters. Es war immer sehr viel zu tun und die Ergebnisse unserer Bemühungen ließen Pater Ober strahlen. Die Bitterkeit aus seinem Gesicht war am Schluss endlich verschwunden! Das Gießen an jedem Abend war sehr anstrengend, weil es keinen Schlauch gab. Wir mussten das Wasser aus den beiden Wassertonnen nehmen. Für den Gemüsegarten alleine brauchten wir an jedem Abend dreißig Zehnliterkannen, außerdem noch gute zehn Kannen für alle Blumenrabatten um das Haus herum. An den Abenden nach getaner Arbeit haben wir gemeinsam gegossen, aber in der Früh bin ich an den sehr heißen und trockenen Tagen um 07:00 Uhr alleine in den Garten gegangen, um die Pflanzen vor der Sonne zu retten. Pater Ober durfte mich um diese Zeit nicht im Garten erwischen, er befürchtete immer, dass das Wasser aus den beiden Wassertonnen nicht für die ganze trockene Sommerperiode reichen könnte. Zum Glück war er um diese Zeit schon in der Praxis und konnte mich im Garten nicht sehen. Ich dachte aber an unsere schwere Arbeit, ich hätte es nicht ertragen, wenn unsere Mühe umsonst gewesen wäre. Ich musste vorbeugen! Eines Tages während der Arbeit im Garten sagte Pater Ober zu mir gut gelaunt: „Ich lerne Spanisch!“, und wartete auf meine Reaktion. Die kam auch gleich: „Ach ja? Wann denn? Der Herr hat doch für sich selber keine Zeit!“ „Doch“, sagte Pater Ober ruhig, „ich nehme mir die Zeit am Samstag, wenn ich zwei Stunden in der Badewanne sitze.“ Ich wurde sofort hellhörig, sagte darauf aber kein Wort. Eine Vermutung kam in mir hoch. Wir arbeiteten schweigend bis 18:00 Uhr weiter und ich wartete das Wochenende ab. Als wir am Samstag mit der Gartenarbeit fertig waren und unsere Wege sich trennten, sagte ich natürlich kein Wort über das, was ich vorhatte. Ich habe 20:00 Uhr abgewartet und wagte dann, in seine privaten Räume nach oben zu gehen. Die Tür zum kleinen Vorzimmer war nur angelehnt, ich kam langsam hinein, da hörte ich schon eine fremde Sprache. Das Badezimmer hatte keine Tür, es hing da nur ein dicker, schwerer Vorhang aus Stoff. Ich schob ihn zur Seite und was sah ich da? Genau das, was ich vermutet hatte! Pater Ober schlief in der Badewanne, während sich die Stimme in spanischer Sprache vom laufenden Band im Badezimmer ausbreitete. Das Bild regte mich auf. Ich kam näher und griff ins Wasser. Es war kalt! „So ein Blödsinn!“, kam automatisch aus meinem Mund. In diesem Moment machte Pater Ober seine Augen auf und schaute mich an. Dabei hatte ich das Gefühl, dass er gar nicht über meine Anwesenheit überrascht wirkte! Ich war so sauer, dass ich nur wenige Worte aussprechen konnte: „Du machst das nie wieder! Hörst du? Nie wieder, sonst verlasse ich dein Haus! Kein Wunder, dass du immer noch hustest!“ Mit diesen Worten habe ich das Badezimmer und seine Wohnung verlassen. Wir sind auf die spanische Sprache und meinen Besuch am Samstag nie wieder zu sprechen gekommen und ich merkte, dass sich Pater Ober an mein Verbot hielt, weil kurz danach sein Reizhusten, wie er ihn nannte, verschwand *** Die große Gartenmaschine hatte ihren festen Platz unter dem Dach an der Nordseite des Schwimmbades. Man musste sie für die Arbeit in den Garten fahren und auf eine Gummiunterlage stellen. Dann stand sie im Garten an der Südseite des Schwimmbades genau dem Schwimmbad gegenüber und nach getaner Arbeit musste man sie an ihren Platz zurückfahren, obwohl es tagelang keinen Regen gab und sie so schwer war. Die Ordnung war ja wichtig. Ich habe Pater Ober diese Aufgabe von Anfang an abgenommen und bediente die Maschine auch alleine. Pater Ober schaute staunend zu, wie schnell ich sie und die Arbeit mit ihr in den Griff bekommen hatte. Er ließ es zu, weil er immer noch schwach war, und mir ging es um seine Genesung, die nach dem Verschwinden des Reizhustens doch sichtbare Fortschritte machte. Pater Ober hatte sowieso zu viel mit der verschleppten „Erkältung“ gearbeitet und die Arbeit im Garten nicht alleine bewältigen können, das erkannte ich an den verwahrlosten Gärten im April. Und jetzt hatten wir Ende August. Das war der Monat im Jahr, an dem die Praxis „wegen Urlaubs“ geschlossen war. Ich glaube nicht, dass irgendein Patient wusste, dass Pater Ober gar keinen Urlaub machte! Das war der schwierigste Arbeitsmonat im Jahr, für ihn und für mich. Wir haben jeden Tag von 09:00 bis 18:00 Uhr pausenlos im Garten gearbeitet. Pater Ober gab mir nur dreißig Minuten für die Vorbereitung des Mittagessens. Während ich um halb zwölf nach oben eilte, kam Pater Ober schon nach dreißig Minuten nach, also musste ich fertig sein. Ich habe oft schon um 06:00 Uhr in der Früh alles geschnitten und einen Teil des Mittagessens vorbereitet und im Kühlschrank aufbewahrt, damit ich mittags in den dreißig Minuten fertig sein konnte. Dann folgte seine Behandlung, die immer noch aktuell war. Danach gingen wir gleich in den Garten zurück. Samstags lief alles genauso weiter, und am Sonntag, obwohl wir müde waren, musste der Spaziergang in den Wald doch immer stattfinden. Danach ging Pater Ober wegen der Hilferufe und Rezepte in die Praxis, während ich mich um das Mittagessen kümmerte. Am Montag hatte Pater Ober ab September wieder Spätdienst. Das war der einzige Tag in der Woche, an dem ich „frei“ hatte, das heißt, nicht im Garten arbeitete. Es gab aber immer was zu tun, zum Beispiel etwas zu reparieren oder zu nähen. Eines Tages, als wir beide bei der Gartenmaschine standen und arbeiteten, kam unerwartet eine bildschöne Frau von der Hofseite her in den Garten. Sie trug in beiden Händen ein großes, langes Paket, das in ein Tuch eingewickelt war, legte es auf den Steinboden vor der Schiebetür zum Schwimmbad und verließ schnell den Garten. Pater Ober reagierte nicht, obwohl er sie bemerkte und wir arbeiteten weiter … Nach der Arbeit, bevor wir zum Mittagessen gingen, nahm er das Paket in die Hände und wickelte es aus, um mir den Inhalt zu zeigen. Es war ein riesiger, dicker Fisch, der wenigstens 50 Zentimeter groß war! Dabei strahlte sein Gesicht zufrieden … Später erfuhr ich, dass es die Frau des Baumeisters seines Anwesens war, der nach jedem Angeln ihn mit so einem großen Fisch beschenkte! Also kannte er die Frau und schaltete nicht einmal die lärmende Häckselmaschine aus, um die Frau zu begrüßen oder sich bei ihr zu bedanken. Die Arbeit ging ja immer vor … *** Für die Katzen, die in der Nacht regelmäßig die Gemüserabatten beschädigten, baute Pater Ober einen riesigen, raffinierten Käfig. Wenn eine in der Nacht durch den Duft des Futters angelockt wurde und hineinging, fiel die Klappe hinter ihr gleich zu und sie blieb eingeschlossen. Die Katze blieb dann die ganze Nacht bis in der Früh eingesperrt und jammerte laut. Nach so einer Erfahrung ist diese Katze nicht mehr in den Garten gekommen. Der Käfig erfüllte also seinen Zweck. Ich konnte die Konstruktion der Klappe nicht nachvollziehen und Pater Ober lachte zufrieden, weil sie angeblich seine eigene Erfindung war. In einer Nacht hatte sich eine große, schöne, edle Katze in den Käfig verlaufen. Sie hat die ganze Nacht sehr laut und angsterfüllt geweint und gejammert. Die Besitzerin hat sie in der Früh am Schreien erkannt und in Pater Obers Garten vorgefunden. Sie stieg durch den niedrigen Zaun in der Ecke des Gartens, befreite ihre Katze und wartete mit ihr auf dem Arm auf Pater Ober. Die Frau war furchtbar aufgeregt, schrie ihn dann an und drohte mit einer Anzeige. Ich befand mich in der Nähe und beobachtete jetzt das Bild vor mir. Pater Ober blieb ganz ruhig am Zaun stehen und hörte sich das Geschrei an. Als die Frau ihre ganze Wut herausgelassen hatte, sagte Pater Ober ruhig, langsam und ganz gelassen: „Was hatte ihre Katze denn in meinem Garten zu suchen? Der Käfig ist doch nicht für Katzen gedacht.“ Die Stimme des Paters klang unschuldig und wie eine Melodie. Ich musste mir ein Lächeln verkneifen *** Einmal ist während der Arbeit im Garten vor dem kleinen Tor in der Blumenstraße ein Auto stehen geblieben. Pater Ober war gerade mit der elektrischen Handsäge beschäftigt und ich reichte ihm die langen, dicken Äste, die er selber von den Bäumen abgeschnitten hatte. Als er das Auto erblickte und sah, dass eine Frau ausstieg und in den Garten kommen wollte, schaltete er den Strom aus und legte die Säge an der Seite nieder. Er ging zum Tor und sprach mit ihr. Nach einer kurzen Weile kam er zurück, nahm wieder die Säge in die Hand und wir arbeiteten weiter. Da mich die Frau nichts anging, stellte ich auch keine Fragen. Nach einer Weile sagte Pater Ober zu mir: „Das war eine Lehrerin aus Spanien.“ „Was? Und der Herr hat sie nicht mal ins Haus eingeladen?“ Pater Ober schwieg wieder eine Weile, dann arbeitete er weiter und sagte danach: „Du hast recht, ich hätte sie ins Haus bitten sollen. Wenn sie schon so eine lange Reise auf sich genommen hat.“ *** Obwohl wir beide nach der Arbeit im Garten am Abend müde waren, wollte Pater Ober wenigstens zweimal pro Woche spazieren gehen. Er begrenzte aber unsere Wege, indem wir nur in der näheren Umgebung gingen. Einmal führte unser Weg an der orthopädischen Kinderklinik vorbei und Pater Ober fing zu erzählen an: „Als die Klinik fertig gebaut worden war, bin ich am Tag der Eröffnung hierhergekommen, um zu hören, was der Oberarzt zu sagen hatte. Alles was er sagte und vorhatte, hat mir sehr gefallen, deswegen habe ich ihm 25.000 DM gespendet.“ Ich hörte schweigend zu und Pater Ober sagte weiter: „Mutter Theresa hat auch Geld von mir für die Ärmsten der Armen bekommen. Sie hat ihr Leben den Obdachlosen und den Ärmsten der Armen in Indien geopfert. Deswegen schenkte ich ihr 50.000 DM. Nach einem halben Jahr bekam ich ein Dankschreiben von ihr, aber sie bedankte sich nur für 5000 DM. Ich habe sofort moniert und sie hat dann die volle Summe ausbezahlt bekommen.“ Pater Ober war in guter Stimmung und erzählte weiter: „Ich habe in Spanien eine Plantage mit Aloe-Kakteen angebaut und auch eine Ambulanz aufgebaut. Als ich dann nach Aschau zurückwollte, habe ich das Haus dem Bischof geschenkt. Er wusste nicht, wo er die Nonnen unterbringen sollte, da kam ich mit meinem Geschenk gerade richtig.“ Es war ein entspannter, angenehmer Abend. Ein andermal erzählte mir Pater Ober, dass sein Ordensbruder in Salzburg wohnte und dass er mit ihm mit dem Zug jedes Jahr nach Brüssel fuhr. Dort hat einmal im Jahr eine Ordensversammlung stattgefunden und die Brüder kamen dann aus allen Richtungen der Welt nach Brüssel. Der Bruder aus Salzburg war in Korea tätig. Er ist dann aus dem Orden SAM ausgetreten und heiratete eine Koreanerin. Seitdem lebten die beiden in Salzburg und der Bruder war erkrankt. „Dem Bruder konnte ich nicht mehr helfen, weil er sich zu spät bei mir meldete. Er ist seit Jahren bettlägerig. Seine Frau, die Koreanerin, kommt jedes Jahr nach Aschau und behandelt meine Patienten. Sie wendet Akupunktur an und ist bei den Patienten sehr beliebt. Mich behandelt sie natürlich umsonst.“ Pater Ober überraschte mich mit der Behauptung, dass auch er in China die Akupunktur gelernt hatte, und zeigte mir am Abend das Zeugnis. Pater Obers Zeugnis von der abgeschlossenen Akupunkturausbildung

Kurz danach kündigte mir Pater Ober den Besuch der Koreanerin an. Er erzählte mir ganz aufgeregt, dass er schon die ganze Küche sauber gemacht und die ganze Marmorplatte abgescheuert hatte. „Sie wird etwas Exotisches kochen“, sagte er voller Freude und Erwartung. Am Tag ihrer Ankunft hat Pater Ober die Koreanerin in Empfang genommen und sich um sie gekümmert. Ich war an diesem Tag alleine im Garten beschäftigt und am Abend, nachdem ich den ganzen Garten mit Wasser versorgt hatte, wollte ich in meine Wohnung gehen, aber die Eingangstür ins Haus war schon verschlossen. Ich fragte mich, wie ich nun hineinkommen sollte, aber da fiel mir der Lichttherapieraum ein. Als ich die große, schwere Schiebetür, die in den Lichttherapieraum führte, auf die Seite schob, sah ich Pater Ober und die Koreanerin auf den beiden Therapieliegen ruhen. Die Liegen standen sich im Abstand von fünf, sechs Metern gegenüber. Die Koreanerin war in ein knallrotes Gewand gekleidet, das mit großen, weißen und kleinen, schwarzen Blumen gemustert war und ihre Füße bedeckte. Während sie so dalag, bewunderte Pater Ober das exotische Bild. Ich kam hinein, bat um Verzeihung und sagte, dass ich nicht ins Haus kommen konnte, die Türe sei schon abgeschlossen. In diesem Moment hob die Koreanerin ihren Kopf und auf ihrem runden, flachen und blassen Gesicht zeichnete sich ein unglaubliches Staunen ab. Pater Ober stand auf, führte mich durch seine Wohnung in das Treppenhaus, öffnete die Ausgangstür, zeigte mir das Versteck vom Hausschlüssel und ging in den Lichttherapieraum zurück, während ich die Treppe zu meiner Wohnung nach oben stieg und vor meinen Augen das Gesicht der Koreanerin sah. Ihre Reaktion auf meine Anwesenheit im Haus gab mir zu denken und ich bekam einen Verdacht. Am nächsten Tag kam Pater Ober zu mir nach oben, obwohl er sich nicht zum Mittagessen angekündigt hatte. Es war aber genug zu essen da, ich teilte es gleich auf die Teller aus und stellte auch keine Fragen, während Pater Ober schwieg und sichtbar auf eine Frage wartete. Es kam aber keine. Nach der Behandlung, die immer obligatorisch nach dem Essen folgte, haben wir uns wie immer ab 14:00 Uhr im Garten getroffen. Pater Ober war die ganze Zeit mit eigenen Gedanken beschäftigt und guckte mich ab und zu erwartungsvoll und unsicher an. Die befürchteten Fragen kamen aber nicht. Nach sehr langer Zeit sagte Pater Ober dann zu mir: „Die Koreanerin hat gestern am Abend einen Brechdurchfall bekommen und ist heute in der Früh abgereist.“ Ich wagte kein Wort auszusprechen, ich wollte meinen Verdacht nicht ausdrücken, ich wusste genau, warum sie das Haus so plötzlich verlassen hatte „Der arme Pater!“, ging es mir durch den Kopf. „Lange konnte er sich nicht an dem exotischen Essen erfreuen.“ Ahnte er überhaupt, was sie vorhatte und welche Hoffnungen sie sich gemacht haben könnte? Nach ihrem kurzen Besuch ist einige Zeit vergangen. Pater Ober erwähnte die Koreanerin nicht mehr, bis sie eines Tages wieder da war. Ihr Mann, der Ordensbruder des Paters, war verstorben und beigesetzt worden. Diesmal ist die Koreanerin auch nicht lange im Haus geblieben, sie ist am nächsten Tag in der Früh abgereist. Bei der Arbeit im Garten sagte Pater Ober nach langem Schweigen mit verärgerter Stimme: „Soll sie doch nach Korea zurückgehen! Einen guten Beruf hatte sie doch!“ „Ach, ja“, dachte ich, „ich habe mich doch nicht geirrt, sie hatte sich Hoffnungen auf den Pater gemacht. Und gestritten haben sie auch, sonst wäre Pater Ober nicht so verärgert.“ Ich arbeitete schweigend weiter, weil mich die ganze Sache im Grunde genommen nichts anging *** Ich war schon lange genug im Haus, aber Pater Ober traute sich immer noch nicht, seine Wünsche zu äußern. So kam er eines Samstags um 09:00 Uhr in der Früh in den Garten und fragte mich: „Kannst du mir helfen? Die Frau meines Bruders hat beim Fensterputzen in meinem Schlafzimmer die Tür aus der Angel gebracht und jetzt müsste man die Türe zurücksetzen.“ „Ja, natürlich helfe ich.“ Er führte mich gleich in seine privaten Räume nach oben. Das Zimmer war klein. Hier standen nur das Bett, ein Nachtkasten und in der Ecke an der Balkontür ein großer, geflochtener Korb. An der Wand gegenüber dem Bett hingen fünf Ikonen und über seinem Bett zwei große Engel. Das Bett stand mit dem Kopfteil in der Ecke. Als ich die Spalte zwischen der Wand und dem Kopfteil des Bettes sah, wusste ich sofort, warum er mich mit diesem Trick ins Zimmer gelockt hatte. Die Spalte war mit Spinnweben verstopft, also war das Zimmer jahrelang nicht gründlich gesäubert worden, und jetzt wünschte sich Pater Ober, dass ich das Zimmer sauber machte. „Der Arme“, dachte ich wieder. „Er kann nicht anders!“ Dann schaute ich mir die riesige Balkontür an und dachte, dass es doch unmöglich war, dass eine Frau die Türe aus der Angel hob – wozu auch! Ich sagte aber nichts, ich habe mir wieder ein Lächeln verkneifen müssen. Die Balkontür war dermaßen schwer, dass wir sie zu zweit nur mit der größten Anstrengung zurückheben konnten. Ich konnte seinen Trick nicht nachvollziehen! Kaum saß die Balkontür in der Angel, verschwand der Pater aus dem Zimmer! Er wusste ganz genau, dass ich mich sofort an die Arbeit machen würde. Es war mir klar, dass Pater Ober für das Saubermachen in seinen privaten Räumen keine Zeit hatte, für ihn standen die Patienten und die Gartenarbeit im Vordergrund. Eine Haushaltshilfe hatte sich Pater Ober auch nicht genommen, dafür war ihm das Geld zu kostbar. Dementsprechend sah auch das Schlafzimmer aus – als wäre Pater Ober ein armer Kerl gewesen. „So prägt einen Menschen die erlebte Armut“, dachte ich weiter und rannte in seine Küche, um Lappen, Staubsauger und den Klopfer für die Matratzen zu holen. Auf dem Nachtkasten stand eine Uhr. Die war auf halb sechs in der Früh gestellt. Ich dachte sofort wieder an die Zeitverschiebung im Sommer: „Das heißt doch, dass Pater Ober jeden Tag, auch an Feiertagen, um halb fünf aufgestanden ist!“ Was für eine Disziplin musste man durch die Ereignisse des Lebens eingeprägt bekommen haben, um auch noch im hohen Alter so zu funktionieren! Niemand drängte ihn dazu, nötig hatte er es auch nicht in seinem Alter, und während ich darüber empört war, fing ich meine Arbeit mit dem Bett an. Die Bettwäsche nahm ich weg und legte sie vorläufig in das kleine Vorzimmer, das ganze Bettzeug schleppte ich auf den Balkon zum Lüften. Die teure, dicke Matratze war so schwer wie Eisen. Es gab auch eine Bettunterlage, die mit Hafer gefüllt war. Die schien sehr alt zu sein, weil das Material, das man Inlett nennt, viele kleine Löcher aufwies. Der Hafer war im ganzen Bett verstreut. Ich wusste gleich, welches Weihnachtgeschenk Pater Ober von mir bekommen würde. Alle Wände in diesem kleinen Zimmer waren mit Holz verkleidet und nachdem ich auch sie abgesaugt und das Bett saubergemacht hatte, machte ich mich an das Ausklopfen der Matratze. Das war eine schwere Aufgabe und während ich mich damit lange auf dem Balkon aufhielt, lachte mich Pater Ober an, der unter dem Balkon den Rasen mähte. Da das Bett nicht richtig im Zimmer stand, stellte ich es mit dem Kopfteil in die Mitte so, wie es stehen sollte. Nachdem ich noch den dicken Teppich abgesaugt und das Bettzeug frisch überzogen hatte, stand Pater Ober plötzlich in der Tür und grinste mich an. Sein Gesicht strahlte und als Dankeschön hörte ich folgende Worte: „Du hast dir so viel Mühe gegeben! Das wäre doch nicht nötig gewesen!“ Mir hat es die Sprache verschlagen. „Er weiß gar nicht, was für ein armer Kerl er ist!“, ging es mir durch den Kopf. Ab diesem Zeitpunkt traute ich mich, alleine in seine privaten Räume zu kommen, um nach dem Rechten zu sehen, und nach jeder Tätigkeit hörte ich, dass es doch nicht nötig gewesen wäre. Aber zufrieden gegrinst hat er dabei schon. Das war sein Dankeschön. Am Montag hat Pater Ober immer seine privaten Angelegenheiten in Aschau, Prien oder Rosenheim erledigt, und ich nutzte diese Stunden, um die Steinböden im ganzen Erdgeschoß sauber zu machen. Es waren gute 140 Quadratmeter. Dafür habe ich viel Wasser gebraucht, und es war besser, dass er die Menge nicht sah. Das unnötige Sparen ging mir auf den Keks, das gebe ich zu. Dass Pater Ober mit mir zufrieden war, sagte mir jedes Mal sein strahlendes Gesicht, und das war für mich Bezahlung genug, ich wollte ja nichts von ihm. Ich freute mich, dass es ihm immer besser ging und diese Tatsache war auch das, was ich hatte erreichen wollen. Wir beide waren auf dem richtigen Weg dahin. Das Geben und Nehmen hat funktioniert. Ende Sommer 2005 endeten auch Pater Obers Herzrhythmusstörungen, was ich nicht für möglich gehalten hatte. Ich empfand diese Heilung wie ein Wunder. Ich habe doch das Herz nur mit bloßer Hand durch Handauflegen geheilt. Es hat aber volle drei Monate gedauert. In den ersten Wochen und Monaten, in denen Pater Ober auf dem Wege der Genesung war, kam er oft ganz erschöpft nach oben zum Mittagessen. Er beklagte sich oft über die Patienten, die ihn am Telefon zu lange aufgehalten hatten. „Ich kenne doch meine Patienten wie meine eigene Tasche“, sagte er immer wieder, und obwohl ihn die Klagen am Telefon kaputt machten, hörte er geduldig zu und unterbrach den Wortschwall nicht. Ich habe Pater Ober vollkommen verstanden, ich spürte, wie er sich überfordert fühlte, und deswegen stand ich ihm bei, wo ich nur konnte, und half in jeder Situation, bei jedem Bedarf. Wir haben gelernt, uns gegenseitig zu schätzen und zu achten, das erzeugte Vertrauen und die Harmonie stellten uns beide zufrieden. Wir brauchten nicht viele Worte, um uns zu verstehen. Wir spürten, was jedem guttat, was jeder brauchte und in welche Richtung unsere Bemühungen gingen, um seine Gesundheit wiederzuerlangen. Aber dass er sich nicht vor den zu langen Telefonaten schützte, verstand ich nicht. Wie ich schon erwähnt habe, haben wir das Mittagessen unter der Woche in meiner Küche eingenommen, an den Sonn- und Feiertagen bestand Pater Ober darauf, dass wir in seinem Wohnzimmer speisten. Das war der einzige Wunsch, den er ausgesprochen hatte. Pater Ober mochte wie ich einen schön gedeckten Tisch. Er war an jedem Feiertag schön vorbereitet, wenn ich das Essen in den Thermoschüsselchen herunterbrachte. Während ich das Essen auf den Tellern verteilte, zündete Pater Ober die Kerzen an, holte noch einen guten Wein aus dem Keller und dann beteten wir kurz. Das Essen ist meistens schweigend verlaufen, die Ruhe und die gute, vertraute Atmosphäre tat uns beiden gut. Nach dem Essen folgte die Behandlung, auf die er wegen des Feiertages verzichten wollte, und jedes Mal zögerte er und sagte: „Heute ist doch Sonntag.“ Ich ließ die Behandlung aber nicht aus, er brauchte sie nämlich immer noch und das wusste er auch. Er legte sich brav am Kamin hin. Bevor er sich aber hinlegte, ging er zur Stereoanlage und legte eine CD mit klassischer Musik auf, die Behandlung konnte beginnen. Eine angenehme Stimmung kam im Raum auf. Pater Ober hatte schon in der Früh nach unserem obligatorischen Spaziergang dafür gesorgt, dass es im Wohnzimmer angenehm wird, aber der Platz an der Bank war zu eng und zu unangenehm. Das hat ihn aber nicht gestört, er stützte den rechten Ellbogen am Tisch, auf dem eine Glasplatte lag, unter der ein Papyrus zu sehen war, ab. Pater Ober schlief nicht, er beobachtete mich mit halb geschlossenen Augen. Meine kleine Küche im zweiten Stock

Pater Ober in seinem Wohnzimmer

Die Sonn- und die Feiertage hat Pater Ober fast zelebriert. Wir haben trotz Müdigkeit die gemeinsam verbrachten Stunden an den Feiertagen genossen und ich glaube, dass wir beide mit unserem Leben zufrieden waren. Nach der Behandlung, die eine Stunde dauerte, sprang Pater Ober gut gelaunt auf und forderte mich dazu auf, Platz zu nehmen, was ich auch gerne tat. Er setzte sich ans Piano und fing an zu spielen. Er machte viele Fehler, aber er spielte mit Lust weiter und manchmal hat er dazu gesungen. Pater Ober am Piano

Die alten Melodien, die er da spielte, haben mich immer an meinen Vater erinnert, der manche der Melodien auf der Geige gespielt hatte. Das waren meistens die Walzer von Johann Strauss. Nachdem sich Pater Ober am Piano ausgetobt hatte, sprang er auf, eilte in die Küche und bereitete Kaffee vor. Am Fensterbrett stand schon der Kuchen aus dem Kühlschrank. Danach brachte er alles ins Wohnzimmer und stellte es auf den runden Tisch. Ich durfte dabei nur zuschauen. Es machte ihm sichtbar Spaß, mich zu bedienen. „Na sowas, wo gibt es das heute noch?“, dachte ich, als mich Pater Ober zum ersten Mal bediente. Nachdem wir den Kuchen verspeist hatten, stand er nach einer Weile auf, nahm sein Brevier, das seinen festen Platz am Piano hatte, in die Hand und begab sich in den Garten hinaus, wo er sich unter den Obstbäumen lesend langsam hin- und herbewegte. Dass er da was lesen konnte, bezweifelte ich aber. Manchmal begab sich Pater Ober mit dem Brevier in den Hof vor seine Küche und marschierte lesend hin und her. An der Garagenwand war eine Steinplatte befestigt, auf der das Baujahr seines großen Anwesens vermerkt war. Die neugierigen Patienten, die von Pater Ober fasziniert waren, schauten sich immer wieder die Platte an, die vom Therapieraum im Erdgeschoß aus zu sehen war. Sie redeten gerne über ihn und wollten so viel wie möglich über ihn erfahren. Pater Ober mit dem Brevier in der Hand

Die Steinplatte

Der gesundheitliche Zustand des Paters wurde mit der Zeit immer besser und er wirkte nach den ersten drei Monaten schon wie neugeboren. Er strahlte Energie und Zufriedenheit aus. An den heißen Feiertagen im Spätsommer schlug Pater Ober oft eine Radtour vor. Beim ersten Versuch dieser Art staunte ich und fragte fast verdutzt: „Muss das sein? In der Hitze? Diese war tatsächlich unerträglich und ich hatte keine Lust auf eine zusätzliche Anstrengung, aber ich ließ Pater Ober nicht alleine fahren, ich kam einfach mit. Während der Fahrt stellte ich aber fest, dass die Hitze mit dem Wind um die Ohren sogar angenehm war. Sie wirkte erfrischend, was mich sehr überraschte. Wir sind immer dieselbe Strecke, eine Hauptstraße Richtung Frasdorf, entlang gefahren. Der Weg führte uns durch einen schattigen Wald und weiter ans Ziel, zu einer Bank. Nach nur fünfzehn Minuten Pause packte Pater Ober seine Unruhe wieder und wir fuhren zurück. Insgesamt waren es 40 Kilometer hin und zurück. Nach der Radtour habe ich Pater Ober mit gutem Gewissen verlassen. Ich ging in meine Wohnung und konnte mich endlich ausruhen *** Einmal erzählte mir Pater Ober bei guter Stimmung, dass er einen Erzfeind gehabt hatte. Dieser hatte ihn beneidet und ihm seine Heilerfolge nicht gegönnt, er war damals durch diesen Feind in Schwierigkeiten geraten und die Situation war ernst gewesen. In seiner Not hatte sich Pater Ober an einen bekannten Schulmediziner gewandt, dem er einmal geholfen hatte, als die Schulmedizin nicht hatte weiterhelfen können. Der Retter in der Not war Doktor Englert gewesen. Dank seiner Hilfe war die ganze Sache mit dem Erzfeind gut ausgegangen. Pater Ober hat aus Dankbarkeit seine Beisetzung auf der Fraueninsel zelebriert und jetzt, als Pater Ober sich an den Retter in der Not erinnerte und mir die Geschichte erzählte, sagte er zu mir, dass er noch einmal sehr gerne sein Grab besuchen möchte. „Du fährst natürlich mit“, sagte Pater Ober am Schluss. Wir sind dann an einem Sonntag mit seinen Geschwistern und seiner Schwägerin mit dem Auto nach Prien gefahren und dann weiter mit dem Schiff auf die Fraueninsel. Pater Ober mit seiner Familie

An diesem Tag hat es geregnet und wir mussten das Foto innen aufnehmen. Vor lauter Regen konnte man nicht mehr aus dem Fenster sehen. Auf der Fraueninsel angekommen, führte uns Pater Ober erst in die Kirche. Er war gleich in seinem Element! Er eilte durch die Kirche und ich hinterher, während die Familie sich zurückzog. Er schaute sich jeden Altar, jede Ecke an und schlüpfte zwischen den Menschen hindurch, die vereinzelt da standen. Ich hatte das Gefühl, dass Pater Ober seit der Beisetzung nicht mehr auf der Insel war. Als wir die Kirche verlassen hatten, regnete es immer noch, dabei wurde es auch noch sehr kalt. Die Grabstätte des Retters haben wir sehr lange suchen müssen und nicht gleich gefunden. Die Familie wollte die Suche schon aufgeben, aber da ich wusste, wie viel Pater Ober daran lag, das Grab noch einmal zu besuchen, sagte ich: „Wenn wir schon so lange gesucht haben, dann machen wir weiter, bis wir das Grab gefunden haben.“ Alle waren einverstanden. Plötzlich stand Pater Ober vor dem Grab von Doktor Englert. Es war eine große Familienstätte. Er strahlte zufrieden. Wir verbrachten in Stille eine Weile vor der Grabstätte und kehrten dann langsam zum Schiff zurück. Nun hatte es auch endlich aufgehört zu regnen. Pater Ober vor der Grabstätte des Helfers Doktor Englert

*** Schon in den ersten Monaten meiner Anwesenheit im Haus von Pater Ober habe ich ihn bei den verschiedenen Tätigkeiten begleitet, ihm geholfen und ihn beobachten können. Ich habe einen besonderen Menschen kennen gelernt, einen hochtalentierten, außergewöhnlichen und arbeitsamen Menschen mit seinen verschiedenen Eigenschaften und Schwächen. Ich kann sagen, dass ich großes Glück hatte. So wie ich den großen, aber sehr bescheidenen Mann kennen gelernt habe, möchte ich ihn jetzt auch meinen Lesern vorstellen. Pater Ober, der Weltpriester

Pater Ober beim Zelebrieren der Heiligen Messe an den Feiertagen. in seiner eigenen Hauskapelle, 2005

Pater Ober, der Radiästhet

Pater Ober, der Arzt und Heiler

Pater Ober, der Maler und Schreiner

Pater Ober, der Gärtner

Pater Ober, der Schwerstarbeiter

Pater Ober, der Hausmeister

Pater Ober, der Perfektionist. Auch der kleinste Knoten. musste noch gelöst – und der Faden für das nächste Jahr aufgehoben werden

Allgemein gesagt: Pater Ober hat immer sehr schnell gearbeitet, in der Praxis, im Garten, in der Schreinerei, die sich unter den Garagen befand, oder auch zu Hause, und dazu noch pausenlos. Er war Pausen nicht gewohnt, bis ich in sein Haus kam und er sich wegen der täglichen Behandlung hinlegen musste. Auffallend dabei war die Sorgfältigkeit in der Ausführung der verschiedenen Tätigkeiten. Eine hohe Selbstdisziplin war typisch für den kleinen und doch so großen Mann! Pater Ober lebte wie ein Asket und arbeitete wie ein Sklave. Er machte während der Arbeit im Garten nicht mal fünf Minuten Pause, und wenn er kein gesundheitliches Problem durch seine verschleppte Grippe gehabt hätte, hätte er sich auch nicht so freiwillig für die Behandlung nach dem Mittagessen hingelegt. Aber er hatte ein Problem, deswegen fügte er sich. Auch weil ihm bewusst war, dass es die einzige Möglichkeit war, auf natürliche Weise aus der gesundheitlichen Krise herauszukommen. Ich fragte ihn einmal im Garten, warum er sich nicht mal fünf Minuten Pause gönnt, aber er sagte nur, dass er nicht daran gewöhnt sei. „Auch in Spanien habe ich keine Pausen gemacht“, sagte Pater Ober noch zu mir, „während die anderen für die Mittagspause weggingen.“ Ich fragte ihn sofort: „Glaubst du etwa, dass dich jemand dafür bewundert hat?“ Aber auf diese Frage bekam ich keine Antwort. Pater Ober hatte also das ganze Leben lang wie ein Roboter funktioniert. Auch jetzt noch, im Alter von fast achtzig Jahren, war für Pater Ober jeder Tag, auch jeder Sonn- und Feiertag, erst dann abgeschlossen, wenn er das Band in der Praxis am Abend um 20:00 oder 21:00 Uhr abgehört und die Rezepte geschrieben hatte, damit die Schloß-Apotheke die per Ferndiagnose verordneten Medikamente gleich in der Früh an die Patienten verschicken konnte. Wer ihn noch um ein Gespräch bat, wurde dann auch noch angerufen. Danach saß Pater Ober noch bis 22:00 Uhr an seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer, las und prüfte mit dem Pendel, ob die Behauptungen im Buch auch stimmten. Er lebte kein normales Leben. Pater Ober war wunschlos und hat nur das gegessen, was in seinem Garten wuchs. Er sagte mir einmal, dass er nur 50 DM im Monat für Essen ausgab. Ich habe auch schnell begriffen, warum Pater Ober glaubte, ein schwaches und krankes Herz zu haben. Nachdem ich erkannt hatte, woran es lag, sagte ich ihm einmal während der Arbeit im Garten: „Dein Herz ist überhaupt nicht krank, sonst hättest du nicht so schwer arbeiten können. Es ist durch die pausenlose Arbeit überfordert! Kein Wunder, dass es sich dann in der Nacht in Form von Atempausen meldet. Es schreit nach Ruhe und Erholung!“ Pater Ober hat mich damals nur staunend angeschaut, gab kein Wort von sich und arbeitete weiter. Und ich mit ihm *** Dann kam sein Geburtstag am 16.09. 2005 den er zu Hause verbringen wollte. Wir saßen nachmittags in seinem Esszimmer in der Küche, während der Unterhaltung klingelte das Telefon. Er sprach mit der Person und sagte eine Einladung mit der Begründung, dass er einen Gast hatte, ab. An diesem Geburtstag 2005 fragte mich Pater Ober zum dritten Mal, wann ich endlich nach Aschau umziehen würde. Für mich war mit seiner Frage die Zeit gekommen, etwas für mich Wichtiges endgültig auszusprechen. Ich wusste, dass der Moment einmal auf mich zukommen würde und statt Pater Ober eine Antwort zu geben, sagte ich ganz ernst zu ihm: „Ich werde in das Haus erst einziehen, wenn ich in meiner Wohnung oben eine eigene Waschmaschine haben darf.“ Wir schauten uns an und ich wartete. In seinem Gesicht rührte sich kein Muskel und ich spürte, dass ihm meine Bedingung nicht gefiel. Das musste aber sein. Es konnte nicht so weitergehen, dass sich der Herr des Hauses um unsere Wäsche kümmerte. Dabei dachte ich mir: „Jetzt hat er aber was zum Knabbern! Die verflixte Sparsamkeit! Wenn sie so nötig gewesen wäre – war sie aber nicht! Dann machte Pater Ober den Mund auf und sagte: „Morgen fahren wir nach Rosenheim und suchen die beste Waschmaschine aus.“ Wir sind dann tatsächlich am nächsten Tag nach Rosenheim gefahren und Pater Ober hat für mich die MIELE ausgesucht. Diese hat neunhundertzwanzig Euro gekostet und die Rechnung habe ich nach der Lieferung auch bezahlt. Inzwischen hatte sich Pater Ober von selbst um den Anschluss im Bad für die Waschmaschine gekümmert und automatisch auch einen Fachmann bestellt, um eine Fernsehantenne auf dem Dach richten zu lassen. Die Sache mit der Waschmaschine war also erledigt. Nach dem Mittagsessen nahm Pater Ober den Wandkalender in die Hand und sagte, dass wir jetzt gemeinsam einen Termin für meinen Umzug nach Aschau festlegen sollten. Der 04. Oktober 2005 hat uns beiden gepasst. Ein paar Tage vor dem Umzug, nachdem ich den Transporter bestellt hatte, bin ich nach München gefahren, um die Wohnung vorzubereiten. Als ich an diesem Tag in der Früh das Haus verlassen wollte, drückte mir Pater Ober einen kleinen Zettel in die Hand und sagte: „Ruf mich gleich an, wenn du in München ankommst, hier hast du meine Geheimnummer.“ Die Geheimnummer

Die Überraschung war dem Pater gelungen. Den kleinen Zettel habe ich gut aufgehoben. In München angekommen, habe ich natürlich gleich Pater Ober angerufen, damit er sich um mich keine Sorgen machen musste – ob mich ein Auto überfahren hatte oder ob mein Haus noch stand. Die Vorbereitungen gingen mir rasch von der Hand und ich freute mich, nach Aschau zu kommen. Da ich wusste, dass nicht alle Möbel in die Aschauer Wohnung passen würden, habe ich einen Zettel im Häuserblock gegenüber meinem Haus aufgehängt und meine Möbelwand zum Verschenken angeboten. Ich hatte Glück, schon am nächsten Tag meldete sich eine junge Frau und wollte sie sehen. Die Möbel waren ja neu und sie hat sich sofort für sie entschieden. Sie dachte an ihre Mutter, eine Sozialhilfeempfängerin, die gerade eine Wohnung in dem Block bekam und noch keine Möbel hatte. Die Freude war auf beiden Seiten groß! Gleichzeitig habe ich für die Abholung meiner tanzenden Waschmaschine gesorgt, was anderntags erfolgte. Es hatte also das Wichtigste sofort geklappt. Inzwischen habe ich die vielen weißen, hohen Möbel aus der Küche zerlegt und alles verpackt. Ich habe sogar auf meinen Computer verzichtet, ich schenkte ihn meiner Kollegin aus dem Altersheim, weil ich die schädlichen Strahlen nicht in das gesunde Haus von Pater Ober bringen wollte. Die Verluste, die mir dadurch entstehen würden, machten mir nichts aus. Mein Umzug von München nach Aschau fand dann wie geplant statt. Der Transporter kam um 06:30 Uhr in München an und der gesamte Umzug hat bis 19:30 Uhr gedauert, bis die drei Männer die schweren Möbel in den zweiten Stock hinaufgetragen hatten. An diesem Tag zeigte sich Pater Ober nicht, er wollte nicht stören. Am nächsten Tag kam er dann von selbst nach oben und kümmerte sich um den großen Kleiderschrank, der in der Wohnung leider keinen Platz fand. Er hatte ihn im Treppenhaus vor meiner Wohnungstür schon fast alleine zusammengeschraubt und ich musste den Pater für seine Geschicklichkeit bewundern, es war, als wäre er mit der Tätigkeit jeden Tag konfrontiert gewesen. Dann bemerkte Pater Ober noch eine Ungleichheit auf dem Boden an der Treppe direkt vor meiner Wohnungstür, über die man stolpern konnte, und rannte plötzlich hinunter. Er kam aus der Schreinerei mit einem Hobel in der Hand zurück, kniete sich auf den Boden und hebelte das ungleiche Holz mit voller Kraft ab. Dann stand er auf, schaute mich strahlend an und rannte wieder die Treppe hinunter. Er hat die ganze Zeit schweigend gearbeitet, sein Benehmen wirkte wieder mal merkwürdig. Ich wusste vorher schon ganz genau, wo ich meine Möbel hinhaben wollte. Es gab allerhand mit dem Einräumen zu tun. Auch die weißen, hohen Schränke aus der Münchner Küche mussten noch zusammengeschraubt werden, damit vor allem die Bücher ihren ursprünglichen Platz wieder bekamen. Es hat lange gedauert, bis alles wieder seine Ordnung hatte. Das Schlafzimmer mit den niedrigen Schränkchen und der Wäschekommode kam in das kleine Zimmer, wo alles sehr gut hineinpasste

Mein neues Zuhause

Nach dem Umzug in das Haus von Pater Ober hat für mich ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Ich fühlte mich angenommen, angekommen und sicher, sein Haus wurde für mich zur zweiten Heimat. Die neue Gästeküche fühlte sich wie ein Wohnzimmer an und hier habe ich nach der Arbeit im Garten fast jeden Abend verbracht und am Tisch gelesen. Die Wohnungstür habe ich offengehalten, damit ich Pater Ober hören konnte, wenn er mich sprechen wollte. Es gab eben keine telefonische Verbindung zum Erdgeschoß, weil das Haustelefon, das an der Wand hing, kaputt war. Über diese offenstehende Tür haben wir nicht mal kurz gesprochen. Pater Ober wusste, dass ich so handeln würde. Er hatte sein Verhalten und sein Benehmen mir gegenüber nicht geändert. Ich bekam keine Anordnungen und er äußerte auch weiterhin keine Wünsche. Was mich, ehrlich gesagt, von Anfang an wunderte, schließlich war doch er der Herr im Hause. Er gab mir weiterhin freie Hand, was mir ein Gefühl der Freiheit vermittelte. Dieses gab mir auch die Gewissheit, dass Pater Ober mit meinem Vorgehen ihm gegenüber zufrieden war. Die Achtung und Toleranz war von beiden Seiten da. Die gegenseitige Akzeptanz erzeugte Harmonie und eine gute Atmosphäre im Haus. Ich fühlte mich gebraucht und das machte mich glücklich. Jetzt hatte ich nur einen Menschen, dem ich beistehen wollte und auf den ich aufpassen musste, und nicht vierhundertfünfzig Bewohner wie in meinem Berufsleben. Meine Aufgabe jetzt war viel leichter, trotz der schweren Arbeit im Garten, an die ich mich längst gewöhnt hatte. Sie schenkte mir Bewegung an der frischen Luft, ich musste nicht in geschlossenen Räumen arbeiten. Diesen Unterschied schätzte ich sehr. Die gute Atmosphäre im Haus ergab sich von selbst, was es uns erlaubte, unter einem Dach zu leben. Das war das Ergebnis des Vertrauens, das wir uns gegenseitig ohne Worte schenkten. Alles war gut und eigenartig! Warum ich meine Haltung gegenüber Pater Ober so und nicht anders angenommen hatte, konnte ich ihm aber nicht verraten. Das waren die Visionen, die ich immer noch vor meinem geistigen Auge sah. Auch später habe ich Pater Ober den Grund meiner Hilfsbereitschaft nicht verraten und auch nicht erklärt. Die Visionen, mein Wegweiser, waren der Grund für mein intuitives und entsprechendes Handeln Pater Ober gegenüber, ich spürte, dass mein Vorgehen auch das richtige war. Eines Tages, kurz nach dem Umzug, es war schon nach 21:00 Uhr, hörte ich die aufgeregte Stimme des Paters: „Komm bitte runter!“ „Ja servus! Was ist los?“, dachte ich und eilte die Treppe hinunter ins Erdgeschoß. Die Praxis stand offen, Pater Ober stand hinter seinem Schreibtisch und klagte aufgeregt und wehmütig: „Ich bin auf den Boden gefallen! Der Stuhl ist auseinandergefallen!“ „Hast du dir was gebrochen? Hast du Schmerzen?“, fragte ich schnell. „Nein, das nicht, aber ich habe mich sehr erschrocken.“ Die Tatsache, dass nichts Ernstes passiert war, erleichterte mich, und ich sagte lachend zu ihm: „Siehst du, das ist die Strafe von oben, weil du zu viel arbeitest!“ „Aber ich musste doch Rezepte schreiben, es haben sich so viele Patienten gemeldet“, sagte Pater Ober kleinlaut. „Schon gut, was ist zu tun?“ Der elegante, mit hellgrünem Leder verkleidete Drehstuhl war ganz ausgetrocknet und nicht so leicht zu reparieren. Ich bin ständig zwischen der Praxis und der Schreinerei, die sich unter den beiden Garagen befand, durch das dunkle Subparterre gelaufen, um das entsprechende Werkzeug zu bringen. Während der Arbeit erzählte mir Pater Ober, wie er den Verkäufer, den Hersteller des Stuhles, ausgetrickst hatte, um schließlich nicht den vollen Preis zahlen zu müssen. Sein Vorgehen, seine Schlauheit, die nur aus einem kleinen Ort stammen konnte, brachte mich zum Lachen, und dabei dachte ich: „Das ist einer.“ „Warum lachst du?“, fragte mich Pater Ober desorientiert. „Nur so“, war meine ganze Antwort. Wir haben uns mit dem kaputten Drehstuhl bis halb zwölf Uhr nachts beschäftigt, dann war er zusammengeklebt und zusammengeschraubt und drohte nicht mehr auseinanderzufallen *** Bis Ende Herbst haben uns die Arbeiten im Garten aufgehalten, bis er für den Winter vorbereitet war. Dann stand Weihnachten vor der Tür. Für seine Patienten hatte Pater Ober im Warteraum in der Praxis einen großen Christbaum aufgestellt und auch alleine geschmückt, es schien seine Lieblingsbeschäftigung zu sein, weil er sich dabei nicht helfen ließ. Ich durfte aber zuschauen und meine Anwesenheit freute ihn sichtlich. Am Sonntag vor Heiligabend sah ich in seinem Wohnzimmer einen Christbaum stehen. Wann Pater Ober die beiden Christbäume nach Hause geschleppt hatte, war mir rätselhaft, weil er nie weg war. Für eine Lieferung hätte er kein Geld ausgegeben, soweit kannte ich seine Sparsamkeit schon. Hatte er die Bäume etwa nachts geholt? „Würde ja auch zu ihm passen“, ging es mir durch den Kopf. Als wir dann mittags am Tisch saßen, sagte Pater Ober zu mir, dass ich mich um Weihnachten nicht zu kümmern bräuchte. „Gut“, sagte ich, aber enttäuscht war ich schon. Am Heiligabend sagte mir Pater Ober in der Früh, dass wir heute kein Mittagessen bräuchten und ich auch nicht kochen sollte, aber dass er mich um 18:00 Uhr in seinem Wohnzimmer erwarten würde. Pater Ober war immer für eine Überraschung gut! Das waren außergewöhnliche Weihnachten für zwei Menschen, die den Heiligabend zuvor viele Jahre alleine verbracht hatten. Die Wohnung des Paters empfing mich am Abend mit einer richtigen Weihnachtsstimmung. Die Türen zum Wohnzimmer und zur Küche standen offen, das Licht war ausgeschaltet. Es leuchteten aber die Lichter auf den Christbaum, und auf dem Tisch stand ein großer Lichtständer mit angezündeten Kerzen. Eine richtige Weihnachtsatmosphäre. Aschau, Weihnachten 2005

Der Tisch war feierlich gedeckt, die Tischdecke war mit Weihnachtsmotiven geziert. Ich setzte mich hin und wurde bedient. Pater Ober holte das Mahl aus der Küche, verteilte es und fing an zu beten. Beim Essen schaute mich Pater Ober erwartungsvoll an und fragte mich, ob mir alles gefällt, und dann noch mal, ob mir das Essen schmeckt. Pater Ober war rührend. In meinem ganzen einsamen Leben war ich nicht so bedient und umsorgt worden. Nach dem Essen durfte ich helfen, das Geschirr in die Küche zu tragen. Vor dem Fensterbrett blieb Pater Ober eine Weile schweigend und nachdenklich stehen, dann sagte er ganz leise zu mir: „Hier, auf dem Fensterbrett in der Küche, habe ich jahrelang den Heiligabend alleine verbracht.“ In diesem Moment habe ich ihn und die Freude, mit der er die Weihnachtsfeier vorbereitet hatte, verstanden. Dass ich in Deutschland auch fast alle Weihnachten alleine verbracht hatte, sagte ich aber nicht. Ich hörte ihm zu. Später sagte Pater Ober zu mir: „Das Christkind hat dir etwas gebracht, schau mal unter dem Christbaum!“ Mit diesen Worten führte er mich zurück in das Wohnzimmer. „Schau nur“, ermutigte er mich, „dort liegt was.“ Das Christkind hat mich mit einem wunderschönen Atlas beschenkt. Das war der „Knaurs Atlas der Reflexzonen-Therapie“ von Dr. med. Bernard C. Kolster und Dr. med. Astrid Waskowiak. Pater Ober strahlte, als er sah, wie sehr ich mich über die schöne Ausgabe freute. Der gemeinsam verbrachte Abend war für uns beide ein besonderes Erlebnis. Ganz überraschend für Pater Ober führte ich ihn in meine Wohnung nach oben, wo mein Christbaum die Gästeküche mit seinen Lichtern erhellte. Pater Ober ist staunend an der Schwelle stehen geblieben. Einen Christbaum hatte er hier nicht erwartet, und eine Einladung auch nicht. Die Überraschung ist mir gelungen. Pater Ober in der Gästeküche

Kapitel 8. Pater Ober kam in Pfarrkirchen in Niederbayern zur Welt. Mit den Eltern und seinen fünf Geschwistern lebte er in einem winzigen Ort namens Zeilarn in Niederbayern, wo er die Grundschule besuchte. Die Eltern, Justine und Xaver Ober, hatten insgesamt sieben Kinder, wobei das erste, Pater Obers älteste Schwester, im zarten Alter von drei Jahren in einem Bach ertrunken ist. Er selbst war das fünfte Kind. Einer der drei älteren Brüder ist mit achtzehn Jahren im Zweiten Weltkrieg in Italien gefallen. Als alle Geschwister erwachsen waren, fuhr Pater Ober mit den beiden jüngsten Geschwistern jedes Jahr nach Italien, um die Grabstätte der im Krieg gefallenen Soldaten zu besuchen. Seine Mutter hat als junges Mädchen im Stall gearbeitet und sich das schwer verdiente Geld für ihre Aussteuer gespart. Als dann der Erste Weltkrieg ausbrach, verlor sie das ganze Geld. Ich erfuhr unter anderem aus Pater Obers ersten kurzen Erzählungen während der Arbeit im Garten, die immer nur ein kurzer Einblick in seine Kindheit waren, dass seine Mutter mit einer besonderen Gabe gesegnet war – sie konnte kleine Babys heilen. Pater Ober erinnerte sich, dass sie als Kinder immer die Stube verlassen mussten, wenn die Mütter mit ihren kranken Babys zu seiner Mutter nach Hause kamen. Er erzählte mir die Geschichte seiner Familie leise, bescheiden und anfangs immer nur in kurzen Abschnitten. Jedes Mal, wenn Pater Ober über seine Mutter sprach, hellte sich sein Gesicht auf und ich spürte, wie eng er emotional mit ihr verbunden war. Dass er auf seine Mutter stolz war, konnte ich an seinem Gesicht ablesen, während er so bescheiden und leise über sie und ihre Gabe sprach. Mit kaum sechs Jahren kam Pater Ober in die erste Klasse der Grundschule und hatte eine aufmerksame Lehrerin. Diese erkannte sehr schnell, dass sie ein begabtes Kind in der Klasse hatte und machte seine Eltern darauf aufmerksam. Sie sagte, dass er unbedingt ins Gymnasium gehen sollte. Als es dann so weit war, war das Kind mit seinen kaum 10 Jahren noch sehr klein, es wurde aber trotzdem in ein Internat gebracht. Der kleine Aloys fühlte sich in der fremden Umgebung und in dem Internat nicht wohl, er bekam Heimweh und konnte Weihnachten kaum noch abwarten. Nach den Weihnachtsferien sollte er wieder ins Internat gebracht werden, aber er lief von zu Hause weg, versteckte sich im Wald und kam erst am späten Abend nach Hause zurück. Somit ist er auch zu Hause geblieben und besuchte weiterhin die örtliche Grundschule in Zeilarn. Bei dieser Erinnerung lächelte Pater Ober zufrieden. Der kleine Gymnasiast

Einmal bezeichnete Pater Ober seine Mutter als eine sehr fleißige Frau. „Sie saß jeden Abend bis tief in die Nacht in der Stube und strickte Pullis für uns Kinder.“ Dabei machte er mit den Händen Strickbewegungen. Während des Zweiten Weltkriegs erkrankte Pater Ober im Alter von 14 Jahren an Diphtherie. Er kam ins Krankenhaus, aber es gab keine Medikamente gegen die Erkrankung. Er war mit vielen Kindern mit derselben Erkrankung zusammen, aber alle starben. Ein Jahr vor Kriegsende hat Hitler den jungen Aloys Ober mit zahlreichen anderen Jugendlichen als Kanonenfutter in den Krieg geschickt, wo dieser ein ganzes Jahr als Soldat ausgebildet wurde. Bei der Erzählung wurde mir klar, warum Pater Ober noch im hohen Alter so gut schießen konnte, dass er beim ersten Versuch eine Amsel hoch am Himmel traf. Ein Nachbar bekam es einmal mit, dass er eine Amsel abschoss, und machte sich laut über den Priesterstand des Paters lustig. Wir beide haben den hässlichen Spott nebenan im Garten gehört, aber Pater Ober blieb nur versteinert stehen, wartete ab und ging dann ins Haus. Als mir Pater Ober über die schweren Kriegsjahre berichtete, wurde mir plötzlich klar, dass er durch die mangelhafte Ernährung damals und wegen der Diphtherie in seiner Wachstumsphase stehen geblieben war. Er hatte nämlich einen Komplex, was seine Größe betraf. Er war nur 164 Zentimeter groß und wog 60 Kilo. Er achtete aber sehr auf seine schlanke Linie und war auch stolz auf sie. Wenn er während der Sprechstunde die Praxis verlassen musste und in seine Wohnung hinüberging, sprang er fast mit lächelndem Gesicht vor den Patienten, die im Wartezimmer saßen, und spielte damit mit seinen fast 75 Jahren den flinken, schnellen und beweglichen Mann vor. Das löste natürlich Bewunderung aus und die Patienten redeten dann über seinen guten gesundheitlichen Zustand. Das faszinierte sie. Ich erlebte es, als ich im Wartezimmer saß, bevor ich nach Aschau in sein Haus kam. Einmal wollte mir Pater Ober wegen seiner Größe auf den Zahn fühlen. Als wir uns um 14:00 Uhr im Garten trafen, um nach seiner täglichen Behandlung weiterzuarbeiten, überraschte er mich mit folgenden Worten: „Ich bin ein kleiner Mann!“ Dann wartete er auf meine Reaktion. Gar nicht!“, sagte ich sofort. „Im Gegenteil! Du bist ein sehr großer Mann! Dabei spielt deine körperliche Größe überhaupt keine Rolle!“ Ich sprach dann zur Bestätigung meiner Äußerung gleich weiter: „Du kannst helfen, du bist berühmt geworden, du bist jemand! Also zerbrich dir nicht den Kopf über die körperliche Größe.“ Meine Reaktion und meine spontane Äußerung haben Pater Ober anscheinend gefallen und befriedigt, weil ich dann kurze Zeit später merkte, dass seine weißen Schuhe für die Praxis mit den sechs Zentimeter hohen Absätzen verschwunden waren. An einem anderen Wintertag erzählte mir Pater Ober gut gelaunt, was er erlebt hatte, bevor er in den Krieg geholt wurde. Als der Krieg ausbrach, besuchten die Kinder noch die Grundschule im Dorf. Es musste nach seinem Krankenhausaufenthalt gewesen sein, als eines Tages die Kreuze aus jedem Klassenzimmer verschwanden. Der 14-jährige Aloys Ober erzählte es zu Hause ganz aufgeregt, daraufhin ging seine sehr fromme Mutter in die Stube und holte ein Kreuz für seine Klasse. Der Junge nahm das Kreuz in die Schule mit und hängte es an seinen alten Platz an der Wand. Als der Schulleiter es bemerkte und erfuhr, wer das Kreuz an die Wand gehängt hatte, kam er auf Aloys zu, packte ihn am Kragen, schleppte ihn in seine Kanzlei und sprach ihn außer sich vor Wut an: „Weißt du, was du da gemacht hast? Du hast dich gegen Hitler gestellt! Weißt du überhaupt, was das bedeutet? Konzentrationslager! Weißt du überhaupt, was das für ein Lager ist? Das ist ein Todeslager! Aus diesem führt nur ein Weg in die Freiheit, nämlich der durch den Kamin!“ Das Kreuz musste abgenommen werden. Der Schulleiter hat den Vorfall nicht gemeldet, was sehr gefährlich war. Wenn jemand den Vorfall weitererzählt hätte und die Geschichte mit dem Kreuz herausgekommen wäre, wäre nicht nur die Familie Ober, sondern auch die Familie des Schulleiters in einem Konzentrationslager gelandet. Ich habe Pater Ober genau zugehört. Seine Geschichte erinnerte mich an mein ähnliches Erlebnis, aber nur deswegen, weil es auch mit Mut und Spontanität verbunden war. Im Vergleich zu Pater Ober war ich aber zwei Jahre älter als er gewesen und es geschah 1956, elf Jahre nach dem Krieg. Pater Ober war auch ein guter Zuhörer und als ich ein ähnliches Erlebnis erwähnte, wollte er gleich davon erfahren. Also fing ich an zu erzählen, dass ich damals 16 Jahre alt war und das Gymnasium in Swiebodzin bei Posen in Polen besuchte. In meiner Klasse waren Mädchen, die in den Pausen Russisch miteinander sprachen, sie stammten aus der Ukraine. Auch der Schuldirektor, der in dem Gymnasium eine strenge sozialistische Disziplin eingeführt hatte, stammte aus der Ukraine. Das große Gebäude des Gymnasiums, das aus roten Ziegeln in gotischem Stil erbaut worden war, verfügte über sehr lange und breite Korridore. Diese waren auf jeder Etage so groß, dass sich alle Klassen in der Früh 15 Minuten vor 08:00 Uhr zu einem Appell versammeln konnten. Wir Schüler mussten eine straffe Haltung annehmen und wie die Soldaten abzählen. Wer nicht anwesend war, den notierte sich der Direktor in seinem Notizbuch. Dann folgten Informationen und Anweisungen an uns Schüler. Am Schluss wurde immer das gleiche Lied gesungen. Es hieß „Mein geliebtes Land“. Ich habe den Appell und das Lied gehasst und nie mitgesungen. Eines Tages, im Jahre 1956, kurz vor Schuljahresende im Juni, erlebte ich etwas Schmerzhaftes in der Schule. Unmittelbar nach dem Appell in der Früh richtete sich der Schuldirektor an mich und fragte laut, vor allen Schülern des Gymnasiums: „Fräulein X! Warum haben Sie das Lied nie gesungen?“ Der Herr Direktor hat gleich eine spontane und mutige Antwort von mir bekommen: „Weil ich mich nicht als Polin fühle.“ Es hat ihm sichtlich die Sprache verschlagen, er gab uns Schülern mit der Hand gleich ein Zeichen, dass wir in die Klassen gehen durften und entfernte sich in seine Kanzlei. Mein naives, aber ehrliches Verhalten blieb nicht ohne Folgen. Nach dem Unterricht, der auch am Samstag bis 16:00 Uhr dauerte, kam der Herr Direktor in meine Klasse und alle Schüler sprangen gleich hoch, wie es sich gehörte, nahmen die entsprechend stramme Haltung an und warteten, was der Direktor zu sagen hatte. Er informierte meine Klasse in wenigen Worten, dass ich der Schule verwiesen würde, weil er mich wegen meiner Aussage nicht mehr länger dulden durfte. Dann, nach einer kurzen Pause, fügte er noch einen Satz hinzu: „In Fräulein X’ Adern fließt westeuropäisches Blut.“ Nachdem er dies ausgesprochen hatte, verließ er meine Klasse. Ich wurde also wegen meiner Nationalität, Offenheit und Ehrlichkeit der Schule verwiesen. Pater Ober wurde nachdenklich und schaute mich stumm an. Als er mich so ansah, brachte mich sein nachdenkliches Gesicht auf die Idee, dass sich Pater Ober in diesem Moment fragen könnte, warum ich kein gutes Deutsch spreche, wenn ich doch deutscher Abstammung bin. Ich wollte mich aber bei dem Thema nicht aufhalten, und erzählte weiter: „Die Ausweisung aus der Schule hat mich tief getroffen und die Ungerechtigkeit habe ich als sehr schmerzhaft empfunden. Ich habe mich aber zusammengerissen, um den Schmerz verkraften zu können und ihn so wenig wie möglich zu empfinden. Das Erlebnis habe ich zu Hause nicht erwähnt, ich wollte die Eltern damit nicht unnötig belasten, weil ich wusste, dass wir Swiebodzin in den bevorstehenden Ferien sowieso verlassen würden.“ Bevor Pater Ober meine Wohnung an diesem Abend verließ, fragte er mich nach dem Namen und dem Geburtsdatum meines Vaters und ging. Am nächsten Tag, als wir zusammen beim Mittagsessen saßen, sagte Pater Ober plötzlich zu mir: „Du hast einen klugen Vater.“ Seine überraschenden Worte, die im Präsens ausgesprochen worden waren, ließen mich sofort annehmen, dass Pater Ober meinen Vater gestern noch geprüft haben musste, sonst hätte er das nicht gesagt. Ich wagte nicht nachzufragen, warum er seine Behauptung in dieser Form ausgesprochen hatte. Diesen Fall habe ich gut in Erinnerung behalten, weil doch kein Mensch über einen Verstorbenen im Präsens spricht „Ja, mein Vater war ein gescheiter, aber auch bescheidener Mensch. Er hat in der Schweiz studiert und war Maschinenbauingenieur von Beruf. Er musste als Deutscher die polnische Industrie aufbauen, die die Deutschen im Krieg zerstört hatten. Er war unmittelbar dem polnischen Industrieministerium untergeordnet und musste sich fügen. Er wurde von Stadt zur Stadt delegiert, um die zerstörten Fabriken wiederaufzubauen.“ Ich nutzte die Gelegenheit und zeigte Pater Ober Fotos von uns aus der damaligen Zeit. Mein Vater mit 56 Jahren und ich mit 16 Jahren

Da ich schon 16 Jahre alt gewesen war, hatte ich für den ersten Ausweis meines Lebens ein Foto machen lassen müssen, weil man in Polen damals mit 16 Jahren als Erwachsener gegolten hatte. Ohne den Ausweis hätte ich die Stadt Swiebodzin nicht verlassen dürfen. Über seinen Vater hat Pater Ober nicht viel erzählt. Dieser besaß in Zeilarn eine Glaserei, aber nach dem Krieg nahm er auch alle anfallenden Arbeiten im Ort und in der Umgebung an, um die große Familie durchzubringen. Als Pater Ober noch klein war, hat er einmal ein altes Fahrrad kaputt gefahren, dafür hat ihn der Vater verprügelt. Er musste stark zugeschlagen haben, wenn Pater Ober diese Bestrafung in dem hohen Alter immer noch nicht vergessen hatte. Xaver Ober war ein starker Raucher. In jeder Zigarettenschachtel hat der kleine Aloys ein buntes Bildchen mit schönen Motiven aus Japan gefunden. Das war sein Spielzeug, das ihn faszinierte und die Sehnsucht weckte, nach Japan zu fliegen. „Ich bin aber in meinem ganzen Leben nicht nach Japan gekommen“, beendete Pater Ober diese Erinnerung. Dass er in seinem Leben viel herumgekommen war, konnte ich an der Menge der Koffer erkennen, die sich im Laufe seines Lebens im Subparterre vor dem Weinkeller angesammelt hatte. Es gab außergewöhnlich viele, in verschiedenen Größen. In eine weitere Erinnerung vertieft, erzählte mir Pater Ober, wie er jedes Jahr mit seinen Geschwistern in den Wald ging, um Blaubeeren für die Mutter zu sammeln. Die Kinder mussten so lange pflücken, bis die Mutter genug für den Winter für die ganze Familie hatte. Dann erst durften die Kinder für den Verkauf pflücken. „Wir haben die Blaubeeren dann am Straßenrand verkauft und das Geld durften wir auch behalten“, sagte der Pater. Die Erinnerungen an seine Mutter, die an Krebs gestorben war und zuletzt nur noch 30 Kilo gewogen hatte, ließen den weichen Kern in ihm, den er eigentlich nicht zeigen wollte, erkennen. Seine Stimme wirkte dann wehmütig und weich. Da erwähnte Pater Ober auch seinen Vater, der im Krankenhaus bis zum Ende am Bett seiner Mutter gesessen hatte. Zu dieser Zeit weilte Pater Ober als junger Missionar auf Madagaskar und konnte nicht mal zum Begräbnis nach Europa kommen. Ich sah, dass ihm diese Tatsache immer noch zu schaffen machte. An einem anderen Tag erzählte er mir, dass ihn sein Vater unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem Krieg zu einem Schreiner schickte, bei dem er die Lehre beginnen musste. Es folgten weitere Hungerjahre. Pater Ober sagte wörtlich: „Ich war bei dem strengen Meister ein Junge für alles, ich hatte kein Geld zum Leben und verköstigen musste ich mich alleine.“ Kein Wunder, dass er mit 20 an Diabetes erkrankte. In seiner Stimme schwang aber keine Klage mit. Es war nur noch eine Feststellung. Er war schon an die Härte des Lebens gewöhnt, und um keine Gefühle zu zeigen, hatte er sich im Laufe seines harten Lebens ein dickes Fell zugelegt. In der Nachkriegszeit lebte in seinem Heimatort Zeilarn eine kluge Frau, deren Namen Pater Ober nicht vergessen hatte. Sie war die Gattin des Grundschulleiters und hieß Frau Schoppa. Diese Frau machte sich Gedanken über die Jugend im Ort und gründete für sie eine Theatergruppe. Der junge Schreiner Aloys Ober machte natürlich gleich mit. Er war wissbegierig und zeigte eine seltene Gabe, die Frau Schoppa sofort erkannte. Sie merkte, dass sie einen begabten jungen Menschen in ihre Theatergruppe bekommen hatte, der sich durch seine blitzschnelle Aufnahmefähigkeit auszeichnete. Sie fing an, dem jungen Schreiner viel Zeit zu widmen und führte mit ihm lange, interessante Gespräche. Sie eröffnete ihm eine neue, unbekannte Welt, neue Horizonte, und brachte den jungen Menschen so weit, dass er eines Tages den Wunsch verspürte, das Abitur nachzuholen. Pater Ober, der junge Schreiner von damals, hatte plötzlich ein klares Ziel vor Augen und wollte unbedingt Priester werden. „Ich weiß noch ganz genau, wann ich Priester werden wollte“, sagte Pater Ober während der Erzählung und sein Gesicht strahlte! Mit 22 Jahren hat er das Elternhaus verlassen, um nach Bamberg zu gehen und das Abitur nachzuholen. Sein Lebensweg hat ihn ab diesem Zeitpunkt in die Zange genommen. Es gab kein Zurück mehr. Den Stoff des neunjährigen Gymnasiums hat er dann in nur vier Jahren nachgeholt. Er hatte damals auch Glück. Er durfte die vier Jahre bei einer Lehrerin wohnen. Pater Ober lächelte bei der Erinnerung und sagte wörtlich: „Dafür, dass ich bei ihr wohnen durfte, habe ich den Haushalt für sie geschmissen.“ Dann folgte die Erzählung über die erste Begegnung mit der Frau, die er Gundi nannte. Als sie ihm das kleine Zimmerchen zeigte und sagte, dass hier schon eine Ärztin gewohnt hatte, reagierte er spontan mit folgenden Worten: „Was? Eine Ärztin? In diesem Zimmer?“ Die Lehrerin hatte sein Benehmen als so frech empfunden, dass sie zu ihrer Nachbarin später sagte: „Diesen Affen nehme ich bestimmt nicht an.“ Er hat aber nicht aufgegeben, ging nochmal zu ihr und machte ihr diesmal einen Vorschlag. Er schlug ihr vor, ihren Haushalt zu übernehmen, wenn sie ihn in dem Zimmerchen wohnen ließ. Mit diesem Vorschlag war sie einverstanden. Er bewohnte dann das Zimmer, besuchte das Gymnasium und bemühte sich, ihren Haushalt aufrecht zu erhalten. Er fing in dieser Zeit auch alleine an, Sprachen zu lernen. Er lernte sie dermaßen schnell, dass die Lehrerin ihn dann als Dolmetscher auf Reisen mitnahm. Sie war für den Studenten eine große Hilfe, die er nie vergaß. Die Begegnung mit ihr war ein Glücksfall, weil er auf Hilfe von zu Hause nicht rechnen konnte. „Ich habe aber oft Briefe an die Mutter geschrieben, damit sie sich keine Sorgen um mich machen musste“, sagte er. Gundi lernte den Studenten in den vier Jahren sehr gut kennen. Es entstand so etwas wie eine Freundschaft zwischen ihnen. Aus Dankbarkeit ist Pater Ober mit ihr das ganze Leben lang in Verbindung geblieben und hat ihr im hohen Alter in der Not geholfen. Als sie zuletzt nicht mehr dazu in der Lage war, ihren Haushalt alleine zu führen, fuhr er zu ihr nach Bamberg, um ihre Wohnung aufzuräumen, damit der Arzt bei einem Hausbesuch nicht zu erschrecken brauchte. Nach dem Abitur hat sich Pater Ober weiter alleine durchs Leben schlagen müssen. Es begannen Jahre, in denen er nur einmal am Tag etwas gegessen hat. Er begann ein Studium der Philosophie in Passau. Danach ging er nach Bamberg zurück, um Theologie und gleichzeitig Medizin in München zu studieren. Hunger zu ertragen war für den Studenten nichts Neues. Als Theologiestudent ging Pater Ober damals an jedem Abend in ein anderes Kloster und bat die Klosterfrauen um Essen. Die Nonnen haben den Theologiestudenten gemocht, ihn gerne unterstützt und immer wieder eingeladen. Während seiner vielen Wanderwege von Kloster zu Kloster ist Pater Ober auf einen Orden gestoßen, dessen Prinzipien ihn sehr angesprochen haben. Im Jahre 1956 ist er diesem, dem Orden SAM, Societas auxiliarum missionum, in Löwen, Belgien, beigetreten. Damit hat sich Pater Ober für Missionsarbeit entschieden und im Jahre 1958 beendete er das Studium der Theologie mit einem Lizenziat, einer Arbeit für eine Marienenzyklika ad caeli reginam. Seine Ausbildungszeit war aber noch nicht beendet. Er ging nach Belgien an die katholische Universität, um Französisch und auch noch Soziologie zu studieren. Am 15. August 1959 wurde Pater Ober in Altötting durch den Bischof Landesdorfer zum Weltpriester geweiht. Seine erste Messe hat Pater Ober in seinem Heimatort Zeilarn zelebriert. Zeilarn, 16. August 1959

Zeilarn, 16. August 1959

Zeilarn, 16. August 1959. Pater Ober zu Hause mit den Eltern. Justine und Xaver Ober

Segensgruß

Nach der Priesterweihe wurde Pater Ober nach Paris geschickt, um an der Universität in Lille weiter Medizin zu studieren und gleichzeitig die madegassische Sprache zu erlernen. Das waren weitere Jahre, die von viel Fleiß erfüllt waren, da er in Paris noch als Kaplan arbeiten musste. In den Studienjahren vor der Weihe war Pater Ober in einem Kloster mit einer Nonne in Kontakt gekommen, die ihn gleich radiästhetisch testete. Somit wurde Pater Ober zum ersten Mal in seinem Leben mit dem Pendel konfrontiert. Diese Nonne erkannte, dass Pater Ober für die Arbeit mit dem Pendel geeignet war und ab diesem Zeitpunkt hatte sie den jungen Studenten der Theologie nicht mehr in Ruhe gelassen. Sie hatte ihn bei jeder Begegnung auf das Thema angesprochen, aber als junger Mensch wollte er davon nichts hören und auch nichts wissen. Der Student Aloys Ober hatte sich damals über eine Arbeit mit dem Pendel in der Hand sogar lustig gemacht. Die Nonne, die Schwester Hildegardis hieß, hatte aber nicht aufgegeben und ihm Bücher zu diesem Thema gegeben, deren Inhalt er dann doch mit Interesse in sich aufgenommen hatte. Anfangs glaubte er trotzdem nicht daran, dass ein Pendel bei der Arbeit behilflich sein könnte

Als ich Pater Ober fragte, wie er zum Pendeln gekommen war, zeigte er mir ein Foto, auf dem eine Klosterfrau abgebildet war, und sagte: „Das ist Schwester Hildegardis, Durch sie habe ich erfahren, dass es Radiästhesie überhaupt gibt. Diese Nonne hat mir das richtige Instrument in die Hand gelegt. Durch ihre Hartnäckigkeit habe ich das Pendeln gelernt und nur ihr habe ich meine Heilerfolge zu verdanken.“ Seine Worte waren leise und haben wie eine Beichte geklungen

Pater Ober hat mit seiner Ausstrahlung und dem besonderem Charisma, mit dem er gesegnet war, Menschen in seinen Bann gezogen, und durch seine Fähigkeit, heilen zu können, Patienten gewonnen. Drei Generationen, die auch ich noch behandeln durfte, sind an ihm hängengeblieben. Pater Obers medizinisches Diplom aus Frankreich

P. Aloys M. Ober schreibt aus Madagaskar

Das Vorwort des Journalisten: […] Nun aber soll ein Priester zu Wort kommen, der in Bayern viele Freunde und Helfer hat. Pater Aloys Maria Ober aus der Diözese Passau hat sich dem Weltpriester-Missionsinstitut SAM in Löwen, Belgien, angeschlossen, um als „Weltpriester für die Weltmission“ tätig zu werden. Seit Jahren arbeitet Pater Ober in der Diözese Miarinarivo im Zentrum der Insel Madagaskar. Pater Ober schrieb: Ich habe mich hier schneller verausgabt, als ich dachte. Pionierarbeit zehrt immer am Lebensnerv. Aber sie ist unendlich schön. Davon weiß man in Europa nichts. In unserer Diözese Miarinarivo mit ihrem Bischof fehlte es buchstäblich an allem, vor allem an Priestern, wir sind nur 16. Miarinarivo ist in den letzten Jahren ein einziges Baulager geworden: die Kathedrale musste endlich gebaut werden, eine neue Missionsschule war unentbehrlich, ohne Handwerksschule geht es einfach nicht mehr, auch der Bischof braucht sein Haus und entsprechende Büroräume. Eine Musterfarm soll der Ausbildung junger Landwirte dienen, um uns allen einen größeren Teil der Nahrungsmittel sicherzustellen. Misereor hat uns Handwerkschule und Musterfarm finanziert, für den Bau der Kathedrale hat sich die Jugend Österreichs stark gemacht und auf mir lastete der Bau von Schule und Internat. Der Journalist berichtet weiter: Pater Ober war in keiner beneidenswerten Lage. Seine Gesundheit war stark angeschlagen. Seit einigen Monaten hat ihn sein Bischof auf eine andere Missionsstation versetzt mit einer völlig anderen Arbeit. Doch lesen wir selbst seinen Bericht vom Februar 1965. Mein erstes Wirken auf Madagaskar: Am 30. Oktober 1939 wurde von Papst Pius XII. der erste madegassische Bischof Ignace Ramarosandratana geweiht und die neue Diözese Miarinarivo errichtet. Geographisch liegt sie im Herzen der Insel Madagaskar. Wirtschaftlich zählt sie zu den ärmsten. Bei der Errichtung dieser Diözese wurden sämtliche europäischen Missionare zurückgezogen und dem neuen Eingeborenen-Bischof standen nur 15 eingeborene Priester zur Verfügung. Um die Tätigkeit der einheimischen Priester zu unterstützen, kam ich im Jahre 1959 mit einem weiteren Weltpriester aus Mainz nach Madagaskar. Wenn auch die Diözese Miarinarivo seelsorglich gute Fortschritte machte, blieb sie wirtschaftlich auf dem Stand vom Jahre 1940, das heißt, dem Bischof diente als Kathedrale noch immer die alte Lehmhütte, die die ersten Missionare 30 Jahre zuvor erbaut hatten. Der Bischof selbst war immer noch in einem alten Pfarrhaus untergebracht, das er räumlich mit den Seminaristen teilen musste. Es gab nur wenige Schulen in der Diözese, keinen einzigen Handwerkbetrieb und keine sozialen Einrichtungen. Mein Mitbruder aus Mainz, P. Kahrs, wanderte durch mehrere Stationen. Ich verblieb am Bischofsitz und erhielt als erste Aufgabe, ein Kolleg aufzubauen, das eine Volks- und eine höhere Schule aufnehmen sollte. Nur mit deutschem Kapital konnte dieser Bau durchgeführt werden, da die Diözese zu arm war, um die Mittel aufzubringen. Misereor half uns dabei, eine Handwerkerschule zu errichten, die von deutschen Missionaren geleitet wird. Mit den Mitteln von Misereor konnten wir auch eine Musterfarm anlegen. Diese beiden Projekte waren für die Diözese sehr wichtig. Es gab noch keinen Handwerkerstand, der ja die Voraussetzung einer wirtschaftlichen Entwicklung bildete, und die Landwirtschaftsschule war notwendig, weil 96 % der Bevölkerung Reisbauern sind, die bisher keinerlei Technik im Reisbau anwendeten, sondern die Erde nur mit dem Spaten bearbeiteten und deshalb nur einen Bruchteil des Landes bewirtschaften konnten. In den Jahren meiner Tätigkeit in Miarinarivo habe ich neben dem Kolleg auch eine Krankenstation aufgebaut, zu der die Kranken oft aus 200 bis 300 Kilometern Entfernung gebracht werden. Wohl gibt es in den größeren Städten Madagaskars schon Krankenhäuser und Erste-Hilfe-Stationen. Die Kranken aber suchen viel lieber die kleine Krankenstation der Mission auf, weil sie hier auch die notwendigen Arzneien bekommen, während sie in staatlichen Krankenhäusern die Medikamente selber kaufen müssen, und dazu fehlt ihnen meist das Geld. Dann wurde ich vom Bischof an eine andere, neue Station versetzt. Diesmal eine echte Seelsorgestation. Aber auch hier spielten die wirtschaftlichen Probleme eine wichtige Rolle. Mit einem eingeborenen Priester bin ich auf der Hauptstation. Ich habe gleich eine kleine Krankenstation eingerichtet. Schon bald nach Mitternacht liegen die Kranken vor der Tür, um bei den Behandlungen morgens die Ersten zu sein. Manchmal werden 80 bis 100 Kranke erst am nächsten Tag zur Behandlung drankommen können. Von der Missionshauptstation aus mache ich meine Besuchsreisen ins Pfarrgebiet. Wir haben etwa 50 Außenstationen, von denen die weiteste 130 Kilometer vom Pfarrort entfernt ist. Viele können nur zu Fuß erreicht werden. Die Folge ist, dass ein großer Teil der kirchlichen Außenposten nur einmal im Jahr besucht werden kann. In unserer Abwesenheit leiten unsere Katechisten am Sonntag den Gebetsgottesdienst und geben auch religiöse Unterweisungen an Kinder und Erwachsene. Dafür bekommen sie von der Diözese eine ganz kärgliche Entlohnung, ich getraue mich die Höhe kaum niederzuschreiben, nämlich etwa fünf DM. Und dieses Gehalt muss von den einzelnen Missionsstationen selbst aufgebracht werden. So unglaublich es klingt, manche Missionsstationen, die 15 bis 20 Katechisten haben, sind selbst damit im Rückstand. Eine unserer Hauptsorgen ist: In jeder Außenstation müssten wir eine kleine Kirche aus Lehm und mit Stroh gedeckt haben. Dazu eine Volksschule und eine Hütte für den Priester, damit er den Christen nicht zur Last fällt. Schläft der Missionär bei seinen Besuchen auf seinen Landstationen im Haus von Christen, so weiß man nicht, wer das größte Opfer bringt: der Missionar, weil er seine Nacht unter Bedingungen wie die Eingeborenen verbringt und kaum Schlaf findet, oder die freundlichen Gastgeber, weil sie in ihrem einzigen Raum noch mehr zusammengepfercht sind. Doch im Übrigen möchte ich mit großer Freude und Zufriedenheit feststellen, dass es wohl keinen schöneren Beruf gibt, als den eines Missionars, und dass es wohl auch keinen Beruf gibt, den der Missionar nicht irgendwie kennen, vielleicht sogar etwas beherrschen sollte. In erster Linie geht es natürlich um unsere priesterliche Tätigkeit. Dazu muss eine gewisse Kenntnis kommen, um Kranke irgendwie ärztlich betreuen zu können, aber auch handwerkliche Fähigkeiten wie Schreinerei, Mauern, Zimmern und Schlossern sind Gold wert und ersparen dem Missionar viel Geld und Unannehmlichkeiten

Im Kampf mit Schlamm und Ratten

Der Journalist schrieb: Nun bringen wir einen weiteren Bericht unseres bayerischen Landsmanns Pater M. Ober, aus dem der unversiegbare Humor des Missionars trotz aller Strapazen und Mühen durchbricht; ein Missionar erträgt geduldig und gibt nicht auf: Meine Weihnachtstournee 1964 – 23. Dezember 1964. Ich fuhr vormittags von meiner neuen Missionsstation Soavinandriana nach Tamponala und Fiantsoana. Es ist ein Weg von 100 Kilometern zurückzulegen. Nach ein paar Stunden Fahrt war ich heillos im Schlamm versunken. Ich konnte nicht einmal mehr die Türe öffnen. Meine Schaufel, sonst ein sehr kostbares Werkzeug, half mir diesmal nicht mehr. Nach meinen vergeblichen Versuchen kam zufällig ein Land Rover vorbei, der mich nach einigen Fehlschlägen aus dem Schlamm zog. Mit viel mehr Vorsicht setzte ich meinen Weg fort, stieg nun öfters aus, wenn sich verdächtige Stellen zeigten, lotete die Tiefe des Schlammes aus und wagte es dann mit einem Stoßgebet. Ausweichmöglichkeiten gab es wenige, denn die Piste war links und rechts von Reisfeldern umgeben, die unter Wasser standen. Wir sind ja in der Regenzeit. Kurze Zeit darauf riss mir ein Felsstein, den ich zu spät sah, den Auspuff mit dem ganzen Dämpfungskasten weg. Mein Auto verwandelte sich in einen Düsenjäger, wenigstens in Hinsicht auf das, was den Lärm anbelangte. Ich selbst hatte den Eindruck, dass hinter mir Panzer waren. Ich ließ die Trümmer liegen und fuhr weiter, als ich sah, dass der Motor noch ganz war. Es setzte der Regen wieder ein und nun ging mir noch der Scheibenwischer flöten. Wahrscheinlich hatte er die Erschütterung, als ich ihm mein Manöver zugemutet hatte, nicht vertragen. Manchmal musste ich auf schmalen Pfaden fahren, die von Sturzwassern aufgewühlt waren. Wenn man da abrutschte, war man ebenfalls verkauft, weil dann der Wagen auf dem Bauche lag. Aber ich war es auch so, denn wieder einmal steckte ich im Schlamm, trotz meiner Vorsicht und Lotungen von Pfützen und Schlamm. Meine Versuche führten zu keinem Ergebnis, im Gegenteil, der Wagen grub sich nur noch tiefer hinein. Der Rasen, den ich anderswo ausstach, brachte mir nur Bisse von großen Ameisen ein. Ich dachte mir schon: „Also dein erstes Weihnachten auf der Straße!“ Da kam wieder, wie vom Christkind gesandt, ein Land Rover, jenes Allerweltsfahrzeug, das auch noch den Hades durchqueren kann. Für den Missionar ist dieses Fahrzeug aber unerschwinglich. Ebenfalls seine Unterhaltskosten, denn es verschlingt nicht weniger als 20 bis 25 Liter Benzin, je nach Straßenlage. Für den Augenblick war ich wieder gerettet, aber ich musste ja weiterfahren, und jedes Stück Weg, das ich zurücklegen wollte, brachte mich in ähnliche Gefahr. Mein Fahrgeschick wurde immer größer. Manchmal glaubte ich, jetzt hat es dich wieder, aber immer wieder konnte ich mich durch Vor- und Rückwärtsfahren, durch Kurven und „Judo“ aus dem Dreck ziehen. Ich wusste, dass ich die Station nicht mehr erreichen würde, und war deswegen überrascht, als plötzlich aus dem Regenschleier ein großes Dorf auftauchte. Ich hatte mich verfahren und kam in das Gebiet einer anderen Diözese, die an die unsere grenzte. Manchmal gibt es ja keine Straße, sondern man macht sie sich selber. Und darauf gibt es dann auch keine Schilder. Übrigens sind diese sowieso problematisch. Man muss Eingeborener sein, um sie zu verstehen. Folgt man diesen Hinweisen, so kann man fast sicher sein, den Weg zu verfehlen. Der Madegasse kennt weder Links- und Rechtsabbiegen noch ein Geradeaus. Fragt man ihn nach dem Weg, so sagt er nur: Fahren Sie nach Norden oder Süden, oder biegen sie nach einer Wegstunde nach Westen ab! Es ist für uns Europäer nicht immer leicht, dabei die angedeutete Himmelsrichtung zu finden. Die Madagassen orientieren sich dagegen auch in einem Zimmer leicht danach, als ob sie einen Kompass vor Augen hätten. Nach den ersten Erkundigungen war mir klar, dass ich den Weg nicht mehr fortsetzen kann, wollte ich nicht irgendwo im Schlamm stecken bleiben. Zudem war ich schon zu müde. Ein Autofahrer, der sich den Weg erst selber machen muss, steckt sich sein Ziel zu weit. Ich entschloss mich also, die Nacht auf der spanischen Missionsstation zu verbringen. Mit neuen Kräften setzte ich morgens meinen Weg fort. Diesmal nahm ich mir aber einen Eingeborenen mit, der den Weg kennen musste. Das gab auch eine Kraft mehr zum Schieben. 24. Dezember, Weihnachtsabend. Es hatte die ganze Zeit geregnet, vom Weg war also nicht viel zu erwarten. Kein Wunder, dass ich nach kurzer Zeit wieder im Schlamm stecken blieb. Mit vereinten Kräften aber gelang es uns diesmal, wieder auf festen Boden zu kommen. Mittags kam ich dann auch endlich an der Zielstation an. Müde durfte ich nun nicht sein, denn ich kam ja zur Arbeit. Bis zum Abend also Kranke – schon unterwegs einige Besuche, zu denen ich von Eingeborenen auf der Durchfahrt ersucht worden war. Dann Taufen, Vorbereitungen für die Mitternachtsmesse. Nach meinem Reismahl wollte ich mich etwas hinlegen und schlafen. Da aber meine Lagerstätte in der hintersten Ecke der Kirche war und die Christen schon ankamen, um zu beten und singen, wurde daraus nicht viel. Mitternachtsmesse mit Predigt und eine kurze Ruhe. Um den Schlaf brachten mich das Ungeziefer und die Mücken. 25. Dezember: Morgens um 06:00 Uhr, gestärkt durch eine Schale schwarzen Kaffee, Aufbruch in die nächste Station, wo ich die zweite Messe feiern wollte. Ich musste den weit zurückliegenden Weg ausnutzen. Es sind 20 Kilometer zu machen. Aber was besagt hier die Zeit? Ich musste einen Fluss überqueren, der zwar weniger Wasser führte, aber es genügte, dass ich in seinem Sandbett stecken blieb. So war es dann auch. Nach einer guten Morgengymnastik, wobei wir Gesträuch abholzten, um so Material für einen Straßen- und Brückenbau zu bekommen, war mein Wagen befreit und wir mit ihm. Wir waren so verspätet, dass uns die Christen nicht mehr erwarteten. Bis sie wieder zusammengetrommelt waren, hatte ich die Kranken verarztet und konnte nach ermüdenden Beichten – ach, diese Dialekte! – die Messe beginnen. Es reichte gerade noch zu einer Predigt. Nach einem kurzen Abschiedswort reichte die Zeit nicht mehr für ein Essen. Dann ging es weiter in meine dritte Station, wo ich eigentlich schon um 11:00 Uhr hätte sein sollen. Unterwegs wurde eine Ananas verzehrt, die uns Christen gegeben hatten. Sie löschte zugleich etwas unseren Durst. Als ich dort nachmittags ankam, waren auch hier schon die Christen verstreut. Sie rechneten nicht mit der Zähigkeit eines Europäers, mit der dieser sein Ziel verfolgt. Ich verlegte die Messe auf abends und nahm, bevor ich mich um die Kranken kümmerte und die Beichtkinder hörte, etwas Reis und zwei Eier zu mir. Es war ja auch mein Weihnachtsfestessen. Bei der Messe reicht es diesmal nicht mehr für die Predigt, so notwendig diese gewesen wäre. Nach einer üblichen Schale Reis legte ich mich schlafen. Das hatte ich wenigstens vor, aber daraus wurde wieder nichts. Kaum hatte ich die Kerze ausgeblasen, wurde es lebendig in der Hütte. Ich war bei Christen einquartiert. Meine nächtlichen Besucher waren Kadadakas, große Raubkäfer von vier bis fünf Zentimetern Länge, die nebenbei noch abscheulich stinken. Sie haben die Gewohnheit, sich von der Decke in mein Nest fallen zu lassen. Damit war ich absolut nicht einverstanden. Und so verbrachte ich die Nacht mit der Wache und stellte am Morgen fest, dass ich den „Kindermord von Bethlehem“ schon vorweggenommen habe. Die Tiere ekelten mich an und ich bewunderte die Eingeborenen, wie sie da zu einem Schlaf kommen können. Denn sie kamen sicher nicht, um mich zu besuchen. 26. Dezember: Ich war froh, als es tagte und ich endlich die Hütte verlassen konnte. Nach der Morgenmesse verließ ich die Station, um auf eine andere zu fahren, die Mahavelone heißt, wörtlich übersetzt „da, wo man auflebt“. Das war das Richtige für mich, der Name klang verheißungsvoll. Einmal konnte ich mich, nun wieder auf Fahrt, nur mehr mit dem Wagenheber befreien, weil ein großer Stein, der im Schilfgras versteckt lag, mir erfolgreich aufgelauert hatte. Ich war froh wie ein Kind zu Weihnachten, als ich sah, dass der Motorblock noch ganz war, jene Achillesferse vom Volkswagen. Einmal hatte mich nämlich ein solcher Unfall schon 1000 DM gekostet. Das war der Preis für die Reparatur. Aber ich hatte Glück, es war ja auch der große zweite Weihnachtsfeiertag. Als ich in der Station ankam, musste ich gleich etwas Unangenehmes erfahren. Ein Sturm hatte nachts das Dach der Pfarrkirche weggerissen, die sonst ganz anständig aussah und mir Schlaf versprochen hätte. Es ist ja auch eine der Zentralstellen. Ich musste also wieder bei Christen unterschlüpfen. Diesmal in einem ehemaligen Speicher, der ganz ordentlich aussah und bestimmt die beste Kammer darstellte, über die die Christen verfügten. Ich freute mich auf den ersehnten Schlaf. Meine übliche Routinetätigkeit erstreckte sich auch hier bis abends. Man empfängt nicht nur die Katholiken, sondern auch die Protestanten und Heiden, die alle kommen, besonders wenn sie wissen, dass der Pater auch Arzt ist und Medikamente mitbringt. Gott allein weiß, bei wie vielen das der erste Schritt auf dem Weg der Rückkehr ist. Wieder eine Nacht im Kampf. Ich war müder denn je! Aber der Schlaf ist umso schöner, je müder man ist. Ich inspizierte nochmal das Schlafgemach und konnte nur einen einzigen Kadadaka entdecken, der noch dazu unerreichbar war. „Mit diesem werde ich schnell fertig werden“, so dachte ich. Mit diesen Kampfgelüsten blies ich die Kerze aus. Denn nur so würde er sich nähern. Das Geräusch, das ich aber nun hörte, konnte nicht mehr von ihm sein. Und als ich einmal etwas über meinen Körper und mein Gesicht laufen fühlte, wusste ich, dass dies nur Ratten sein können. Ich suchte nach meiner Taschenlampe und … Du lieber Gott! Das war ja eine ganze Kompanie, die da ausgerückt war und das Gefecht auf diese Nacht verlegt hatte. Nach einem ordentlichen Sprung aus dem Bett mit viel Lärm und Geschrei, wie es sich in einem solchen Fall ziemt, begann ich mich dafür zu interessieren, wo diese Ratten ihre Schützengräben haben konnten. Ich sah hinter meiner Liegestatt ein großes Loch. Da hinein stellte ich nun eine Weinflasche, die fast noch voll war und darum schwer, diese hatten mir tags zuvor Christen gebracht. Beglückt über meine Erfindungsgabe legte ich mich wieder ins Bett. Aber ich war noch kaum auf dem Stroh, als es einen enormen Krach gab und die Flasche in Scherben sprang. „Mistviecher“, dachte ich mir, „jetzt habt ihr mich auch noch um den Wein gebracht!“ Ich bekam allen Respekt vor diesen Rekruten und ihre Stärke imponierte mir. „Die müssen besser leben als ich“, dachte ich mir. Aber andererseits freute ich mich über mein Husarenstück, denn ich steckte ihnen die Scherben ins Loch. Die, meinte ich, würden ihnen die Lust auf weitere Ausfälle schon verderben. Errare humanum est – Irren ist menschlich. Wie wahr ist doch dieses Wort! Nach der Zahl, die nun auftauchte, sah ich ein, dass sie sich provoziert fühlten, und so tat ich ein Gleiches, was ich die vorhergehende Nacht schon praktiziert hatte, ich ließ die Kerze brennen und wenn sie sich allzu sehr näherten, fuhr ich wie von einer Tarantel gestochen hoch. Das gefiel ihnen scheinbar so sehr, dass sie das Spiel bis zum Morgen fortsetzten. Fast hatte ich nun vor, eine Psychologie der Ratten zu schreiben, aber wer würde sie schon lesen! Am Morgen stellte ich dann fest, dass nicht nur ein Loch im Raum war, sondern mehrere, und dass diese untereinander mit Gängen, die durch die Lehmwände führten, verbunden waren. Zweifellos waren die Ratten taktisch geschult, was muss das für eine Wonne für sie gewesen sein: Sie hatten einen Vazaha, einen Weißen, besiegt, und welcher Schwarze wäre darauf nicht stolz, selbst wenn es Ratten sind. Mahavelone, „da, wo man auflebt“! Ich war nahe daran, das Dorf umzutaufen. Aber man darf ja nach einem einmaligen Besuch nicht urteilen. Werden meine Ratschläge befolgt, die ich den Dorfältesten bei meiner Abfahrt gegeben habe, so kann es immer noch wahr werden, was der Name aussagt. 27. Dezember: Diesmal verließ ich jedoch das Dorf nach der Messe gerne und machte mich auf den Heimweg. Drei Nächte ohne Schlaf ist auch für einen Missionar nicht sehr zuträglich. Zudem hatte ich am nächsten Tag wieder die Kranken auf meiner Hauptstation: Wieder ein ermüdender Tag, der Tournee-Alltag eines Missionars auf Madagaskar!

*** Bis ich die Briefe durchgelesen hatte, war es sehr spät geworden. Ich hatte sie mit großem Interesse gelesen und sie hatten in mir ein tiefes Mitgefühl geweckt, nicht nur den Afrikanern gegenüber, sondern vor allem Pater Ober als Europäer gegenüber, der die Klimaverhältnisse, die fremden Umstände, das primitive Leben auf der Insel nicht gewohnt war und das ganze Elend fast zehn Jahre lang ertragen musste! Die Armut Afrikas hatte mich tief bewegt. Durch die Briefe gewann ich einen kleinen, aber realistischen Einblick in das Leben der Afrikaner, deren Elend sich tatsächlich keiner in Europa vorstellen kann. Obwohl ich müde war, konnte ich nicht einschlafen. Und am Sonntag, als ich die Bilder aus Madagaskar sah, die schon am Tisch auf mich warteten, war mein Mitgefühl vollständig! Da die Hauptnahrung auf Madagaskar Reis war, hatte Pater Ober auch, wie die Einheimischen, diesen dreimal am Tag gegessen. Sein einziger Trost war das Avocadobäumchen vor seiner Hütte gewesen. An diesem Nachmittag war Pater Ober besonders gesprächig, er berichtete mir die weitere Geschichte, wie er mit der Arbeit mit dem Pendel angefangen hatte, weil das am Vortag meine eigentliche Frage gewesen war. Am Tag der Abreise nach Afrika schenkte ihm Schwester Hildegardis ein Pendel. Er nahm es an, steckte es in seinen Rucksack und vergaß es. Er war erst bei dem schwarzen Bischof auf der Hauptstation untergebracht, und hier bekam er eines Tages einen unerwarteten Besuch von zwei zerstrittenen Buschmedizinern, die sich nicht einig waren, ob eine bestimmte Pflanze giftig ist oder doch eine heilende Wirkung hat. Pater Ober sollte entscheiden, wer von den beiden Recht hat. Erst wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte, dann aber erinnerte er sich an das Pendel und holte es aus seinem Rucksack. Er benutzte es zum ersten Mal und stellte mit Staunen fest, dass es auf seine Fragen reagierte. Er fand sogar heraus, dass die Pflanze eine stark heilende Wirkung hatte. Er war wie elektrisiert und wollte die Blätter derselben gleich ausprobieren und bei seinem Bruder aus Mainz anwenden. Der Ordensbruder hatte nämlich eine sehr große Wunde an einem Bein, die seit Monaten nicht heilen wollte. Er hatte schon Verschiedenes ausprobiert, aber vergeblich, die Wunde wollte nicht heilen, und jetzt, als Pater Ober die Pflanze anwenden wollte, lehnte er aus Verzweiflung erstmal ab. Er glaubte an keine Heilung mehr und wollte den nächsten Versuch auch nicht zulassen. Pater Ober gab aber nicht auf, er war so davon überzeugt, dass die Pflanze helfen würde, dass der Ordensbruder es dann doch zuließ. Das Wunder ist geschehen. Die Wunde fing an, sich langsam zu schließen, und nach ein paar Wochen war sie geheilt. Das war die erste Erfahrung des Paters mit dem Pendel, und seit dieser Zeit wandte er es bei seiner täglichen Arbeit an

Madagaskar 1965

In der Werkstatt mit einigen Lehrlingen

Pater Ober wollte den Bauern die Arbeit auf den Feldern erleichtern und brachte aus Deutschland mehrere Sensen mit. Er wollte den Menschen die Arbeit damit beibringen, aber vergeblich. Die Bemühungen des Paters waren umsonst und somit ist die Arbeit auf den Feldern schwer geblieben. Pater Ober hatte außer seiner Missionsarbeit noch eine Schule und ein Internat mit 90 Jugendlichen zu leiten. Pater Ober beim Nähen, Madagaskar 1965

Madagaskar war in der Vergangenheit eine französische Kolonie und die Menschen auf der Insel haben die Unterdrückung und die schweren Zeiten unter den Franzosen nicht vergessen. Der Hass gegen Franzosen steckte immer noch in dem schwarzen Bischof, und da Pater Ober mit ihm nur auf Französisch kommunizieren konnte, hielt der Bischof ihn für einen Franzosen. Pater Ober bekam auch das elendste Zimmerchen in seinem Haus. Der Bischof war auf Pater Ober neidisch, weil die Menschen diesen öfter besuchten als ihn. Miarinarivo, Madagaskar, April 1991

Pater Ober auf der Suche nach Heilpflanzen, Madagaskar 1965

An einem Winterabend im Jahr 2006 ist Pater Ober noch einmal auf das Thema Madagaskar zu sprechen gekommen. Ich erfuhr, dass er seine Diözese dort im Jahre 1991 besucht hatte und er nicht gerade erbaut war von dem, was er dort vorfand. Dann sagte Pater Ober, dass er unbedingt noch einmal nach Madagaskar fliegen wollte. Seine Begeisterung über diese Idee und seine Spontanität, mit der er sie ausgesprochen hatte, erschreckten mich. Er war zwar aus dem Gröbsten heraus, aber noch lange nicht dazu in der Lage, so einen langen Flug zu überstehen. Dann fragte mich Pater Ober, ob ich mir ein Leben auf Madagaskar vorstellen könnte, da war ich ganz perplex. Ich war dermaßen erschrocken, dass ich sofort sagte: „Um Himmels Willen, nein! Willst du tatsächlich hin und auf Madagaskar bleiben? Das ist doch wieder mal eine Schnapsidee! Aus der Zivilisation raus und in das primitive Leben zurück, mit einem Bad im Fluss? Kommt gar nicht in Frage!“, sagte ich schließlich in entschlossenem Tonfall. Nach diesem Gespräch hat Pater Ober Madagaskar nicht mehr erwähnt, und diese Tatsache erleichterte mich sehr *** In der letzten Februarwoche bekam Pater Ober von seinem Bruder eine Einladung zu einer doppelten Geburtstagsfeier. In diesem Jahr hatten seine beiden jüngsten Geschwister Anfang März einen runden Geburtstag, den sie zusammen feiern wollten. Seine Schwester wurde 75 und der Bruder 70. Die Feier sollte in Pocking stattfinden. Dass die offizielle Einladung auch für mich galt, überraschte mich, weil ich doch kein Mitglied der Familie war. Wir sind dann am 03. März nach Pocking abgereist. Pater Ober fuhr das Auto wieder mal zu schnell, ich spürte, dass er die lange Strecke so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Ich schwieg die ganze Fahrt und betete, dass nichts passieren würde, und die aufsteigende Angst ließ mein Herz pochen. Ich erlaubte mir auch keine Bemerkung, um seine Konzentration nicht zu stören und ihn womöglich noch aufzuregen. Als wir dann am Haus des Bruders ankamen, verflog die Anspannung, meine und seine. Er lächelte mich sogar an. Im Vergleich zum Haus des Paters, das eher an ein Kloster erinnerte, fand ich das Haus des Bruders groß, hell und überraschend schön. Der Abend ist ruhig verlaufen, es waren noch keine Gäste da. Am nächsten Tag, gleich nach dem Frühstück, trieb uns der unruhige Geist des Paters aus dem Haus. Es war ein ruhiger, schöner Wintertag. Pater Ober führte mich durch die verschneiten Straßen bis zur Kirche, vor der wir kurz stehen blieben. Wir gingen schweigend weiter, es gab wenig Verkehr. Es war ein angenehmer Spaziergang in der Stille, und plötzlich standen wir vor dem Schaufenster eines Juweliers. Als wir die schönen, goldenen Schmuckstücke so betrachteten, fing Pater Ober an zu erzählen, wie er einmal mit einer betuchten Frau vor einem Juwelier gestanden und auf die teuersten Manschettenknöpfe, die ihm so gefallen hatten, gezeigt hatte. Es hatte nicht lange gedauert, bis er die Manschettenknöpfe von der Frau geschenkt bekommen hatte. Mittags sind wir pünktlich zu Hause angekommen und danach machten wir uns auf den Weg in eine große, nahe liegende Kapelle. Das war der Sammelpunkt für alle Gäste. Die Messe hielt Pater Ober und danach folgte eine Predigt

Die ganze Zeremonie hat Pater Ober viel Kraft gekostet. Nach der Messe führten die beiden Geburtstagskinder die Gäste nach Hause. Dort war schon ein langer Tisch vorbereitet, er stand an einer Wand, die aus einem Fensterfront bestand, sodass man in den Garten blicken konnte. Die zahlreichen Obstbäume waren mit Schnee bedeckt, was märchenhaft aussah. Pater Ober war dermaßen geschwächt, dass er sich widerstandslos in das Zimmer nebenan führen ließ und sich gleich auf die therapeutische Liege legte. Er schlief auch sofort ein. Nach einer Stunde war er wiederhergestellt, er stand gut gelaunt auf und wir nahmen am Tisch Platz. Ich war irritiert, als ich sah, dass wir beide zu beiden Seiten der Geburtstagskinder unseren Platz bekamen. Ganz wohl fühlte ich mich dabei aber nicht. Um den langen Tisch herum saßen circa 20 Gäste. Das Essen wurde serviert. Es war schmackhaft und es gab eine große Auswahl an Speisen. Die Gespräche am Tisch haben sich an diesem Abend bis tief in die Nacht gezogen und der folgende Sonntag war zum Ausruhen gedacht. Wir sind dann erst am Montag nach dem Frühstück nach Aschau zurückgefahren, wo uns der Alltag schnell einholte. Um 14:00 Uhr begann für Pater Ober der Spätdienst. Das Wartezimmer war überfüllt und Pater Ober arbeitete wieder mal so lange, bis der letzte Patient behandelt war. An solchen späten Abenden nahm Pater Ober nichts mehr zu sich. Die Behandlung des Paters, Pocking, 04. März 2006

*** Der Schnee im Garten schmolz langsam und der Winter neigte sich dem Ende zu. Bevor wir jedoch mit der Gartenarbeit angefangen haben, führte mich Pater Ober eines Tages in die Kellerräume, ohne vorher ein Wort zu sagen. Er schien wieder mal nachdenklich zu sein. Wir kamen in die Waschküche, er ging weiter und öffnete eine Türe, die zu weiteren Kellerräumen führte. An der ganzen Länge der rechten Wand, wo Pater Ober stehen blieb, befanden sich technische Einrichtungen, die mit dem Schwimmbad verbunden waren. Die dicken, senkrecht verlaufenden Rohre waren wie die Wände weiß bemalt. Hier sagte Pater Ober kurz: „Die Einrichtung wurde still gelegt, weil die Sanitätsbehörde keine Zulassung für die Nutzung des Schwimmbades gab.“ Das Schwimmbad war also von Anfang an nicht benutzbar gewesen. Pater Ober führte mich weiter. Am Ende des Raumes befand sich in der Ecke ein großer Stapel von verschiedenen Koffern. Daneben standen mehrere Pappkartons auf dem Boden. Diese waren mit weißen DIN-A3-Papierblättern gefüllt. Pater Ober bückte sich, nahm zwei Bögen in die Hand, zeigte sie mir und sagte: „Das sind Pflanzen aus Madagaskar.“ Ich sah, dass auf jedem Bogen ein eingetrocknetes Blatt befestigt war. Da Pater Ober schwieg, dachte ich gleich daran, dass er die Pflanzen selbst gesucht, getrocknet und auf dem Papier befestigt hatte! Ich war tief beeindruckt, als ich die Menge sah. Wie viel Ehrgeiz, Fleiß und Arbeit in den Kisten steckte! Nach einer Weile sagte Pater Ober, dass er ein Buch über die Heilpflanzen schreiben wollte, und mit Bedauern in der Stimme meinte er dann, dass er leider in seinem Leben nicht mehr dazu gekommen ist. Als wir den Keller schweigend verließen, dachte ich: „Wie könnte er ein Buch über die Pflanzen schreiben, wenn die Blätter nicht beschriftet sind?“ Als Pater Ober nicht mehr unter uns weilte, wollte seine Schwägerin die Kartons mit den Pflanzen abholen. Ich saß gerade in der Kapelle vor seinem Haus, als sie mich deswegen sprechen wollte. Wir gingen gleich in den Keller hinunter, wo die Kisten damals gestanden hatten, aber sie waren nicht mehr da! Auch die Koffer waren weg! Ich konnte für das Verschwinden keine Erklärung finden. Es war aber möglich, dass Pater Ober selbst in der Nacht alle Kisten und auch alle Koffer weggeräumt hatte. Vielleicht sah er ein, dass die unbeschrifteten Blätter niemandem nützlich sein konnten. Aber wo hatte er alles hingebracht? *** Während der Arbeit im Garten habe ich oft den riesigen Rasen betrachtet, der unter den Obstbäumen ungenutzt dalag. Ich dachte an ein paar Hühner, die hier ein Paradies hätten haben können, und eines Tages machte ich die Bemerkung, dass es doch schön wäre, wenn hier auf dem Gras ein paar Hühner herumlaufen könnten. Pater Ober sagte aber sofort: „Ich möchte aber keine haben.“ Daraufhin habe ich nichts mehr gesagt und wir arbeiteten weiter. Den Wunsch nach frischen Eiern habe ich dann auch gleich wieder vergessen. Obwohl ich in meinem Leben vorher noch nie in einem Garten gearbeitet hatte, konnte ich doch erkennen, dass die Art der Arbeit von Pater Ober eine ungewöhnliche war. Er arbeitete eben schnell und pausenlos, nicht mehr so langsam wie im letzten Jahr, dabei sah ich, wie jeder Handgriff saß, und diese Tatsache ließ mich erkennen, wie groß seine Erfahrung war, und ich war froh, dass ich bei seinem Tempo mithalten konnte. Am Anfang, als ich ins Haus gekommen war, hatte mich Pater Ober mit seinem scharfen Blick auch im Garten bei der Arbeit beobachtet und eines Tages sagte er unerwartet zu mir: „Deine Lebensvitalität liegt bei acht!“ „Ach, der Pater testet mich“, dachte ich, und als ich wissen wollte, wie hoch seine Vitalität sei, wollte er es mir nicht verraten. Es war an der Zeit, den Gemüsegarten vorzubereiten. Wir waren tagelang mit der Erde beschäftigt. Es waren ja neun lange Beete durchzugraben und zu sieben. Sie waren sechs bis sieben Meter lang und 90 bis 100 Zentimeter breit. Diese Arbeit war sehr schwer und jeden Tag ging es weiter. Ich füllte die Karre mit Erde, fuhr sie zu Pater Ober, der am Rande der Beete vor einem großen Gartensieb stand, und schleuderte die Erde dann durch das große Sieb. Ich holte die nächste Karre voll … und so arbeiteten wir pausenlos bis zum Mittag. Auch bei dieser Arbeit gab es nicht mal fünf Minuten Pause, obwohl ich sah, dass das Sieben Pater Ober zu schaffen machte. Am schlimmsten empfand ich die Samstage, da wir von 09:00 Uhr in der Früh bis 18:00 Uhr abends im Garten beschäftigt waren. Die Zeit beim Essen konnte ich als Pause betrachten, dann folgte gleich seine Behandlung. Am Sonntag waren wir beide kaputt, aber der Tag nahm seinen gewohnten Lauf, auch der Spaziergang nach dem Frühstück bis zur Brücke im Wald war obligatorisch. Nach einiger Zeit schwerer Gartenarbeit merkte ich, dass sich in meinem rechten Handgelenk ein dauerhafter Schmerz eingenistet hatte, der nicht verschwinden wollte und mit jeder Woche größer wurde. Beklagen wollte ich mich nicht, und so arbeitete ich im Garten weiter – in der Hoffnung, dass der Schmerz irgendwann von alleine verschwinden würde. Das war aber nicht der Fall. Er wurde immer größer und schließlich weckte er mich schon um 03:00 Uhr in der Früh. Er war kaum noch zu ertragen. Eines Nachts wurde er schließlich unerträglich! Ich sprang mit einem Schrei aus dem Bett hoch und ging schnell in das kleine Zimmer, damit mich niemand schreien hören konnte, der zufällig unten auf der Straße vorbeiging. Ich schrie voller Schmerz, Kraft, Wut und Verzweiflung: „Geh weg!“ Der Schrei hatte mich viel Kraft gekostet. Ich war fertig. Ich stand in der Mitte des Zimmers und merkte nach ein paar Sekunden, dass der Schmerz weg war! Ich traute der Situation nicht und stand weiterhin wie angewurzelt, voller Angst, dass der Schmerz wiederkommen könnte, wenn ich mich bewegte. Nun begann ich mich ganz langsam zu bewegen, ging vorsichtig in die kleine Küche, setzte mich an den Tisch und wartete ab, aber der Schmerz kam tatsächlich nicht mehr! Es war einfach unglaublich! An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken, ich war immer noch völlig außer mir und saß noch lange in der Küche. Da sich der Schmerz tatsächlich nicht mehr meldete, dachte ich jetzt darüber nach, ob ich das Erlebte Pater Ober mitteilen sollte oder nicht. Würde er mich womöglich auslachen? Dann war es so weit, Pater Ober kam wie immer zum Mittagsessen in die kleine Küche. Wir beteten kurz und aßen. Ich war immer noch unentschlossen, ob ich es ihm erzählen sollte oder nicht. Nach dem Essen fing ich doch an, langsam und unsicher zu erzählen. Ich wollte mich ja nicht beklagen. Als ich den kleinen Schmerz erwähnte, wurde Pater Ober hellhörig. Nach meiner Erzählung fragte mich Pater Ober kurz: „Kennst du Kue?“ „Nein“, sagte ich. „Was ist das?“ Pater Ober sagte nichts und verließ die Küche. Ich wusste aber, dass er wiederkommen würde und wartete. Und tatsächlich, nach einer Weile kam Pater Ober in die Küche und legte mir einen großen Stapel dünner Heftchen auf den Tisch, danach entfernte er sich sprachlos. An diesem Tag ist seine Behandlung ausgeblieben. Er ließ mir Zeit zum Lesen und Denken. Irgendetwas beschäftigte Pater Ober, ich spürte, dass er seit einigen Tagen mit seinen Gedanken woanders weilte. Jetzt aber sah ich mir die Heftchen an. Sie waren aus der Schweiz und trugen den Titel „Autosuggestion“. Ich habe sofort damit angefangen, alle Heftchen, eins nach dem anderen, schnell zu durchsuchen, als hätte ich gewusst, wonach ich suche. Und tatsächlich: Ich hielt plötzlich ein Heftchen in der Hand, das mit einem Bleistiftkreuz gekennzeichnet war. Ich setzte mich damit an den Tisch und blätterte die Seiten schnell um. Ich wurde sofort fündig! Ich habe einen Artikel über Emile Couè gefunden, also war das Wort Kue in der Frage des Paters dieser Name gewesen! Der Artikel hat mich sofort angezogen, weil ich Biographien und Berichte über berühmte Menschen mag. Emile Couè lebte in Frankreich, er besaß eine Apotheke und hatte auch einen offenen und hellen Kopf. Er beobachtete die Menschen, die in die Apotheke kamen. Unter den vielen Patienten war ein kranker Mann, der sich ständig beklagte, dass das letzte Medikament auch nicht geholfen hätte. Emile Couè kam auf eine Idee und stellte für den unzufriedenen Mann ein Placebo her. Als der Mann wiederkam und sich abermals beklagte, gab ihm der Apotheker das Päckchen mit den Placebokapseln in die Hand und betonte: „Dieses Medikament ist das richtige für Sie! Das hilft Ihnen bestimmt!“ Der Mann nahm das große Päckchen und ging. Nach einer langen Zeit kam er wieder und sagte höflich: „Herr Couè, ich danke Ihnen für das letzte Medikament, es hat geholfen! Darf ich es nochmal bekommen?“ Diese Erfahrung gab dem Apotheker zu denken: Was hatte geholfen? In den Kapseln war doch kein Wirkstoff! Emile Couè kam auf die Idee, dass das, was geholfen hatte, seine eigenen Worte waren, die er so betont hatte! Was meine bescheidene Person betrifft, denke ich, dass man in diesem Fall die Wirkung des Placebos auch ganz anders erklären könnte. Nehmen wir an, der Mann hatte – aus welchem Grund auch immer – einen übersäuerten Körper. Die sogenannten Medikamente, die ihm ständig verordnet worden waren und aus reiner Chemie bestanden, hatten seinen Körper zusätzlich übersäuert, das heißt im Klartext, sie hatten ihn vergiftet! Das Placebo hatte einfach eine Pause in der Aufnahme von Giften eingeleitet und dadurch die Beschwerden gelindert. Das hatte der Mann dann als Besserung empfunden und den Placebokapseln zugeschrieben! Wie auch immer, Emile Couè war die erste Person, die die Schulmedizin darauf aufmerksam machte, dass Worte selbst schon eine Kraft besitzen! Während ich über die Geschichte von Emil Couè mit dem kranken Mann nachdachte, ist mir das Wirken des mental ausgesprochenen Wortes noch klarer geworden, weil ich plötzlich an ein Erlebnis aus der Vergangenheit denken musste, das ich mir damals nicht hatte erklären können. Damals habe ich im Gesundheitsamt mit acht Personen in einem Raum gearbeitet. Wir hatten keine Mittagspause, aber wir haben uns gegen 10:00 Uhr einen Tee vorbereitet und etwas dazu gegessen, während wir weiterarbeiteten. Unter meinen Amtskollegen befand sich eine Steffi, die immer, bei jeder noch so kurzen Unterhaltung, das letzte Wort haben musste, und wenn ich mich an manchen Montagen beim Tee über meine Müdigkeit beklagte, weil ich am Vortag so viel Arbeit hatte nachholen müssen, machte sie jedes Mal ihren Mund auf und sagte: „Du hast nur zwei Kinder und du hast gestern, am Sonntag, wieder keine Zeit gehabt, um mit ihnen spazieren zu gehen?“ Ihre Worte haben mir immer sehr wehgetan, aber ich sagte daraufhin nichts mehr. Steffi war über vierzig und konnte laut Diagnose der Ärzte keine Kinder mehr bekommen, weil sie mit 20 eine Zwillingstotgeburt hatte. Sie wohnte aber in einem neuen Haus mit Zentralheizung und hatte auch einen gut verdienenden Mann, während ich meine neue Wohnung mit Kohle wärmen musste, die ich mir erst alleine aus dem Keller in den zweiten Stock bringen musste. Nach langer Zeit, als ich mich wieder mal so unvorsichtig über meine Müdigkeit beklagte und Steffi dieselbe Bemerkung machte, platzte mir der Kragen und ich sagte voller Wut, aber nur mental, zu mir: „Vater im Himmel! Gib Steffi zwei Kinder, damit sie weiß, was das bedeutet!“ Es ist kaum ein halbes Jahr vergangen, bis Steffi zwei Kinder bekam! Mit dieser Neuigkeit platzte sie eines Tages ins Büro. In diesem Moment dachte ich an meinen in Wut ausgesprochenen Wunsch, den ich bis dahin längst vergessen hatte. Ich war sehr überrascht, dass er in Erfüllung gegangen war, obwohl ich mir das damals nicht erklären konnte, bis heute, nach so vielen Jahren und Erfahrungen. Ein Kind musste Steffi adoptieren – das ist aber eine lange Geschichte, wie und warum sie wegen ihren hochmütigen Äußerungen dazu gekommen ist und nicht mehr Nein sagen konnte – und sie wurde schwanger! *** Die vollkommen überraschende und unerwartete „Schmerzvertreibung“ brachte mich zu der Erkenntnis, dass wir es mit einem Phänomen zu tun haben, das viele Facetten haben muss und weiter, dass die Autosuggestion, das Autogentraining, die Telepathie, die Erfüllung von Wünschen, egal ob sie negativ oder positiv gedacht waren, und zuletzt auch die erlebte Schmerzvertreibung zu den großen Phänomen gehören. Das Wirken der unsichtbaren Kraft, die in all den aufgezählten Fällen festzustellen ist, hat mich lange Zeit beschäftigt. Wenn die gedachten oder laut ausgesprochenen Worte Wirkung zeigen, dann besitzen sie doch eine Kraft, die nur aus unserem Gehirn kommen kann! Also besitzen wir ein Energiepotenzial in unserem Gehirn. Dann stellte ich mir die Frage: Was ist eigentlich das Energiepotenzial in unserem Gehirn? Ist das nicht der Geist, das Göttliche in uns? Jesus sagte doch: Ich lebe in jedem von euch.“ Der Mensch ist also dazu fähig, auf Grund der unsichtbaren Kraft des Geistes zu denken, zu empfinden, er kann etwas bewirken, kann spüren, sprechen, Entscheidungen treffen, und dank der vielen wundervollen Fähigkeiten selbständig leben. Ist das nicht wundervoll und einmalig, was unser menschliches Wesen alles geschenkt bekam? Ein Beweis dafür, dass wir das Göttliche in uns besitzen, kann die Tatsache sein, dass die sogenannten Wissenschaftler das menschliche Gehirn bis heute noch nicht komplett erforscht haben! Und ich glaube fest daran, dass sie auch in Zukunft das Gehirn nicht entschlüsseln können, so lange sie das Göttliche übersehen oder nicht wahrnehmen wollen! Schon unsere mental gesprochenen Worte und Gedanken sind ein einmaliges Phänomen, man hört sie nicht, man sieht sie nicht, sie existieren aber und wirken! Meine Überlegungen zu dieser Zeit brachten mich schließlich auf die Radiästhesie mit ihrem großen Spektrum an Möglichkeiten, das man erlernen kann. Die Radiästhesie ist eben eine Wissenschaft für sich und überwiegend unter den Geistlichen bekannt. Tatsache ist, dass Pater Ober sich mit einem Patienten am Telefon im Geiste verbinden konnte und auf Grund der geistigen, unsichtbaren Verbindung seinen körperlichen Zustand prüfen und auch herausfinden konnte, unter welcher Erkrankung er litt oder welches Organ schwach oder geschädigt war, je nachdem, welche Frage er dem Pendel (eigentlich Gott) gestellt hatte. Auf jede Frage bekam er die richtige Antwort! Es geschah etwas Unglaubliches aufgrund der göttlichen Verbindung. Die Diagnosen von Pater Ober waren immer zutreffend und exakt. Diese Tatsache brachte ihm den Erfolg und den Ruhm als ausgezeichneter Heiler. Es ist mir auch klar geworden, dass die Bezeichnungen mental, geistig oder spirituelle Arbeit dieselbe Bedeutung haben, nämlich eine Arbeit mit unsichtbaren Kräften. Das Pendel dient schließlich sozusagen als Werkzeug, das die von oben geschickte Antwort entsprechend deutet. Dass die Radiästhesie funktioniert, dafür sprechen die zahlreichen Heilungserfolge des Paters, die ihn weit über die Grenzen Deutschlands bekannt machten. Mir fehlen sogar die entsprechenden Worte, um das Phänomen während der Arbeit mit dem Pendel in der Hand zu beschreiben! Aber ist der Mensch selbst nicht ein Phänomen und ein Wunder der Natur, des Göttlichen, wenn er sogar eine eigene Apotheke in sich trägt? *** An einem anderen Abend blieb ich am Tisch in meiner Gästeküche sitzen. Ich las ein Buch, das Pater Ober mir hingelegt hatte. Es fesselte mich dermaßen, dass ich die Zeit vergaß. Dann merkte ich, wie spät es geworden war und dachte an die Gemüsereste, die ich zum Kompost in den Garten bringen wollte. Trotz der späten Stunde ging ich noch mit dem Abfall hinunter, blieb wegen der Dunkelheit erstmal vor der Eingangstür stehen und blickte in den dunklen Garten hinaus. Da sah ich plötzlich ein winziges, schwaches Licht, das sich im Garten bewegte. „Was ist das?“, fragte ich mich erschrocken. „Sind das Einbrecher?“ Das war mein erster Gedanke, und ich beobachtete das schwache Licht weiter. Da sah ich, dass das Licht näher kam und mit ihm Pater Ober. Ich atmete auf. In der rechten Hand hielt er eine Gartenschere und in der linken die große Taschenlampe, die auf dem kleinen Tisch in seiner Küche ihren Platz hatte. „Was macht der Herr um diese Zeit noch im Garten?“, fragte ich mit einem Lachen. „Es ist doch nach 23:00 Uhr? Kommt der Herr denn nie zur Ruhe?“ Da erfuhr ich, dass Pater Ober oft um diese Zeit im Garten die Schnecken jagte. „Wozu braucht man die Schere?“, fragte ich neugierig. „Mit der Gartenschere“, sagte Pater Ober, „schneide ich die Schnecken durch. Das ist humanes Sterben.“ Die Terrasse war vom Garten und vor den neugierigen vorbeigehenden Leuten mit einem Weinstock abgegrenzt. Diesen haben wir jedes Jahr von beiden Seiten mit einem dünnen Netz zugedeckt, damit die Amseln nicht an die reifenden Trauben kommen konnten. Die schwarzen Weintrauben schätzte Pater Ober sehr und er betrachtete sie als Medikament für sein krankes Herz. Es war einfach eine Kostbarkeit für ihn. Nach der Gartenarbeit, auf dem Weg zum Haus, sind wir jeden Abend am Weinstock vorbeigegangen. Eines Tages merkte Pater Ober, dass sich eine Amsel in das Netz eingewickelt hatte und sich nicht befreien konnte. Er ist stehengeblieben und mit einem heftigen Tritt voller Wut tötete er den Vogel mit dem Schuh. Die Amsel war sofort tot! Ich bin vor Schreck wie von der Tarantel gestochen weggesprungen. Es war unglaublich, was ich da gesehen hatte! Mein pochendes Herz konnte sich lange nicht beruhigen. Und in diesem Moment musste ich an das humane Sterben der Schnecken denken. Der Mensch war voller Widersprüche *** Pater Ober hat das Haus sehr selten am Abend verlassen, und wenn er ausgehen wollte, kam er zu mir nach oben und meldete sich ab. Jedes Mal überraschte er mich damit, weil er das doch nicht zu machen brauchte. Diese Tatsache gab mir aber zu denken: „Glaubt er vielleicht, dass ich am Abend das Haus verlasse, ohne mich abzumelden?“ Aber ich habe das Haus ja nie abends verlassen! Pater Ober hat nur zwei Personen im Ort ab und zu besucht. Eine davon war der Baumeister, der sein großes Anwesen erbaut hatte. Pater Ober bezeichnete ihn als seinen Freund, und einmal machte er mich sogar mit ihm bekannt. Er nahm mich einfach mit. Ehrlich gesagt, wohl fühlte ich mich dabei aber nicht. Als wir später nach Hause kamen, fragte ich Pater Ober, warum er den Freund nicht einlädt, ich könnte doch auch etwas für seinen Besuch vorbereiten. Daraufhin gab mir der Pater eine ganz kurze Erklärung: „Ich mag seine Frau nicht.“ Pater Ober war tatsächlich kein geselliger Mensch. Er kannte nur seine ununterbrochene Arbeit im Garten, die Pflicht den Patienten gegenüber und die Treue für die Ärmsten der Armen in der Welt, für die er immer noch reichlich spendete. Eines Tages im Hochsommer 2006 kam nach unserer Arbeit im Garten ein unerwarteter Besuch aus Amerika ins Haus. Pater Ober rief mich sofort und schlug uns allen einen gemeinsamen Spaziergang vor. Dabei hatte ich das Gefühl, dass Pater Ober nicht wusste, worüber er sich mit den Gästen unterhalten sollte. Wir verließen das Haus und er führte uns schnell und wortlos über die großen, breiten Wiesen, so, dass wir Frauen weit hinter den Männern geblieben sind. Dann standen wir vor einer Gaststätte und es hatte den Anschein, dass Pater Ober die Gäste zum Essen einladen wollte. Da sie geschlossen war, führte uns Pater Ober wieder durch die riesigen Wiesen, anscheinend zu der nächsten, und wir standen schließlich wieder vor einer geschlossenen Tür. Das war anscheinend ein Ruhetag, und ich fragte mich, ob Pater Ober das tatsächlich nicht wusste. Er war gar nicht gesprächig, reagierte auch nicht auf die geschlossene Tür und führte uns sofort wortlos weiter. Dann standen wir vor der dritten geschlossenen Tür. Da Pater Ober weiterging, ohne ein Wort zu sagen, war ich jetzt sicher, dass wir endlich nach Hause geführt würden. Wir waren nach den vielen Kilometern, die zwischen den drei Gaststätten lagen, schon müde. Wir kamen nach dem langen und schnellen „Spaziergang“ erleichtert zu Hause an. Als wir alle im Korridor vor seiner Küche standen, konnte ich an Pater Obers Gesicht ablesen, wie sehr er sich in diesem Moment ratlos und überrumpelt fühlte. Als er keine Worte fand, sagte ich laut: „Ich hole jetzt von oben Brot und Butter!“ „Das habe ich auch!“, reagierte er sofort, und ich folgte ihm in die Küche, während die Gäste davor stehen blieben. Als der Pater das Brot und die Butter auf das Fensterbrett legte, sagte ich leise zu ihm: „Möchtest du die Gäste nicht in das Wohnzimmer bitten?“ Er reagierte sofort, lud die Gäste in das Wohnzimmer ein und holte aus dem Keller ein Körbchen voll Äpfel. Wir alle waren dermaßen hungrig, dass die Teller gleich leer waren. Ich bin automatisch aufgestanden, um die nächsten Brote zu holen, da kam Pater Ober mir in die Küche nach und flüsterte mir ins Ohr: „Nur eine Scheibe für jeden“, und ging ins Zimmer zurück. Die alten Bekannten, die Gäste aus Amerika, waren in Aschau stationiert, aber sie haben Pater Ober nie wieder besucht. Nicht einmal bei Tisch hat sich ein Thema ergeben. Das war ein Besuch! Die einzigen Gäste, die Pater Ober regelmäßig besuchten, waren seine Geschwister. Das waren sein Bruder mit seiner Frau und die Schwester, mit der er jeden Tag telefonierte. Die Schwägerin beschenkte Pater Ober jedes Mal mit einem Blechkuchen, den er sich in kleine Stücke teilte und einfror. Pater Ober mochte den Kuchen, das war sein Sonntagskuchen zum Kaffee. Ich nahm an, ohne ihn hätte Pater Ober keinen fröhlichen Sonntag gehabt. Obwohl Pater Ober wusste, wann der Besuch kommt, hat er sich nie darauf vorbereitet und auch nicht die Gartenklamotten gewechselt. Das hat mich gewundert. „Freut er sich gar nicht auf den Besuch?“, fragte ich mich. Einmal habe ich Pater Ober darauf angesprochen, daraufhin sagte er nur: „Sie sind daran gewöhnt, dass ich ständig arbeite.“ Und die Geschwister haben ihn tatsächlich wieder mal bei der Arbeit im Garten angetroffen, wo wir gerade mit dem Sägen beschäftigt waren. Die Pflicht des Paters den Geschwistern gegenüber war immer noch tief in ihm verwurzelt, wie damals, als sie Kinder waren und er als der Älteste mit fünfzehn Jahren auf die beiden Jüngeren aufpassen musste, wenn die Mutter ins Krankenhaus kam. Er hat sie immer noch wie damals bewirtet. Er hat persönlich für sie gekocht, alles auf den Tisch gebracht und nach dem Essen alleine abgewaschen, und zwar blitzschnell. Nicht mal die Schwester durfte helfen. Das Einzige, was sie machen durfte, war ein Kuchen für den Nachmittagskaffee. Als ich das erste Mal dabei zuschauen durfte, erinnerte mich der Blechkuchen sofort an die Nachkriegszeit in Schlesien, in der man von Glück sprechen konnte, wenn man die Hauptprodukte zu diesem Kuchen zu kaufen bekam. Das war derselbe Kuchen aus Weißmehl, Wasser, Salz, Hefe und Marmelade, den ich damals schon nicht mochte. Deswegen wollte ich auch zum Kaffee am Nachmittag nicht kommen. Damals aber, nach dem Krieg, war der Blechkuchen aus Getreide eine Rarität zum Kaffee. Bohnenkaffee gab es nach dem Krieg noch nicht. Nach dem Kaffee am Nachmittag ging man spazieren, wie bei uns in Schlesien auch, oder man ruhte sich hier auf der Terrasse aus. Die Atmosphäre im Haus während der Besuche war immer mit Anspannung verbunden. Die Familie hat einen respektvollen Abstand zu Pater Ober gehalten. Es gab auch keine Vertraulichkeiten. Die Schwester hatte zu Hause einen pflegebedürftigen Mann, den sie schon seit Jahren pflegte. Für die langjährige Pflege daheim hatte sie eine Anerkennung von der Stadt Burghausen bekommen, die ich bei ihr zu Hause eingerahmt sah. Damit sie sich ein paar Tage erholen und mit dem Bruder von Pocking nach Aschau kommen konnte, bezahlte ihr Pater Ober eine Pflegerin für die Auszeit. Die Schwester hat auch für sich manchmal Geld gebraucht und bat ihren Bruder, Pater Ober, darum. In diesem Punkt zeigte er sich aber sehr geizig. Jedes Mal, wenn die Geschwister das Haus verließen, sagte der Pater zu mir mit verärgerter Stimme: „Sie hat wieder Geld gewollt und so lange gebettelt, bis sie es bekommen hat!“ „Wie viel hast du ihr heute gegeben?“, fragte ich einmal. „Hundert!“, sagte er sauer. „Na sowas, du bist aber Einer!“, sagte ich lachend. Pater Ober hatte meine Worte still geschluckt, sagte aber kein Wort. Da er schwieg, redete ich weiter: „Das Geld alleine macht bekanntlich nicht glücklich, aber es erleichtert das Leben, vor allem dann, wenn man zu wenig davon hat.“ Ich mochte seine Schwester, wir haben uns jedes Mal unterhalten und eines Tages sagte sie zu mir: „Weißt du, bevor du zum Aloys gekommen bist, hat er zehn Jahre lang Gott um Hilfe gebeten. Dann hat er die Hoffnung aufgegeben und wurde verbittert. Dann kamst du ins Haus und alles hat sich verändert! Jetzt klingt er am Telefon nicht mehr so traurig.“ Dann sagte sie weiter: „Ich freue mich, dass er nicht mehr alleine im Haus ist und du ihm hilfst.“ Über ihre Worte freute ich mich natürlich und auch über die Tatsache, dass sie einen Unterschied bemerkte. Ihre Zufriedenheit war auch meine, und während sie mir so manches über ihren Bruder berichtete, musste ich an die zweite Vision denken, in der ich seine Not erkannt und die mich schließlich nach Aschau gebracht hatte. Dann gingen mir noch verschiedene Erlebnisse durch den Kopf, die ich in den ersten Monaten meiner Anwesenheit in seinem Haus hatte und wie er nicht abwarten konnte, dass ich endlich in sein Haus in Aschau ziehen würde. Dreimal hatte er mich das gefragt, aber ich hatte ihn zappeln lassen, damit er meine Hilfe, meinen selbstlosen Beistand zu schätzen wusste. Einmal wollte er mir Haushaltsgeld geben, aber ich lehnte es ab. Das brachte ihn natürlich auch zum Nachdenken. Er fragte mich sogar, ob ich wegen seiner Berühmtheit zu ihm hatte kommen wollen. „Wenn du wüsstest wodurch!“, hatte ich gedacht. Was für Gedanken mir durch den Kopf gingen, wollte ich der Schwester aber nie verraten. Sie hätte mich sowieso nicht verstanden, davon war ich überzeugt, also schwieg ich weiter und ließ sie so manches von ihrem Bruder erzählen. Auch Pater Ober erfuhr noch kein einziges Wort darüber, warum ich ihm meine Hilfe angeboten hatte. Es war alles gut so, wie es gelaufen war, und Pater Ober hatte meinen Beistand sehr zu schätzen gewusst, sonst hätte er sich mir gegenüber nicht so bescheiden, zurückhaltend und respektvoll verhalten *** Ich hielt Pater Ober für einen verbrauchten Menschen und war froh, dass ich es so weit hatte bringen können, die Bitterkeit aus seinem Gesicht verschwinden zu lassen. Eines Abends lernte ich Pater Ober von einer ganz neuen Seite kennen. Ich wollte gerade das kleine Zimmer verlassen, um ins Bad zu gehen. Ich öffnete die Türe schwungvoll und stolperte fast über ihn. Er musste ganz dicht an meiner Tür gestanden haben. Ich war völlig überrascht, als der alte Mensch leise zu mir sagte: „Ich bin hin- und hergerissen.“ Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, eilte er aus meiner Wohnung. Ich bin wie angewurzelt stehen geblieben und fragte mich, was das jetzt gewesen war. Seine Äußerung habe ich natürlich verstanden und jetzt stellte sich für mich die Frage: „Könnte es sein, dass Pater Ober noch wie ein Mann empfindet?“ Alles war möglich, ich war auf der Hut. Am nächsten Tag habe ich kein Wort über seinen Auftritt verloren. Er auch nicht. Kurz danach erlebte ich die nächste Überraschung, diesmal in der Nacht. Ich las noch beim kleinen Licht am Bett ein Buch, als sich meine Türe zum Schlafzimmer öffnete und Pater Ober ganz leise hereinkam. Er hatte nur einen weißen Bademantel an, den er an den Haken an der Tür hängte, und legte sich in das zweite Bett. Ich machte das Buch zu, legte es auf mein Nachtkästchen und drehte mich zu ihm um. Jetzt hatte ich den Pater vor meinen Augen, der nackt, mit dem Rücken zu mir, dalag. Wir lagen beide einfach still da. Es verging eine gute Stunde, bis der Pater langsam aufstand, sich seinen weißen Bademantel wieder anzog und ohne ein Wort zu sagen, so still wie er gekommen war, das Schlafzimmer verließ. Am nächsten Tag in der Früh sind wir uns wie immer begegnet, als wäre nichts geschehen. Es war auch nichts geschehen. Ich wagte langsam und ganz leise zu sagen: „Du hast keine Gefühle gezeigt.“ Meine Äußerung sollte eher wie eine Entschuldigung und nicht wie ein Vorwurf klingen. Pater Ober antwortete leise: „Hat es nicht gereicht, dass ich gekommen bin?“ Ich fand keine Worte. Er gab mir aber das Gefühl, dass er sich weder beleidigt noch gekränkt fühlte, und das beruhigte mich. Das war alles. Der Tag nahm seinen gewohnten Lauf. Auch in den folgenden Tagen ist keiner von uns beiden auf das Thema des nächtlichen Besuches eingegangen und das war gut so. Er ist nachts nicht wieder zu mir gekommen und da er mir gegenüber noch freundlicher auftrat, fragte ich mich natürlich, ob es doch seinerseits eine Prüfung gewesen war. Er wusste doch immer noch nicht, warum ich zu ihm gekommen war und helfen wollte. Die beiden Visionen habe ich weiterhin für mich behalten und Pater Ober hat sich weiterhin in jeder Situation von der besten Seite gezeigt, was ich auch nicht übersehen konnte. Auf jeden Fall hatte er sich davon überzeugen können, dass ich nicht zu der Sorte Frau gehöre, die sich an einen Mann – wie man es hier in Deutschland so nennt – heranmacht. In diesem Punkt war also die Situation zwischen uns geklärt und mit der Zeit konnte ich Pater Ober immer besser kennenlernen, sein karger Umgang mit sich selbst, seine charakterlichen Widersprüche, sein Geiz und auch seine Sparsamkeit gehörten zu seinen Charakterzügen. All das hat mich nicht gestört, ich nahm ihn, wie er war. Es war aber interessant zu beobachten, wie das Leben und seine schlechten Erfahrungen den Menschen geprägt hatten. Das, was für mich zählte und was ich hoch schätzte, war sein Wissen, seine Erfahrungen in der Naturheilkunde und sein Können, alles andere war für mich bedeutungslos, nicht wichtig und relevant, weil es mich auch nicht betraf. Ich konnte ihn so tolerieren, wie er war. Pater Ober war vor allem für viele Kranke, die sonst nirgendwo mehr Hilfe fanden und durch ihn noch gerettet werden konnten, ein Glücksfall. Seine eiserne Disziplin, die mir so imponierte, sein Pflichtbewusstsein, seine Pünktlichkeit, der strenge Umgang mit sich selbst, das waren seine Merkmale. Er war jemand! Nur die Akzeptanz, die Toleranz und das Verständnis füreinander sowie das Vertrauen, das wir einander entgegenbrachten, haben es uns ermöglicht, in Frieden und Harmonie unter einem Dach zu leben. Ich glaube sogar, dass wir beide mit unserem Leben glücklich waren *** Das Geld hatte im Leben des Paters schon immer eine wichtige Rolle gespielt – das Geld, das er lange nicht gehabt hatte. Einmal versuchte er mit mir darüber zu sprechen, er schwelgte gut gelaunt in seiner Vergangenheit und es geschah, wie so oft, wieder mal während der Arbeit im Garten und ganz unvorbereitet. Er sagte: „Mit 40 hatte ich noch keinen Pfennig in der Tasche!“ Er wartete wieder auf meine Reaktion. Da das Geld kein Thema für mich war, lächelte ich ihn nur an und arbeitete weiter. Ich wusste, dass Pater Ober mir wieder etwas mitteilen wollte und wurde aufmerksam. Nach einer Weile fing Pater Ober von alleine an zu erzählen, dass er nach der Rückkehr von Madagaskar nach Deutschland erst in einer kleinen Pfarrei untergebracht wurde und dass er in diesem kleinen Ort anfing, Vorträge über Madagaskar zu halten. Er brachte auch zahlreiche Aufnahmen sowie selbst aufgenommene Filme mit, die er in den Vorträgen auch zeigte. Nachdem sich Pater Ober so ausführlich mit dem reichen Material aus Madagaskar im Ort vorgestellt hatte, haben die Menschen angefangen, ihn öfter als Mediziner und nicht als Pfarrer aufzusuchen. Der Zulauf von Patienten war von Anfang an so groß, dass Pater Ober die Kirche um finanzielle Hilfe bat, um eine Praxis aufmachen zu können. Die Hilfe hat Pater Ober bekommen und das, was mich in diesem Moment interessierte, war die Frage, wie viel er bekommen hatte und wie lange es dauerte, bis er das Geld zurückzahlen konnte. Da sagte Pater Ober: „Ich habe 200.000 DM bekommen, ich habe es in zwei Jahren abbezahlt und damit war ich schuldenfrei.“ „Das muss jemand erstmal nachmachen können“, sagte ich voller Anerkennung. Pater Ober grinste zufrieden. So, wie ich den Fleiß des Paters kennengelernt hatte, war das natürlich möglich. Die finanzielle Hilfe der Kirche, die ihm den Start ins berufliche Leben ermöglicht hatte, hatte Pater Ober nicht vergessen, er fühlte sich der Kirche immer noch eng verbunden und ich glaube, das, was Pater Ober mir damals durch die Blume mitteilen wollte, war die Tatsache, dass er sich wegen der Hilfe damals auch nicht von der Kirche trennen konnte. Er hat sich immer noch eng mit ihr verbunden gefühlt. Dazu kamen noch der kirchliche Drill während der Ausbildung zum Priester und die strenge Erziehung von zu Hause. Diese Tatsachen machten aber einen zerrissenen Mann aus ihm! Pater Ober war also ein Gefangener mit einer eisernen Disziplin und einem Pflichtbewusstsein den Patienten und den Ärmsten der Armen in der Welt gegenüber. Das Leben, das Pater Ober führte, war kein normales Leben mehr. Er wurde zum Opfer der katholischen Kirche. Er beklagte sich aber nie *** Der Sommer 2006 war voll im Gange. Der August war wieder da und die Praxis war wegen „Urlaubs“ geschlossen. Pater Ober machte aber keinen Urlaub! Wie im Jahr zuvor arbeiteten wir jeden Tag ab 09:00 Uhr in der Früh im Garten, bis 18:00 Uhr abends! Den ganzen Monat lang! Für diesen Urlaub hatte sich Pater Ober etwas ganz Besonders vorgenommen. Er war ja nicht mehr alleine für die Arbeit da und diese kann ich als eine reine Schufterei bezeichnen. Auch zu zweit. Alle verwucherten Himbeerbüsche sollten ausgegraben, ausgerissen und die Erde umgegraben und für neue Himbeerbüsche vorbereitet werden. Eine gigantische Arbeit stand uns bevor! Diese hat uns tagelang im Griff gehabt und die Beseitigung der alten, verwucherten Himbeerbüsche kostete uns viel Kraft und Geduld. Nachdem die ganze Fläche für die neuen Büsche vorbereitet war und bevor wir mit dem Pflanzen derselben begannen, wollte Pater Ober erst noch einen Graben entlang des Zaunes an der Blumenstraße ausheben. In diesen sollte eine Thujenhecke gepflanzt werden, die ihm ein Gärtner angeblich schuldig geblieben war. Die vorbereitete Fläche für die neuen Himbeerbüsche

Also fingen wir mit dem Graben an. Laut Pater Ober sollte und musste der Graben mindestens 50 Zentimeter tief werden! Es hat sich herausgestellt, dass die Erde am Zaun fast nur aus Steinen bestand! Es war eine Mordsarbeit für uns beide. Bis Pater Ober 50 Zentimeter tief in einem Loch stand, hat es lange gedauert, und die Arbeit musste ja weitergehen – es sollten 30 Bäumchen gepflanzt werden. Jeden Stein musste Pater Ober erst locker machen und ihn mir nach oben reichen. Ich fuhr mit der Karre voller Steine zum Lichttherapieraum. Hier musste ich die Steine umladen, mit zwei Eimern die drei Treppen hinuntertragen und vor den Fenstern der Kapelle ausladen. Die Sklavenarbeit ging tagelang weiter, bis wir den langen Graben am Zaun entlang fertig hatten. Wir waren fix und fertig, da wir jeden Tag von früh bis spät nur mit dieser Tätigkeit beschäftigt waren. Als wir dann eines Tages endlich mit dem Graben fertig waren, sagte Pater Ober zu mir: „Für wen haben wir das eigentlich gemacht?“ „Eben, für wen?“, antwortete ich. Dann wurden die neuen Himbeersträucher geliefert und die Arbeit ging weiter. In den heißen Augusttagen haben wir mittags im Lichttherapieraum gespeist. Ich brachte das Essen hinunter, wo es angenehm kühl war. Hier konnte ich auch Pater Ober behandeln, weil hier zwei Therapieliegen vorhanden waren. Und jeden Tag im Urlaubsmonat August ging Pater Ober gegen 21:00 Uhr noch in seine Praxis hinüber, um das Band abzuhören. Er verband sich mit jedem Anrufer mental, pendelte, welches Medikament sein Körper brauchte und auch annahm und schrieb Rezepte, damit die Apotheke am nächsten Tag die per Ferndiagnose angeordneten Medikamente an die Patienten verschicken konnte. Lichttherapieraum

In der Ecke des Lichttherapieraumes stand seit einigen Tagen eine Schrotflinte. An einem sehr heißen Sonntag haben wir hier wieder mal zu Mittag gegessen und nach der Behandlung des Paters auch geruht. Die kühle Luft im Raum war erfrischend und angenehm. Nach der Behandlung und dem Ausruhen stand Pater Ober gut gelaunt auf, nahm die Flinte in die Hand und ging wortlos aus dem Raum und in den Garten hinaus. Es war ein herrlicher Tag mit wolkenlosem Himmel. Ganz weit oben am Himmel konnte man die Amseln als kleine schwarze Punkte erkennen. Pater Ober nahm eine Amsel ins Visier und beim ersten Versuch lag diese im Gras. Der Pater grinste zufrieden, weil er mich so hatte beeindrucken können. Seinen Stolz konnte ich an seinem Gesicht ablesen *** In diesem Jahr gab es eine reiche Ernte. Man konnte sie als Belohnung für unsere schwere Arbeit betrachten. Es gab sehr viele Kirschen, Mirabellen, Birnen, Johannisbeeren und Äpfel. Wir haben viele mit Äpfeln gefüllte Körbe in den Keller gebracht, wo sich die entsprechende Stellage mit den Schubladen für die Äpfel befand. Hier hat Pater Ober persönlich für die entsprechende Lagerung gesorgt. Ich reichte ihm die Äpfel, einen nach dem anderen, und er legte sie so in die Schublade, dass sie sich nicht berührten. Es ging blitzschnell. In dieser Zeit der reichen Ernte hat Pater Ober die Äpfel noch am späten Abend zu Apfelmus verarbeitet! Er hat in der Küche einen riesigen, blauen Einkochtopf mit einem großen Thermometer hingestellt und erzählte mir, dass dieser sein Geschenk zur Erstkommunion gewesen war. Das muss man sich heute erst mal vorstellen! Ein zehnjähriges Kind bekam als Geschenk zur Erstkommunion einen Topf! Das waren Zeiten … Ich durfte nicht helfen und schaute also zu. Ich musste Pater Ober bewundern, wie schnell ihm das Schneiden der Äpfel von den Händen ging! Warum ich ihm dabei nicht helfen durfte, habe ich nicht verstanden. Die Herstellung von Apfelmus war für Pater Ober sehr wichtig. Er sagte mir, dass es sehr viel Vitamin B12 beinhaltet, das man sonst nur in Brottrunk und in sehr wenigen Lebensmitteln in kleinen Mengen finden kann. Dieses Vitamin sowie Vitamin B6 und Folsäure sind die wichtigsten Vitamine für den Menschen. Wie ich später erfuhr, hat auch der Heilpraktiker Uwe Karstädt in seinem Buch „Das Dreieck des Lebens“ diese Aussage bestätigt. Der große Vorrat an eingekochtem Obst, Apfelmus und Dinkel im Keller des Paters hätte locker als Wintervorrat für eine kleine Familie gereicht. Pater Ober war bei der Ernte, so wie bei allen Gartenarbeiten, sehr unvorsichtig. Ich musste diesen fleißigen Menschen im Auge behalten, sonst hätte er sich ständig verletzt! Die Leiter zum Beispiel warf er an den Baum und ohne zu prüfen, ob sie richtig und sicher stand, kletterte er schnell auf den Baum, als hätte ihn jemand gejagt. Zwischen den Ästen bewegte er sich auch oft wie ein Affe und grinste mich dabei an. Ich mochte das Verhalten nicht, sprach es aber nicht aus. Ich war ja inzwischen sehr geduldig geworden. Einmal war er abgerutscht und hatte sich an einem Ast festgehalten, weswegen beide Arme bluteten; das machte ihm aber nichts aus und er arbeitete weiter! Nach jeder Ungeschicklichkeit grinste er mich wieder an, damit ich nicht ungehalten wurde. Wie hätte ich auch können! Ich habe das Geschehene jedes Mal in Spaß umgewandelt, da war er auch gleich wieder zufrieden mit mir. Die unnötige Eile bei der Arbeit im Garten nervte mich manchmal schon und ich fragte mich in solchen Fällen, ob er mir mit der Geschwindigkeit imponieren wollte. So ein Unsinn! *** Kurz vor dem 80. Geburtstag des Paters im Jahre 2006 habe ich eines Tages in der Früh unter einem Obstbaum im Garten eine junge Henne vorgefunden. „Ja, wo kommst du denn her?“, fragte ich überrascht. In dieser Gegend hatte niemand Hühner, also konnte sie nicht von einem Nachbarn entlaufen sein. Voller Freude wollte ich gleich Pater Ober sprechen. Es war noch vor 09:00 Uhr und da er in seiner Küche nicht zu finden war, eilte ich in den Hof und in seine Werkstatt. Als Pater Ober mich kommen hörte, rief er laut: „Du darfst jetzt nicht reinkommen!“ Ich bin stehen geblieben, aber da ich vor lauter Freude so aufgeregt war, rief ich auch gleich zurück: „Ich habe im Garten eine kleine Henne entdeckt! Darf sie bei uns bleiben?“ Ich habe auf meine aufgeregte Frage keine Antwort bekommen. „Was ist heute los?“, fragte ich mich. „Hat er mich nicht gehört? Das ist unmöglich, er hat mich bestimmt gehört!“ Enttäuscht habe ich seine Schreinerei verlassen. Da es kurz vor 09:00 Uhr war, holte ich die schwere Häckselmaschine und stellte sie auf ihren Platz im Garten gegenüber dem Schwimmbad. Kurz danach kam Pater Ober nach und fragte mich, wo ich die Henne gesehen habe. Ich führte ihn zu dem Baum, unter dem sie immer noch in einer Mulde saß. Sie machte keinerlei Anstalten, vor uns weglaufen zu wollen. Pater Ober schaute die Henne an und in seinem Gesicht rührte sich nichts, also dachte ich, dass sie bleiben darf. Er hat kein Wort von sich gegeben und entfernte sich. Dass er etwas mit der Henne zu tun haben könnte, war mir nicht in den Sinn gekommen! Wir haben schweigend mit der Arbeit begonnen. An seinem Geburtstag am 16. September bin ich in der Früh zu Pater Ober hinuntergegangen und wollte ihm gratulieren. Pater Ober war gut gelaunt, er freute sich, mich zu sehen, und bevor ich was sagen konnte, führte er mich in den Garten, eilte weiter zum Gartenhaus und blieb stehen. Er grinste. Als ich dazukam, bin ich wie angewurzelt stehen geblieben. Ich war sprachlos! Vor mir stand ein kleines Hühnerhäuschen. Es war aus Holz gemeistert und hatte ein bewegliches und durchsichtiges Dach aus Plexiglas. Pater Ober schaute mich mit Genugtuung an und plötzlich lachten wir beide, wie zwei kleine Kinder, schallend. Die Überraschung war ihm außerordentlich gut gelungen. Somit wusste ich, warum ich die Werkstatt nicht hatte betreten dürfen. Wir gingen in die Küche zurück. Jetzt konnte ich ihm mein Geburtstagsgeschenk überreichen. Ich gab ihm seine alte schwarze Lieblingshose in die Hand, die ich repariert hatte, und wartete grinsend auf seine Reaktion. Pater Ober schaute sich mit großem Interesse die beiden Hosenbeine genau an und staunte mächtig. „Wie hast du das geschafft?“, sagte er ganz verblüfft und schaute mich mit Bewunderung an. „Wo hast du das gelernt?“, fragte er noch und strahlte dabei fast vor Glück. Die beiden Hosenbeine sahen unten wie neu aus, die Fetzen waren weg. Ich schwieg und grinste, so wie er es öfter tat. „Wenn man etwas will, dann schafft man es auch“, dachte ich, aber mit diesem Gedanken hielt ich mich zurück. Seine Begeisterung und Freude über die reparierte Hose löste in mir ein Staunen aus, er freute sich nämlich so, als hätte er ein kostbares Geschenk für tausend Euro bekommen. Dabei war es nur seine reparierte Lieblingshose. Kurz danach kam die Familie aus Burghausen und Pocking ins Haus und ich führte die Geschwister gleich in den Garten, ohne die Überraschung zu verraten. Sie folgten mir neugierig bis zum Gartenhaus und blieben wie angewurzelt vor dem kleinen Hühnerhaus stehen. Erst waren sie sprachlos, dann lachten wir alle. Die Geschwister waren noch verblüffter und ihre Reaktion sagte mir, dass sie Pater Ober, ihren Bruder und Schwager, von einer neuen Seite kennen gelernt hatten. Nachdem das Hühnerhäuschen bewundert worden war, machten wir alle einen Spaziergang durch den großen Garten, um das Ergebnis unserer harten Arbeit zu betrachten. Pater Ober strahlte, während seine Schwester zu mir sagte: „So gut gepflegt und so schön hat der Garten noch nie ausgesehen!“ An diesem runden Geburtstag hat Pater Ober mit seinem Bruder eine riesige Platte aus der Werkstatt in den Lichttherapieraum gebracht und einen großen Tisch aufgestellt. Hier haben wir dann mittags gespeist und am Nachmittag gefeiert. Diesmal bekam Pater Ober Besuch. Frau E. A. aus Aschau besuchte ihn mit ihrer pflegebedürftigen Mutter. Pater Ober hatte sich jahrelang um den gesundheitlichen Zustand der Familie A. gekümmert und wurde als Freund der Familie betrachtet. Auch die Patienten haben Pater Obers Geburtstag nicht vergessen, sie haben ihn einen Tag vorher während der Sprechstunde reichlich beschenkt. Der kleine Tisch in seiner Küche war mit verschiedenen Päckchen beladen und ich konnte sehen, wie er sich wie ein kleiner Junge über die Geschenke freute. 16. September 2006

16. September 2006

16. September 2006

16. September 2006

Auch die Post lieferte ein kostbares Geschenk von einer dankbaren Familie W. Das war eine 30 Zentimeter große Skulptur, die den fallenden Jesus unter dem schweren Kreuz zeigte. Auf dem Sockel standen folgende Worte: „In inniger Dankbarkeit und Verbundenheit – dem lieben Pater Ober von Familie W.“ Er wurde am Tag seines runden Geburtstages auch reichlich mit Blumen beschenkt, die er sehr liebte. Besonders hat er sich über einen riesigen Blumenstrauß gefreut, der aus hellen, zarten, pastellfarbenen Rosen bestand. Er sagte gerührt zu mir: „Jedes Jahr bekomme ich den riesigen Blumenstrauß aus Rosen. Er besteht aus so vielen Rosen, wie ich Jahre alt geworden bin.“ Dabei kam sein weicher Kern wieder mal zum Vorschein und er fing an, die Rosen nachzuzählen. Es war ein sehr angenehmer Geburtstag, den ich miterleben durfte *** Der Herbst 2006 hat uns noch mit vielen sonnigen Tagen ohne Wind und Regen beschenkt. Die Ernte war noch nicht zu Ende und die Arbeit im Garten auch noch nicht. Pater Ober war ja ein Spezialist, was das Aussuchen von Arbeit betraf. Immer wenn ich dachte, dass schon alles vor dem Winter erledigt war, ging die Arbeit doch noch weiter. An einem warmen Sonntag Anfang Oktober haben wir gleich nach dem Frühstück, wie immer, unseren Spaziergang an der Prien gemacht, dann weiter durch den Wald bis zur Brücke. Hier beobachteten wir erst das saubere Wasser im Bach, dabei haben wir immer ein paar Minuten die Minus-Ionen aus dem Wasser eingeatmet. Keiner von uns beiden müden Menschen zeigte Lust zu reden, wir genossen die Stille und die Harmonie zwischen uns. Dann waren aber doch noch die fünf Selbstlaute dran, die wir wie die Chinesen sangen. Nach der „Zeremonie“ schenkten wir uns ein Lächeln und traten den Rückweg nach Hause an. Es war die einzige entspannende Zeit in der Woche. Zu Hause angekommen, trennten sich unsere Wege im Treppenhaus und jeder ging seines Weges. Pater Ober ging in sein Arbeitszimmer und ich in meine Wohnung nach oben. Ich setzte mich erst mal an den Tisch in der kleinen Küche und dachte über das Mittagessen nach, als mir plötzlich einfiel, dass Pater Ober noch nie einen Wunsch geäußert hatte, was das Essen betraf. Auch in diesem Bereich hatte ich freie Hand. „Warum eigentlich? Warum wünscht er sich nichts?“ Als ich so mit meinen Gedanken beschäftigt war, stand Pater Ober plötzlich in der Tür. Er schaute mich an und sagte leise: „Ich werde mich heute zum Mittagessen verspäten.“ Er wartete auf meine Frage, die kam aber nicht. Er wartete noch ein paar Sekunden ab, ob ich nicht doch noch nachfragen würde, was los sei, und ging, so leise wie er gekommen war. Es war außergewöhnlich, weil Pater Ober um diese Zeit und noch dazu am Sonntag das Haus noch nie verlassen hatte. Er wirkte auf mich ganz ruhig. „Also ist auch alles in Ordnung“, dachte ich. Das Mittagessen habe ich intuitiv um zwei Stunden verschoben und die Zwischenzeit zum Ruhen genutzt. Gegen halb drei habe ich das Essen in den Thermoschüsseln in den Lichttherapieraum gebracht und die riesige Glastür zum Garten auf die Seite geschoben. Draußen war es herrlich warm. Ich genoss eine Weile die herrliche Luft und als ich mich zum Tisch setzen wollte, kam Pater Ober von der Wohnungsseite her lautlos in den Raum. Ein Augenblick reichte mir, um zu erkennen, dass Pater Ober ganz anders wirkte. Seine kleine Gestalt schien in sich gekrümmt zu sein, er strahlte Schuld aus und sagte kein Wort. Und überhaupt machte er den Eindruck auf mich, er hatte etwas getan, was er nicht hätte machen sollen, als hätte er mich verraten oder belogen. Da ich mir weiterhin keine Frage erlaubte, setzte er sich zu Tisch und leitete leise das kurze Gebet ein. Während des Essens war Pater Ober sehr mit eigenen Gedanken beschäftigt und woanders, aber er warf mir immer wieder einen prüfenden Blick zu. Ich unterbrach die Stille aber nicht. Wir haben an diesem Nachmittag kein Wort gewechselt, er legte sich auch nicht für die Behandlung hin und verließ nach dem Essen schweigend den Raum. Dass etwas passiert war, davon war ich überzeugt. Als ich das Geschirr nach oben in meine Wohnung trug, ging Pater Ober gerade in sein Arbeitszimmer. Ich räumte schnell meine Küche auf, legte mich hin und genoss den freien Sonntagnachmittag, den es so selten gab. Die veränderte und unsichere Ausstrahlung des Paters ging mir aber nicht aus dem Kopf. In den folgenden Tagen saß Pater Ober beim Mittagsessen ganz still da und schwebte in seinen Gedanken, die er nicht mit mir teilen wollte. Erst nach dem. 20. Oktober 2006 sagte Pater Ober plötzlich beim Essen zu mir: „Ich habe von einer Patientin ein Haus geschenkt bekommen.“ Da ich aber sein Gesicht betrachtete und schwieg, sagte er weiter: „Am 29. Oktober werden wir das Haus besichtigen und alle kommen mit.“ Das war auch vorläufig alles, was ich damals an Informationen bekam. Das war also der Grund für die Geheimtuerei gewesen. Ich stellte weiterhin keine Fragen, es war ja schließlich nicht meine Angelegenheit. Wir sind dann am 29. Oktober gleich in der Früh mit dem Auto nach Altötting abgereist. Wir trafen uns mit der Familie, die auch mit dem Auto aus Pocking und Burghausen kam. Die Autos blieben auf einem Parkplatz stehen und wir machten uns alle zu Fuß auf den Weg in das Haus, das sich in der Neuöttinger Straße 35 befand. Altötting, Neuöttinger Straße 35

Das Haus machte von der Weite her einen guten Eindruck. Ich wollte die Frontseite des Hauses von dem gegenüberliegenden Trottoir aufnehmen, also hielt ich mich hinter der Familie, überquerte die Straße und wartete ab, bis alle Personen im Haus verschwunden waren. Dann fotografierte ich das Haus und ging als Letzte hinein. Als ich die Schwelle der Eingangstür übertreten hatte, traf mich fast der Schlag. Der starke Schimmelgestank war überwältigend. Ich rang nach Luft, ich war sprachlos. Der Familie des Paters und ihm selbst ging es genauso, aber keiner wagte ein Wort auszusprechen, so groß war die Enttäuschung für uns alle. Jeder Raum, vom Keller bis zum Dachboden, war von oben bis unten vollgestopft mit alten Möbeln, alten, unbrauchbaren Gegenständen, vollgefüllten Körben, Chemikalien, Büchern, Zeitungen und Müll. Wir konnten nicht mal in jedem Zimmer die Türe aufmachen! Es war, als wäre ein Orkan durch die Räume geflogen! Es war ersichtlich, dass das Haus geplündert worden war. Der schreckliche Schimmelgestank kam aus dem Keller und zog sich durch das ganze Haus bis zum Dachboden hoch. Wir haben das Gebäude schnell verlassen und auf dem Weg zum Parkplatz hat keiner von uns eine Bemerkung gemacht, um Pater Ober nicht noch mehr weh zu tun. Er litt genug! Nur die Schwägerin versuchte die Stimmung mit Späßen aufzuhellen, aber Pater Ober blieb ernst. Pater Ober wusste schon, was auf uns beide zukommen würde. Ich wusste auch, wie sich Pater Ober nach der Enttäuschung fühlen musste und was er sich da schon überlegte. So wie ich Pater Ober kannte, ahnte ich, dass er sich in seinem Kopf schon einen Plan zurechtlegte. Wir sind schweigend in die zwei Autos gestiegen und Richtung Zeilarn gefahren, in den Ort, in dem die Geschwister aufgewachsen waren. Unterwegs aßen wir in einer Gaststätte zu Mittag, die Stimmung war immer noch düster, keiner wagte etwas über das Haus zu sagen, obwohl alle derselbe Gedanke bedrückte. Nach dem Essen trennten sich unsere Wege mit der Familie. Pater Ober fuhr eine Weile schweigend, dann sagte er zu mir: „Ich zeige dir jetzt mein Elternhaus.“ Wir waren nicht lange unterwegs, da hielt er schon den Wagen vor einem großen Haus an. Pater Ober stieg aus, stellte sich vor die Eingangstür und wartete, bis ich dazukam. Er sagte kein Wort, er betrachtete nur die Frontseite des Hauses und wartete, dass ich von selbst bemerkte, was er mir da zeigen wollte. Da sah ich zwei Platten, die an beiden Seiten der Eingangstür befestigt waren. Auf einer sah ich den Namen unseres deutschen Papstes! Wir standen vor dem Geburtshaus des Papstes, Herrn Ratzinger! Pater Ober schenkte mir ein Lächeln und stieg ins Auto. Ich folgte ihm und wir fuhren weiter. Die Überraschung war ihm gelungen. Die Denkmalplatte des Papstes, Herrn Ratzinger

Die weitere Fahrt war auch nur ganz kurz. Pater Ober hielt das Auto vor einer großen Wiese an und stieg diesmal nicht aus. Hinter der Wiese stand das Haus, das er mir zeigen wollte, das Elternhaus, dem er sich aber nicht nähern wollte. Ich stellte keine Fragen und hörte nur zu. „Mein Vater hat im Haus immer ein Zimmer für mich freigehalten, damit ich jederzeit von Madagaskar nachhause kommen könnte.“ Der Rest der Geschichte, die mit dem Zimmer verbunden war, folgte eine Weile später. Pater Ober schwelgte wieder mal in der Vergangenheit. Während er in den trüben Erinnerungen weilte, ist mir klar geworden, dass die beiden Buben Aloys Ober und Joseph Aloisius Ratzinger Nachbarskinder gewesen waren. Sie waren in derselben Zeit aufgewachsen, der Altersunterschied zwischen ihnen war gering, sie hatten in derselben Gegend gelebt, beide waren von zu Hause streng katholisch erzogen worden und die Kirche im Ort war der wichtigste Anziehungspunkt für beide gewesen. Die beiden Buben hatten die Frömmigkeit und dieselbe Mentalität verbunden. Auch als Erwachsene sind beide der Kirche verbunden geblieben, jeder auf seine eigene Art. Das Elternhaus (links)

Wir kehrten vor der Wiese um und fuhren an der Grundschule vorbei Richtung Kirche. Pater Ober ging ganz langsam, schaute sich jeden Altar, jede Ecke genau an, kniete schließlich nieder und vertiefte sich in ein langes Gebet. Ich spürte, was in Pater Ober vorging und was er erneut durchlebte. Hier war er getauft worden, hier hatte er die Erstkommunion gehabt, die erste Messe in seinem Leben und seine erste Predigt als frischgebackener Weltpriester abgehalten. Er bat um Kraft. Fast eine Stunde verbrachte Pater Ober auf seinen Knien, bis er wieder zur Besinnung kam. Ich wartete geduldig am Ausgang und als er sah, dass ich ihn fotografieren wollte, streckte er sich stolz und würdig. Sein Gesicht war sehr ernst, als hätte er gespürt, dass das jetzt der Abschied für immer von der Kirche und der Heimat war. Er hatte in dieser Stunde sein ganzes Leben noch einmal durchlebt und es kam mir in dieser Minute so vor, als hätte er mit dem Leben abgeschlossen. Nachdem Pater Ober zu mir gekommen war, führte er mich zum Friedhof, wo die Familie auf uns wartete. Pater Ober stellte sich dicht an das Grab der Eltern, während die Familie einen respektvollen Abstand von ihm hielt. Die Kirche und das Pfarrhaus in Zeilarn

Zeilarn, 29. 10. 2006

Pater Ober

Zeilarn, 29. 10. 2006. Am Friedhof verabschiedeten wir uns von der Familie und fuhren unmittelbar nach Aschau zurück. Die Fahrt war für mich wieder mal ein beängstigendes Erlebnis, weil Pater Ober wie der Rennfahrer Schumacher fuhr, ohne die Brille aufzusetzen. Zu Hause angekommen setzten wir uns kurz in seiner Küche zum Tisch und jetzt erst machte er seinen Mund auf und sprach über das, was ihn quälte: „Wenn ich gewusst hätte, in welchem Zustand das Haus ist, hätte ich es nicht angenommen. Ich habe das Haus in guter Erinnerung behalten, weil die Besitzerin meine Patientin war und ich dorthin gerufen worden war.“ Als ich dann hörte, dass Pater Ober mich mit dem Haus hatte überraschen wollen, war ich sprachlos und sagte dann ganz ruhig und langsam: „Ich mag solche Überraschungen nicht. Das Annehmen eines Hauses ist doch eine ernste Sache, da muss man schon an die Realität und nicht an eine Überraschung denken. Hättest du mir ein Wort über die geplante Schenkung gesagt, hätte ich sofort darauf bestanden, das Haus erst mal zu besichtigen und dann erst über die Formalitäten nachzudenken. Jetzt ist es zu spät, jetzt muss man das Beste aus der Falle machen.“ „Ja“, sagte Pater Ober, „ich werde das Haus renovieren und dann ziehen wir beide um.“ Ich war wieder sprachlos, da aber der Tag schwer und alles Wichtige gesagt war, machte ich mich auf den Weg in meine Wohnung nach oben. Unterwegs redete ich mit mir selber weiter: „Ich verstehe dich nicht, warum willst du das gesunde Haus verlassen?“ Dann fragte ich mich, ob ihn schlechte Erinnerungen aus dem Haus trieben oder es ihn schon, wie jeden betagten Menschen vor dem Ende seines Lebens, in seinen Heimatort zurückzog. Altötting war zwar nicht sein Geburtsort, aber immerhin war er ihm eng verbunden. Hier erlebte Pater Ober die Höhepunkte seines Lebens, hier war er zum Weltpriester geweiht worden. Es folgen ein paar Bilder, die ich am 29. 10. 2006 in dem geschenkten Haus in Altötting aufgenommen habe. Der total verschimmelte Keller

Die überfüllten Räume im Erdgeschoß

Weitere Räume im Erdgeschoß

Die Spülbecken in der Küche. Der Dachboden

Kapitel 9. Nur die Hoffnung auf die Möglichkeit, Aschau verlassen und nach Altötting umziehen zu können, hatte Pater Ober zu der schnellen und unüberlegten Annahme des verkommenen Hauses verleitet. Jetzt mussten wir beide mit dem Problem fertig werden. Das Haus erwies sich für uns als eine zusätzliche und sehr schwere Last. Seit der Besichtigung am 29. 10. 2006 fuhren wir jede Woche am Freitagabend nach der Gartenarbeit müde nach Altötting, um im Haus Ordnung zu machen. Hätte Pater Ober eine normale Arbeitsweise gehabt und auf Pausen geachtet, hätte er den geplanten Umzug wahrscheinlich noch erlebt. Da wir für das Haus nur zwei Tage pro Woche zur Verfügung hatten, haben wir dort von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang pausenlos gearbeitet. Ich durfte Pater Ober um die Mittagszeit nicht mal behandeln, obwohl er diese Behandlung und die damit verbundene Pause sehr nötig gehabt hätte und ich einen geeigneten Lehnstuhl im Hause dafür gefunden hatte. So kostbar war jede Minute, jede Arbeitsstunde für Pater Ober, und schließlich bezahlte er das geschenkte Haus durch die Überarbeitung und den damit verbundenen Stress mit seinem Leben. Im Haus gab es anfangs nicht mal Strom, also hatten wir auch kein Licht und keine Möglichkeit, einen Tee zu kochen. Es gab auch keine intakte Heizung, es war kalt. Die vollgestellte Küche war unbrauchbar, die musste man erst für die Renovierung vorbereiten und vor allem räumen. Nicht mal Wasser gab es, aus der Leitung kam nur eine dunkelbraune, dicke Flüssigkeit. Das Schlimmste aber war der Gestank! Das wochenlange Lüften hatte nur wenig geholfen, weil alle Gegenstände, mit denen das Haus angefüllt war, nach Schimmel rochen, außerdem mussten die Fenster wegen des Straßenlärms über Nacht geschlossen bleiben. Es gab auch kein Telefon, deswegen hatte sich Pater Ober ein Handy gekauft, um mit den Fachleuten Kontakt aufnehmen und in Verbindung bleiben zu können. Und wir haben jedes Wochenende mittags nur eine Pizza bestellt. Pizza war eigentlich unser Hauptnahrungsmittel bis Ende 2007. Wir sind fast nie zum Essen ausgegangen, weil wir keine Möglichkeit hatten, uns zu waschen und umzuziehen. Wir sind abends immer in unserer Arbeitskleidung in der Dunkelheit zur Kapelle gegangen, um den Tag mit Gedanken an Gott zu beenden *** Altötting ist eine Pilgerstadt, das Ziel der Pilgerfahrten ist die Marienkapelle, auch Gnadenkapelle genannt. Sie wurde an einem Punkt der Stadt Altötting erbaut, auf dem sich die Heilige Maria öfter gezeigt haben soll. Am ersten Freitagabend Anfang November 2006 sind wir spät nach Altötting gekommen. Wir haben nur die Fenster aufgemacht und das Haus sofort verlassen. An diesem ersten Freitagabend haben wir mindestens eine Stunde in der Kapelle verbracht, und während ich auf einer Bank Platz nahm, kniete Pater Ober mit anderen Menschen zusammengedrängt vor dem Hauptaltar im Gebet versunken auf den Knien. Wir baten um Kraft und Durchhaltevermögen für die bevorstehende Aufgabe. Nach dem Aufenthalt in der Kapelle führte mich Pater Ober durch die beleuchteten Straßen der Stadt und zeigte mir auch die Kathedrale, in der er geweiht worden war. Die Gnadenkapelle in Altötting

Auf dem Rückweg zum Haus war uns nicht gerade nach Reden zumute. Im Haus angekommen schlossen wir die Fenster gleich und suchten in dem überfüllten Haus einen Platz zum Übernachten. Schließlich mussten wir uns diesen erst mit Hilfe der Taschenlampe schaffen. Wir haben die Nacht in einem großen, vollgestopften Zimmer im Erdgeschoß verbracht, in dem noch ein riesiger Stein lag. Dieser war groß und wenigstens eine Tonne schwer. Ich fragte mich, wer ihn und wozu ins Haus gebracht hatte. Ich bereitete also zwei Schlafplätze für uns neben dem riesigen Stein vor. Wir haben versucht, auf den mitgebrachten Decken und in unserer Kleidung auf dem Boden einzuschlafen. Der Gestank in der Luft kratzte in den Bronchien. Es kamen noch die Härte des Bodens und trotz geschlossener Fenster der Straßenlärm dazu. Da wir beide nicht einschlafen konnten, zog sich die Nacht lange hin, und erst weit nach Mitternacht, als der Lärm von der Straße plötzlich nicht mehr zu hören war, konnten wir einschlafen. Aber gegen 03:00 Uhr ging er wieder los und ich wurde wach. Es war eine schreckliche Nacht, die wir im Dreck und ohne frische Luft ausharren mussten. Um 06:00 Uhr standen wir auf. Es gab keine Möglichkeit zum Waschen und zum Frühstücken, also holte ich das mitgebrachte Butterbrot und die zwei Äpfel aus dem Wagen und wir aßen unser Frühstück im Stehen. Der erste Weg führte uns dann in den Keller, den Pater Ober noch mal besichtigen wollte. Zwischen dem angesammelten Müll standen hier über dreißig Plastikgefäße, die mit Tonbändern gefüllt waren. Die Treppe zum Keller

Die Wände im Keller waren total von Schimmel zerfressen, anders konnte man den Zustand nicht bezeichnen, und die dicke Schimmelschicht musste nicht nur abgekratzt, sondern mit einem pneumatischen Bohrer bis zur Bausubstanz entfernt werden! Pater Ober war entsetzt, sagte aber kein einziges Wort mehr. Jammern hätte nicht geholfen. Mit dem gesamten Haus stand uns beiden eine riesige Aufgabe bevor, das wurde uns noch mal so richtig bewusst. Diese mussten wir aber hinnehmen. Wir standen vor dem großen, vollgestellten Keller und Pater Ober sah dort schon eine Hauskapelle! Mit der breiten, schön gewölbten Decke war der Raum tatsächlich gut dafür geeignet und vor seinem geistigen Auge sah er schon die künftige Kapelle mit zwei Fenstern aus bunten Scheiben. Das erste Fenster sollte die heilige Maria darstellen und das zweite den heiligen Aloysius. Pater Ober fragte mich, ob das eine gute Idee sei. „Natürlich“, sagte ich, „die Idee finde ich auch gut.“ Als Nächstes wollte Pater Ober ein Zimmer im ersten Stock als Aufenthaltsraum und für Übernachtungen aussuchen. Das kleinste Zimmer im ersten Stock war für den Zweck gut geeignet und wenn wir in diesem noch heute übernachten wollten, musste es vorbereitet werden, das heißt geräumt und sauber gemacht. Also holte ich aus dem Auto die aus Aschau mitgebrachten Putzmittel, Lappen und den Eimer. Das Räumen war aber nicht so leicht. Das Zimmer war zu vollgestopft und das Problem lag darin, dass ich nicht wusste, wohin ich das Zeug räumen sollte. Erst musste ich alle Sachen sortieren, damit auch die erste Ordnung geschaffen werden konnte. Pater Ober widmete sich inzwischen der Organisation des weiteren Vorgehens. Er hatte sich schon vorher mit der Feuerwehr in Verbindung gesetzt und um Hilfe gebeten. Die Feuerwehr schickte zwei Lehrlinge mit elektrischen Sägen ins Haus und das Ausrotten der ausgewachsenen Büsche und Bäume um das Haus herum begann. Das Haus war wenigstens 150 Jahre alt, es war als Ärztehaus gebaut worden und stand direkt an der Hauptstraße. Danach hatte es ein Künstler, Herr S., gekauft. Im Hof wie auch an der Straße entlang dem Grundstück, das zum Haus gehörte, hatten sich ursprünglich zwei Gärten befunden. Leider sah man keine Spur von ihnen, die Bäume und Büsche waren dermaßen ausgewachsen und verwuchert, dass die Fläche um das Haus herum wie ein Urwald aussah. Ich habe viel später auf dem Dachboden zwischen dem ganzen Gerümpel ein Ölbild gefunden, das das Haus und die beiden Gärten zeigte. Altötting, November 2006

Altötting, Ende November 2006

Im Hof des Hauses stand eine Scheune, ein niedriges Gebäude. Wie ich später erfuhr, hat sich darin vor über 200 Jahren eine Poststation, in der man die Pferde ausgetauscht hatte, befunden. Also war das Häuschen noch viel älter als das Haus. Die Scheune war genauso renovierungsbedürftig. Die Arbeiten um das Haus herum gingen schnell voran, sodass Ende November fast die ganze Fläche vom „Urwald“ befreit und die zwei großen Bäume, die im Weg gestanden hatten, gefällt waren. Im Haus selber liefen inzwischen die Renovierungsarbeiten auch schon auf Hochtouren. Die Elektriker hatten mit dem Austausch der Leitungen begonnen und es wurde zuerst ein provisorisches Licht im Treppenhaus angebracht. Es entstand eine riesige Baustelle, es wurde mit Hammer und Bohrmaschinen gearbeitet und gleichzeitig wurde auch der Keller geräumt. Diese Räumung hat aber sehr lange gedauert und die Beseitigung der verschimmelten Schicht an allen Wänden hat sich wochenlang hingezogen, weil nur ein Schwerarbeiter für die Tätigkeit beauftragt wurde. Die Räumung im Haus hatte in der Küche begonnen, damit man die Installateure für den Austausch der Wasserleitung holen konnte. Pater Ober wollte nämlich erst die Küche renovieren und richten lassen und sich dann erst um das Bad kümmern. Sobald die Installateure im Haus waren, verwandelte sich das Haus in eine Baustelle. Die zwei alten, verrosteten Spülbecken wurden abmontiert, die ganze Wasserleitung in den Wänden ausgetauscht und die uralten Kacheln aus der Wand gerissen. Am Schluss wurde auch der Boden herausgerissen und ein neuer verlegt. Dann ließ Pater Ober einen Schreiner aus seiner Familie ins Haus kommen, der die Wände ausmaß. Er bekam auch den Auftrag, neue Möbel nach Maß und nach Vorstellung des Paters für die Küche anzufertigen. In der langen Wand zwischen Küche und Bad befand sich ein Fenster, das er aber aus Sparsamkeit nicht zubauen wollte. Schließlich wurde es von der Küchenseite durch die neuen Küchenmöbel zugedeckt. Auch das einzige Fenster in der Küche, das nach Austausch schrie, wurde behalten. Die Räumungsarbeiten in Altötting gingen bis Ende Dezember 2006 weiter. Wir haben noch am letzten Wochenende vor Weihnachten in Altötting gearbeitet, wobei wir am Freitag schon mittags aus Aschau abgereist waren, während sich die beiden Helferinnen in der Praxis um die an die Infusion angeschlossenen Patienten kümmerten. Wir waren die ganze Zeit noch mit dem Hinaustragen der großen Gegenstände aus dem Haus beschäftigt, was wir nicht alleine bewältigen konnten. Das ganze Innere des Hauses sah wie ein großes Baulager aus. Es war anfangs sehr schwer, überhaupt eine Linie der Räumung zu schaffen, weil in den beiden Fluren und im Treppenhaus verschiedene Gegenstände im Weg standen. Im Treppenhaus zwischen dem ersten Stock und dem Dachboden stand ein Schrank mit gefüllten Einmachgläsern und einem Eimer voll Honig, in der überfüllten Kammer daneben ein Sack Getreide und darüber in einer Nische lag eine große Menge Eisenstäbe. Um diese aus dem Haus zu tragen und im Hof zu sammeln, habe ich zwei Wochenenden gebraucht. Sie waren nämlich schwer und drei Meter lang. Diese Arbeit habe ich alleine geschafft. Bis Weihnachten waren die Umstände im Haus sehr schwierig. Wir haben jedes Wochenende mittags die gelieferte Pizza hastig gegessen und schnell weiter gearbeitet. Die Nächte, die wir in dem kleinem Zimmer verbracht haben, schenkten uns weiterhin wenig Schlaf und Pater Ober lehnte weiterhin die Mittagspause ab. Die Zeit hat ja gedrängt. Und in dieses verwahrloste Haus wollte Pater Ober einziehen. Er wollte vom Himmel in die Hölle! Bis Mitte November habe ich alleine im Haus gearbeitet und Pater Ober draußen. Er kämpfte mit den verwucherten Büschen am Nebenhaus. Ich habe ihn aber im Auge behalten und beobachtet, wie und ob er mit der Arbeit zurechtkam, und eines Tages ging ich hinunter zu ihm und sagte leise: „Hast du es nötig?“ Er verstand mich sofort und hörte auch gleich mit der Arbeit auf. Er kam mit mir ins Haus und wir fingen an, die Schlüssel zum Nebenhaus zu suchen. Wir haben den Schlüsselbund wie durch ein Wunder im Chaos des Hauses gefunden, nahmen das aus Aschau mitgebrachte Werkzeug mit und gingen in den Hof. Alle vier Türen im Nebenhaus waren abgeschlossen und die Schlösser verrostet. Stundenlang quälte sich Pater Ober mit der schweren Arbeit und nachdem drei Türen vor uns offenstanden, waren wir wieder sprachlos. In den drei Räumen befand sich dasselbe Chaos wie im Hauptgebäude. Der erste Raum hatte auch durch Schimmel zerfressene Wände und auf den drei Dachböden war alles Mögliche zu finden! Es gab alles, was längst in der Mülltonne und auf dem Wertstoffhof hätte landen sollen. Der Dachboden im Nebenhaus

Wir haben am Sonntag nach der Messe bis zum Abend im Haus gewerkelt. Alle Schlösser an den Türen waren kaputt und Pater Ober wollte in einer Nische einen Platz für unsere Garderobe einrichten. Es war immer sehr viel zu tun und wir sind erst am Montag nach dem bescheidenen Frühstück nach Aschau zurückgefahren, weil Pater Ober am Montag Spätdienst hatte. Wir waren nach der Rückkehr jedes Mal fix und fertig, und diesen Zustand mussten wir üben, lernen und aushalten. Wenn die Patientin, die Pater Ober das Haus geschenkt hatte, gewusst hätte, was sie Pater Ober angetan hatte! Das wusste sie aber nicht, weil sie seit Jahren behindert war und das Haus, in dem ihre Schwester gewohnt hatte, nicht mehr hatte sehen können. Auf dem Weg nach Aschau war uns nicht nach Reden zumute, wir hatten keine Lust und keine Kraft mehr dazu, und jeder beschäftigte sich mit eigenen Gedanken, was das aktuelle Problem betraf *** Auch die ganze letzte Woche bis zum Freitag vor Heiligabend hatte Pater Ober in der Praxis gearbeitet. Das Wartezimmer war jeden Tag voll gewesen. Auch die Nachmittage nach seiner Behandlung, die Pater Ober in Aschau wieder zuließ, hatte er immer noch alle Hände voll zu tun. Abends, um 21:00 Uhr, dachte er wieder an seine Patienten, ging in seine Praxis hinüber, hörte das Band ab und schrieb Rezepte. Er war unermüdlich! Den Christbaum für das Wartezimmer in der Praxis hatte Pater Ober gleich nach unserer Rückkehr aus Altötting geschmückt. Da ich wieder dabei nicht helfen durfte, war ich davon überzeugt, dass es doch seine Lieblingsbeschäftigung war. Er hatte sogar noch die Kraft aufbringen können, mich ab und zu anzulächeln. Er brachte mich immer wieder ins Staunen und ich fragte mich oft, woher er die Kraft nahm. Pater Ober beim Schmücken des Christbaumes

In diesem Jahr durfte ich zum Einkaufen für Weihnachten nach Rosenheim mitfahren und helfen, wobei auch die Gans im Einkaufskorb landete. Die Freude des Paters bei den selbständigen Vorbereitungen war so groß, dass ich nicht sagen konnte, dass ich nicht auf der Gans bestand. Und wie ein Jahr zuvor durfte ich an Heiligabend das Mittagsessen ausfallen lassen und wurde wieder um 18:00 Uhr in seiner Wohnung erwartet. Er hatte Weihnachten 2006 genauso sorgfältig vorbereitet und zelebriert wie die vorherigen, es empfing mich in seiner Wohnung eine gute Atmosphäre, es war warm und duftete leicht nach Weihrauch. Als ich hineinkam, führte mich Pater Ober gleich zum Tisch ins Wohnzimmer, das mit dem leuchtenden Christbaum und dem Kandelaber am Tisch beleuchtet war. Es war eine sehr entspannte Atmosphäre, die durch eine leise Weihnachtsmelodie intensiviert wurde. Pater Ober hatte wieder perfekt für eine weihnachtliche Stimmung gesorgt, er zeigte wieder mal seinen Perfektionismus – und das mit Freude, obwohl er doch nach der Schufterei in Altötting sehr müde gewesen sein musste. Diesmal gab es auch ein bescheidenes Mahl, das aus einer großen und sehr heißen Portion Rotkohl und aus einer Weißwurst dazu bestand. So ein Abendmahl am Heiligabend war mir neu. Er beobachtete mich beim Essen wieder neugierig und fragte, ob es mir schmeckt und ob mir alles gefällt. Er wollte sich wieder von der besten Seite als Gastgeber zeigen, was ihm auch gelungen ist. In Pater Ober steckte ja ein Romantiker! Er hatte bei der Gestaltung der Feiertage wieder mal seine künstlerische Ader gezeigt und das Christkind hat mich auch diesmal mit sechs Päckchen beschenkt. Aber die größte Freude bereitete mir Pater Ober mit einer Weihnachtskarte, die er mir zu meinem Teller am Tisch hinlegte. Heiligabend, 24. Dezember 2006

Nachdem ich alle meine Geschenke ausgepackt und bewundert hatte, legte ich alles an die Seite am Tisch, nahm Pater Ober an der Hand und sagte: „Der Herr darf sich freuen, das Christkind hat ihn auch diesmal nicht vergessen.“ Pater Ober lächelte zufrieden. Ich brachte ihn in meine Wohnung und zur Abwechslung führte ich ihn an meinem großen Christbaum in der Gästeküche vorbei und lud ihn in das kleine Zimmer ein, in dem ich in der Ecke einen ganz kleinen Christbaum aufgestellt hatte. Unter diesem warteten die sechs Kleinigkeiten auf ihn. Dass wir über die nicht abgesprochene Zahl der Geschenke lachen würden, war sicher. Seinem Scharfsinn ist natürlich die Zahl sechs nicht entgangen und wir lachten tatsächlich wieder, wie vor einem Jahr. Dann lud ich Pater Ober in die Gästeküche zum Tee. Am Tisch lag auch eine Weihnachtskarte von mir. Er freute sich über sie, weil er sie nicht erwartet hatte. In der Wunschkarte fand Pater Ober wieder ein Bild von sich, das ich im Sommer geknipst hatte und das für ihn noch neu war. Das war wieder mal ein Weihnachten voller Freude, wie in den alten, weit vergangenen Zeiten. Die Weihnachtskarte von Pater Ober

Gegen 21:00 Uhr kehrten wir in das Erdgeschoß zurück. Pater Ober ging in seine Praxis, um das Band abzuhören und Rezepte zu schreiben. Ich holte meine Geschenke aus seinem Wohnzimmer und kehrte in meine Wohnung zurück. Obwohl ich an diesem Tag fast nichts getan hatte, war ich doch geschwächt, legte mich zufrieden in mein Bett und dachte über den Abend nach. Ich sah vor meinen Augen, wie Pater Ober mich in sein Wohnzimmer geführt, mich zum Tisch eingeladen und mit Freude bedient hatte. So intensiv hatte sich in meinem ganzen Leben noch kein Mensch um mich gekümmert, um mir eine Freude zu bereiten. Wie hätte ich mich nicht wohl und geborgen fühlen können? Die folgenden zwei Feiertage begannen wie immer mit einer Messe um 07:10 Uhr, in seiner Hauskapelle, und zum Mittagessen servierte Pater Ober die von ihm persönlich gebratene Gans, auf die er so stolz war. Ich musste an den Tagen nichts tun und wurde wieder mit Freude bedient. Er ließ sich nach dem Essen widerstandslos behandeln. Es waren Stunden voller Entspannung für uns beide. Pater Ober in meiner Gästeküche, 24. 12. 2006

Nach Weihnachten kochte ich wieder, wir aßen in meiner kleinen Küche und ich durfte Pater Ober weiter behandeln. Diese Tatsache war für mich beruhigend, denn in Altötting lehnte er die Behandlungen immer ab. Nachdem er sich für die Behandlung hingelegt hatte, schlief er sofort tief wie ein Stein ein. Er zeigte nie, dass er müde war und beklagte sich auch nie. Das war nicht sein Stil. Ich wusste aber, wie es um ihn stand. Dann kam Sylvester und ich brauchte mich auch diesmal um nichts zu kümmern. Pater Ober kochte wieder mit Freude, es duftete, als ich nachmittags ankam. Ich wurde mit einem breiten Lächeln begrüßt und ins Wohnzimmer geführt. Pater Ober zündete die Kerzen am Tisch an und schaltete die Lichter am Christbaum ein. Pater Ober, Sylvester 2006

An diesem Sylvester erlebte ich eine weitere Überraschung, die mich zum Lachen brachte. Als die Zeit zum Abendessen kam, trat aus der Küche plötzlich ein Koch ein. Dieser hieß Pater Ober und trug zwei Teller herein, die er feierlich auf den runden Tisch stellte. Er freute sich über mein Lachen und dass ihm die Überraschung so gelungen war. Pater Ober, Sylvester 2006

Pater Ober, der Koch

Es war ein gelungenes Sylvester, aber wir haben nicht bis Mitternacht abgewartet, davon haben wir beide nicht mehr viel gehalten. Wir waren schwach und zu müde und außerdem ging Pater Ober wie immer um 21:00 Uhr in seine Praxis und hörte das Band ab. Natürlich stellte er auch gleich Rezepte aus. Am nächsten Tag, an Neujahr 2007, trafen wir uns wie an jedem Feiertag und Sonntag um 07:10 Uhr in der Hauskapelle. Nach der Messe legte Pater Ober das Messgewand ab. Er setzte sich, jetzt schwarz bekleidet, an die kleine Orgel, die in der Kapelle stand, und fing an, wie ein Organist in der Kirche zu spielen. Er wollte in dieser Form meinen Geburtstag begrüßen. Diese Überraschung ist ihm auch gelungen. Er stand dann gut gelaunt auf und lud mich zu einem gemeinsamen Frühstück ein. Er führte mich in seine Küche, wo das Frühstück im Esszimmer schon auf uns wartete. Zu meinem Geburtstag beschenkte mich Pater Ober mit einem Buch. Das war schon immer das beste Geschenk für mich. Pater Ober, 01. 01. 2007

*** Die erste Januarwoche 2007 verlief für Pater Ober nach den vielen Feiertagen ruhiger, obwohl er keine Pause in der Praxis machte. Er arbeitete vormittags weiter, das Wartezimmer war immer voll, und am Nachmittag nahm er sich endlich frei. Das war aber auch keine ausreichende Zeit für eine vollständige Erholung. Wir aßen mittags wieder wie gewohnt bei mir oben, Pater Ober nahm sich Zeit für sich und seine Behandlung und legte sich nach dem Mittagsessen von alleine hin, um ins Gleichgewicht zurückzukommen. Dann wartete er auf meine Hände. Seine lockere Haltung ließ mich aufatmen und tat mir gut. Er war ja müde und brauchte die Ruhe, die mit der Behandlung verbunden war. Pater Ober, 01. 01. 2007

Das Geburtstagkind, die Therapeutin, 01. 01. 2007

In dieser Woche bemerkte ich, dass Pater Ober etwas beschäftigte. An seinen nachdenklichen Blicken, die er mir schweigend zuwarf, sah ich, dass es in seinem Kopf wieder mal arbeitete. Und tatsächlich, ich hatte mich nicht getäuscht, er wollte mir etwas anvertrauen. Er kam am Abend in meine Wohnung, setzte sich schweigend in meiner Gästeküche zum Tisch, schaute mich nachdenklich an und wartete, bis ich mich zu ihm setzte. Ich setzte mich also auch und schaute ihn erwartungsvoll an. Ich spürte, dass das, was er mir sagen wollte, wichtig für ihn war. Als er dann zu reden begann, merkte ich, dass es wieder mal gut überlegte Worte waren. Diese überraschten mich, sie waren mit der Vergangenheit verbunden, die er wahrscheinlich immer noch nicht überwunden hatte und jetzt preisgeben wollte. Es war nämlich eine Beichte! Pater Ober fing ganz langsam und leise an: „Nachdem ich meine Mission auf Madagaskar beendet hatte und nach Deutschland zurück kommen durfte, schickte man mich in ein Sanatorium.“ Pater Ober machte eine kleine Pause und als er weitersprach, hörte ich genau zu: „In diesem habe ich eine Schauspielerin kennengelernt.“ Er schaute mich unsicher an, setzte aber seine Geschichte fort. „Nachdem ihr Aufenthalt im Sanatorium zu Ende ging, gab sie mir beim Abschied ihre Visitenkarte in die Hand und sagte zu mir, dass ich sie zu Hause besuchen dürfe.“ Nach einer kleinen Pause sagte er weiter: „Nach meiner Entlassung habe ich die Schauspielerin zu Hause besucht, aber ich habe nur eine Nacht mit ihr verbracht.“ „Was?“, reagierte ich empört und wurde sprachlos. Pater Ober fuhr unbeirrt mit seiner Offenbarung fort: „Diese Nacht ist nicht ohne Konsequenzen geblieben, die Schauspielerin bekam eine Tochter von mir.“ Ich reagierte wieder sehr heftig. So eine Reaktion hatte Pater Ober wahrscheinlich nicht von mir erwartet. Er ist aufgestanden und hat meine Wohnung verlassen. Auf diese Weise habe ich erfahren, dass Pater Ober eine Tochter hatte. Dann kam der letzte Feiertag, der Dreikönigstag. Ich hatte vermutet, dass Pater Ober das Ritual der Vertreibung der bösen Geister auch diesmal nicht auslassen würde, also nahm ich zur Messe um 07:10 Uhr den Fotoapparat mit, weil ich das Ritual aufnehmen wollte. Pater Ober war auch diesmal schwarz gekleidet und zelebrierte mit ernstem Gesicht die kurze Messe, die immer pünktlich begann. Gleich danach ging er in den Nebenraum und bereitete das Ritualgefäß vor. Wir kamen dann in seine Küche im Erdgeschoß und ich wartete, bis er für das Ritual fertig war. Pater Ober begann das Ritual der Vertreibung von bösen Geistern diesmal auf der anderen Seite seines großen Anwesens. Wir gingen aus seiner Küche hinaus durch das Treppenhaus, wo sich seine Praxis und meine Wohnung befanden. Er fing im großen Raum seiner Praxis an, ging dann der Reihe nach in jeden Therapieraum hinein und sprach den Spruch der Vertreibung leise auf Latein aus. Pater Ober, 06. 01. 2007

Das Ritualgefäß

In meiner Wohnung angekommen, nahm ich – um den Ernst aus seinem Gesicht etwas wegzuwischen – das Ritualgefäß aus seinen Händen und bat ihn um eine Aufnahme. Er machte dabei ein staunendes Gesicht, sagte aber kein Wort und machte mir ein Foto. Er war überrascht, dass ich das Ritual zu unterbrechen wagte. Ich quittierte seine Überraschung natürlich mit einem Lächeln. Ich mit dem Gefäß

Nachdem die bösen Geister aus jedem Raum meiner Wohnung vertrieben worden waren, haben wir diese Seite des Anwesens verlassen und kamen wieder in den privaten Teil. Zuerst war das Wohnzimmer dran und die Vertreibung der bösen Geister wurde auch mit dem lateinischen Spruch fortgeführt. Seine Küche gegenüber hat Pater Ober auch nicht weggelassen und schließlich gingen wir nach oben in seine privaten Räume, wo er das Ritual in seinem Arbeitszimmer beendete. Sein Gesicht entspannte sich und der Ernst verschwand auch daraus. Er hatte bestimmt etwas mit der Vergangenheit zu tun gehabt, da war ich mir ganz sicher. Am Abend des Dreikönigstages besuchte mich Pater Ober in meiner Wohnung überraschend wieder. Er setzte sich in meiner Gästeküche nieder und wartete, bis auch ich Platz genommen hatte. Ich spürte, dass er mir noch mal etwas Wichtiges sagen wollte, er war ja wieder ganz ernst. Aber das, was ich jetzt hörte, hätte ich nicht erwartet. Pater Ober beichtete mir in kurzen Worten eine zweite Tochter! Entsetzt fragte ich ihn schnell: „Ja wo sind denn deine Kinder?“ Er schaute mich eine Weile schweigend an und sagte dann wieder leise und langsam: „Eine lebt in Amerika und die andere in München.“ Trotz meiner Empörung blieb Pater Ober diesmal sitzen. Er wartete geduldig eine Weile ab und fing dann zu erzählen an, warum er sich nicht an das Zölibat gehalten hatte. Ich erfuhr, dass er nach der Weihe an einem Vortrag zum Thema Zölibat teilgenommen und erfahren hatte, dass sich ein Greis, ein Oberhaupt der katholischen Kirche, das Zölibat vor tausend Jahren ausgedacht hatte. Es ging natürlich um das liebe Geld. Es sollte in den Vatikan fließen und nicht in der Familie des verheirateten Priesters bleiben. „Als ich das gehört habe, habe ich mich nicht mehr an das Zölibat gehalten. Aber ich habe in Afrika keine Frau gehabt, nur in Deutschland“, sagte Pater Ober schnell dazu. „Das muss aber ein sehr geldgieriger Greis gewesen sein“, sagte ich. Pater Ober in seinem Arbeitszimmer

Jetzt hatte ich ein Problem. Ich spürte, dass Pater Ober mir seine Kinder nicht umsonst gebeichtet hatte. Es wurde mir klar, dass ihm die Tatsache, dass er Kinder hatte, jetzt im Alter keine Ruhe mehr ließ und ihm zu schaffen machte. Es ging mir durch den Kopf, dass Pater Ober eine Stellungnahme von mir erwartete, „die Sache“ sozusagen in meine Hände legen wollte. Und am nächsten Tag, es war ein Sonntag, aßen wir zusammen in seinem Wohnzimmer. Ich sagte beim Essen zu ihm: „Glaubst du nicht, dass es an der Zeit wäre, mit den beiden Kindern zu sprechen?“ Da mich Pater Ober nur nachdenklich anschaute und kein Wort von sich gab, spann ich meinen Gedanken weiter: „Du solltest die beiden Kinder einladen, dich mit ihnen an einen Tisch setzen und mit ihnen reden. Das sind jetzt doch erwachsene Frauen, wenn du mit ihnen offen und ehrlich redest, werden sie dich doch verstehen. Erzähl ihnen einfach dein Leben. Sie werden dich nicht nur verstehen, sie werden sich über deine Einladung freuen!“ Daraufhin sagte mir Pater Ober, dass die Tochter aus Amerika ihn vor Jahren schon aufgesucht hatte und dass sie schon ein paarmal in Aschau war. Dann sagte er noch: „Die Tochter aus München vermisse ich sehr, weil ich sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen habe.“ „Das tut mir aber alles sehr leid!““, sagte ich. „Dein einsames Leben hast du dem Greis, dem katholischen Oberhaupt, zu verdanken.“ Ich musste es aussprechen, weil ich sah, wie er darunter litt. Nach diesem Feiertag waren Zölibat und Kinder monatelang kein Thema mehr. Wir mussten uns auf Altötting vorbereiten. Am Montag in der Früh, bevor ich meine Wohnung verließ, bemerkte ich einen getrockneten Mistelzweig, der auf dem Tisch in meiner Gästeküche lag. Ich bin staunend stehen geblieben und dachte: „Woher kommt der Zweig? Er war doch gestern noch nicht da! Wann und warum hat Pater Ober ihn hier hingelegt?“ Da ich mit dem Mistelzweig nichts anfangen konnte, warf ich ihn einfach in den Mülleimer. Dass die Geste mit dem Mistelzweig eine Bedeutung haben könnte, war mir nicht in den Sinn gekommen. Erst nach Jahren, als Pater Ober nicht mehr unter uns weilte, habe ich aus einem Buch erfahren, was ein Mann einer Frau mit dem Mistelzweig nach alter Sitte hier in Bayern sagen wollte. Es war verblüffend, was ich da erfuhr. Der arme Mensch! *** In Altötting waren wir diesmal am frühen Vormittag angekommen. Pater Ober gab mir wortlos weiterhin freie Hand und ging gleich ins Nebenhaus. Nachdem wir die gelieferte Pizza mittags verspeist hatten, wartete ich zwei Stunden ab, und da ich ihn im Hof nicht sah, ging ich hinunter und wollte mich vergewissern, was er machte und ob er alleine mit der Arbeit zurechtkam. Ich fand Pater Ober im ersten Raum der alten Scheune und sah, wie er sich erschöpft durch das Chaos kämpfte! Es war mir sofort klar, dass wir doch nicht auf zwei Fronten arbeiten konnten. Er hatte sich das bestimmt so vorgestellt, weil er es eilig hatte! Ich ging ihm sofort zur Hand, dabei atmete Pater Ober sichtlich auf

Altötting, Ende Januar 2007

Pater Ober, 08. Januar 2007

Die Familie macht mit, Februar bis April 2007

Das Wetter in diesem Winter war mild, kalt war es draußen auch nicht besonders, man konnte im Hof arbeiten. Um das Haus herum war Anfang Januar 2007 kein „Urwald“ mehr zu sehen, die Feuerwehr hatte schon die ganze Fläche, auf der dieser gewachsen war, gerodet. Man konnte deswegen auch mit den Sanierungsarbeiten draußen beginnen. Pater Ober ist für diese Woche nach Dreikönig in Altötting geblieben, um sich um die Sanierungsarbeiten zu kümmern und sie in Schwung zu bringen. Wir haben jeden Tag nur die gelieferte Pizza gegessen. Auf die Behandlung, die Pater Ober doch so nötig gehabt hätte, verzichtete er weiterhin. Es war jede Stunde wichtig für ihn und er selber hat auch sehr schnell und ununterbrochen gearbeitet. Es war ein Wahnsinn, was die Eile betrifft! Aber ich habe ihn nicht mehr aus den Augen gelassen, ich stand ihm bei jeder Arbeit bei und ging ihm zur Hand. Es ist ihm in dieser Woche gelungen, das verrostete Schloss an der Tür des zweiten Raums im Nebenhaus zu öffnen, und was wir da zu sehen bekamen, war überraschend. In dem Raum stand ein gepflegtes Auto! Ein sehr altes Modell, aber in gutem Zustand. Wir waren die ganze Woche jeden Tag bis Sonnenuntergang mit dem ständigen Räumen beschäftigt und haben abends nach getaner Arbeit in Arbeitskleidung die Marienkapelle aufgesucht, um den Tag mit dem Gedanken an Gott zu beenden. In der Dunkelheit sah uns sowieso niemand. Wir konnten uns nur die Hände waschen, weil das Bad, wie die Küche, eine Baustelle war. Sonntags fing der Tag wieder mit dem Gang zur Kapelle an. Nach der Messe haben wir weiter im Haus gewerkelt. Mittags gab es diesmal das mitgebrachte Brot und Gemüsebrühe und nach der durchgearbeiteten Woche sind wir am Sonntagabend nach Aschau zurückgefahren. Die Sanierungsarbeiten in Altötting gingen aber weiter. Wir sind dann weiterhin an jedem Wochenende nach Altötting gefahren, um zu arbeiten. Wir machten keine Pausen und die einzige Entspannung für uns war die kurze Zeit nach der Messe am Sonntag. Danach haben wir immer einen Mönch in der Nähe der Marienkapelle getroffen, der sichtlich ein Gespräch mit Pater Ober suchte. Er trug eine braune Kutte und gehörte nicht zu einem katholischen Orden. Pater Ober hatte ihn gekannt, ist immer stehen geblieben und widmete dem Mönch eine gewisse Zeit. Während sich die beiden Geistlichen unterhielten, entfernte ich mich und schaute mir die schönen Schaufenster der zahlreichen Geschäfte um die Kapelle herum an. Das war unsere einzige Abwechslung in der Woche. Dann, nach dem Mittagessen, ging das Werkeln im Haus weiter. Wie lange die Räumungsarbeiten im Haus selber dauern würden, konnte keiner voraussehen, weil die Menge an Müll und alten, unbrauchbaren Gegenständen auch nach Wochen noch keinen Räumungsfortschritt sichtbar machte. Es war einfach zu viel zum Entsorgen! Schließlich bin ich am 16. Februar 2007 in Altötting geblieben und habe jeden Tag alleine weiter alles aus allen Zimmern und vom Dachboden heruntergetragen. Die verschiedenen Gegenstände und alte Kleider aus den zahlreichen Schränken packte ich in blaue Säcke ein, die ich zu diesem Zweck gekauft hatte. Erst habe ich die vollen Säcke auf der vorhandenen Fläche zwischen dem Erdgeschoß und dem ersten Stock gesammelt und dann abends vor das Haus getragen. Die Arbeiten um das Haus herum

Anhänger voller Eisen

Die täglichen Ansammlungen vom Dachboden

Bevor die Müllabfuhr kam, haben sich vor dem Haus über dreißig Säcke angesammelt und ich bekam unerwarteten Ärger wegen der Menge mit einer Frau, die sich nicht vorgestellt hatte. Sie sprach mich mit aufgeregter Stimme an, und als ich ihr die Situation erklären wollte, merkte sie, dass ich kein tadelloses Deutsch sprach. In diesem Moment fing sie an, mich zu beschimpfen. Aber wie! Da ich müde und kaputt war und mir das verletzende Verhalten der Frau den Rest gab, bin ich weinend in das Haus geflüchtet. Es ging darum, dass ich für den Müll nicht die billigen Säcke verwenden durfte, sondern Säcke aus dem Rathaus holen musste. Die nächsten Säcke habe ich dann natürlich im Rathaus gekauft, obwohl ich den Unterschied zwischen den Säcken nicht gleich verstanden habe. Die Aufgabe der Beseitigung der mit Tonbändern gefüllten Gefäße übernahm der Bruder von Pater Ober, der jedes Wochenende mit einem Anhänger kam. Er brachte auch das in Pakete gebundene Altpapier weg, das sich im Flur des Erdgeschosses jeden Tag neu angesammelt hatte. Ohne seine Hilfe wäre es für uns noch schwerer gewesen, das Haus zu räumen. Auch den Haufen von Eisenstangen und Gegenständen aus Eisen, den ich im Hof gesammelt hatte, hat der Bruder weggefahren. Die groben Sachen landeten im Müllcontainer, der für den Zweck bestellt und neben dem Haus hingestellt worden war. Im Kühlschrank im Treppenhaus waren Schubladen voller Fleisch, das im Wasser stand. Den Gestank kann man sich vorstellen! Und ich musste ihn erst ausleeren, um ihn in den Hof schieben zu können. Das Haus hatte etwa drei Jahre lang leer gestanden, ein Nachbar erzählte mir mal kurz, dass die alte, verwirrte Frau, die das Haus zuletzt bewohnt hatte und nicht mehr Treppen steigen konnte, kurz vor ihrem Ende das Fenster aufmachte und laut schrie, dass sie Hunger hatte. Angeblich hatten sechs Personen einen Schlüssel zum Haus gehabt, um die Frau zu versorgen und ihr zu helfen. Zwei Tage nach dem Hilferuf hatte man sie tot im Flur des Hauses gefunden. Im Treppenhaus bei der Kammer, die mit noch brauchbaren Sachen und Müll angefüllt war, stand auch ein Schrank mit Vorräten. Darin fand ich viele Gläser mit steinhartem Inhalt. die ich nicht mehr leeren konnte. Ich hatte ein richtiges Problem damit, sie zu entsorgen *** Bevor ich in Altötting bleiben musste, um das ganze Haus weiterzuräumen, gab mir Pater Ober am letzten Wochenende, das wir noch in Aschau gemeinsam verbracht hatten, ein Dokument in die Hand. Er schien sehr verärgert zu sein, weil er dabei nur einen einzigen Satz von sich gab: „Das will ich nicht!“ Danach entfernte er sich schnell von mir. Als ich das Schreiben durchgelesen hatte, fragte ich mich: „Sucht Pater Ober Schutz bei mir? Ich hatte doch nichts zu sagen!“ Das Dokument habe ich gut aufgehoben und Pater Ober kam nie wieder auf das Thema zurück. Ich auch nicht. Das Dokument war aussagekräftig! Man wollte schon über seinen hart erworbenen Erwerb verfügen, obwohl er noch am Leben war! „So eine Frechheit“, dachte ich

Das Dokument. Wie lange ich brauchen würde, um den gesamten Müll in den Hof zu tragen, war, wie gesagt, weiterhin nicht vorauszusehen. Ich war von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ständig zwischen Dachboden und Hof unterwegs. Im Aufenthaltsraum sammelte ich an der Wand die Bücher, die ich in allen Ecken des Hauses gefunden hatte. Die Umstände im Haus waren schwer zu ertragen. Ich fühlte mich in der Unordnung wie nach einer Bombardierung im Krieg, ohne Küche, ohne Bad, ohne warmes Wasser, ohne normales Klo, alle Türen und Wände schmutzig, verklebt, verdreckt, und der einzige Luxus, den ich hatte, war die funktionierende Steckdose in meinem Zimmer, dank der ich den Tee und die Gemüsebrühe für das Brot mittags und abends kochen konnte. Nachts störten das Licht und der Lärm von der Straße. Das Frühstück und das Abendessen habe ich bei Kerzenlicht eingenommen und während ich in Altötting arbeitete, war Pater Ober sich in Aschau selbst überlassen. Der Aufenthaltsraum

Die Renovierungsarbeiten liefen in dieser Zeit weiter auf Hochtouren. Der einzige Arbeiter im Keller arbeitete mit einer pneumatischen Schlagbohrmaschine und die zwei Elektriker im Erdgeschoß mit Bohrmaschine und Hammer. Der Lärm im Haus war enorm und schwer zu ertragen. In den sechs Wochen, in denen ich ununterbrochen das Haus geräumt habe, bin ich nur dreimal einkaufen gegangen. Ich habe überwiegend von Brot, Brötchen, Tee und Gemüsebrühe gelebt. Ich hatte ja keine Möglichkeit, mich umzuziehen und zu waschen. Zu Fuß war ein kleines Geschäft an der Straße in drei Minuten zu erreichen, da beeilte ich mich in der Arbeitskleidung sehr, um doch ab und zu Obst zu holen. Eine nette Frau, die mich wahrscheinlich beobachtet hatte und sah, dass ich das Haus nie verließ, und mich jedes Mal bedauerte, dass ich unter so schweren Umständen arbeiten musste, kam oft zu mir ins Haus, brachte mir jedes Mal etwas vom Bäcker mit und wollte dafür kein Geld haben. Ich freute mich auf ihre Besuche, sie war die einzige „Begleiterin“, mit der ich ein paar Worte wechseln konnte. Sie hatte die ganze Familie gekannt, die im Haus einmal gewohnt hatte. Eines Tages, kurz vor dem Aufstehen in der Früh, hörte ich einen lauten und heftigen Knall unmittelbar hinter der Tür, vor der sich mein Schlafplatz befand. Es klang, als hätte jemand mit voller Kraft etwas Schweres auf den Boden geworfen. Ich sprang auf und eilte mit klopfendem Herzen in das Zimmer hinüber, um nachzusehen, was da passiert war. Das Zimmer hatte ich am Vortag erst zu Ende geräumt, es stand außer einem Schrank leer und die Fenster waren über Nacht geschlossen gewesen. Nur an die Tür, die unmittelbar an meinen Schlafplatz grenzte, hatte ich aussortierte Stühle gestellt. Ich hatte abends nichts auf die Stühle gelegt. Umso erstaunlicher war es. Woher war der Knall bloß gekommen? Es war ja niemand da, der etwas hätte umwerfen können! Die Stühle im leeren Zimmer an der Tür

Da wusste ich, dass sich eine Seele gemeldet hatte, die wahrscheinlich Hilfe brauchte. Ich fing an, jeden Tag für sie zu beten. Als die nette Frau wieder zu Besuch kam und Brötchen brachte, erzählte ich ihr, was ich erlebt hatte. Sie fragte, in welchem Zimmer ich schlafe und wo ich den Knall gehört hatte. Als ich ihr es erklärt hatte, sagte sie mir, dass das Zimmer, in dem ich schlief, das Arbeitszimmer des alten Besitzers gewesen war. Er war ein sehr strenger Großvater gewesen. Die Leute wussten, dass er die kleinen Kinder einer seiner beiden Töchter weggenommen hatte, um sie selber zu erziehen. Die Kinder durften nicht mit den Nachbarskindern spielen. Der Bub, der mit den Kindern und mit der Toilette in der Schule nicht zurechtkam, bekam einen Hauslehrer. Dann erfuhr ich noch, dass beide Kinder mit 25 Jahren auf tragische Weise ums Leben kamen. Der Junge, der sich die ganze Nacht mit Musik beschäftigte und das Haus nie verließ, hatte regen Kontakt zu einer Radiomoderatorin. Er landete mit 25 in der Psychiatrie, wo er starb. Das Mädchen, das in München studierte, nahm sich eines Tages das Leben. Sie sprang. aus dem Fenster. Es sind ein paar Tage vergangen, bis ich den zweiten Knall hörte. Diesmal kam er aus einem Zimmer unten. Als die nette Frau mich wieder besuchte und ich ihr über den nächsten Knall berichtete, fragte sie wieder nach dem Zimmer. Diesmal handelte es sich um das des Enkels Johannes. Also bat mich eine zweite Seele um Hilfe. Es war für mich selbstverständlich, dass ich jeden Tag abends an die beiden Seelen dachte und für sie betete *** An einem Wochenende ist Pater Ober nach Altötting gekommen, um den riesigen, schwarzen, 300 Jahre alten Schrank aus dem ersten großen Zimmer im Erdgeschoß zu verkaufen. Der Schrank mit dem Bildhauerwerk vorne an den Türen war sehr groß und immer noch schön, aber sehr schwer. Pater Ober freute sich, dass sich noch ein Käufer für den Schrank gefunden hatte, der dazu bereit war, 3000 Euro für ihn zu bezahlen. Im Haus befanden sich noch viele sehr alte Schränke, die im Weg standen, und wir vermuteten, dass die letzte Bewohnerin, die Tochter des Künstlers, eine Restauratorin gewesen war. Dafür sprachen auch die vielen Farben und Chemikalien in einem Zimmer. Nachdem der riesige Schrank weg war, konnte ich das Zimmer räumen. Danach haben wir einen langen Tisch hingestellt. Pater Ober wünschte sich, dass ich alle Bücher herunterbrachte, damit die Menschen, die aus Neugier ins Haus hineinkamen, sie sich anschauen und eventuell auch kaufen konnten. Für diese Bücher hat sich aber kein Mensch interessiert. Das war das Zimmer, das sich Pater Ober für die künftigen Gespräche mit Kranken vorstellte, obwohl er doch längst mit der Arbeit als Heilpraktiker aufhören wollte. Er konnte aber nicht anders, er dachte immer noch an die Hilfe suchenden Menschen! An diesem Tag erfuhr ich von ihm, dass die weiteren Zimmer im Erdgeschoss für mich gedacht waren, weil er oben wohnen wollte. Es gab noch einen dritten, sehr großen Raum im Erdgeschoss, den Pater Ober als Küche und gleichzeitig als Wirtschaftsraum vorgesehen hatte. Die Idee fand ich ganz gut. Es kam auch gleich der Oberschreiner ins Haus, um die Wände auszumessen. Er sollte auch die Möbel für den Raum herstellen. Während der sechs Wochen habe ich in dem kleinem Zimmer im Erdgeschoß, in dem nur noch eine neue, nicht gebrauchte Wäscherolle auf den Abtransport wartete, so eine Art Flohmarkt errichtet. Auf zwei langen, schmalen Tischen habe ich noch brauchbares Spielzeug vom Dachboden gesammelt und zum Verkauf angeboten. Natürlich hatte ich die Sachen erst sauber gemacht und die Puppen hergerichtet. Für diesen Flohmarkt haben sich die Menschen doch interessiert. Auch nach Sterbebildern wurde ich gefragt. Pater Ober machte Augen wegen meines Verkaufsengagements, er wunderte sich jedes Mal, woher ich das Geld hatte, das ich ihm gab, und staunte, dass es mir immer wieder gelungen war, noch etwas von dem Gerümpel, wie er es nannte, zu verkaufen. Einmal gab ich Pater Ober über tausend Euro, da staunte er und freute sich! Die Bilder, die ich überall im Haus fand, habe ich zu den Büchern gebracht. Für sie haben sich Menschen interessiert und Pater Ober konnte auch manche verkaufen. An den Zimmerwänden fanden wir auch Spuren von Bildern, die abgenommen worden waren. Pater Ober ließ nicht locker, er sprach mit Menschen und ging den Informationen so lange nach, bis er die Bilder in der Stadt wiederfand. Er holte sie mit Hilfe der Polizei ins Haus zurück. Es gab auch noch Dinge im Haus, die man tragen oder verwenden konnte, z.B. Damenschuhe oder Sachen für den Haushalt. All dies habe ich jeden Tag am Abend vor das Haus gestellt, und tatsächlich, in der Früh, wenn ich die Türe aufmachte, freute ich mich, weil alles weg war. Die Armut sieht man tagsüber doch seltener. An einem anderen Wochenende war Pater Ober wieder da und brachte zwei Männer mit, die er bestellt hatte, um die Gartenlaube, die noch im damaligen Garten stand, auseinanderzulegen. Das alte Gartenhaus muss weg

Die beiden Männer machten sich gleich an die Arbeit, während Pater Ober Schrott sammelte. Ich arbeitete währenddessen wie jeden Tag zwischen Dachboden und Hof weiter, brachte den Müll runter und warf unterwegs ab und zu einen Blick durch das Fenster. Plötzlich sah ich, wie Pater Ober mit einem langen Brett unter dem Arm aus dem Container lief! Er ärgerte sich über einen Arbeiter, der sich erlaubt hatte, ein gesundes Brett wegzuwerfen! Das war wieder mal typisch für Pater Ober

Pater Ober sparte an allem: an Geld, an Strom, an Wasser und an Toilettenpapier für die beiden Toiletten im Wartezimmer. Er beklagte sich einmal über „die Weiber“, die das Klo im Wartezimmer der Praxis zu oft benutzten. Als ich dies eines Tages zu hören bekam, sagte ich ihm, dass er wohl vergessen hat, dass im Wartezimmer kranke Menschen warten. Daraufhin schaute mich Pater Ober nur an und sagte nichts mehr. Wir arbeiteten weiter. Die Sparsamkeit ging so weit, dass während der Sprechstunde das Licht an der Treppe, die zu den Therapieräumen ins Subparterre führte, nicht angeschaltet wurde, und eines Tages bekam Pater Ober wegen Sturzgefahr Ärger. Auch das Wasser nach seinem Bad am Samstag musste in der Badewanne bleiben. Er benutzte es dann die ganze Woche lang für die Klospülung. Er dachte an alles, nur nicht an seine eigene Gesundheit. Die Pizza ist da!

Für die Arbeit mit der Schlagbohrmaschine im Keller war nur ein Arbeiter zuständig. Er war sehr diszipliniert und fleißig, er hat sich jeden Tag um 07:00 Uhr gemeldet und machte nur eine kurze Mittagspause von fünfzehn Minuten, nach der er bis 16:00 Uhr weiterarbeitete. Dann meldete er sich bei mir ab, obwohl er es gar nicht musste. Ich war ja nicht die Chefin. Ich habe mit dem Mann nur einmal kurz gesprochen und ihn beobachtet und bewundert, wie er den Lärm ohne Ohrenschutz aushalten konnte, er war doch enorm! Er hatte auch keine Maske wegen des Gestanks und des Staubs getragen! Der Arbeiter tat mir richtig leid, weil die Arbeitsumstände für einen Einzelnen zu schwer waren. Nachdem er Ende März mit dem Bohren im Keller fertig war, hatte man ein Förderband in den Keller gebracht und jetzt war er weiter alleine für den Schutt verantwortlich, den er mit Hilfe des Bandes noch wegschaffen musste. Der Schwerarbeiter war erst um die 40 Jahre alt, aber schon versteift. Dann brachte man zwei Geräte in den Keller, mit deren Hilfe man diesen trocknete. Auf mich kam dann eine zusätzliche Aufgabe zu, ich musste nachts, pünktlich um 24:00 Uhr, den Keller darauf kontrollieren, ob die Geräte arbeiteten und alles in Ordnung war. Der Weg nachts durch das kalte, leere Haus, das nur provisorisch leicht beleuchtet wurde, war unheimlich. Ich brauchte auch eine Taschenlampe, weil der Keller ganz dunkel war. Da die Arbeit im Keller für einen Arbeiter zu schwer war, versuchte ich einmal mit seinem Chef über die schweren Arbeitsbedingungen zu sprechen. Ich sagte ihm, dass die Arbeit mit dem pneumatischen Schlagbohrer eine sehr schwere Arbeit sei und ob sie nicht zwei Männer im Wechsel verrichten könnten, aber er meinte nur gleichgültig: „Er soll zufrieden sein, dass er überhaupt eine Arbeit hat.“ Ja, den Satz hatte ich auch in München schon einmal gehört. Da das Gespräch nichts brachte, fragte ich mich, ob der Arbeiter auch ein Ausländer war, dass man so unmenschlich mit ihm umging. Der Keller, Ende März 2007

Ende März war die Hälfte des größten Raumes auf dem Dachbodens geräumt und die zahlreichen Körbe waren geleert. Als dann Pater Ober an einem Wochenende nach Altötting kam, haben wir die Körbe zusammen mit einer elektrischen Säge zerkleinert. Ich konnte sie dann ins Erdgeschoß bringen und in einem eisernen Ofen verbrennen. Als alles verbrannt war ging ich noch mal nach oben, um den Boden mit einem Besen zu säubern. Es war ziemlich dunkel und plötzlich bin ich auf einen Nagel getreten. Die geleerten Körbe

Da ich in Eile gearbeitet hatte, war auch der Tritt auf den Nagel kräftig gewesen. Er war lang und rostig und bohrte sich durch den Schuh tief in meinem Fuß. Der Schmerz war nicht auszuhalten und ich schrie laut nach Pater Ober. Er war im Hof, hörte mich schreien und eilte gleich nach oben. Er zog mir den Nagel heraus, der an einem Stück Holz befestigt war. Pater Ober verordnete mir heiße Bäder für den ganzen Unterschenkel. Das Wasser musste so heiß sein, wie ich es nur aushalten konnte, und ich sollte den Unterschenkel so lange im Eimer halten, bis das Wasser lau wurde. Ich hatte auch nicht die Absicht gehabt, zu einem Arzt zu gehen, ich hatte ja den besten Heiler im Haus. Zum Glück gab es im Bad schon heißes Wasser. Die alte Badewanne war noch nicht ausgebaut, ich konnte mich auf den Rand setzen und das Bein in den Eimer halten. Ich habe mit dem schmerzenden Fuß weitergearbeitet und den Unterschenkel an jedem Abend ins heiße Wasser gehalten. Am nächsten Tag war der ganze Fuß stark geschwollen, aber nicht gerötet. Das hat mich beruhigt. Die Schmerzen waren auszuhalten, wurden immer weniger und die Schwellung zog sich auch langsam jeden Tag sichtbar zurück. Nach zehn Tagen war die Schwellung weg und der Heilungsprozess beendet. Ich brauchte keine Tetanusspritze! Das war eine sehr interessante Erfahrung für mich. Die Renovierungsarbeiten im Haus liefen weiter auf Hochtouren. In der Küche waren die Arbeiten längst abgeschlossen, der Boden war neu verlegt und Anfang April wurde die Küche mit den neuen Möbeln ausgestattet. Auch diese Küche bekam eine Platte, aber aus dunklem Granit. Die neue Küche in Altötting

Die Küche wurde mit einem Gasherd ausgestattet – Pater Ober liebte die lebendige Flamme. Als die Firma, die den Herd eingebaut hatte, weg war, traute ich mich nicht alleine, den Herd zu benutzen. Ich hatte in meinem Leben mehrere Renovierungsarbeiten hinter mich gebracht und aufgrund meiner Erfahrung wusste ich, dass nicht immer alles gleich funktionsfähig war. Deswegen wartete ich auf Pater Ober. Und das war gut so, weil der Herd, so, wie ich es vermutet hatte, doch nicht funktionsfähig war. Pater Ober musste die Firma anrufen und sich zeigen lassen, wie es geht. Jetzt konnte ich am Wochenende auch Feuer im Kachelofen machen. Dieser funktionierte zur Freude des Paters tadellos. Endlich hatten wir in der Küche beim Essen eine angenehme Wärme, die uns, wenn auch nicht lang, erfreuen konnte. Kurz danach war auch das Bad fertig. Es sah traumhaft aus. Jetzt konnten wir uns endlich richtig waschen. Es hatte ein großes Doppelfenster mit zahlreichen Scheibchen. Für die Säuberung des Fensters selbst hatte ich volle zwei Tage gebraucht. Ich habe die Scheiben erst mit einem Messer und dann weiter mit einer Rasierklinge vom alten Lack befreit. Die Arbeit ging von morgens bis abends, aber ich war dann stolz auf meine geleistete Arbeit. Das Fenster wurde zum Schmuckstück des Bades. Zwischen dem Bad und der Toilette befand sich ein kleines Vorzimmer. In diesem Raum hatte die verwirrte Frau auf einer total kaputten Liege geschlafen. Die hatte noch dagestanden und ich hatte sie dann hinuntergeschoben, damit sie entsorgt werden konnte. Ein Nachbar erzählte mir dann, dass die arme Frau Angst vor Einbrechern gehabt hatte und deswegen hier hatte schlafen wollen. So hatte sie die Eingangstüre besser überwachen können *** Das Bad vorher

Das Bad nachher

In einem Zimmer stand eine Kredenz mit Porzellan. Dieses war jahrzehntelang nicht mehr benutzt worden. Es war nicht nur verstaubt und voller Spinnen, es waren auch Motten zwischen den Tellern und Schüsseln zu finden. Ich konnte nicht anders, als das Tischgeschirr und das ganze Porzellan in die Küche zu tragen und einfach abzuwaschen, den Schrank sauber zu machen und das Porzellan zurückzustellen. Als Pater Ober meine Arbeit sah, hörte ich wieder seinen berühmten Satz, an den ich mich längst gewöhnt hatte: „Aber das wäre doch nicht nötig gewesen.“ Zum Glück sprach er diesen Satz immer ohne Vorwurf in der Stimme und ganz leise mit einem Lächeln im Gesicht aus. Ich quittierte ihn wie immer auch nur mit einem Lächeln, als hätte ich die Bemerkung nicht gehört, und machte weiter. Seine Bemerkung regte mich schon lange nicht mehr auf, obwohl sie unverschämt war. Das Porzellan

Mit dem Inhalt der Schränke, die voller Kleider und Müll waren, war ich ein paar Wochen schön beschäftigt. In den Schränken hingen noch Kleiderstücke, die aber nach Schimmel rochen. Dem Stil nach zu urteilen waren die Kleider wenigstens fünfzig bis achtzig Jahre alt. Trotzdem zeigte ich die aussortierten Kleidungsstücke Pater Ober und fragte, was wir jetzt mit den vielen Blusen, Röcken, Jacken, Mänteln und der Wäsche machen sollten. Pater Ober rief sofort die Caritas in Altötting an und bot neue Kleider an. Sie waren tatsächlich selten getragen und wirkten wie neu, aber trotzdem. Man hat sofort einen kleinen Transporter zum Haus geschickt und ich habe die Kleider mit Hilfe des Chauffeurs ins Auto getragen. Die riesige Menge der guten, noch brauchbaren Kleidungsstücke hatte im Auto leider keinen Platz gefunden, der Chauffeur musste noch mal zum Haus kommen. Der Wagen wurde wieder voll beladen und Pater Ober freute sich, dass er den Ballast losgeworden war. Nach einer halben Stunde bekam Pater Ober einen Anruf von der Caritas. Man beschimpfte ihn wegen der stinkenden Kleider. Das war ja klar, dass man sich über so ein Geschenk nicht freuen konnte. Nach dem Telefonat sagte Pater Ober zu mir: „Sie sind doch eine kirchliche Herzensinstitution, da könnten sie doch auch Arbeit in das Geschenk reinstecken, es waren doch brauchbare Sachen!“ Darin musste ich Pater Ober Recht geben. Den „Rest“ an unbrauchbaren Sachen habe ich zum Wegwerfen in Säcke gebunden und weiter vor das Haus gestellt. Es gab auch sehr viele Kindersachen, die ich in die Säcke geben musste, da sie keine Mutter ihrem Kind angezogen hätte. Auf dem Dachboden fand ich einen Schrank voller Schulhefte der Kinder sowie sehr alter Zeitungen und Briefe. Laut einem gut erhaltenen Brief war das Leben der Familie während des Krieges ein reines Drama gewesen. Stundenlange Arbeit lag vor mir. Alles musste weg. In einem anderen Schrank fand ich noch alte, hohe Männerschuhe aus dickem, rohem Leder, die von Schimmel zerfressen und verklebt waren. Die waren aber wenigstens hundert Jahre alt. Die Schlacht des Aufräumens war ohne Ende *** Am 25. April 2007 war das Haus vollständig vom Müll befreit. Meine Arbeit hatte sechs Wochen gedauert. Die erste Etappe der Räumung war abgeschlossen. Im Haus befanden sich nur noch die Möbel, viele Stoffbälle und brauchbare Sachen, die ich waschen und verschenken wollte. Die waren aber schön sortiert und zugedeckt. Am Abend habe ich noch den Boden im ganzen Haus sauber gemacht, so wie an jedem Tag während der Renovierung, nachdem die Arbeiter das Haus verlassen hatten. Ich war fertig und konnte nach Aschau zurück. Der geräumte Dachboden

An diesem Abend meldete sich das Handy, das Pater Ober mir im Haus gelassen hatte, gegen 21:00 Uhr. Das war ein ganz billiges Handy, es brummte laut und leuchtete stark in der Dunkelheit. Ich hatte es weit weg von meinem Schlafplatz auf ein Fensterbrett gelegt. Als ich in das dunkle Zimmer eilte, sah ich, wie das Handy das Fensterbrett hell beleuchtete und auf diesem „tanzte“. Ich wusste, dass es Pater Ober war, der nur in dringenden Fällen anrief. Diesmal fragte er mich knapp, ob ich morgen kommen würde. Ein Zimmer nach der ersten Etappe der Räumung

Nachdem ich seine Frage bejaht hatte, legte ich das Handy schnell zurück, weil ich nach jedem Gespräch gleich Kopfweh bekam. Pater Ober wusste ganz genau, dass ich an diesem Abend mit der Räumung fertig geworden war! Er hatte ja das Pendelchen befragt. Ich konnte und musste nach Aschau zurück. Ich wusste auch, dass jetzt der Gemüsegarten auf uns wartete – alleine konnte Pater Ober im Garten nicht viel geschafft haben. Ich war fix und fertig, fühlte mich schmutzig wie nie zuvor im Leben und sehnte mich nach meiner eigenen Badewanne und frischer Wäsche. Am nächsten Tag unterwegs nach Aschau glaubte ich, dass alle Leute im Zug sahen, wie schmutzig ich war. Ich schämte mich und schaute ständig nur aus dem Fenster *** In Aschau angekommen, führte mich der erste Weg zum Friseur, dann eilte ich ins Haus und nahm schnell ein Bad. Erleichtert und frisch angezogen ging ich zu Pater Ober. Er war aber weder in der Praxis noch in seiner Wohnung zu finden. In der Hauskapelle schaute ich für jeden Fall auch nach, aber er war zum Glück auch hier nicht zu finden. Die Zeiten waren vorbei. Er hatte auf der Terrasse auf mich gewartet, als ich ins Haus gekommen war, aber da ich es so eilig gehabt hatte, hatte ich seine kleine Gestalt auf der Hollywoodschaukel einfach übersehen. Er lag da, schaute mich mit einem traurigen Gesicht an und in seiner leisen Stimme hörte ich einen leichten Vorwurf. „Ich habe hier die ganze Zeit auf dich gewartet, aber du hast mich beim Kommen übersehen.“ „Ach, das tut mir aber leid, dass ich dich übersehen habe“, sagte ich, „Ich bin nicht auf die Idee gekommen, dass du hier auf mich warten könntest. Ich habe mich so schmutzig gefühlt, ich wollte nur noch so schnell wie möglich in die Badewanne. Beim Friseur war ich auch schon.“ *** Nicht nur Pater Ober und der Garten hatten auf mich gewartet, sondern auch die Patienten, die ich seit Monaten schon manuell behandelte. Pater Ober hatte mich damals gefragt, ob ich mich an seine Patienten trauen würde, und mir in seiner Praxis im Subparterre zwei Therapieräume zu Verfügung gestellt. Seit diesem Zeitpunkt hatte ich in meiner Wohnung oben einen Bereitschaftsdienst vormittags und wurde bei Bedarf in die Praxis gerufen. Pater Ober hat aber nie mit mir über einen Patienten gesprochen, bevor er ihn zu mir ins Subparterre schickte. Er hat sich voll auf meine Intuition, mein Gefühl und mein Handeln verlassen. Kurz nach meiner Rückkehr aus Altötting wurde ich an einem Vormittag hinuntergerufen. Ich kam ins Subparterre und sah eine Frau, die mit einem Kind auf dem Arm auf mich wartete. Sie war in Begleitung ihrer Mutter. Es waren noch zwei kleine Kinder dabei. Das Kind im Arm der Mutter lag im Koma. Sie fragte mich gleich, ob sie alle bei der Behandlung dabei sein durften. „Natürlich“, sagte ich und bat alle in meinen kleinen Raum. Die Mutter legte das Kind behutsam auf die Therapieliege und machte die Beine des Kindes frei. Ich sah mir das Kind erst mal genau an. Es war neun Jahre jung, aber sehr klein und mager. Beide Beinchen sahen wie dünne Röhrchen aus, und zwar von den Hüften bis zu den Knöcheln. Das Kind wurde seit Monaten künstlich ernährt. Ich habe mich auf das Kind konzentriert und fing an, es nach meinem Gefühl zu berühren. Ich spürte es. Die kleinen Geschwisterchen waren ganz still und schauten interessiert zu. Die Mutter kam dann jeden Tag mit dem Kind in die Praxis und Pater Ober ließ mich rufen. Anfangs hat sich nichts getan, das Kind reagierte nicht. Dann aber, während der siebten Behandlung, machte das Kind plötzlich seine Augen halb auf! Das Mädchen hatte schöne, große, braune Augen. Sie schielte stark und sah mich nicht. Bei der nächsten Behandlung bewegte das Mädchen einen Arm und nach einer weiteren schließlich das Bein. Als die Mutter am nächsten Tag mit der Tochter zu mir kam, erzählte sie mir noch ganz aufgeregt, dass sie mit ihrer Tochter nachts hatte Kontakt aufnehmen und sich mit ihr hatte verständigen können! Diese Information verblüffte mich selbst. Während der Behandlung erfuhr ich von der Mutter, dass das Kind in normalem Zustand in das Krankenhaus aufgenommen worden war. Die Tochter hatte gehen und sprechen können, sie war ein ganz normales Kind gewesen, hatte gerne gezeichnet und dabei auch gerne gesungen. Das Kind war talentiert, die Mutter hatte all ihre Zeichnungen aufgehoben. Als das Kind im Krankenhaus Medikamente bekommen hatte, war es schwach geworden und hatte nach kurzer Zeit nicht mehr aus dem Bett aufstehen wollen. Es war bettlägerig geworden und schließlich ins Koma gefallen. Man hatte dem Kind eine Magensonde gelegt und es wurde seitdem künstlich ernährt. Aufgrund dessen bildete sich in der Lunge Schleim, und damit das Kind nicht erstickte, musste es unter ständiger Beobachtung bleiben und der Schleim regelmäßig abgesaugt werden. In so einem Zustand wurde das Mädchen vom Krankenhaus in die Hände der Mutter übergeben. Sie bekam ein Absauggerät und wurde darüber informiert, wie sie beim Absaugen vorgehen musste. Man hatte ihr auch gesagt, dass sie mit dem Schlauch nur bis zum Ende der Zunge gehen durfte und nicht weiter, da die Bronchien dem Arzt vorbehalten blieben. Um der Tochter bei der Pflege des Kindes zu helfen, kam die Großmutter aus Griechenland nach Deutschland. Die Mutter hatte ihre älteste Tochter nicht aufgegeben und weiter nach Hilfe gesucht. Als sie nach langer Zeit von Pater Ober erfuhr, kam sie nach Aschau und schließlich in meine Hände. Die Auswirkungen meiner Behandlung waren für die Familie und natürlich auch für mich eine Überraschung. Ich konnte tatsächlich die energetischen Blockaden im Körper durch meine sanfte Behandlung beeinflussen, lösen. Dann kam die Mutter mit dem Kind nicht mehr und wir wussten nicht warum. Nach einer langen Zeit stand sie plötzlich ohne Kind vor meinem Behandlungsraum. Ich bat sie herein und sie erzählte mir, was passiert war: In der Nacht war das Kind plötzlich so stark verschleimt gewesen, dass sie einen Notarzt um Hilfe gebeten hatte. Dieser war gekommen und hatte, statt das Kind vom Schleim zu befreien, ein gelöstes Antibiotikum in eine Spritze gefüllt und dem Kind das „Medikament“ durch die Magensonde verabreicht. Mit Tränen in den Augen beendete die Mutter ihre traurige Geschichte mit folgendem Satz: „Es hat nicht mal zwei Minuten gedauert und meine Tochter war tot.“ *** Auch ein anderer Fall hat mich tief gerührt und bewegt. Pater Ober schickte mir eines Tages einen 30-jährigen Inder zur Behandlung. Der junge Mann war bei der UNESCO in Italien als Computerspezialist tätig. Er war vom Vatikan zu Pater Ober geschickt worden. Am selben Tag beim Mittagessen sagte Pater Ober nachdenklich zu mir: – „Der Inder, den ich dir heute zur Behandlung geschickt habe, ist total verstrahlt. Einem verstrahlten Menschen kann man nicht mehr helfen. Wir beide können ihn auch nicht mehr retten“. Pater Ober erzählte weiter: – „Der Inder hat einen Bruder, der in London lebte. Ich habe mit ihm heute gesprochen und ihm gesagt, dass wir seinem Bruder nicht mehr helfen können, weil er verstrahlt ist. Der Bruder besteht aber auf weiteren Behandlungen, ist auch bereit sie zu zahlen. Also bekommst du ihn weiter zur Behandlung“ Der junge Mann hat sehr gelitten. Er konnte seine Schmerzen, sein ganzes Leid nicht mehr unterdrücken und schämte sich deswegen auch nicht mehr. Vor mir lag ein 30-jähriges Kind, das Hilfe brauchte und nur noch jammerte. Was sollte nun geschehen? Da er arbeitsunfähig war, konnte er nicht mehr nach Italien zurückgehen. Er musste in seine Heimat Indien. Ein junger, talentierter Mensch, der in der weiten Welt Karriere gemacht hatte, musste zum Sterben nach Hause zurück. Was war die Ursache seiner Verstrahlung? Natürlich der Elektrosmog, dem er jahrelang ausgesetzt gewesen war *** Seit dem letzten Gespräch über die Kinder des Paters an Weihnachten 2006 haben wir nicht mehr über sie gesprochen. Uns hatte die Arbeit auf zwei Fronten voll im Griff und für Gespräche ergab sich einfach keine Zeit. Mein Vorschlag aber, die Kinder nach Aschau einzuladen, ging Pater Ober doch nicht aus dem Kopf. Eines Tages im Sommer 2007 kam er auf mich zu, drückte mir wortlos einen Brief in die Hand und entfernte sich schnell. Als ich dann den Vornamen und die Adresse auf dem Briefumschlag sah, verstand ich sofort, warum ich den Brief persönlich zur Post bringen sollte. Ich sollte einen Beweis dafür haben, dass er die Tochter aus München zu Weihnachten eingeladen hatte. Kurz danach sagte er mir beim Mittagsessen unerwartet: „Ich habe die Tochter aus Amerika eingeladen.“ Davor und danach hat er nicht mit mir darüber gesprochen. Er grübelte und ich ließ ihn dabei in Ruhe. Er wusste, dass ich ihn verstanden hatte „Die Sache hat doch ihren Lauf genommen“, dachte ich, und ich war sehr froh darüber, dass Pater Ober über seinen Schatten gesprungen war und meinen Ratschlag befolgt hatte. Wir rührten das Thema nicht mehr an und warteten ab. Ich hatte aber das Gefühl, dass Pater Ober jetzt schon auf seine Tochter aus München wartete, ich sprach ihn deswegen aber nicht an. Ich spürte, dass er mit seinen Gedanken oft bei seinen Kindern war *** An einem Nachmittag im Sommer 2007, als Pater Ober nach der Behandlung meine Wohnung verlassen wollte, fragte er mich, ob ich schon die letzte Ausgabe von „Natur & Heilen“ gelesen hätte, die auch ich seit Jahren abonnierte. „Leider noch nicht“, antwortete ich. Pater Ober sagte auch nichts mehr und ging. Ich wusste aber gleich, dass er mich auf etwas aufmerksam machen wollte. Ich las dann am Abend die ganze Ausgabe durch und fand immer noch nicht das, worauf mich Pater Ober aufmerksam machen wollte. Dann habe ich unter den Anzeigen folgende von ihm entdeckt. Die Anzeige

Den ganzen Sommer über haben sich dann verschiedene Interessenten, Heilpraktiker und Ärzte bei Pater Ober in Aschau gemeldet. Pater Ober wollte aber seine Praxis nicht dem Erstbesten übergeben und stellte hohe Ansprüche an den künftigen Mieter. Dieser sollte ihm nicht nur persönlich gefallen, sondern auch seine Patienten in seinem Sinne weiterbehandeln oder es wenigstens können und wollen. Dann erzählte er mir an einem Sonntag, dass er die Praxis schon vor zehn Jahren hatte aufgeben und vermieten wollen, aber dass er keinen entsprechenden Nachfolger gefunden hatte. Pater Ober war auch damals schon dazu entschlossen gewesen, Aschau zu verlassen, aber da sich kein Nachfolger gefunden hatte, war alles beim Alten geblieben, er arbeitete weiter und harrte aus. Jetzt war es wieder so weit und er war dazu entschlossen, die Praxis einem Heilpraktiker zu übergeben, der Ayurveda praktizierte. Pater Ober schenkte dem jungen Mann sein Vertrauen, er bekam von Pater Ober den Hausschlüssel und durfte ein Zimmer in der damaligen Hausklinik nutzen. Er kam dann auch ab und zu ins Haus, übernachtete dort und behandelte Pater Ober abends in einem kleinen Raum in seiner Praxis. Der Heilpraktiker wurde geprüft. Die Sache mit der Übergabe der Praxis wurde also schon festgelegt *** Wir sind weiterhin jedes Wochenende nach Altötting gefahren, um den „Rest“ zu erledigen. Es war immer noch sehr viel zu tun und das war keine leichte Aufgabe. Die Sachen mussten raus aus dem Haus, die Möbel musste man auch loswerden und auch das Auto musste endlich abtransportiert werden. Mit dem letzten Problem hat es sich Pater Ober aber sehr schwer gemacht. Er wollte das Auto weg haben, weil es im Weg stand, er wollte aber keinen Pfennig für den Transport ausgeben. Als mir die Sache dann zu lästig wurde, habe ich eines Tages eine Transportfirma angerufen. Das Auto wurde sofort abtransportiert. Die Rechnung habe ich selber bezahlt, damit Pater Ober nicht „weinen“ musste. Der Hausflohmarkt hat ja inzwischen doch funktioniert. Trotzdem konnte er die 150 Euro, die ich für den Abtransport bezahlt hatte, nicht so leicht verkraften. Danach war er froh, dass das Auto weg war, es stand nicht mehr im Wege und die Arbeiten im Hof konnten zügig vorangehen. Pater Ober ließ sofort einen neuen, schönen Boden aus Holz in der Garage legen. Hier wollte er eine Maschine aus seiner Schreinerei hinstellen. Er hatte ja noch große Pläne. Der Abtransport des Wagens

Im Hof sollte ein kleines Gewächshaus stehen und auf dem Grundstück, das von der Feuerwehr gerodet worden war, sollte ein Haus gebaut werden. Pater Ober dachte an die Geistlichen, die in den Ruhestand traten. Er hatte darüber schon mit dem Priester in Altötting gesprochen und der Bischof war auch schon in die Pläne eingeweiht. Beide waren natürlich von seiner Idee begeistert. Inzwischen wurde auf dem Dachboden auch ein Teppichboden gelegt und die Bücher aus dem Erdgeschoß mussten diesmal auf den Dachboden wandern, um das große Zimmer im Erdgeschoß, in dem Pater Ober die Patienten empfangen wollte, leer zu kriegen. Das war wieder eine Arbeit, die ich alleine schaffen musste. Da das alte Brennholz vor der Scheune verschenkt worden und die Fläche endlich frei war, wurde in der Mitte ein riesiges Loch ausgegraben und ein Betonring eingesetzt. Danach ließ Pater Ober die entsprechende Erde für den künftigen Gemüsegarten holen und die Arbeiten gingen schnell voran. Altötting, Sommer 2007

Die renovierte Scheune in neuem Glanz

Der Holzboden für die künftige kleine Schreinerei im Nebenhaus war im Sommer auch schon fertig und ganz hinten an der Grenze des Grundstücks am Ende der Scheune sah Pater Ober im Geiste schon ein paar exotische Bäume wachsen. Auf mich wartete in dieser Zeit auch noch eine andere schwere Arbeit: Das alte Parkettholz aus dem Flur im Erdgeschoß des Hauses sollte in das Nebenhaus verlagert werden. Das edle, alte Holz war in Packungen gebunden, es stand den Arbeitern im Wege und musste weg. Es war sehr schwer zu tragen, also nahm ich eine Karre. Die Arbeit dauerte den ganzen Samstag und danach spürte ich das erste Mal meine Hüftgelenke. Das war eine Arbeit für einen Schwerarbeiter und nicht für eine Frau. Die doppelte Belastung Aschau und Altötting ging den ganzen Sommer 2007 weiter. Pater Ober war in so einem „Arbeitsrausch“, dass er sich in Aschau weiterhin schwere, nicht unbedingt notwendige Arbeiten im Garten ausdachte, und immer, wenn ich meinte, dass alles schon gemacht sei, ging die Arbeit im Garten weiter. Pater Ober war ja Meister darin, sich verschiedene Tätigkeiten auszudenken, egal ob sie wichtig waren oder noch warten konnten, wie zum Beispiel das Abschneiden der beiden hohen Fichten, die am Zaun zum Nachbarn wuchsen. Dafür hat Pater Ober wenigstens die Hilfe einer Firma in Anspruch genommen, die gleich zwei Bäume in der Mitte der Höhe abgeschnitten hat, aber den „Rest“ mussten wir alleine erledigen. Die Arbeit reichte wieder für die ganze Woche. Pater Ober hat die Äste abgehackt, die ich dann mit der Karre zur Häckselmaschine gefahren habe. Die zerkleinerten Äste habe ich dann weiter zum Kompost gebracht. Am Schluss sägten wir die Stämme zu Holzstücken für den Winter. Das war ein extrem schwerer Sommer für uns beide. Es war einfach schwer, Pater Ober von einer Arbeit abzuhalten, wenn er sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Er konnte ohne die pausenlose Arbeit nicht leben und machte wie das berühmte Perpetuum Mobile bis an die Grenze des Möglichen weiter! *** Pater Ober im Garten beim Hacken

An einem Wochenende fuhr Pater Ober wie in den Jahren zuvor nach Karlsruhe zu einem Heilpraktiker-Kongress, den er nur 2005 aus gesundheitlichen Gründen nicht hatte besuchen können. Er war immer daran interessiert, was sich im Lande und auch in der Welt auf dem Gebiet tat. Er erzählte mir, was er von den verschiedenen Vorlesungen hielt. Er hörte jedem genau, aber nur ganz kurz zu, er wusste gleich, was er weiter sagen würde und entfernte sich, wenn er mit dem Inhalt nicht einverstanden war oder ihn sogar irreführend fand. Er machte sich darüber sogar lustig und begab sich in den nächsten Raum zu den Büchern, die der eigentliche Grund dafür waren, dass er überhaupt jedes Jahr zum Kongress fuhr. Ich habe bei seiner Rückkehr aus Karlsruhe abends am Bahnhof auf ihn gewartet. Er kam mit dem letzten Zug nach Aschau und staunte, dass ich auf ihn wartete. Ich wusste, dass seine Tasche voll und schwer sein würde, deswegen hatte ich mein Fahrrad mitgenommen. Pater Ober war überrascht, mich zu sehen. Er war tief gerührt und sagte zu mir: „Auf mich hat in meinem ganzen Leben noch niemand gewartet.“ Die zweite Information, die Pater Ober aussprach, war, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte und im Zug grundsätzlich nie etwas zu sich nimmt. Ich hatte auch damit gerechnet, deswegen sagte ich gleich, dass eine leichte, kleine Mahlzeit auf ihn wartet. Er war überrascht. Pater Ober hat die Bücher jeden Tag mit einem Lineal in der linken Hand und mit einem Bleistift in der rechten Hand bis 22:00 Uhr in seinem Arbeitszimmer gelesen, und nicht nur das! Er hat den Inhalt und die neuen Informationen mit dem Pendel geprüft und das, was er gut oder richtig fand, unterstrichen. Auch nach Brüssel, wo sich seine Brüder aus dem Orden SAM jedes Jahr getroffen haben, ist Pater Ober 2007 gefahren. Nach der Rückkehr sagte Pater Ober zu mir: „Mein Orden wird aufgelöst, weil wir keinen Nachwuchs mehr haben. Im nächsten Jahr werden wir uns zum letzten Mal in Brüssel treffen.“ Das Jahr 2008 hat Pater Ober aber nicht mehr erlebt. Ende August kam ein Reporter ins Haus, der über Pater Obers Pläne, ein Haus für Geistliche im Ruhestand erbauen zu wollen, in der regionalen Zeitung berichten wollte. Am 01. September 2007 ist dann der Artikel in der Zeitung in Altötting erschienen *** Im Jahr 2007 haben wir den 81. Geburtstag des Paters sehr bescheiden im Familienkreis zu Hause in Aschau gefeiert. Er ist sehr ruhig verlaufen, wir waren alle sehr müde und wollten nur noch gemütlich die Zeit mit wenigen Worten verbringen und den sonnigen Tag auf der Terrasse genießen. Der Artikel

Pater Ober an seinem letzten Geburtstag, 16. September 2007

Aschau, 16. 09. 2007

Aschau, 16.09.2007

Wir haben nachmittags auf der Terrasse das schöne, sonnige Wetter genossen und sprachen nicht viel miteinander. Pater Ober nahm seinen gewohnten Platz auf der Hollywoodschaukel ein und ich saß daneben. Die Familie lag dem Pater auf den Liegen gegenüber. Wir haben uns auch ein wenig auf der Terrasse bewegt und Plätze gewechselt, um sie auszuprobieren. Die große Terrasse befand sich unmittelbar vor dem Wohnzimmer des Paters. In einem gewissen Moment ging Pater Ober in das Wohnzimmer und ich legte mich auf Gertis Platz. Von diesem aus sah ich jetzt die Türe, die von der Wohnung zur Terrasse führte. Nach einer Weile kam die Schwägerin auch in die Wohnung. Sie kam dann nach einer Weile zurück, blieb aber auf der Türschwelle stehen und sagte ganz laut: „Der Pater hat sein Testament geändert!“ Ihre Worte kamen ganz überraschend, sie hatten mit dem Geburtstag nichts zu tun und keiner reagierte. Ich sagte auch nichts, weil mich sein Testament gar nichts anging – dachte ich damals wenigstens. So blieben ihre Worte in der Luft hängen. Niemand hat das Thema Testament weiter berührt. Keiner zeigte Lust zu reden und die Schwägerin nahm ihren Platz auf der Liege wieder ein. Der späte Nachmittag an diesem Geburtstag ist weiter ohne viele Worte verlaufen. Es war immer noch extrem warm. Dann reiste die Familie ab und ich habe ihre Äußerung an diesem Nachmittag auch gleich vergessen. Ich habe aber ein fotografisches Gedächtnis *** Nach dem Geburtstag des Paters arbeiteten wir in Aschau und Altötting weiter. In Aschau waren wir mit der Ernte beschäftigt, außerdem bin ich jeden Tag von selbst um 07:00 Uhr in den Garten gegangen, um die in der Nacht gefallenen Äpfel einzusammeln und das Gemüse bei den regenlosen Tagen nicht vertrocknen zu lassen. Als dann drei Körbe gefüllt waren, brachte sie Pater Ober zum Auspressen. Danach hatten wir frischen Apfelsaft, der für uns beide für die ganze Woche reichte. In Altötting nahmen die Räumungsarbeiten an jedem Wochenende auch kein Ende. Alle brauchbaren Dinge musste man vom Haus nach Aschau bringen, damit die Maler mit den Arbeiten im ganzen Haus beginnen konnten. Es sind dann nur noch die zahlreichen Schränke im Haus geblieben und die Scheune musste noch geräumt werden. Inzwischen hatte sich Pater Ober wegen der Möbel mit zwei Versteigerungshäusern in Verbindung gesetzt und es kamen in einem gewissen Abstand zwei Experten ins Haus, um den Wert der Möbel zu schätzen. Die Stücke, die von einem gewissen Wert waren, bekamen einen Aufkleber. Ein wertvoller Schrank

Ein interessanter Schrank, angeblich ohne Wert

Eine elegante, gut erhaltene Kommode

Ein wertloser Schreibtisch

Der Schreibtisch war immer noch so schön, dass Pater Ober ihn unbedingt retten wollte. Wegen diesem schönen, einmal sehr kostbaren Schreibtisch hat Pater Ober drei Schätzer ins Haus kommen lassen; der Schreibtisch war aber so stark beschädigt, dass alle drei Experten das gleiche Urteil abgaben – man konnte das Möbelstück nicht mehr retten. Es gab unter anderen angeblich wertlosen Möbeln zwei sehr alte, im Bauernstil bemalte Betten, die sehr schön waren. Das einzige Stück, das Pater Ober im Haus behalten wollte, war das Piano. Er hatte nämlich noch einen Wunsch, einen Traum – er wollte in Altötting Klavierstunden nehmen. Das war sein einziger Traum, der noch nicht in Erfüllung gegangen war. Schließlich wurden nach langen Überlegungen alle Möbel nach Salzburg gebracht. Alle Möbel aus dem Haus waren schon weg, nur der alte Kredenzschrank aus dem damaligen Esszimmer stand immer noch für den Abtransport da, weil ihn niemand haben wollte. Den konnte man aber während der Malerarbeiten leicht von einem Platz auf den anderen verschieben. Bei der Arbeit im Nebenhaus

Die Arbeiten im Haus sowie im Nebenhaus gingen die ganze Zeit weiter. Mit dem Wetter haben wir immer noch Glück gehabt. Es gab kein regnerisches Wochenende in dieser Zeit. Wir konnten immer weiterarbeiten. Die Dachböden waren auch noch nicht geräumt und die unbrauchbaren Möbel wollte Pater Ober zerlegen. Eines Tages kam uns meine Tochter besuchen, die in der Nähe von Altötting wohnte, und da sie sich gleich an die Arbeit machte, eroberte sie das Herz des Paters sofort. Er zeigte sich dann von seiner großzügigen Seite und lud uns zum Essen in ein Restaurant ein. Inzwischen war der Schwerarbeiter im Haus immer noch beschäftigt. Nachdem er mit der Arbeit im Keller fertig geworden war, wartete schon die nächste Aufgabe auf ihn. Ein Raum neben der künftigen Küche im Erdgeschoß sollte als Bad vorbereitet werden. Der Schwerarbeiter bei der Arbeit in meinem künftigen Bad

Erst musste er eine Türe an der langen Wand ausbauen und beseitigen, anschließend musste die Wand zugemauert werden. Dann musste der Boden aufgerissen werden, damit die Sanitätsleute die Wasserleitung austauschen konnten. Der Arbeiter war wirklich nicht zu beneiden! Danach machten sich die Fachmänner ans Werk und tauschten die ganze Wasserleitung aus. Auch draußen am Hauseingang wurde im Sommer das Trottoir aufgerissen, um die alten Wasserrohre unter der Straße auszutauschen. Die alten, undichten Rohre waren die Ursache für den verschimmelten Keller gewesen. Anstelle des Trottoirs wurde dann Asphalt gelegt. Nachdem die Arbeiten in dem großen Raum für das künftige Bad im Erdgeschoß abgeschlossen waren, wurde die neue Badewanne geliefert. Ende September erlebte ich eine Überraschung: Pater Ober wollte unsere Schufterei an einem Wochenende unterbrechen und es in Aschau verbringen. Wenn ich aber eine Pause erwartet hätte, hätte ich mich sehr getäuscht. So ohne eine Aufgabe ging es bei Pater Ober nicht! Er ordnete uns beiden eine Leberreinigung an! Wir sollten die Kur gleichzeitig durchführen. Natürlich jeder in seiner eigenen Wohnung. Ich bekam von Pater Ober einen Zettel mit der Vorgehensweise in die Hand gedrückt. Die Leberkur mit den von Pater Ober angeordneten Kapseln

Dieselbe Art von Reinigung hatte ich Jahre zuvor alleine in München durchgeführt. Diese Kur hatte ich damals dem Buch „Heilung ist möglich“ von Doktor Hulda Clark entnommen und erfolgreich durchgeführt. Die Autorin hatte sie ihren Patienten in Amerika empfohlen. Ich konnte mich noch ganz genau an das Ergebnis der durchgeführten Reinigung erinnern. Da die Kur viele Jahre hinter mir lag, hatte ich natürlich nichts dagegen, die Leberreinigung noch einmal zu wiederholen, weil Hulda Clark die Durchführung beim gesunden Menschen einmal im Jahr erlaubte. Und gesund war ich ja auch. Ich habe mich wieder genau an die Empfehlungen gehalten. Für die Durchführung hatten wir die zwei Tage am Wochenende gebraucht und am Montag in der Früh kam Pater Ober gleich zu mir nach oben und sagte, dass die Kur bei ihm keine Wirkung zeigte. Er wollte wissen, ob bei mir Steine abgegangen waren. „Bei mir sind auch keine herausgekommen“, sagte ich und zeigte ihm ein Gläschen, in dem ich das Ergebnis der Reinigung aufgehoben hatte. Das war nur ein brauner Schmutz in Form von kleinen und größeren weichen Bröseln. Pater Ober staunte und fragte mich, wie ich es geschafft hatte, das Ergebnis aufzubewahren. Ich musste lachen. Dabei erfuhr Pater Ober, dass ich die Reinigung der Leber schon einmal alleine durchgeführt hatte. Dass ich ein Sieb in die Klomuschel legte, um die eventuellen Steine aufzufangen, habe ich ihm natürlich nicht verraten. Ich habe nur gelächelt, wie er damals, als ich das Funktionieren der Klappe an seinem selbstgebastelten Käfig für die Katzen nicht hatte nachvollziehen können und er über meine Versuche, es herauszukriegen, gelacht hatte. Dass Pater Ober nicht von selber auf die Idee kam, ein Sieb zu benutzen, wunderte mich, so schlau, wie er doch war. Anfang Oktober sind wir das zweite Mal an einem Wochenende nicht nach Altötting gefahren. Die Arbeiter der Firmen machten in Altötting aber weiter. Pater Ober war müde, zeigte es aber nicht und beklagte sich auch nicht. Ich freute mich natürlich über die nächste kurze „Pause“. Nach dem Spaziergang an der Prien in der Früh ruhten wir auf der Terrasse, und da es so warm war, sagte Pater Ober, dass ich das Mittagsessen heute nicht herunterbringen müsste, er wollte zum Essen nach oben kommen. An diesem Wochenende erlebte ich eine weitere Überraschung, die diesmal außergewöhnlich war. Als ich mit den Essensvorbereitungen fertig war, setzte ich mich an den Tisch und wartete auf Pater Ober. Das Essen stand schon in den Thermoschüsselchen auf dem Tisch, die Kerze brannte – das lebendige Licht, das er so mochte. Ich saß am Tisch und sah, wie Pater Ober wie immer lautlos in die Küche hereinkam. Dabei sprach er diesmal folgende Worte ganz langsam aus: „Das, was ich für dich empfinde, habe ich in meinem ganzen Leben noch nie für eine Frau empfunden.“ Seine Worte klangen feierlich und dabei setzte er sich langsam an den Tisch. Ich war total irritiert! Mir hatte es die Sprache verschlagen und ich schaute ihn nur sprachlos an. Er meinte es tatsächlich ernst! Sein Gesicht war ganz ernst und seine Augen waren butterweich. In diesem Moment hatte ich sofort die zweite Vision vor meinem geistigen Auge, das Bild, das mich so erschüttert und nach Aschau gebracht hatte. Dabei dachte ich: „Wenn du wüsstest, warum ich zu dir gekommen bin.“ Ich fand aber keine Worte, ich wollte doch nichts von ihm. Wenn ich seine Worte am Abend zu hören bekommen hätte, hätte ich wahrscheinlich anders reagiert, davon war ich sogar überzeugt, denn egal war mir Pater Ober nicht. Wahrscheinlich hätte ich ihm dann gesagt, dass ich dasselbe für ihn empfinde. Man konnte dann aber nicht wissen, wie er meine Worte verstanden hätte, weil der Grund meiner Empfindungen seine arme Lebensweise war, die meine tiefsten Gefühle berührte. Und das durfte ich ihm dann doch nicht sagen. Er wäre bestimmt als Mann enttäuscht gewesen. Dass Pater Ober etwas für mich empfand, hatte ich schon längst vermutet, aber ich habe es nicht zur Kenntnis genommen. Es war mir bewusst, dass der Vater im Himmel mich nur als Begleitperson nach Aschau geschickt hatte. Meine Gedanken durfte ich aber jetzt am Tisch nicht äußern. Pater Ober wartete und sah, dass es diesmal in meinem Kopf arbeitete. Da ich aber kein einziges Wort sagte, konnte ich an seinem Gesicht eine leichte Enttäuschung erkennen. Ich konnte nicht anders. Ich durfte auch nicht anders. Es musste eben so und nicht anders sein. Das Mittagessen und die folgende Behandlung sind dann schweigend und wie immer verlaufen. Wir haben uns, ohne uns zu verabreden, später auch auf der Terrasse getroffen und der Nachmittag ist wie immer in entspannter Atmosphäre verlaufen. Wir waren beide froh, dass wir nicht alleine waren. Heute frage ich mich manchmal, warum ich Pater Ober kein Wort über meine Visionen sagte, es wäre doch interessant zu erfahren gewesen, was er darüber gedacht hätte. Pater Ober auf der Schaukel. Oktober 2007

*** Es nahte der November und in Altötting wartete immer noch die Arbeit auf uns. Am ersten Wochenende im November nahm Pater Ober zwei Kandelaber von Aschau nach Altötting mit, die wollte er an den Wänden der künftigen Kapelle befestigen. Die Sanierung im Keller war abgeschlossen, die Beheizung wurde nach Pater Obers Wunsch über die Wände durchgeführt und nicht unter den Boden verlegt, und jetzt, nachdem der Raum schon verputzt worden war, wollte Pater Ober die beiden Kandelaber befestigen. Der Raum für die Kapelle

Das Wetter spielte immer noch mit, man konnte im Nebenhaus bei geöffneten Türen arbeiten. In der Scheune haben wir die Räume fast schon in Ordnung gebracht, es blieb nur noch der Dachboden. Während der gesamten Räumung im Haus habe ich überraschend viele Stoffballen in den Schränken vorgefunden. Das waren sehr alte Stoffe, aber von bester Qualität. Ich habe sie alle an einem Platz im Haus gesammelt und jetzt wartete der Abtransport der schweren Ballen nach Aschau. Pater Ober staunte, als er die Menge sah, und in einem ersten Impuls dachte er gleich an Madagaskar, wohin er sie schicken wollte. Ich habe sie dann in Aschau im Treppenhaus an den Geländern zum Lüften aufgehängt, aber nachdem sie zwei Wochen so gehangen hatten, brachte ich alle nach oben und lagerte sie auf dem Dachboden. Sie würden wegen der hohen Transportkosten per Post doch in Aschau bleiben. Auf jeden Fall habe ich es sehr bedauert, dass sie nicht verschickt wurden. Die fleißigen Frauen auf Madagaskar hätten sich bestimmt über das Geschenk gefreut. Wir hatten aber andere Sorgen und waren dermaßen müde, dass sich kein weiteres Gespräch wegen der Stoffe mehr ergab. Am 30. November sind wir schon in der Früh nach Altötting gefahren. Gleich nach der Ankunft habe ich den Hof fotografiert, in dem die Arbeit in der letzten Woche sehr weit fortgeschritten war. Sogar mit dem Trottoir vor der Scheune hatte man begonnen. Ich ahnte, dass ich dafür später keine Zeit haben würde. Altötting, 30. November 2007

Was den Dachboden im Haus betrifft, habe ich noch im Oktober plötzlich einen Raum entdeckt, den ich vorher noch nicht wahrgenommen hatte. Also gingen die Räumungsarbeiten weiter. Als wir das Haus am Sonntag, dem 02. Dezember, verlassen hatten, waren alle Zimmer im Haus vollständig geleert, es blieben nur das Piano und der Kredenzschrank im damaligen Esszimmer da. Das Piano im geräumten Wohnzimmer

Sein zukünftiges Wohnzimmer befand sich im ersten Stock an der Straßenseite, über dem Zimmer, in dem Pater Ober mit den Hilfe suchenden Menschen sprechen wollte. Er konnte nicht anders, er dachte immer noch an die Kranken, obwohl er sich doch fest vorgenommen hatte, die Praxis aufzugeben. Alle Räume im Haus waren also geräumt und standen leer. Die Parkettböden wurden am Schluss mit Öl behandelt. Auch der Dachboden, in dem sich der einzige Raum befand, in dem meine Betten mit der 3,20 Meter langen Konsole Platz gefunden hätten, war vollständig geräumt. Der Raum war aber noch renovierungsbedürftig. Theoretisch konnte man die Räumung des Hauses als beendet betrachten. Das Haus stand leer, die Böden habe ich zum letzten Mal sauber gemacht, die Stoffe lagen im Kofferraum. Es war Sonntag, der 02. Dezember 2007. Wir sind nach dem Frühstück noch zur Messe in die Kapelle gegangen. Nach der Messe, als wir im Haus angekommen waren, bat mich Pater Ober, alle Vorräte aus der Küche nach Aschau mitzunehmen. Also trug ich alles hinunter und verstaute die Sachen im Kofferraum. Ich war jetzt froh, weil ich dachte, dass wir das letzte Wochenende in Altötting verbracht hätten. Nachdem wir unsere Pizza verspeist hatten, schlug Pater Ober unerwartet noch einen Spaziergang vor. Er wollte noch einmal durch die Stadt gehen. Als wir das Haus verlassen hatten, machte ich noch die letzte Aufnahme davon *** Das Haus in Altötting

Wir gingen langsam vor uns hin, wobei jeder von uns mit eigenen Gedanken beschäftigt war. Was mich betraf, waren es düstere Gedanken und ich vermute, seine Gedanken waren ähnlicher Art. Wir haben während des ganzen Weges durch die Stadt kein einziges Wort miteinander gewechselt und auf dem Heimweg suchten wir noch mal die Gnadenkapelle auf. Ich musste ständig an die Arbeitsweise des Paters denken und machte mir Sorgen. Ich fragte mich, wie lange er die pausenlose Arbeit noch durchhalten würde. Egal wo wir beschäftigt waren, in Aschau oder Altötting, es musste immer fleißig und pausenlos weitergehen, und er beklagte sich nie! Ich mich auch nicht. Ich wollte Pater Ober ja begleiten und dankte Gott, dass ich die Kraft dazu hatte. Kein anderer Mensch hatte sich meinen treuen und selbstlosen Beistand so bitter verdient wie eben Pater Ober. In seiner Praxis zum Beispiel sah seine Vorgehensweise wie folgt aus: Während vor seinem Schreibtisch ein Patient saß, nahm Pater Ober während der mentalen Arbeit jedes Telefongespräch entgegen, er ließ den Anrufer nicht warten, hörte kurz zu, gab sofort die entsprechende Information und legte sofort auf. Für die Worte „Auf Wiederhören“ nahm sich Pater Ober keine Zeit. Die Zeit drängte, sie war zu kostbar für die unnötigen Worte. Deswegen haben die Menschen, die seine Arbeitsweise noch nicht kannten, ihm sein Verhalten am Telefon übel genommen. Das war ja auch noch nicht alles. Die Sprechstundehilfe war dazu befugt, Pater Ober jederzeit zu stören. Sie kam wegen Notrufen herein, die sie an einem anderen Telefon in der Praxis entgegengenommen hatte. Sie hielt die Karteikarte des Patienten vor Pater Obers Augen. Er unterbrach sofort seine Tätigkeit, warf einen Blick auf den Namen des Patienten, pendelte, gab ihr die notwendige Information und arbeitete gleich da weiter, wo er unterbrochen hatte. Ich habe seine Arbeitsweise in der Praxis sowie seine Vorgehensweise während der Gartenarbeit in Aschau und jetzt in Altötting gut kennen gelernt. Es war überall dieselbe Aktivität, die mit ständiger Eile und Genauigkeit verbunden war. An diesem späten Nachmittag während des ganzen Spazierganges durch die Stadt und schließlich auf dem Weg zum Haus zerbrach ich mir den Kopf mit zwei Fragen: „Wie hält er das bloß aus? Wie lange wird es noch so weitergehen können?“ Wir sind sehr spät in Aschau angekommen *** Am Montag, dem 03. Dezember 2007, bin ich wie immer in den letzten Monaten um 06:30 Uhr zu Pater Ober gegangen. Er saß auf seinem hohen Hocker vor dem Fensterbrett in der Küche und bereitete sein Frühstück vor. Es war immer dasselbe, drei Äpfel, sechs Walnüsse und ein Ei. Er hat in der Früh nie etwas anderes eingenommen und die Eier hat er sich gleich für drei Tage gekocht. Ich habe Pater Ober immer mit denselben Worten begrüßt: „Guten Morgen, mein Herr“, und Pater Ober antwortete schon gut gelaunt: „Guten Morgen, meine Dame.“ Wir lächelten uns dabei an und die Stimmung für den Tag war hergestellt. An diesem Montag wollte ich von Pater Ober etwas erfahren. Es ging mir um den Nachfolger für seine Praxis. Seit Monaten kam ein Heilpraktiker, Herr D. S., dem Pater Ober seine Praxis übergeben wollte, ins Haus. Dieser wandte bei seinen Patienten Ayurveda mit Ölbehandlungen an. Pater Ober prüfte ihn und ließ sich von ihm auch auf diese Weise behandeln. Der Heilpraktiker war ein sympathischer junger Mann und hatte mehrmals im Haus übernachtet. Die Behandlungen des Paters folgten immer an den Abenden in einem kleinen Behandlungsraum seiner Praxis. Eines Tages bekam Pater Ober von Herrn D. S. ein Öl aus Indien für eine Herzbehandlung. Dieses musste man als Einlauf durch den Darm zuführen, und zwar zehn Tage lang, unmittelbar vor dem Schlafengehen. Diese Aufgabe habe ich dann übernommen und dabei den Katheter verwendet. Ich war froh, dass Pater Ober etwas für sein Herz machen ließ – er wollte doch die Sache mit dem Haus in Altötting zu Ende bringen. Wenn er Anfang Dezember mit der Arbeit in Altötting aufgehört hätte, dann wäre er heute noch am Leben. Aber nein, es musste weitergehen. An diesem Montag fragte ich Pater Ober ganz offen, ob er sich schon für den Heilpraktiker entschieden hatte und ob er ihm tatsächlich seine Praxis übergeben würde, und daraufhin hörte ich von Pater Ober ein festes „Ja“. Seine Antwort beruhigte mich. „Also doch. Endlich“, dachte ich. Trotzdem grübelte ich weiter über die gesamte Situation nach und plötzlich stellte ich Pater Ober eine Frage, die mir intuitiv in den Sinn kam: „Sag mal“, „du hast nicht zufällig irgendwo in der Welt einen Sohn, dem du die Praxis übergeben könntest?“ Pater Ober schaute mich mit erschrockenen Augen an, wendete sein Gesicht langsam nach links ab und sagte leise: „Habe ich nicht.“ Dann schaute er mich noch mal mit staunenden Augen an und ich sagte sofort: „Guck nicht so, dir ist doch alles zuzutrauen!“ Er sah mich jetzt eine Weile schweigend an und sagte dann ganz leise: „Wenn du im 15. Jahrhundert gelebt hättest, dann hätten sie dich verbrannt.“ *** Am Donnerstag, dem 06. Dezember, sagte Pater Ober beim Mittagsessen zu mir: „Morgen fahren wir nach Altötting.“ Dabei klang seine Stimme unsicher. „Was? Warum denn? Das Haus ist doch tipptoppsauber, der Dachboden, alle Zimmer und der Keller sind geräumt“, versuchte ich zu opponieren und sagte weiter: „Außerdem, du hast doch die Kinder zu Weihnachten eingeladen, sie haben dich eine Ewigkeit nicht gesehen! Glaubst du nicht, dass du Kraft für die langen Gespräche brauchst?“ Du musst dich doch vorbereiten und vor allem ausruhen.“ Pater Ober, der gut zugehört hatte, sagte nur kurz: „Das schaffe ich auch noch.“ Ich fragte ihn: „Was hast du eigentlich vor?“ Er entgegnete: „Bitte, nur noch das Licht, dann machen wir eine Winterpause.“ Pater Ober hatte mich mit der Aufgabe ganz erschreckt, weil das bedeutete, dass die pausenlose Schufterei weiterging! Und diesmal mit Bohren! Wir waren beide ausgelaugt, aber was sollte es. „Wenn es sein muss“, sagte ich resigniert. Ich wusste, dass er sich von der Idee nicht würde abbringen lassen. Wir sind dann tatsächlich am 07. Dezember nach Altötting gefahren. Als ich in der Früh um 08:00 Uhr in den Hof kam, stand das Auto mit dem entsprechenden Werkzeug schon bereit, aber Pater Ober war nicht zu sehen. „Ja wo bist du denn? Du hattest es doch so eilig“, sagte ich laut. Im Hof war Pater Ober nicht zu finden, also kam ich zum Auto zurück und wartete. Mein Auge streifte das Haus, erblickte jedes Fenster und weiter die Behandlungsräume in der Praxishälfte des Anwesens und plötzlich sah ich ihn! Er bückte sich anscheinend zu einem Patienten, den ich nicht sehen konnte, aber da Pater Ober das Stethoskop in den Ohren hatte, wusste ich, wo er ist und was er tut. Dann kam er zum Auto gelaufen. Wir setzten uns schnell hinein und er fuhr mit großer Geschwindigkeit aus der Garage. Das Tor blieb hinter uns offen stehen. Jede Rennfahrerei des Paters brachte mein Herz zum Pochen, vor allem, weil er die Brille wieder mal nicht aufsetzte. Sie lag aber da. Der große BMW bewegte sich auch diesmal zwischen der Fahrbahnmitte und dem rechten Straßenrand. Plötzlich tauchte ein Auto am Horizont auf! Es fuhr mit großer Geschwindigkeit genau so schnell wie wir auf uns zu! Nach ein paar Sekunden fuhr das Auto schon an uns vorbei, wobei Pater Ober im letzten Moment noch ausweichen konnte. Wir wurden kräftig geschüttelt, und zum Glück landeten wir nicht im Graben. Das fremde Auto hatte uns trotzdem leicht gestreift. Wir hatten wieder mal Glück gehabt und ich wagte kein Wort auszusprechen, weil es auch Pater Ober diesmal den Atem raubte. Wir fuhren in rasantem Tempo weiter. Wir sind erst am Stadtrand von Altötting vor dem Möbelix-Geschäft stehengeblieben, um einzukaufen. Der Einkaufswagen war in Blitzesschnelle mit verschiedenen Lampen, Lampenglocken und Birnen beladen. Für die richtige Auswahl war wieder keine Zeit, es schien Pater Ober nicht wichtig zu sein was er da kaufte. Hauptsache es war alles schnell erledigt. Dann eilten wir in die Neuöttinger Straße 35 zum geschenkten Haus. Den schweren elektrischen Bohrer trug Pater Ober alleine ins Haus. Er legte ihn auf den Boden des ersten leeren Zimmers und holte die Leiter vom Nebenhaus. Den Rest erledigte ich. An diesem Wochenende hatte Pater Ober die frisch gewaschene und gebügelte dunkelblaue Hose aus Strucks an, die ich ihm am Vortag hingelegt hatte. Er wollte sie schonen und griff nach der Arbeitshose, die er über die saubere Hose anziehen wollte. Ich half ihm dabei, weil es mit dem Bücken nicht mehr so ging. Dabei schaute er mich wieder mal mit den Butteraugen an. Pater Ober war ja in manchen Momenten wie ein kleines Kind, das Hilfe brauchte, aber nicht wagte, darum zu bitten. Gleich danach kletterte er auf die Leiter und bat mich um die Bohrmaschine. In diesem Moment bemerkte ich, wie schwer diese war und erschrak. Nach meiner laienhaften Schätzung war der Bohrer mindestens sieben bis acht Kilogramm schwer! Wie konnte dieser Mann mit einem Gewicht von 60 Kilogramm mit so einem Gerät arbeiten? Ich hielt mich aber mit einer Bemerkung zurück. Die Decke in einer Höhe von etwa drei Metern schien aus Beton zu sein. Ich musste nicht nur die wackelige, sehr alte Leiter mit der linken Hand halten, sondern auch Pater Ober an der Hose hinten mit der rechten Hand, damit er nicht herunterfiel. Die Aufgabe, die er sich vorgenommen hatte, war nicht leicht! Es war auch eine Schnapsidee, wie die mit dem Atombunker im Jahre 1977. Nach drei anstrengenden Schlägen in die Decke fiel ihm der Arm gleich herunter, weil das Gewicht des Bohrers ihm zu schaffen machte. Und immer wieder stürzte sich Pater Ober auf die Decke und ging dabei über die Grenzen seiner Kräfte, so lange, bis die drei Löcher mit einer Tiefe von sechs Zentimetern fertig waren. Dann übernahm ich das Zepter und Pater Ober musste von der Leiter. Er weigerte sich nicht und gehorchte. Jetzt versuchte ich, die Leuchte zu befestigen. Das war aber auch eine Mordsarbeit, weil die Schrauben einfach nicht in die Löcher wollten. Ich musste da aber durch, sonst hätte Pater Ober auch noch diese Arbeit übernommen. Wir waren bis Mittag nur mit der einen Leuchte fertig. Es ging nicht schneller, weil die Arbeit zu viel Kraft forderte. Es war einfach unmöglich, was Pater Ober uns zumutete. Und mittags gab es wieder die gelieferte Pizza. Ich konnte nichts kochen, wir sind ja nicht dazu gekommen, dafür fehlte die Zeit, und die Vorräte waren sowieso schon weg. Nach dem Essen machten wir uns in seinem künftigen Arbeitszimmer an die Arbeit. An dieser Decke wollte Pater Ober eine lange Leiste mit drei hängenden Leuchten befestigen, aber diese Arbeit schien uns überhaupt nicht zu gelingen. Wir haben die Leiste abmontieren und wieder befestigen müssen, dennoch wollten die Birnen kein Licht von sich geben. Die Anstrengungen an diesem Freitag dauerten bis zur Dämmerung, und trotz unserer Bemühungen und Geduld ist es uns nicht gelungen, die Birnen in seinem künftigen Arbeitszimmer zum Leuchten zu bringen. Wir gaben auf und machten Schluss. Am Samstag, dem 08. Dezember, machten wir uns erneut an die schwere Aufgabe. Wir haben den ganzen Tag ununterbrochen gearbeitet und nur die 15 Minuten Pause beim Essen verbracht. Dabei waren wir bis Mittag nur mit dem künftigen Arbeitszimmer fertig geworden und am Nachmittag mit den zwei großen Lampenglocken im großen Bad im Erdgeschoß. Wir haben die Arbeit im letzten Moment geschafft, hinter dem Fenster schimmerte schon die Dämmerung. Nachdem ich mit den sechs Schrauben, die ich mit großer Mühe hatte reinschrauben können, fertig war, stieg Pater Ober auf die Leiter und kontrollierte, ob sie fest saßen, und sagte zu mir noch auf der Leiter stehend: „Mach jetzt das Licht an.“ Ich ging zum Schalter und schaltete es an. Das war immer der spannendste Moment nach der Befestigung einer Leuchte. Aber diesmal brannten alle drei Birnen in jeder Glockenleuchte und Pater Ober strahlte trotz der Ermüdung. Vor lauter Freude sagte Pater Ober: „Jetzt hast du ein schönes Bad!“ „Das Bad gehört doch zum Haus und nicht zu mir“, antwortete ich müde. Daraufhin sagte Pater Ober zu mir: „Aber, aber, diese Wohnung oder die in Aschau hast du doch sicher!“ Ich bin aber nicht auf die Idee gekommen nachzufragen, ob er das schriftlich festgehalten hatte oder nicht, ich dachte in diesem Moment gar nicht an sein eventuelles Ende, sondern nur an unseren Zustand. Ich war so müde, dass ich nur noch schnell das Abendessen für uns vorbereiten wollte, um dann gleich schlafen zu gehen. Ich hatte gehofft, dass Pater Ober nach dem Essen auch gleich ruhen würde, aber nein, er nahm das Brevier in die Hand, verließ die Küche und begab sich in das größte Zimmer, wo er sich im Zimmer betend hin- und herbewegen konnte. Ich räumte die Küche schnell auf und legte mich auf mein Lager, während Pater Ober immer noch betete. Er schöpfte Kraft von oben. Ich hätte nicht gedacht, dass Pater Ober an diesem Abend noch das Haus verlassen würde. Nachdem er nach einer halben Stunde aus dem Zimmer gekommen war, sagte er aber, dass wir jetzt zur Marienkapelle gehen. Am Sonntag, dem 09. Dezember, gleich nach dem Frühstück, gingen wir wie jeden Sonntag zur Messe in die Gnadenkapelle und machten danach einen langen Spaziergang, diesmal bei Tageslicht, durch die Stadt. Dieser endete bei der Kathedrale und Pater Ober führte mich wortlos hinein. Hier haben wir noch einmal an einer Messe teilgenommen. Zur heiligen Kommunion haben sich die Gläubigen in eine Bogenreihe vor dem Altar hingestellt und der Priester ging der Reihe nach von Einem zum Anderen und gab sie jedem in die ausgestreckten Hände. Pater Ober, der an meiner rechten Seite stand, bekam die Kommunion auch noch in die Hände gereicht, doch als der Priester vor mir stand, schaute er mich an und gab mir die Kommunion in den Mund. Dann ging es wie zuvor weiter. Nachdem wir die Kathedrale verlassen hatten, sprach mich Pater Ober darauf an: „Warum hat der Priester bei dir eine Ausnahme gemacht und dir die heilige Kommunion in den Mund gereicht?“ In seiner Stimme war eine Spur von Eifersucht zu hören, was mich wunderte, ich sagte aber nur: „Ja das weiß ich auch nicht.“ Mittags, nachdem wir ein Brot und einen Apfel verspeist hatten, machten wir uns auf den Weg nach Aschau. Wir machten aber zum dritten Mal in diesem Jahr einen Umweg und fuhren erst nach Bad Reichenhall, einen Ort, der in einer wunderschönen Umgebung liegt. Hier wollte Pater Ober erneut seine damalige Patientin besuchen, die ihm das Haus in Altötting geschenkt hatte. Sie war über 90 Jahre alt und freute sich natürlich über unseren Besuch. Sie war ganz begeistert, Pater Ober wiederzusehen. Er erzählte ihr nicht, in welchem Zustand das Haus war und was sie mit der Schenkung angerichtet hatte. Er machte sich auch diesmal an die Arbeit, bereitete ihr ein Fußbad und behandelte ihre Beine. Ich durfte zuschauen. Nach einer Stunde verließen wir Frau N. und kehrten nach Aschau zurück. Unterwegs sind wir auf der Autobahn in einen Stau geraten! Jetzt war ich neugierig, wie Pater Ober diese Tatsache hinnehmen würde. Er blieb aber ganz gelassen sitzen, schwieg und platzte nicht vor Wut, worüber ich mich gewundert habe. Er regte sich nicht auf, obwohl wir fast eine Stunde lang in Stau standen. Wir sind erst nach 22:00 Uhr zu Hause angekommen. Das Haus war, wie immer nach unserer Rückkehr aus Altötting, ausgekühlt. Diesmal hatte ich seine Sparmaßnahme auch mitgemacht und vor unserer Abreise nach Altötting die Heizung in meiner Wohnung ausgeschaltet. Jetzt, als ich in meine Wohnung zurückkam und mich die Kälte empfing, machte ich die Wohnungstür zum Treppenhaus zum ersten Mal hinter mir zu und schaltete die Heizung gleich ein. Ich war so kaputt, dass ich nach dem Bad sofort eingeschlafen bin und die Nacht durchgeschlafen habe. Am nächsten Tag, es war der 10. Dezember 2007, ging ich wie gewohnt um 06:30 Uhr zu Pater Ober hinunter. Als ich die Türe zur Küche öffnete, spürte ich sofort, dass etwas nicht stimmte, dass etwas vorgefallen sein musste. Es hing in der Luft. Ich kam näher und sah, dass vor Pater Ober, der auf seinem hohen Hocker saß, nur eine große Kanne Tee stand. Ich kam ganz nah zu ihm und begrüßte ihn ganz leise. Er drehte sich zu mir um und sagte: „Ich habe dich in der Nacht um halb zwölf mit dem ‚Kuckuck‘ gerufen, aber du bist nicht gekommen.“ Seine Stimme war ganz leise. Ich hörte aber keinen Vorwurf, das war eher eine stille Klage gewesen. Da Pater Ober so elend wirkte und traurig klang, rührte sich wieder mein tiefes Mitgefühl für den selbstlosen Menschen und ich berührte seinen Rücken leicht und fragte erregt: „Was war los? Was ist passiert?“ „Ich hatte einen Herzinfarkt“, sagte er leise. „Was?! Und wie hast du dich gerettet?“ „Ich habe acht Aspirin eingenommen.“ Ich war sprachlos. Es folgte eine lange Pause, während der ich still und benommen neben ihm stand. Dann sagte Pater Ober weiter: „Um 05:00 Uhr habe ich 40 Grad Fieber bekommen …“ Es folgte wieder eine lange Pause „Die verflixte Schufterei!“, ging es mir durch den Kopf, aber ich konnte und durfte ihm in seinem Zustand keinen Vorwurf machen. Er wusste es selbst genau, dass er sich mit der Bohrmaschine übernommen hatte! Ich musste das Geschehene erst verarbeiten. Nachdem wir hier so still die Zeit gemeinsam verbracht hatten, kam mir plötzlich die Realität in den Sinn und ich sagte ernst: „Du wirst doch heute den Spätdienst nicht antreten wollen, oder?“ „Doch, ich muss, die Patienten sind bestellt …“ Ich prüfte jetzt den Kopf des Paters, aber der fühlte sich kühl an. Das Fieber war tatsächlich weg. Pater Ober war nicht zu bremsen. Auch diesmal konnte ihn kein Verbot von seinem Vorhaben abhalten. An diesem Montag trat Pater Ober schon um halb zwei den Spätdienst an und arbeitete ununterbrochen bis halb neun, bis der letzte Patient weg war! Danach wollte er nichts mehr essen, wie immer um diese späte Zeit, und während des Dienstes hatte er nicht mal Wasser getrunken! Am Dienstag, als ich um 06:30 Uhr zu ihm kam, hat er noch schlimmer ausgesehen als am Vortag. Sein Gesicht war total zerknittert! Er sagte leise zu mir: „Ich habe eine Grippe.“ Trotz des elenden Zustandes hat Pater Ober an diesem Dienstag und auch noch am Mittwoch und Donnerstag im Frühdienst gearbeitet! Am Donnerstag, dem 13. Dezember, als Pater Ober zum Mittagessen in meine Küche kam, sagte er mit gespielter Heiterkeit in der Stimme: „Die Grippe ist vorbei! Wir fahren morgen nach Altötting!“ „Was? Das kommt gar nicht in Frage! In deinem Zustand?“ Pater Ober sagte nur: „Wir fahren!“ Dabei setzte er sich zum Tisch und sagte kein Wort mehr. Dann leitete er das kurze Gebet ein und wir fingen mit dem Essen an. Ich habe auch nichts mehr gesagt, aber es kochte in mir. Kein Wort hätte ihn von der nächsten Schnapsidee abbringen können, jedes Wort wäre umsonst gewesen. Und wir fuhren … Es war Freitag, der 14. Dezember 2007. Als ich in der Früh in das Auto einstieg, sagte ich zu Pater Ober ernst: „Ich fahre nur unter einer Bedingung!“ Er sah mich fragend an. „Du rufst Herrn W. an und übergibst ihm die Bohrarbeiten!“ Da Pater Ober schwieg, sagte ich betont: „Versprich es mir!“ „Ja, ich verspreche es.“ Als wir dann am Stadtrand von Altötting ankamen, hielten wir wieder vor dem Möbelix an und Pater Ober kaufte auch wieder schnell die weiteren fehlenden Kronleuchter. Die beiden letzten Rechnungen waren insgesamt über 800 Euro hoch. Die ganze letzte Woche hatte die Firma im Hof des geschenkten Hauses weitergearbeitet und Pater Ober wollte erst diesen besichtigen, als wir angekommen waren. Ich machte mich auch schnell auf in den ersten Stock und knipste die letzte Aufnahme. Im Hof war viel gemacht worden. Man konnte den weiteren Fortschritt der Arbeiten sichtlich erkennen und ein Zaun zu dem anderen Grundstück hinter der Scheune wurde auch aufgebaut. Pater Ober war sehr zufrieden. An diesem Freitag sind wir sehr früh in Altötting angekommen und fingen sofort wieder mit der Arbeit an. Herr W. wurde nicht geholt! Angeblich hatte Pater Ober sein Handy in Aschau vergessen. Wenn ich gewusst hätte, wo der Mann wohnt, hätte ich ihn geholt, aber ich kannte seine Adresse nicht. Um Pater Ober nicht zu ärgern, musste ich mitmachen! Wäre ich nicht mitgefahren, wäre Pater Ober alleine nach Altötting gefahren, davon war ich überzeugt. Die letzte Aufnahme vom Hof, Altötting, 14. Dezember 2007

Es lag ein sehr schwerer Arbeitstag vor uns, weil wir beide kaputt waren. Trotzdem haben wir den ganzen Tag wieder nur gebohrt, um Licht ins Haus zu bringen, als hätte die Arbeit nicht bis zum Frühling warten können! Am Abend wartete auf uns noch der obligatorische Weg zur Kapelle. Pater Ober ist nie vor 22:00 Uhr schlafen gegangen, egal in welchem Zustand er war. Auch an diesem Freitagabend war es nicht anders. Unser Aufenthaltsraum, in dem wir immer noch geschlafen haben, war schon vollständig geräumt, aber das Liegen auf dem Boden machte uns nichts mehr aus. Der Straßenlärm ließ uns niemals gleich einschlafen, aber diesmal konnten wir beide überhaupt nicht einschlafen! Wir haben nachts aber kein einziges Wort miteinander gewechselt. Pater Ober legte sich zum Schlafen immer auf die rechte Seite, und so, wie er sich am Abend hinlegte, lag er in der Früh noch da. An seinem Atem erkannte ich, ob er schlief oder nicht. Da ich nachhorchte, konnte ich auch nicht schlafen, aber in einen Dämmerzustand bin ich doch gekommen. In einen bewussten Zustand, in dem ich meinen eigenen Schlafatem auch hörte. Die Nacht zog sich schrecklich lange hin. Irgendwann war sie vorbei und durch das Fenster fiel das Laternenlicht herein. Es war 4:30, aber ich rührte mich nicht. Da sagte Pater Ober plötzlich: „Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Wenn ich die nächste Nacht nicht schlafen werde, dann gehe ich ins Krankenhaus.“ Ich erwiderte kein Wort und rührte mich nicht. Pater Ober stand auf und verließ das Zimmer lautlos. Über seine Worte, die mich erschreckt haben, dachte ich jetzt nach, und ich wartete, bis er mit der Toilette im Bad fertig war. Ich habe ihm viel Zeit gelassen. Als ich dann an der Reihe war und das Bad benutzen konnte, habe ich mich nicht beeilt, damit Pater Ober sein Morgenritual in Ruhe durchführen konnte. Ich spürte, dass er heute mehr Zeit als sonst brauchte, weil diesmal die Küchentüre zu war. Also wollte er nicht gestört werden. Zum Frühstück gab es Nüsse und Äpfel. Es war Samstag, der 15. Dezember. Das war ein Tag ohne Arbeit, denn die Familie aus Pocking und Burghausen ist zu uns nach Altötting gekommen und wir gingen gemeinsam in ein Restaurant zum Mittagsessen. Es war ein schöner, ruhiger Tag. Auf dem Weg in die City gingen wir alle sehr langsam. Ich begleitete vorne Pater Ober und hinter uns gingen die Schwester und der Bruder mit seiner Frau. Obwohl wir Rücksicht auf Pater Ober nahmen und ganz langsam gingen, ist er unterwegs mehrmals von alleine stehen geblieben. Er schwieg. Er beklagte sich auch nicht und ging nach ein paar Sekunden wieder weiter. Wir alle waren sehr um ihn besorgt, spürten, was mit ihm los war, und beobachteten ihn in Stille und voller Angst, denn so hatte er sich noch nie verhalten, und jedes Mal, wenn er anhielt, blieben wir alle auch automatisch stehen. Dann ging es jedes Mal langsam weiter. Nach den nächsten zwanzig Schritten blieb Pater Ober wieder stehen, und in diesem Tempo kamen wir in ein Restaurant, das gegenüber der Gnadenkapelle lag. In diesem gab es einen freien Tisch am Fenster, an welchen wir uns setzten. Pater Ober war die ganze Zeit in sich gekehrt, er beobachtete, was sich in seinem Körper abspielte. Jeder von uns war mit demselben Gedanken beschäftigt: „Es geht ihm nicht gut.“ Er nahm das Essen ganz langsam ein. Ich spürte, wie kraftlos er war. Altötting, 15. Dezember 2007

Der letzte einsame Weg des Paters. 15. Dezember 2007

Als Pater Ober mit dem Essen fertig war, stand er wortlos auf und verließ das Restaurant langsam. Ich folgte sofort und die Familie hinter uns in einem respektvollen Abstand. Pater Ober führte uns durch den Christkindlmarkt und ich wusste, was jetzt sein Ziel war und eilte nach vorne, um von einer entsprechenden Entfernung ein Bild knipsen zu können. Und tatsächlich, sein Weg führte zur Gnadenkapelle. Hier die zwei letzten Bilder, die ich aufnehmen konnte. Unmittelbar vor der Kapelle blieb Pater Ober noch mal stehen. Dann ging er langsam weiter und wir folgten ihm. Vor dem Altar in der Kapelle ließ er sich auf die Knie fallen und verharrte in sich. Es hat lange gedauert, bis wir die Kapelle verlassen haben. Schweigend und mit trüben Gedanken ging es auf dem Rückweg zum Haus weiter. An diesem Samstag hat die Familie Rücksicht auf seinen Zustand genommen und ist früher als sonst abgereist, vielleicht auch in der Hoffnung, dass der Bruder und Schwager sich hinlegen würde, was er aber nicht tat. Behandeln konnte ich ihn auch nicht, weil der einzige Lehnstuhl, der dafür geeignet war, schon längst aus dem Haus weggeräumt worden war. Es war nur noch der Platz auf dem Boden zum Ruhen da, aber er wollte sich nicht hinlegen. Die Macht der Gewohnheit kam wieder hoch. Er nahm sein Brevier in die Hand und verschwand in das größte Zimmer. Ich legte mich auf meinen Platz am Boden und wartete ab. Nach einer halben Stunde kam Pater Ober heraus und fing an, das ganze Haus von oben bis unten schweigend zu besichtigen. Er ging von einem Raum in den anderen. Er blieb in jedem stehen, dachte eine Weile nach und ging langsam weiter. Er schaute in jede Ecke, kontrollierte alles, und die einzige Information, die ich am Abend bekam, war, dass er sich die Fahrt nach Aschau heute nicht zutraute. Also blieben wir in Altötting. Nach dem bescheidenen Essen um 18:00 Uhr bat er mich, die Werkzeugkiste ins Auto zu tragen. „Die nehmen wir morgen mit“, sagte er. Ich habe sie aber im Korridor vor der Ausgangstür stehen lassen. Man wusste ja nie … Es war im Haus wirklich nichts mehr zu tun, aber Pater Ober hat sich wie immer erst um 22:00 Uhr hingelegt. Es folgte die zweite schlaflose Nacht. Wir haben weiterhin kein Wort gewechselt, wir hörten dem Straßenverkehr zu und das Straßenlicht ließ uns auch nicht einschlafen. Pater Ober lag mit geschlossenen Augen auf der rechten Seite, aber sein Atem sagte mir, dass er nicht schlief. Gegen Mitternacht wurde es draußen stiller, ich fiel in einen Halbschlaf, bekam aber den Atem des Paters mit meinen sensiblen Ohren trotzdem mit, gleichzeitig lauschte ich meinem eigenen Atem. Gegen 03:00 Uhr verstärkte sich der Lärm draußen sichtlich und ich wurde hellwach. Pater Ober lag unberührt in derselben Position auf seinem Lager. Seine Augen waren geschlossen, er schlief aber nicht. Er wartete weiter ab, wahrscheinlich um mich nicht zu wecken. Das war die längste und schwerste Nacht, die wir in diesem unheimlichen Haus unter außergewöhnlichen Umständen verbrachten. Um 4:30 hörte ich seine leise Stimme: „Heute gehe ich ins Krankenhaus.“ „Bloß nicht“, entfuhr es mir. Seine Worte haben mich erschreckt und tief bewegt. Ich bin spontan aufgestanden und habe mich zu ihm gelegt. Ich drückte seinen Rücken gegen meine Brust und legte meine linke Hand auf sein Herz. Er blieb weiterhin unbeweglich und schwer wie ein Sack liegen. Der Mensch war total kaputt. Es ist kein Wort gefallen. Nach einer langen Weile spürte ich, wie mich die entstandene Wärme zum Einschlafen drängte und da ich wusste, dass ich mich in einem solchen Moment auf den Rücken drehen würde, löste ich mich behutsam von seinem warmen Rücken, um ihn nicht zu wecken, stand auf und legte mich zurück auf meinen Platz. Kaum hatte ich mich auf meinem Schlafplatz hingelegt, hörte ich seine leise Stimme wieder: „Ich habe dir nicht gesagt, dass du weggehen sollst.“ Ich blieb still liegen, ich war auch kaputt und wollte nur noch einschlafen. Er wartete, aber ich kam nicht zurück – was ich einige Stunden später sehr bereute, denn das einzige Medikament, das Pater Ober brauchte, war Schlaf. Wenn ich zurückgekommen wäre, hätte er vielleicht einschlafen können, aber ich war auch sehr müde. Als ich auf meinem Platz einschlafen konnte, hörte ich noch, wie Pater Ober aufstand und das Zimmer verließ. Nun konnte ich nicht wieder einschlafen. Aber ich blieb liegen und wartete, bis Pater Ober mit seiner Toilette und dem Ritual in der Küche fertig war. In der Küche sagte Pater Ober, dass er nichts essen will und nur noch schnell abreisen möchte. Ich antwortete nicht, nahm aber einen Apfel, teilte ihn in Stückchen und schob ihn auf einem kleinen Teller unter seine Nase. Pater Ober fing an zu essen. Das war schon ein gutes Zeichen, also schälte ich noch drei Nüsse, aber Pater Ober war mit seinen Gedanken schon woanders und wollte nichts mehr essen. Ich empfand gleichzeitig Wut, Schmerz und tiefes Mitgefühl. „Er braucht nur Schlaf und noch mal Schlaf“, ging es mir durch den Kopf. „Werde ich ihn von der Idee, ins Krankenhaus zu gehen, abbringen können?“ Unsere Sachen habe ich schnell zusammengepackt und ins Auto gebracht. Wir sind sofort nach Aschau abgereist. Das Werkzeug sollte doch im Haus bleiben und ich trug den schweren Kasten in den ersten Stock zurück, wie er es wünschte. Pater Ober fuhr diesmal nicht schnell und wir hatten während des gesamten Weges interessanterweise keinen Gegenverkehr, was noch nie der Fall gewesen war. Unterwegs überlegte ich mir, welche Worte ich verwenden sollte, damit Pater Ober zu Hause blieb. Schließlich sagte ich mutig: „Was willst du eigentlich im Krankenhaus? Glaubst du, dass sie dir helfen können? Du brauchst doch nur Schlaf und noch mal Schlaf!“ Da Pater Ober weiter schwieg, war ich dazu entschlossen, harte Worte zu sprechen, und sagte: „Die Ärzte werden doch nur noch einen alten und verbrauchten Menschen im Bett sehen! Sie werden sich fragen: ‚Was will er denn von uns? Wir sind doch keine Zauberer.‘ Du, und nur du bist derjenige, der dir helfen kann!“ Pater Ober schwieg weiter, aber ich wusste, dass er über meine Worte nachdenken würde. Also sagte ich nichts mehr *** In seinem neuen BMW herrschte immer pedantische Ordnung. Es lag nie etwas herum, aber an diesem Morgen lag ein neuer Schlüssel in der Mittelkonsole, sonst nichts. Da ich den geschwächten Pater nicht mit einer Frage belästigen wollte, fragte ich nicht nach, was für ein Schlüssel das war. Wir sind um halb elf in Aschau angekommen. Es war Sonntag, der 16. Dezember 2007. Pater Ober fuhr das Auto in die offen stehende Garage, schaltete den Motor aus und sagte zu mir: „Ich rufe jetzt in Amerika an. Ich sage den Besuch ab.“ Danach stieg er aus dem Auto und ging ins Haus. Ich habe inzwischen unsere Sachen vom Auto in den Vorratsraum vor die Küche gebracht. Nach einer kurzen Weile kam Pater Ober von oben herunter und sagte: „Es ist zu spät. Sie hat aufs Band gesprochen, dass sie nach Deutschland abgereist ist. Ich gehe jetzt in die Praxis.“ Damit verließ er die Küche. Inzwischen habe ich den Rest von den in Altötting verbliebenen Stoffballen nach oben in den zweiten Stock getragen. Um halb zwölf kam Pater Ober aus der Praxis zurück in die Küche und sagte kurz: „Ich nehme jetzt ein Bad. Es reicht eine Kartoffelsuppe für heute.“ Und schon war er wieder weg. Das war das erste Mal, dass Pater Ober eine „Anordnung“ ausgesprochen hatte. Es ist eine Stunde vergangen, die Suppe war längst fertig, aber Pater Ober war noch nicht da. Eine gewisse Unruhe trieb mich nach oben. Als ich ins Bad kam, sah ich, dass Pater Ober in der Badewanne schlief, wie ich es vermutet hatte. Seine Augen waren erschreckend tief im Kopf versunken, sein Gesicht war eingefallen und das Wasser fast kalt. „Ich darf dich nicht im Wasser schlafen lassen“, sagte ich leise, und in diesem Moment schaute er mich mit halb offenen Augen an. „Aloys, wann kommst du runter?“, fragte ich nach ein paar Sekunden. „Wie spät ist es denn?“ Er war wieder voll da. Seine Uhr lag am Wannenrand, ich schaute nach und sagte. „Zwanzig vor eins.“ „Ich bin in einer halben Stunde unten.“ Also ging ich in seine Küche zurück und wartete. Ich stützte meine Arme am Fensterbrett ab und senkte meinen Kopf. Ich war todmüde. Nach einer halben Stunde kam er in die Küche. Er hatte nur den weißen Bademantel an. Ich eilte ins Wohnzimmer und brachte eine Decke. Er ließ sich einwickeln und setzte sich auf seinen Hocker. Ich bin am Fensterbrett stehen geblieben und nachdem wir die Suppe schließlich eingenommen hatten, sagte ich zu Pater Ober: „Du legst dich doch jetzt bestimmt hin? Du brauchst ja Schlaf.“ Mit einem spürbaren Zögern sagte er dann aber doch ganz leise: „Ja.“ „Dann gehe ich jetzt nach oben, ich möchte mich auch ausruhen“, sagte ich und ging. Ich kam in meine Wohnung und so wie ich war, sank ich auf mein Sofa. Nach einer Weile packte mich eine starke Unruhe, ich sprang auf und eilte hinunter, um zu prüfen, ob Pater Ober sich tatsächlich hingelegt hatte. In der Küche war er nicht mehr, also eilte ich nach oben. Ich kam in den ersten Stock und blieb erschrocken stehen. Er war schon angezogen. Die Sachen aus der roten Truhe, die im ersten Vorzimmer stand, lagen auf dem Boden. Sie waren dort liegen geblieben, anscheinend suchte er eilig etwas. „Aloys, was suchst du da? Warum bist du nicht im Bett?“ „Ich suche meine Jacke“, antwortete er sichtlich verärgert. Ich ging intuitiv in das Gästezimmer, machte den Schrank auf und fand die alte, graue Jacke, die er suchte und die hier nicht ihren Platz hatte. Er hatte sie selbst hierher gehängt, und dies, wie ich sah, vergessen. Ich reichte ihm die Jacke und mit dieser Geste schien er schon besänftigt und ruhig zu sein. Ich räumte schnell die Sachen vom Boden in die Truhe zurück und folgte Pater Ober in die Küche. Dort angekommen, nahm er den Stuhl vom kleinen Tisch und stellte ihn in die Mitte der Küche. Er setzte sich darauf, und zwar mit dem Rücken zum Fenster. Ich kam ganz nah und fragte: „Ich verstehe dich nicht, warum hast du dich nicht hingelegt?“ „Ich gehe ins Krankenhaus“, sagte er leise „Aloys, bitte! Erst ausschlafen und dann ins Krankenhaus, wenn es unbedingt sein muss, aber nicht umgekehrt! Du hast doch zwei Nächte nicht geschlafen!“ Pater Ober schwieg und sah mich traurig an. Ich ging in diesem Moment in die Hocke, legte meine Unterarme auf seine Beine und wiederholte ganz sanft dieselben Worte, die ich schon im Auto, unterwegs nach Aschau, ausgesprochen hatte „Du, nur du selbst kannst dir helfen. Bitte geh nicht. Du kannst doch nicht in fremden Betten schlafen!“ Pater Ober sagte ganz leise: „Ich muss, ich brauche einen Stent.“ „Aber nicht in diesem Zustand!“, erwiderte ich aufbrausend. Es schien, dass ich Pater Ober von der fixen Idee nicht abbringen konnte. Er war fest dazu entschlossen, ins Krankenhaus zu gehen! Dann kam mir seine Sprechstundenhilfe in den Sinn und ich sagte: „Bitte ruf sie doch an, sie kann dir Ozon verabreichen. Du hast doch alles, was du brauchst hier zu Hause. Und danach sollst du schlafen, schlafen, schlafen, bis du wieder zu dir kommst.“ Pater Ober sagte: „Heute ist doch Sonntag.“ „Aber Aloys! Du bist doch heute ein Notfall!“ Mir glitten die Hände ab. Er nahm Rücksicht auf seine Sprechstundenhilfe! Ich verstand ihn nicht mehr. „Du brauchst doch dringend Hilfe. Ruf sie an, sie wird bestimmt gerne kommen, obwohl es Sonntag ist.“ Pater Ober sagte lange nichts, dann stellte er mir die folgende Frage: „Was machst du, wenn du alleine bist? Haben wir alles besprochen?“ „Was ist da noch zu besprechen?“, fuhr ich wieder auf. „Du bist doch jetzt das Wichtigste! Aber nein, du willst unbedingt unter das Messer, obwohl dein Zustand für eine OP nicht geeignet ist! Ich verstehe dich nicht! Warum willst du dich so ausliefern lassen? Sie können dir doch nicht helfen!“ Pater Ober reagierte auf meinen Ausbruch eigenartig. Er war ihm unbegreiflich und er staunte. Er fing an, seinen Kopf langsam zu bewegen. Nach links, nach rechts und wieder nach links, dabei schaute er mich die ganze Zeit sprachlos an. Und ich verstand die Welt nicht mehr. „Bitte, geh nicht und leg dich endlich ins Bett! Wozu die Eile?“, sagte ich noch. Es folgte aber ein langes Schweigen. Dann fragte ich leise: „Hast du schon den Mädchen in der Praxis Bescheid gegeben?“ „Ja“, sagte Pater Ober und blieb weiter schweigend sitzen. Es verging wieder eine lange Zeit. Ich wusste, er wollte unbedingt ins Krankenhaus! Wir waren beide am Ende unserer Kräfte. Ich stand auf und fragte resigniert: „Wer ruft jetzt den Sanka?“ „Ich!“, sagte Pater Ober. Er sprang auf, verließ die Küche und eilte zum Telefon, das sich am Ende des Korridors befand. Er wählte die 112, meldete sich kurz, bat um einen Krankentransport und legte gleich auf. Er war verstanden worden. Als Pater Ober den Hörer auflegte, sagte ich leise und resigniert zu ihm: „Du wirst deine Entscheidung bitter bereuen!“ Wir gingen in die Praxis, Pater Ober setzte sich an den Computer im ersten Raum und wartete. Zwischen uns ist kein einziges Wort mehr gefallen. Alles war ja gesagt worden. Ich machte die Eingangstür auf und blieb daneben stehen. Kurz danach blieb der Sanka vor dem Haus stehen. Aus dem Transportwagen stiegen zwei hochgewachsene, rot bekleidete Männer aus. Einer davon trug einen riesigen Koffer und aus einem kleinen PKW, der gleichzeitig ankam, stieg ein Mann, der auch ins Haus eilte. Ich ließ alle drei in den ersten Raum und machte die Türe zu. Die Männer blieben stehen und schauten Pater Ober schweigend an. Da er auch schwieg, sagte ich laut: „Pater Ober, wir haben doch nebenan eine Liege, bitte legen Sie sich dort hin.“ Einer der Männer sagte gleich: „Die Dame hat recht.“ Pater Ober verließ den Platz am Computer und ging hinüber. Er legte sich auf die Liege, auf der ihm die erste Sprechstundenhilfe vor kurzer Zeit noch Ozon verabreicht hatte. Ich machte ihn frei, nahm einen Zettel aus der Jackentasche heraus und reichte ihn dem Arzt. Auf diesem standen die Medikamente, die Pater Ober gewöhnlich für sein Herz einnahm. Blitzschnell wurde das EKG angeschlossen und ich bin im Raum an der Seite stehen geblieben. Gleich danach sprach der Arzt Pater Ober mit „Herr Kollege“ an und informierte ihn darüber, dass er ihm jetzt eine Spritze verabreichen würde. Pater Ober schwieg weiter und sagte auch jetzt nichts. Er ließ es geschehen. Ich sah, wie man ihm die lange und dicke Nadel brutal und weit in seine Vene einschob, dabei stockte Pater Ober der Atem vor Schmerz. In diesem Moment sah er mich mit einem Schrecken in den Augen an. Ich sah, dass er mich nun schon ein bisschen besser verstand und an meine Worte dachte. Der Arzt hatte die Spritze sehr langsam verabreicht und dabei die Reaktion des Körpers beobachtet. Er fragte: „Wird es leichter?“ „Ja“, sagte Pater Ober leise. Das war das einzige Wort, das er von sich gab und überhaupt mit dem Arzt wechselte. Auch der Blutdruck wurde gemessen. Der Wert betrug 160 zu 100. Man legte gleich einen Katheter. Es wurde auch noch schnell eine Infusion gelegt und als man Pater Ober die Sauerstoffmaske anlegte, trafen sich unsere Augen wieder. Seine Augen strahlten Angst aus „Jetzt ist dir bewusst, dass du ausgeliefert bist“, sagte mein verzweifelter Blick zurück. Ich wusste genau, wie ängstlich und verunsichert sich Pater Ober in diesem Moment fühlte! Er hatte mir doch einmal gesagt: „Die Sauerstoffmaske schadet mehr, als sie hilft!“ Und jetzt bekam er sie und merkte, dass er sich ausgeliefert hatte. Es war aber zu spät und er wehrte sich auch nicht. Es ging blitzschnell weiter. Pater Ober wurde auf die Transportliege umgebettet, zugedeckt und hinausgetragen. Im letzten Moment ist es mir noch gelungen, sein goldenes Pendel in seinen kleinen, uralten Koffer zu legen, um den er mich noch gebeten hatte. Es war 15:45 Uhr, als Pater Ober abtransportiert wurde und sein Haus verließ. Erst als der Transportwagen nicht mehr zu sehen war, habe ich langsam die Eingangstür geschlossen. Mein Herz war schwer. Ich habe das tiefste Mitgefühl in meinem Leben empfunden, für einen Menschen, dessen Leben nur aus Arbeit bestand, den die Umstände der Zeit so geprägt hatten, dass er nicht anders leben konnte und nur für die anderen da war *** Pater Ober wurde nach Rosenheim gebracht. Ich ahnte, dass er nicht mehr zurückkommen würde. Sein Zustand war kritisch und so, wie es meine Erfahrung mir sagte, würde keiner im Krankenhaus hier in Deutschland Pater Ober erst ruhen lassen, damit er die Operation überleben konnte. Ich musste jetzt kurz an Doktor Kaiser denken, der mich in Schlesien, nach meiner Einlieferung ins Krankenhaus mit meinen erst 27 Jahren, zwei Tage lang schlafen ließ und bei der Morgenvisite nicht weckte! Am dritten Tag lag ich wach im Bett und Doktor Kaiser, der Oberarzt der Inneren Station, der in späteren Jahren als Leibarzt beim Papst im Vatikan gelandet war, begrüßte mich mit folgenden fröhlichen Worten: „Na, hat sich das Gesundheitsamt schon ausgeschlafen?“ Das war ein Arzt, der außer Verstand und seinem Wissen noch seinen Spürsinn einschaltete. Jetzt aber dachte ich wieder an Pater Ober und an seine Tochter, die doch zu Weihnachten eingeladen war. Ich ging durch seine Praxis und prüfte, ob tatsächlich eine Information für die beiden Helferinnen da war. Er hatte wirklich eine Nachricht hinterlassen, und da ich auf das Telefon in der Wohnung von Pater Ober angewiesen war, kehrte ich in seine Küche zurück und stellte den Stuhl, auf dem Pater Ober noch vor kurzem gesessen hatte, auf seinen Platz zum Tisch zurück. Ich setzte mich auf die Bank zum Tisch, dabei legte ich meine Unterarme auf die Tischplatte und senkte meinen Kopf nieder. Ich nickte ein. Ich war fertig und habe lange gebraucht, bis die Anspannung der letzten Stunden abklang und ich meinen Kopf wieder heben konnte. Es war schon dunkel, als ich wieder zu mir fand. Vor meinen Augen hatte ich jetzt das Fenster und sah vor ihm Pater Ober auf seinem hohen Hocker in die Decke eingewickelt! Wie einen Film sah ich das Erlebte vor meinen Augen und ich dachte jetzt darüber nach, warum sich Pater Ober nicht hingelegt hatte und verärgert war, als ich wieder zu ihm gekommen war. Plötzlich ging mir ein Licht auf. „Er wollte, dass ich ihn begleite! Er hatte Sehnsucht! Und ich habe es nicht wahrgenommen! Wie auch? Ich war ja genauso kaputt wie er!“ Ich konnte mir sehr gut vorstellen, was er wollte, nämlich, dass ich ihn an die Hand nehme, ihn nach oben in sein Bett bringe und mich zu ihm lege, wie am Morgen in Altötting. Jetzt war mir alles klar, und ich bereute es tief, dass ich die Situation nicht erkannt und es nicht getan hatte. Der Gedanke ließ mir jetzt keine Ruhe. Er hatte sich doch hinlegen wollen, aber bevor er mir dies bestätigt hatte, war ein kurzes Zögern zu vernehmen gewesen. Verflixt! Dass ich nicht auf den Gedanken gekommen war! Diese Erkenntnis hat mich erschüttert, ich war fertig. Er hätte jetzt in seinem eigenen Bett schlafen können und nicht auf der Intensivstation eine weitere schlaflose Nacht ausharren müssen! Meine Augen waren voller Tränen und ich heulte. Die Dunkelheit hinter dem Fenster stand wie ein schwarzes Brett vor meinen Augen und es wurde mir bewusst, dass es sehr spät geworden war und niemand angerufen hatte. Ich ging in meine Wohnung und legte mich, so wie ich war, ganz verzweifelt hin. An Schlaf war trotzdem nicht zu denken. Es war eine sehr schwere Nacht. Es wurde mir bewusst, dass ich meinen wertvollen Herrn verloren hatte. Es war leider zu spät. Jetzt lag er wahrscheinlich mit den Schläuchen da und dachte an meine Worte. Ich war davon überzeugt, dass er seine Entscheidung, ins Krankenhaus zu gehen, längst bereute. Dann kam ein neuer Tag. Der Kalender zeigte den 17. Dezember 2007, einen Montag. Ich kam um 08:00 Uhr in die Wohnung von Pater Ober und dachte jetzt an den bevorstehenden Besuch. Ich hatte Pater Ober doch versprochen, dass ich mich um seine Tochter wie um ihn selbst kümmern würde. Der Kühlschrank war leer, im Wirtschaftsraum lagen nur Kartoffeln. Ich machte mich mit dem Fahrrad gleich auf den Weg zum Einkaufen, ohne Rücksicht auf das Telefon. Gegen 09:00 Uhr war ich zurück. Um halb elf klingelte das Telefon, es war Pater Ober! Er fragte mich kurz, ob Nicole angekommen war. „Leider noch nicht“, sagte ich und Pater Ober schaltete sich gleich aus. Der Anruf irritierte mich. „Wie konnte er anrufen? Er liegt doch auf der Intensivstation, auf der Handys verboten sind! Hat er sich das Handy nicht nehmen lassen oder ist er aufgestanden, um ans Telefon zu kommen?“ Das war ein rätselhafter Anruf und ich fing an, sein Handy zu suchen. Obwohl ich lange und überall suchte, habe ich sein Handy nicht gefunden. Um die Mittagszeit herum hatte ich eine Vision: Ich sah Pater Ober auf dem Krankenbett. Sein Kopf fiel leblos auf die rechte Seite des Kissens. Das war wieder nur ein Blitzbild! Ich wusste sofort: Jetzt hat Pater Ober sein Leben beendet. Die Nachricht des Paters an beide Helferinnen

Auf seine Tochter aus Amerika hat Pater Ober vergeblich sehnsüchtig gewartet. Obwohl sie schon seit Freitag in München weilte, hatte sie sich noch nicht gemeldet. Ich saß auf der Bank in seiner Küche mit diesem Bild vor meinen Augen. Ich war wie gelähmt. Ich wollte das Gesehene nicht wahrhaben. Nach einer langen Weile klingelte es an der Tür. Ich sprang auf und ließ die aufgeregte Helferin herein. „Das Krankenhaus Rosenheim kann Pater Ober nicht mehr helfen! Er ist jetzt auf dem Weg nach Vogtareuth! Er wird auf die Herzabteilung gebracht! Er hat mit mir über Funk gesprochen!“ Kaum hatte sie die Informationen ausgesprochen, rannte sie in die Praxis zurück. Ich wusste, dass Pater Ober mit Elektroschock wiederbelebt und dann abtransportiert worden war. „Doch er kommt nicht mehr zurück, er ist eben doch schon verstorben.“ Ich saß alleine auf der Bank an seinem Tisch, ich konnte meine Gedanken mit niemandem teilen und nicht über die Vision sprechen. Ich war es aber gewohnt, immer allein zu sein. Vielleicht rede ich auch deswegen nicht viel, das Denken und Nachdenken ist mir zur Gewohnheit geworden. An diesem Montag habe ich den ganzen Tag in Pater Obers Wohnung ausgeharrt, aber die Tochter aus Amerika hat sich immer noch nicht gemeldet. Am nächsten Tag, es war Dienstag, der 18. Dezember 2007, saß ich wieder alleine am kleinen Tisch in seiner Küche. Im Haus war es ganz still. Plötzlich klingelte es erneut und unerwartet an der Wohnungstür. Ich sprang auf und öffnete. Die Sprechstundenhilfe kam ganz außer sich herein und meldete aufgeregt. „Er ist in ein künstliches Koma versetzt worden, damit sich sein Körper erholen kann!“ Und sie rannte schnell wieder aus der Küche. „… erholen kann? Mein armer Herr“, ging es mir durch mein bedrücktes Herz. Warum verlängert man dem Sterbenden durch Wiederbelebung den Sterbeprozess? Das Sterben ist doch ein normaler Vorgang, den man nicht verlängern und auch nicht stören darf. Wo sind die Ethik und der Respekt vor dem sterbenden Menschen geblieben! Sprachen die Untersuchungen nicht dafür, dass der Mensch nicht mehr zu retten war? Muss man dem Körper noch eine unnötige Qual antun? Wir sind doch nicht sicher, ob der Mensch es mitbekommt oder nicht! Wer kann das mit Sicherheit sagen? Ich war schockiert. Ich finde die sogenannten lebensverlängernden Maßnahmen unmenschlich! Pater Ober wollte sie auch nicht haben. Leider hatte er keine Patientenverfügung fertig gebracht *** An diesem Dienstag – ich saß immer noch wartend in der Küche – klingelte gegen 13:00 Uhr. das Telefon und ich eilte hin. „Hier ist Nicole, die Tochter von Pater Ober. Wir sind schon auf dem Weg nach Aschau“, hörte ich eine angenehme Stimme. Ich wusste, dass sie mit dem Wort „wir“ sich und ihre Freundin meinte, und ich wusste auch, dass Pater Ober sich über diese Tatsache sehr geärgert hatte. „Dass sie nicht alleine kommen kann!“, hat er sich damals aufgeregt. Er wollte keine Fremden im Haus haben. Deswegen hatte ich mich schnell auf den Weg gemacht und war in eine nahe liegende Gaststätte geeilt, um für die Freundin eine Reservierung für die Übernachtung zu machen. Die Gaststätte hatte jedoch Urlaub gehabt. Da mich aber der Besitzer erkannt hatte, hatte er eine Ausnahme gemacht und ich für die Freundin zwei Übernachtungen buchen können – ganz intuitiv nur zwei. Diese habe ich auch gleich bezahlt, damit sie sicher sind, und damit war die Sache für mich erledigt. Ich kehrte nach Hause zurück und bereitete schnell ein Mittagessen für die Gäste vor. Kurz danach bekam ich einen Anruf von Nicole. Sie sagte mir, dass sie schon am Haus angekommen waren. Ich machte das Tor auf und begrüßte sie. Nicole, die keine Ähnlichkeit mit dem Vater hatte, stellte mir die Freundin aus Amerika und den Chauffeur aus München als ihre Freunde vor. Ich führte die Gäste in das Wohnzimmer. Dass ich mit einem Mittagessen auf sie wartete, überraschte alle sehr. Das Essen ist auch in einer angenehmen Atmosphäre verlaufen, ich fand die Gäste sympathisch. Der Freund aus München hat sich nach dem Essen gleich verabschiedet und fuhr zurück. Danach informierte ich Nicole, dass ich für die Freundin zwei Übernachtungen in der Nähe gebucht hatte und dass ihr Vater im Krankenhaus lag. Mehr sagte ich vorläufig nicht. Als sie die Info auf Englisch übersetzte, wurde die Freundin stocksauer. Sie hatte ja erwartet, im Haus bleiben zu können. Ich habe die beiden Frauen in die Gaststätte begleitet. Beim Abschied sagte ich Nicole, dass ich auch ihre Freundin zum Abendessen erwarten würde. Ich konnte endlich ein paar Stunden in meiner Wohnung ruhen, und abends kam ich wieder herunter, um das Abendessen vorzubereiten. Sie kamen pünktlich und wir setzten uns an den kleinen Tisch in der Küche. Nicole nahm in der Mitte Platz und die Freundin mir gegenüber an der Wand. Nachdem wir gespeist hatten, fragte mich Nicole: „Kennst du das Bild von Jesus mit den rosa und blauen Strahlen?“ „Nein“, sagte ich, „ich kenne das Bild nicht, aber ich kann es mir sehr gut vorstellen.“ „Dann versuchen wir“, sagte Nicole leise, „dem Aloys die rosa Strahlen zu schicken.“ Sie legten ihre gespreizten Hände auf den Tisch, machten die Augen zu, und ich machte automatisch mit. Ich sah noch, wie die Freundin ihren Kopf in voller Konzentration beugte. Ich legte meine Hände genauso auf den Tisch, machte meine Augen zu und kaum, dass ich anfing, mich zu konzentrieren, sah ich plötzlich rosa Strahlen, die vor meinem geistigen Auge senkrecht von oben kamen und auf meiner Augenhöhe 90 Grad nach rechts abbogen! Rechts sah ich plötzlich den Umriss des Brustkorbes von Pater Ober, und sein Herz, das horizontal im Brustkorb lag. Es lag unbeweglich da, was mich in Schrecken versetzte. Ich schrie ganz aufgeregt: „Die rosa Strahlen haben fünf Zentimeter vor seinem Brustkorb angehalten! Was bedeutet das?!“ Ich bekam keine Antwort. Nach einer Weile sagte Nicole: „Dann versuchen wir, dem Aloys die blauen Strahlen zu senden.“ Ich habe mich dazu gezwungen, ruhig zu bleiben und mich zu konzentrieren. Kaum, dass ich die Augen geschlossen hatte, sah ich die blauen Strahlen von oben kommen. Sie bogen sich wieder in meiner Augenhöhe nach rechts, gingen diesmal in den Korpus hinein und wickelten sich um das unbewegliche Herz herum! Ich schrie wieder laut außer mir und ganz aufgeregt: „Die blauen Strahlen haben sich um das unbewegliche Herz gewickelt! Was bedeutet das?“ Diesmal hörte ich ein einziges Wort von Nicole: „Frieden.“ Dieses sprach sie ganz leise aus. Das Bild von Jesus

Ich wurde durch das Erlebte ganz aus dem Gleichgewicht geworfen. Es war für mich eine Bestätigung, dass ich mich nicht irrte, dass Pater Ober gestern schon aus dem Leben gegangen war. Ich hatte doch gestern, mittags, in der Blitzvision seinen leblosen Kopf auf das Krankenhauskissen fallen gesehen. Ich konnte die Wahrheit aber immer noch nicht ganz akzeptieren, obwohl ich es schon wusste, dass Pater Ober nicht mehr lebte. Ich wollte unbedingt noch wissen, was für eine Bedeutung die rosa Strahlen hatten, und Nicole sagte wieder nur ein einziges Wort: „Leben.“ Nicole mit ihrer Freundin aus Amerika, 18. 12. 2007

Nach dem außergewöhnlichen Erlebnis ist zwischen uns kein einziges Wort mehr gefallen. Nicole hat mit der Freundin gleich das Haus verlassen, um sie zur Pension zu begleiten. Ich war in der Küche längst mit dem Aufräumen fertig, als Nicole ins Haus zurückkam

Sie sagte kein einziges Wort, setzte sich aber im Wohnzimmer zum Piano. Sie fing an, langsam zu spielen, während ich schweigend am Kamin Platz nahm. Sie spielte fast eine halbe Stunde ununterbrochen! Wunderschön! Das waren himmlische, geheimnisvolle Töne! Sie kamen wie vom Himmel und rührten mich tief. So eine Musik hatte ich noch nie im Leben zu hören bekommen! Ihr Spiel war ein ausgezeichnetes Konzert, das meine traurige Seele tief berührte. Dann haben wir beide das Wohnzimmer verlassen und blieben im Korridor vor der Treppe, die zu den privaten Räumen des Paters führte, automatisch stehen. An der langen Wand im Korridor, in dem wir stehen geblieben waren, gegenüber der Tür zum Wohnzimmer, hingen drei Trophäen, die Pater Ober aus Madagaskar nach Deutschland mitgebracht hatte. Eine davon war ein hängendes Geflecht, an dem drei kleine Glöckchen befestigt waren. Und jetzt, als wir so vor der Treppe stehen geblieben waren und leise miteinander sprachen, hörten wir plötzlich die drei Glöckchen klingeln! Wir beide hörten sie und schauten uns in diesem Moment staunend an! Ich wusste sofort, dass es Pater Ober ist, lachte Nicole an und sagte: „Fürchte dich nicht, das ist dein Vater. Er begrüßt dich und freut sich, dass wir friedlich miteinander umgehen.“ In dieser Form hatte der unsichtbare Pater Ober seine Tochter aus Amerika in seinem Haus empfangen und begrüßt. Nicole am Piano

An diesem Dienstagabend, dem 18. Dezember, konnten wir uns nicht mehr trennen. Zu viel war passiert, zu viel hatten wir gemeinsam erlebt und zu viel hatte uns plötzlich verbunden. Keine von uns wollte jetzt die Nacht in dem großen Anwesen alleine verbringen. Nachdem der unsichtbare Pater Ober Nicole begrüßt und willkommen geheißen hatte, sind wir intuitiv gleich nach oben in seine privaten Räume gegangen, ohne uns vorher verabredet zu haben. Wir haben die Nacht nach unseren bewegenden Erlebnissen schlaflos in zwei gegenüber liegenden Zimmern verbracht. Die Türe haben wir offen stehen lassen, damit wir uns hören und noch über das Erlebte austauschen konnten. Es war eine bewegte Nacht für uns beide und ab und zu hat die Eine der Anderen ihre Gedanken und Empfindungen mitgeteilt. Die Nacht verlief tatsächlich schlaflos, sie war schnell vorbei und müde waren wir erstaunlicherweise auch nicht, als hätte uns Pater Ober wach gehalten. In den frühen Morgenstunden drängte sich ein Strahl des Tageslichtes durch den grünen Vorhang in das Zimmer herein und beleuchtete die Holzwand, die vor meinen Augen, gegenüber dem Bett, in dem ich lag, deutlich zu sehen war. Jetzt sah ich die fünf Ikonen wieder, die an der Wand hingen. Als ich sie so nachdenklich betrachtete, kam mir eine Idee und ich sprang aus dem Bett hoch. Ich habe die grünen Vorhänge an der Balkontür zur Seite geschoben, die erste Ikone von der Wand abgenommen und geprüft, ob sie beschriftet war. Meine Intuition hatte mich nicht getäuscht! Jede Ikone war von Pater Ober per Hand beschriftet worden. Pater Ober hatte also an seine Familie gedacht und alle Personen, die ihm nahestanden, beschenkt. An diesem Vormittag des 19. Dezembers 2007 hatte ich noch eine Idee. Ich wollte mich davon überzeugen, dass Nicole tatsächlich die Tochter von Pater Ober war, weil sie mich doch gar nicht an ihn erinnerte. Das einzige Merkmal, das an Pater Ober erinnerte, war ihre ausgeprägte, schöne Gestalt. Das war dieselbe wie die von Pater Ober. Als wir in der Küche gemeinsam das Frühstück eingenommen haben und die Freundin sich im Gästezimmer hinlegen wollte, bat ich Nicole in das Wohnzimmer. Wir haben uns hingesetzt, sprachen miteinander über alles und sie erzählte mir über ihre Kindheit und ihr Leben in Amerika. Sie wurde in Deutschland geboren, ist aber im Alter von sieben Jahren mit ihrer Mutter nach Amerika ausgewandert. Ihre Mutter war tatsächlich eine Schauspielerin. Sie zeigte mir auf ihrem mitgebrachten Computer Bilder von ihrer Mutter, der sie, wie ein Wassertropfen dem anderen, unglaublich ähnelte. Wir sprachen über Behandlungen, die wir praktizierten, und schließlich wollten wir uns auch gegenseitig behandeln. Ich wollte bei ihr die Fußreflexzonenmassage durchführen und sie bei mir die Reinigung der Ohren mit Kerzen. Wir waren uns einig, dass wir unsere Erfahrungen auf diese Weise austauschen könnten. Ich bin aber nicht dazu gekommen, weil Nicole erst mittags aus ihrem Zimmer kam. Jetzt saßen wir zusammen und ich nutzte die Gelegenheit aus, um sie zu fragen, ob sie mir ihre Füße zeigen wollte. Ich wollte sie sehen. Das war die Idee, die ich in der Früh gehabt hatte. Nicole stellte keine Fragen und zog gleich ihre Schuhe aus. Ich war erstaunt, als ich dasselbe Merkmal an ihren beiden Füßen gefunden habe, das auch Pater Ober hatte – und sein Bruder nicht. Also war Nicole tatsächlich seine Tochter! Ich habe in den Jahren meiner Tätigkeit in der Pflege bei den Heimbewohnern und Pflegefällen sehr viele Fußsohlen gesehen, ich habe sie ja jeden Tag waschen müssen, und auch bei Pater Ober habe ich die Füße der Patienten, die er mir zur Behandlung schickte, gesehen, aber bei keinem Menschen habe ich das Merkmal des Paters und seiner Tochter gefunden! Da Nicole mir aber weiterhin keine Frage stellte, sagte ich auch nicht, warum ich ihre Fußsohle hatte sehen wollen. Nach dem Mittagessen begaben sich die beiden Freundinnen in das Gästezimmer nach oben. Beim Aufräumen der Küche hörte ich plötzlich, dass jemand von der Hofseite her in den Vorraum hereinkam. Es waren die Schwester und die Schwägerin von Pater Ober. Der Bruder ist wahrscheinlich unmittelbar durch die Praxis ins Haus gekommen. Als ich Nicole von oben kommen hörte, führte ich sie schnell ins Wohnzimmer und bat sie, in einem Lehnstuhl Platz zu nehmen „Wir haben Besuch von deinen beiden Tanten bekommen!“, sagte ich schnell. „Warte bitte hier.“ Als ich in die Küche zurückkam, waren die beiden Tanten schon angekommen und die Schwester teilte mir gleich mit, dass sie eben Aloys im Krankenhaus besucht hatten. „Und?“, fragte ich erregt. „Wie geht es ihm?“ „Es geht ihm besser“, sagte sie gelassen und schien dabei zufrieden zu sein. „Wie besser? Hast du ihn gesprochen?“ Dabei hatte ich meine Vision vor Augen. „Aber nein“, sagte sie wieder ganz ruhig, er ist doch an den Apparaten angeschlossen.“ „Wie kannst du dann behaupten, dass es ihm besser geht?“, fragte ich immer noch aufgebracht. Darauf wusste die Schwester keine Antwort mehr, sie sagte nur noch, dass „sie“ ihm Watte auf die Augen gelegt hatten. „Klar“, dachte ich. „Die Augen sterben zuerst.“ Ich bekam einen Schrecken, da ich längst wusste, dass er nur noch die Qual der „lebenserhaltenden“ Maßnahmen ertragen musste. „Bitte, setzt euch“, sagte ich gleich danach. Sie setzten sich staunend zum kleinen Tisch hin und schauten mich erwartungsvoll an, weil sie so eine Aufforderung von mir noch nicht bekommen hatten. „Wir haben Besuch aus Amerika bekommen“, sagte ich. Beide Tanten von Nicole reagierten sehr überrascht – anscheinend hatte Pater Ober die Familie über die Einladung zu Weihnachten nicht informiert. Nun sagte ich, dass Nicole im Wohnzimmer sitzt. Beide sprangen auf und eilten jetzt ins Wohnzimmer, ich folgte als Letzte. Die Schwägerin setzte sich gleich zu Nicole an den Kamin. Die Schwester dagegen, die sich gerade in einem Lehnstuhl niederlassen wollte und dabei Nicole erblickte, sprang aufgeregt auf und rannte wie eine Furie aus dem Zimmer. Sie rannte in die Küche zurück und setzte sich ganz außer sich in das Esszimmer hinter der Küche. Dabei schrie sie schon unterwegs laut: „Ich will davon nichts wissen! Ich will davon nichts wissen! Es ist nicht wahr!“ Als ich ihr näher kommen wollte, schrie sie wieder, dass sie nichts hören wolle und dass das Mädel nicht seine Tochter sein könne. Die Tatsache, dass ihr Bruder Aloys noch eine zweite Tochter hatte und diese für sie so plötzlich auftauchte, war ein Schock. Ich ließ sie also in Ruhe. Inzwischen hatte sich die Schwägerin mit Nicole ruhig im Wohnzimmer unterhalten, und später, als sie in die Küche zurückkam, sagte sie zu mir: „Das Mädel kann doch nichts dafür, dass es da ist und Aloys ihr Vater ist.“ Später aber erfuhr ich, dass sie Nicole nicht zum ersten Mal sah. Sie sagte mir, dass Aloys sie immer als die Tochter seiner Freundin vorgestellt hatte. Ich musste in diesem Moment an die doppelte Moral der katholischen Kirche denken, an die armen Priester, die damit umgehen müssen. Hat Martin Luther nicht zurecht die katholische Kirche „umgekrempelt“? In der Bibel steht es doch auch, dass jeder Priester offiziell eine Frau hatte, oder nicht? Was man da den jungen Männern angetan hat, weil das Geld wichtiger ist! Als der Bruder von der Praxisseite in die Wohnung des Paters kam, saß Nicole mit mir gerade noch im Wohnzimmer. Er hatte es eilig und wollte nach oben in das Arbeitszimmer des Paters laufen, aber ich hielt ihn fest und kündigte ihm Nicole an. Der Bruder reagierte erschrocken. Ich bat ihn zu warten und rief Nicole dazu. Als er sie erblickte, fragte er sie unhöflich und schnell: „Wann bist du geboren?“ Die arme Nicole stotterte ihr Geburtsdatum unsicher heraus und schwieg dann. Ihre Antwort gefiel ihm sichtlich nicht, er war verärgert, und ohne ein einziges Wort zu sagen, rannte er nach oben in das Arbeitszimmer des Paters und danach in die Praxis, in der sich inzwischen auch schon die beiden Tanten von Nicole aufhielten. Nicole weilte nach dem Gespräch mit ihrem Onkel in ihrem Gästezimmer bei der Freundin und telefonierte mit der „ganzen Welt“. Und während ich mich in der Küche aufhielt, klingelte das Telefon. Es war drei Minuten nach 15:00 Uhr. Ich eilte zum Telefon in den Korridor und nahm den Hörer ab. Am anderen Ende des Telefons meldete sich das Krankenhaus in Vogtareuth. Eine angenehme, männliche Stimme fragte mich, ob ich ein Mitglied der Familie Ober sei. „Nein, ich bin die Therapeutin von Pater Ober, aber Sie können mir ruhig sagen, was los ist.“ „Ich kann leider nicht mit Ihnen sprechen. Ist kein Mitglied der Familie zu sprechen?“ „Moment!“, sagte ich. Ich rannte in die Praxis, um den Bruder des Paters zum Telefon zu holen. Ich wusste schon, was kommen würde, aber ich wollte es immer noch nicht wahrhaben, obwohl ich es schon seit Montag wusste. Er meldete sich am Telefon, hörte genau zu und legte wortlos auf. Er sagte kein Wort und kehrte in die Praxis zurück. Ich folgte ihm langsam. Er ging durch die ganze Praxis bis zu seiner Frau und seiner Schwester, wobei er mir die ganze Zeit den Rücken zukehrte. Ich kehrte gekränkt durch die Praxisräume zurück und als ich die Helferin mit tränenerfüllten Augen sah, wusste ich, was los war. Jetzt war die Wahrheit offiziell, nur ich durfte sie nicht erfahren. Warum? Ich stolperte fast aus der Praxis und ließ mich auf einen Stuhl im Wartezimmer niedergleiten. Dabei hörte ich einen schrecklichen Schrei. „Nein!“ Dann wurde mir bewusst, dass es meine eigene Stimme war. Jetzt hatte mich die endgültige Wahrheit voll im Griff. Ich bin bitter weinend sitzen geblieben. In der Wohnung des Paters angekommen, wurde mir bewusst, dass er nicht mehr nach Hause zurückkommen würde und in diesem Moment habe ich den Boden unter meinen Füßen verloren. Ich habe zum zweiten Mal meine Heimat verloren. Meine Nerven konnte ich nicht mehr in den Griff bekommen, und ich ließ es zu, dass Christina mir eine Spritze verabreichte. Das treue Wesen hat mich nicht mehr alleine gelassen. In der schweren Stunde, in der ich mich mit meinem endgültigen Verlust abfinden musste und immer noch nicht beruhigen konnte, kam Nicole auf mich zu und sagte, dass ihre Mutter mit mir sprechen möchte. Sie sprach sehr freundlich mit mir, lud mich sogar nach Amerika ein und bat mich dann darum, mit Nicole ins Krankenhaus zu fahren, damit sie sich von ihrem Vater verabschieden konnte. Das war selbstverständlich. Nach dem Gespräch, das mich in die bittere Realität zurückholte, bestellte ich gleich ein Taxi und fuhr mit Nicole nach Vogtareuth. Wir suchten die Herzabteilung auf, gingen in den ersten Stock und kamen in ein sehr kleines Zimmerchen mit kahlen und leeren weißen Wänden. An der einen Seite befand sich ein Fenster und gegenüber eine einzige Tür ohne Anschrift. Diese war geschlossen, also klopfte ich. Keiner machte auf. Ich wartete ab und klopfte wieder. Wieder verging eine lange Weile und endlich machte ein hochgewachsener, sehr beeindruckender junger Mann die Türe auf und sagte uns, dass er jetzt keine Zeit für uns hätte, dann schloss er sie schnell wieder. Wir gaben nicht nach, warteten noch mal ab und ich klopfte erneut an der verschlossenen Tür. Nach sehr langer Zeit machte der Mann mit dem hochintelligenten Aussehen noch mal die Türe auf und sagte diesmal, dass er wirklich nicht nach unten gehen könne, weil sie mit einem Notfall beschäftigt seien. Dann machte er die Türe wieder zu. Er hat nicht mal nach unserem Anliegen gefragt, er wusste es. Wir gingen resigniert ins Parterre, setzten uns auf eine Bank und wollten das Krankenhaus immer noch nicht verlassen. Die Chauffeurin saß ein bisschen weiter von uns entfernt und wartete geduldig ab. Der Portier hatte uns wahrscheinlich beobachtet, weil er plötzlich zu uns kam und zu mir sagte: „Ich darf zwar meine Stelle nicht verlassen, aber ich werde Sie jetzt gerne in den Keller führen.“ Er nahm den Schlüssel mit und führte uns in den langen, schmalen Keller hinunter. Er wusste auch, worum es ging. Mich ergriff plötzlich eine große Furcht. Ich dachte, dass ich in einen großen Raum mit vielen Verstorbenen geführt werden würde. Der Raum, dessen Türe offen stand, war aber ganz klein. Ich atmete auf. Es stand nur ein einziger Blechschrank mit zwei Klappen da. Oben war die Schublade zum Glück leer und an dem unteren Griff hing ein kleines Schild mit dem Namen „Aloys Ober“ „So wenig bist du geworden, nicht mal ein Herr bist du geblieben“, ging es mir durch den Kopf. Ich machte die Klappe langsam auf. Pater Ober war in ein Bettlaken eingewickelt worden. Über seinem Kopf arbeitete ein Ventilator. Ich wickelte das Bettlaken vorsichtig auf und befreite seinen Kopf. Dieser war zur rechten Seite gedreht! Er sah genauso aus, wie ich ihn in der Vision am Montag, dem 17. Dezember, gesehen hatte! Sein Gesicht überraschte mich aber. Er sah nicht tot aus, sondern als ob er schliefe, dabei strahlte sein Gesicht große Erleichterung, totale Entspannung und Glück aus! In diesem Moment kamen mir seine Worte in den Sinn, dass er der Lieblingssohn seiner Mutter war. Das brachte mich auf den Gedanken, dass sie ihren Sohn beim Übergang ins Jenseits empfangen haben könnte, sonst hätte er doch nicht so ein Glück ausgestrahlt! So ein Gesicht voller Zufriedenheit und Entspannung habe ich noch bei keinem verstorbenen Menschen gesehen. Er wirkte tatsächlich überraschend lebendig, jedenfalls sah er nicht tot aus. Das war eine einmalige und angenehme Überraschung für mich. Trotzdem musste ich wieder weinen. Ich ließ Nicole mit ihrem Vater alleine. Nach einer langen Weile kehrte ich zurück. Sie stand immer noch wie angewurzelt da. An ihren unteren Wimpern hing eine Träne. Die geduldige Taxifahrerin hatte die ganze Zeit auf uns gewartet und sich auch nicht beklagt oder Ungeduld gezeigt. Sie fühlte mit uns. Sie hatte Pater Ober gekannt und nur Geld für die Fahrt angenommen. Es war schon dunkel, als wir nach Aschau zurückkamen. Ich bat die Taxifahrerin noch um einen Gefallen und sie fuhr uns vor das Haus des Baumeisters, dem ich versprochen hatte, Bescheid zu geben. Die Taxifahrerin wartete geduldig weiter. Wir wurden noch nach Hause gefahren und da ich wusste, dass Nicole gleich ihre Mutter anrufen würde, trennten sich unsere Wege. Nach dem ereignisreichen Tag fiel ich kraftlos in mein Bett. Ich hatte immer noch das vor Glück strahlende Gesicht von Pater Ober vor meinen Augen. Er war doch schon zwei oder drei volle Stunden tot gewesen und trotzdem hatte er so lebendig ausgesehen. Auch nach seinem Tod war Pater Ober immer noch für eine Überraschung zu haben *** Während meiner Arbeit in der Pflege habe ich viele Sterbende gesehen und für den Abholdienst vorbereitet, aber kein Verstorbener hatte nach dem Tod so lebendig gewirkt wie Pater Ober, geschweige denn etwas ausgestrahlt. Jeder Mensch hatte nach dem letzten Atemzug gleich tot ausgesehen. Bei Pater Ober war es ganz anders. Jetzt dachte ich auch an die drei Glöckchen, die er abends berührt hatte, um Nicole zu begrüßen. Das Erlebte erinnerte mich an die Tatsache, dass der Mensch, wie Gott, eine Trinität darstellt, dass zwei Teile von ihm, Geist und Seele, eigentlich der unsichtbare Mensch sind und dass die zwei Teile nach dem Tod lebendig bleiben, weil sie aus Energie bestehen. Das war doch am 18. Dezember der Fall gewesen, einen Tag vor der traurigen, heutigen Todesnachricht aus dem Krankenhaus. Er war ja seit Montag, dem 17. Dezember, an die Apparate angeschlossen – nachdem ich die Vision gehabt hatte –, sein Herz, sein Körper (Staub und Wasser) waren also bis Mittwoch künstlich am Leben gehalten worden, doch eigentlich war er schon tot gewesen. Der unsichtbare Mensch, der eigentlich aus unsichtbarer Energie besteht, hatte sich doch an diesem Dienstag bestätigt! Sonst hätte Pater Ober die drei Glöckchen nicht berühren können! Die Tatsache, dass der Mensch aus Energie und Materie besteht und sich nach dem Tod, also nachdem er die Materie, den Körper, verlassen hat, melden kann, erlebte ich schon mit 14 Jahren in Breslau. Meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, hat sich einen Tag nach der Beisetzung bei uns gemeldet. Eigentlich nur bei mir und meinem Bruder Karl, mit dem ich um 21:00 Uhr noch für die Schule lernte. Sie hat ganz leise gepfiffen, wie jedes Mal, wenn sie bei uns im Zimmer am Kachelofen saß, ein Buch las und dabei in der Lesepause ihren sehnsüchtigen Blick über das Fenster hinaus warf. Wir haben die Großmutter eben durch die Melodie wahrgenommen, die plötzlich zu hören war! Wir waren natürlich sehr erschrocken und gingen sofort zu Bett. Am nächsten Tag erzählten wir das Erlebte beim Frühstück unserer Mutter und sie sagte damals zu uns: „Kinder, die Oma braucht Hilfe. Wir werden jetzt jeden Tag für sie beten.“ Und wir haben den Hilferuf unserer Oma ernst genommen und für sie ein Jahr lang jeden Tag gebetet. Für Pater Ober bete ich auch noch jeden Tag und ich bitte den Ewigen Vater um Vergebung für ihn, weil Pater Ober eine große Schuld auf sich genommen hat *** Dass unsere menschlichen Zellen so klein sind, dass man sie mit dem bloßen Auge nicht sehen kann, weiß jeder. Dass jede Zelle einen Inhalt aus Materie beinhaltet, weiß auch jeder, aber dass die Wände der Zelle aus Energie bestehen und nicht aus Materie, wissen nicht alle. Der Mensch besteht also aus Materie – Staub und Wasser – und der unsichtbaren Energie, die die Zelle durch Bewegung, durch Schwingung am Leben erhält. Sie ernährt die menschliche Zelle, weil sie Stoffe aus dem Blut oder unsichtbare Informationen aus der Pflanze – man denke an Globuli – als eine unsichtbare Schwingung in die Zelle bringen kann. Die Energie, die die „Wand“ der Zelle darstellt, ernährt also die menschliche Zelle! Wenn die Energie den materiellen Körper verlässt, ist der Mensch „tot“. Der eigentliche Mensch, der aus der unsichtbaren Energie, der Kraft, besteht, kann sich nach dem Tod bei uns, den Hinterbliebenen, melden, indem er uns verschiedene Zeichen geben kann. Die Energie kann man umwandeln, z.B. in Wärme, aber vernichten kann man sie nicht! Sie ist messbar und äußert sich in Form von unsichtbaren Schwingungen, Amplituden, Frequenzen etc., die man messen kann. Beim sogenannten Tod verlässt der Mensch, der aus Energie besteht, nur die Materie, die sich dann in Staub umwandelt. Man kann auch sagen, dass die Energie, also der Mensch, seine sichtbare Hülle, den Körper, verlassen hat. Der Mensch existiert also nach dem sogenannten Tod, der ein Übergang ist, in einer unsichtbaren Form weiter und deswegen kann der Verstorbene uns Zeichen geben. So einfach ist das zu erklären. Ich glaube, dass es bei dem sogenannten Herzinfarkt zu einem energetischen „Kurzschluss“ kommt, und in dem Moment, wenn der Ewige Vater ruft, verlässt der Mensch die materielle Hülle. Die lebendige Energie, die in unserem Körper steckt, ist eben die Kraft, die uns, die Materie, am Leben hält. Jetzt stellt sich die Frage, woher wir die Energie, die sich in Form von Schwingungen, Wellen, Frequenzen, Amplituden und Wärme äußert, bekommen haben? Ist das die Naturkraft oder die Gotteskraft? Das Energiepotenzial, das uns am Leben hält, hat schon so viele Namen bekommen, aber egal, wie wir es auch nennen, Naturkraft, Gotteskraft, Prana oder Chi, es ist eine Tatsache, dass sie in uns existiert und uns am Leben hält *** Die Freundin von Nicole ist am 20. Dezember aus Aschau abgereist. Nicole hat sie zum Bahnhof begleitet. Sie wollte nach München und weiter nach London fliegen. An diesem Tag bemerkte ich im Wartezimmer der Praxis ein kleines, rundes Tischlein, das man als Andenken an Pater Ober hingestellt hatte. Und ich legte später noch das letzte Foto des Paters vom Oktober dazu, das ich am letzten warmen Sonntag aufgenommen. hatte. Jetzt, wo Nicole und ich ganz alleine im Haus geblieben waren, konnten wir uns näher kennen lernen und mehr Zeit miteinander verbringen, obwohl sie die meiste Zeit in ihrem Gästezimmer am Telefon verbrachte. Nicole erzählte mir so manches aus ihrem Leben

Sie wusste von Anfang an, wer ihr Vater war, sie hatte mit sieben Jahren sogar einige Zeit bei ihm verbracht, als ihre Mutter ins Krankenhaus musste. Dann aber wanderte ihre Mutter mit ihr nach Amerika aus. Ihr Leben war nicht gerade leicht. Als ich sie zweimal direkt fragte, was sie eigentlich jetzt als Erwachsene in Amerika macht, bekam ich vorläufig keine eindeutige Antwort. Tatsache aber war, dass sie ein großes Talent zeigte und die Spiritualität auch kein fremdes Gebiet für sie war. An einem Abend schlug sie mir ihre Behandlung vor. Für diese haben wir uns in das Schlafzimmer ihres Vaters begeben. Diese Behandlung erfolgt im Liegen und ich musste ganz stillhalten, damit die Kerze im Ohr stehen blieb. Diese Ohrenreinigung war eine sehr interessante Erfahrung für mich. Die Behandlung würde ich allen betagten Menschen empfehlen, bevor sie sich ein Hörgerät verschreiben und das eigene Energiepotenzial im Gehirn stören lassen. Die Behandlung, die sehr angenehm war, lohnte sich. Danach konnte ich sehr gut hören und ich staunte, wie viel Schmutz aus jedem Ohr herausgekommen war. Es ist schade, dass nur manche Heilpraktiker die Behandlung kennen und es nur wenige gibt, die sie praktizieren *** Damit sich Nicole wie zu Hause fühlte, kümmerte ich mich weiter um den Haushalt, die Einkäufe und das Mittagessen, so wie ich es Pater Ober am Sonntag, dem 16. 12. 2007 versprochen hatte. Auch das Telefon, das in meiner Wohnung oben fehlte, hielt mich ständig in der Wohnung des Paters, aber zum Schlafen kehrte ich nach oben zurück. Nicole hat bis zum Mittag geschlafen, ich habe vergeblich mit dem Frühstück auf sie gewartet. Dann, als sie gegen 12:00 Uhr herunterkam, trank sie etwas und holte sich ein Ei aus dem Kühlschrank, das sie roh zu sich nahm. Dann machte sie einen kurzen Spaziergang und erst nach ihrer Rückkehr aßen wir das Mittagessen. Nicole pflegte also ihren eigenen Rhythmus, ich drängte sie nicht mit Fragen, ich wartete geduldig, bis sie sich von alleine für die Behandlung, die ich ihr angeboten hatte, zur Verfügung stellte, aber ich wartete vergeblich. Ich habe nicht verstanden, warum sie bis Mittag schläft, aber ich wollte sie nicht mit Fragen bedrängen. Sie sollte sich frei fühlen und bewegen können. Warum sie so spät aufstand, habe ich lange nicht verstanden. Erst im März 2008 habe ich den Grund ihres Verhaltens zufällig mitbekommen. Eine ältere Dame, die damals im Haus gegenüber wohnte, klärte mich auf. Sie sprach mich eines Tages an der kleinen Pforte in der Blumenstraße an und erzählte mir, dass das Haus von Pater Ober nach seinem Tod ganze Nächte beleuchtet war und dass eine junge Frau ständig zwischen seinem Arbeitszimmer und seiner Praxis unterwegs war. Ich wollte das Thema mit der fremden Dame nicht vertiefen und auch nichts erzählen. Ich habe nur zugehört und das Verhalten Nicoles endlich verstanden, weil sie irgendwann doch den Schlaf nachholen musste. Was suchte sie? Ich konnte es mir denken – das Testament. Heiligabend wollte Nicole nicht mit mir feiern. Sie wollte nicht einmal zum Abendessen herunterkommen, mit der Begründung, dass Heiligabend in Amerika erst am nächsten Tag gefeiert würde. Am Vormittag des Heiligabends rief mich der Bruder von Pater Ober an und informierte mich darüber, dass am nächsten Tag, am ersten Weihnachtsfeiertag, eine Sitzung der Pater-Ober-Stiftung stattfinden würde. Beim Mittagessen teilte ich die Nachricht Nicole gleich mit und sie entschloss sich dazu, Heiligabend doch mit mir zu verbringen. Sie kam also am Abend herunter, wenn auch zaudernd. Das bescheidene Mahl war fertig, der Baum leuchtete und die Kerzen brannten, aber es kam keine feierliche Stimmung auf. Wir dachten ständig an den fehlenden Pater Ober. Dann, irgendwie, brachten wir die Gebete am Tisch auf Englisch und Polnisch hinter uns. Es war ein trauriger Abend, den ich nicht so schnell vergessen konnte. Nicole, 24. 12. 2007

Am nächsten Tag, dem ersten Feiertag, kam in der Früh ein Anruf aus Spanien. Eine helle Stimme verlangte Pater Ober. Das waren die Nonnen, die Pater Ober fernbehandelt hatte. Das Bedauern war groß als sie erfuhren, dass sie ihren Heiler verloren hatten. Nicole kam wieder gegen Mittag, trank das rohe Ei und machte ihren kleinen Spaziergang. Beim Mittagessen fragte sie mich, wie sie sich wegen der Sitzung der Herren anziehen sollte. Ich antwortete irritiert: „Wie du willst, es gibt doch keine Vorschrift.“ Sie ging nach oben, zog sich nach ihrer Vorstellung an und kam herunter. Bei ihrem Anblick erschrak ich. Sie war bunt und auffallend gekleidet und trug eine breite, große und lange orangefarbene Kette aus Papier um den Hals. „So kannst du dich doch nicht zeigen“, sagte ich verblüfft und sie fragte mich, was sie anziehen solle. „Hast du nicht eine schwarze Hose, eine weiße Bluse und eine schwarze Jacke?“ Sie ging zurück ins Gästezimmer, um sich umzuziehen. Am Nachmittag fand die Sitzung des Vorstandes der Pater-Ober-Stiftung statt und die drei Herren nahmen im Wohnzimmer des Paters Platz. Der Bruder, der jetzt der Vorsitzende der Stiftung war, setzte sich am niedrigen Tisch vor dem Kamin hin, während der Jurist und das zweite Mitglied der Stiftung am runden Tisch Platz nahmen. Sie wollten mit uns allen sprechen. Erst wurde die Sprechstundenhilfe aus der Praxis geholt, dann Christina, und am Schluss ich. Man bat mich zum runden Tisch und ich nahm gegenüber dem Juristen Platz. Dieser, Herr O. M., der Chef des Nachlassgerichtes Rosenheim, wollte alles genau wissen. Vor allem wollte er prüfen, inwieweit ich über die Verhältnisse der Stiftung informiert war, das schien ihm das Wichtigste zu sein, denn die erste Frage, die er an mich richtete, war: „Was gehört alles der Stiftung?“ Die Frage hatte leise, ganz unschuldig geklungen, und sie überraschte mich auch. Da ich mit dem Thema überhaupt nichts am Hut hatte, sagte ich spontan: „Alles!“ Daraufhin hörte ich seine leisen Worte: „Nicht alles.“ Ich habe mit Pater Ober ja nie über das Thema gesprochen, geschweige denn Fragen gestellt, zu denen ich mich nicht befugt gefühlt hatte. Es betraf nicht meinen Besitz. Dann wurde ich nach dem Verlauf des letzten Tages gefragt, den Pater Ober im Haus verbracht hatte. Diesen schilderte ich nun, nur die wenigen ganz persönlichen Worte, die wir in der Küche gewechselt hatten, erwähnte ich nicht und der Verlust brachte mich erneut aus dem Gleichgewicht, weil ich mir nicht verzeihen konnte, dass ich Pater Ober ins Krankenhaus hatte gehen lassen. Dann fragte mich der Bruder, wie Pater Ober angezogen gewesen war! Seine Frage verletzte mich sehr. Ich hatte das Gefühl, er wollte prüfen, ob ich Pater Ober tatsächlich bis zur letzten Minute begleitet hatte! Aber ich habe mich beherrschen können und ruhig alle Teile, vom schwarzen T-Shirt, dem weißen Hemd, dem schwarzen Jäckchen mit Knöpfchen bis zur grauen, alten Strickjacke und Sonntagshose aufgezählt. Der Jurist fragte mich dann, was ich zu tun gedenke, ob ich das Haus verlassen oder auch bleiben will. Daraufhin sagte ich wieder spontan: „Jemand muss doch auf das Haus aufpassen!“ Auf die Idee, ihm zu sagen, dass Pater Ober mir doch zwei Wohnungen zur Wahl gegeben hatte, bin ich in diesem Moment gar nicht gekommen. Der Schmerz des Verlustes hielt mich so stark im Griff, dass ich unfähig war, an etwas anderes zu denken, und an mich schon gar nicht. Der Jurist sagte dann von selbst, dass Pater Ober mir nichts geben konnte, was ihm nicht mehr gehörte. Auch jetzt bin ich nicht auf die Idee gekommen, über mein Wohnrecht zu reden, mit Pater Ober hatte ich auch nicht darüber gesprochen. Im Grunde genommen war mir im Moment alles egal. Ich fühlte mich nur weiterhin für das Haus verantwortlich. Auf die Idee, Fragen zu stellen, bin ich überhaupt nicht gekommen. Ich fühlte mich nicht dazu befugt. Das Gespräch mit dem Juristen und die Art, wie er es mit mir führte, vergaß ich jedoch nicht. Dann, nach vielen Monaten, erfuhr ich per Zufall, dass Pater Ober sein letztes Testament im November 2007 geschrieben hatte. Das war mir aber vorenthalten worden, also musste ich doch drin gewesen sein, sonst hätten sie mir nicht die alten, ungültigen Testamente – 12 an der Zahl! – untergeschoben. Das war ein abgekartetes Spiel. Also, alle drei Herren wussten, dass Pater Ober mir zwei Wohnungen zur Wahl gegeben hatte, sonst hätten sie mich nicht vorläufig im Haus wohnen lassen, sondern mir sofort gekündigt. Sie waren unsicher, weil sie selber noch nicht wussten, wie sie mit mir umgehen sollten. Die Sache war zu frisch, weil alle auch noch vom plötzlichen Tod des Paters überrascht waren. Der Jurist fragte jetzt nach Nicole, die er nur sehen wollte. Wir gingen in die Küche, wo sie auf mich wartete. Sie hat ihn aber nicht wirklich interessiert. Er fragte sie nur gleichgültig, wer sie sei, und nachdem sie sich mit drei Vornamen und Namen vorgestellt hatte, verließ er die Küche gleich. Zum Glück war sie schwarz angezogen, wie ich ihr geraten hatte, denn so, wie sie sich mir zuvor präsentiert hatte, hätte sie auch den Herrn schockiert. Nicole wirkte immer noch wie ein Mädchen, und nicht wie eine Frau, die auf die vierzig zuging. Pater Ober hatte sie auch als nettes Mädchen bezeichnet. Nach der Sitzung haben die Herren gleich die Wohnung verlassen und ich setzte mich mit Nicole in der Küche an den Tisch. Sie stellte keine Fragen. Ich auch nicht. Ich dachte jetzt an die zweite Tochter von Pater Ober, die zu Weihnachten doch nicht gekommen war und der Einladung des Vaters nicht gefolgt war. Auf ihren Anruf hatte ich vergeblich gewartet. Nach dem Essen fragte ich Nicole schließlich, ob sie weiß, dass sie eine Schwester hat. „Nein, das weiß ich nicht“, sagte Nicole ruhig und wartete was kommt. Dann fragte ich sie, ob sie die Schwester kennenlernen wolle, weil das doch auch der Sinn der Einladung gewesen war „Auf uns wartet doch nur das kleine Stückchen Erde auf dem Friedhof, aber die Kinder bleiben und sollten sich wenigstens begegnen und kennenlernen“, dachte ich damals, als ich Pater Ober den Vorschlag unterbreitete. Da Nicole ihre Schwester kennenlernen wollte, sprach ich erst mit der Schwägerin des Paters darüber und fragte sie, ob sie die Telefonnummer von der Tochter aus München habe. Sie hatte sie nicht und plötzlich schien es schwierig zu sein, an diese zu kommen. Sie sagte mir, dass sie nur weiß, dass die Tochter mit der anderen Schwägerin von Pater Ober in Kontakt steht und sie selbst mit dieser keinen Kontakt habe. Ich bat sie trotzdem um ein Gespräch mit der anderen Schwägerin und wartete ab. Sie rief mich dann an und gab mir die Nummer. Nicole hatte also Glück, sie konnte gleich mit der Schwester sprechen. Am nächsten Tag in der Früh fuhr sie nach München, um die Schwester aufzusuchen und kennenzulernen. Kaum hatte Nicole das Haus verlassen, hörte ich, dass jemand von der Praxisseite in die Wohnung kam. Meine Küchentüre stand ganz offen, da sah ich, wie der Bruder des Paters mit seiner Frau die Treppe nach oben eilte, um in das Arbeitszimmer des Paters zu kommen. Nach zwei Minuten rannten die beiden wieder herunter, ohne ein Wort zu sagen, und verließen die Wohnung wieder. Ab diesem Zeitpunkt merkte ich, dass die Familie mir aus dem Weg ging, nur Eile zeigte und sich ausschließlich nur noch in der Praxis aufhielt, wenn sie in das Haus kam. Die ganze „Aktion“ kam mir Spanisch vor, aber ich habe mir dabei noch nichts gedacht. Am nächsten Tag in der Früh hörte ich erneut, dass jemand von der Praxisseite in die Wohnung kam. Das waren wieder der Bruder und seine Frau, die bestimmt nicht mit meiner Anwesenheit in der frühen Stunde gerechnet hatten, weil sie wieder wortlos nach oben in das Arbeitszimmer des Paters rannten. Es war ihnen bestimmt nicht recht, dass ich da war, aber ich bin wegen des Telefons immer schon ab 08:00 Uhr in der Küche gewesen. Kaum sind zwei Minuten vergangen, rannten die beiden wieder die Treppe herunter. Sie liefen im Laufschritttempo durch den Korridor, um die Wohnung zu verlassen, dabei schrie seine Frau in meine Richtung: „Such nach dem Testament! Wir haben es nicht gefunden! Wir fahren jetzt nach Rosenheim!“ Und schon waren sie weg. Das Benehmen mir gegenüber hatte mir gar nicht gefallen und machte mich nachdenklich: „Was geht mich sein Testament an?“, dachte ich verärgert. Aus Trotz bin ich an diesem Tag nicht nach oben gegangen, ich bin in der Küche geblieben. Die beiden Sprechstundenhilfen weilten in der Praxis, wie jeden Tag, als plötzlich Christina hereinkam und sagte: „Du hast Besuch bekommen.“ Sie zog sich gleich rücksichtsvoll zurück. Da sah ich Nicole mit zwei weiteren Personen auf mich zukommen. Die Tochter aus München habe ich sofort erkannt. Ihr Foto, auf dem sie circa fünf Jahre alt war, kannte ich, es stand auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer des Paters, und sie hatte sich auch jetzt nicht viel verändert, obwohl sie mittlerweile 30 war. Dann schaute ich mir den jungen Mann an und. fragte ihn: „Und wer bist du?“ Der sympathische Mann antwortete mir leise: „Ich bin der Sohn von Pater Ober.“ Ich konnte in diesem Moment lachen, sagte aber: „Anfang Dezember fragte ich Pater Ober, ob er nicht zufällig einen Sohn hätte, der seine Praxis übernehmen könnte“, und lud die drei Kinder in das Wohnzimmer ein. Von der Tochter aus München erfuhr ich, dass sie 20 Jahre nicht mehr in diesem Haus gewesen war. Also war sie zehn Jahre alt gewesen, als sie ihren Vater das letzte Mal gesehen hatte! Als sie mir sagte, dass sie ihren Bruder, der einst zur Adoption freigegeben worden war, erst seit vier Jahren kannte, wollte ich wissen, wer wen gesucht hatte. „Die Mutter dich oder du die Mutter?“ Ich war überrascht, dass nicht die Mutter ihr Kind gesucht hatte. Das Mittagessen war schnell fertig und wir aßen zusammen am runden Tisch im Wohnzimmer. Dass die Tochter nach der Geburt bei einer Pflegefamilie abgegeben wurde und danach mit drei Jahren zu ihren Großeltern kam, wusste ich von Pater Ober. Dann, als sie in die Schule musste, kam sie nach Aschau zu den Eltern. Sie hat aber den Vater mit „Pater“ angesprochen! Ich habe Pater Ober damals danach gefragt, wie das Kind ihn ansprechen musste und war empört, als ich es hörte. Daraufhin sagte Pater Ober: „Pater bedeutet doch auch Vater.“ „Das arme Kind“, hatte ich damals nur gesagt. Der Sohn dagegen war nach der Geburt sofort zur Adoption freigegeben worden. Er hatte Glück, er bekam gut situierte Eltern, konnte studieren und wuchs mit zwei Adoptivschwestern zusammen auf. Als er 16 Jahre alt war, erfuhr er von den Eltern, dass er adoptiert war. Ab diesem Zeitpunkt suchte er nach seiner leiblichen Mutter. Ich erzählte ihm, dass sein Vater elf Sprachen sprach, dass er außergewöhnliche Talente, Fähigkeiten und Eigenschaften hatte. Daraufhin ging er gleich darauf ein und sagte, dass er selbst auch schon fünf Sprachen beherrschte. Das Gespräch mit dem sympathischen Sohn des Paters freute mich sehr. Er war offen und machte keine Geheimnisse aus seinem Leben. Die größte Freude bereitete mir die Information, dass er sich nach dem Studium selbständig gemacht und eine Firma gegründet hatte. Er hat nicht nur die Talente seines Vaters geerbt, er sah ihm auch sehr ähnlich. Er hatte dieselbe Größe, dieselbe Gestalt, ähnliche Gesichtszüge und seinen scharfen Blick. Er zeichnete sich durch dasselbe zurückhaltende Benehmen aus, was mir sehr gefiel. Während ich mich mit ihm unterhielt, beschäftigte sich Nicole mit ihrer Schwester, aus der eine schöne Dame geworden war. Sie schien mir ein bisschen größer als ihr Bruder zu sein. Es war sehr schön, seine Kinder zu Hause zu haben, aber wir konnten nur noch wenig Zeit miteinander verbringen und ich bedauerte sehr, dass der Vater seinen Sohn nicht mehr erleben konnte. Der Sohn wollte zurück nach München. Seine Frau war schwanger, sie erwarteten im Februar ein Kind und er wollte sie nicht lange alleine lassen. An diesem Nachmittag, als die Kinder abgereist waren, bekam ich einen Anruf aus Nürnberg. Der Apotheker, der Medikamente nach Pater Obers Rezepturen herstellte, wollte mit Pater Ober sprechen. Ich musste ihm mitteilen, dass Pater Ober nicht mehr unter uns weilte und offiziell am 19. Dezember verstorben war. Der Apotheker bedauerte sehr, dass er ihn nicht mehr sprechen konnte. Kaum hatte ich die Küche aufgeräumt, kam noch ein Gast ins Haus, der mich sprechen wollte. Das war der Heilpraktiker, der Pater Ober seit Monaten behandelt hatte und dem dieser seine Praxis versprochen hatte. Ich lud ihn in die Küche ein und wir setzten uns an den kleinen Tisch. Er beklagte sich, dass er nach dem plötzlichen Tod des Paters die Praxis doch nicht bekam. Er hatte fest damit gerechnet und war sehr enttäuscht, als man ihm sagte, dass er die Praxis doch nicht bekommt. Er zitierte mir sogar die frechen Worte, mit denen er abgelehnt worden war: „Ja, wenn sie der Hackenthal gewesen wären und 10.000 im Monat an die Stiftung gezahlt hätten, dann hätten sie die Praxis bekommen.“ Der junge Mann war sehr enttäuscht. Er hatte aber nichts Schriftliches von Pater Ober in der Hand, Pater Ober hatte auch nicht geahnt, dass er den Umzug in das Haus in Altötting nicht erleben würde. Der Heilpraktiker verließ das Haus traurig. Er hat wahrscheinlich noch mal erfolglos mit dem Juristen des Vorstandes der Stiftung gesprochen, denn nach ein paar Tagen bekam ich einen Anruf mit der Information, dass der Heilpraktiker Hausverbot hatte und ich ihn nicht einlassen durfte. Der 27. Dezember war ein ereignisreicher Tag. Erst die erneute Lauferei von seinem Bruder und seiner Frau in das Arbeitszimmer von Pater Ober in der Früh, dann der Besuch von seinen Kindern aus München und am Abend noch des enttäuschten Heilpraktikers. Am nächsten Tag, dem 28. Dezember, ist Nicole abgereist. Der Freund aus München hat sie abgeholt. Ohne seine Hilfe hätte sie ihren riesigen Rucksack, der über einen Meter hoch war, nicht herunterbringen können und ich fragte mich, was sie da so vieles mit sich führte. Erst jetzt, nachdem ich im Haus allein geblieben war, dachte ich über das Testament nach. Es hat mich genervt, dass ausgerechnet ich es suchen musste. Dass die beiden, der Bruder und seine Frau, ein Spiel mit mir trieben, war mir immer noch nicht bewusst! Ich ging also die Treppe nach oben und dachte nach. „Wo soll ich suchen? Wo soll ich anfangen?“ Ich ging an der roten Truhe im ersten Stock vorbei und kam in das kleine Vorzimmer, das zum Bad und zum Arbeitszimmer des Paters führte. Ich machte die Tür hinter mir zu und blieb stehen. Das Erste, was ich sah, war seine Hose, die an einem Haken vor dem Bad hing. Das hatte Pater Ober vorher noch nie gemacht. Er hatte seine Kleider am Abend immer nur auf den Korb gelegt. Das war die Hose, die Pater Ober an den zwei letzten Wochenenden in Altötting angehabt und die ich gewaschen und gebügelt hatte. Als ich die Hose für Pater Ober hingelegt hatte, hing an ihr nichts dran, jetzt aber sah ich einen Schlüssel an der Hosenschlaufe hängen! Ich spürte sofort, dass Pater Ober ein Zeichen für mich hinterlassen hatte! Aber was er mir damit sagen wollte, darauf bin ich leider nicht gekommen. Ich nahm den Schlüssel von der Hosenschleife ab und schaute ihn an. „Das ist doch derselbe Schlüssel“, schoss es mir durch den Kopf, „der in der Konsole im Auto lag, als wir das letzte Mal von Altötting nach Aschau fuhren!“ Jetzt hatte ich es eilig. Ich verließ das Vorzimmer, eilte die Treppe hinunter und weiter in den Hof. Ich öffnete die Garage und das Auto. Da lag er, der zweite, der gleiche Schlüssel! Beide waren nagelneu. Ich bin leider nicht auf die Idee gekommen, dass es der Schlüssel für den kaputten Safe in Altötting sein könnte. Meine letzte Information damals war, dass Pater Ober das kaputte Schloss beim Safe austauschen wollte. Ich hatte also bei der Arbeit im Haus in Altötting den Fachmann, der wegen des Austausches des Schlosses beim Safe ins Haus gekommen war, einfach übersehen! Jetzt war ich davon überzeugt, dass Pater Ober mir eine Nachricht hatte hinterlassen wollen. „Mein Gott, du hast an alles gedacht! Auch an die Eventualität, dass du aus dem Krankenhaus nicht zurückkommen kannst.“ Ich war gerührt, aber auf die Idee, dass ich den Schlüssel mit Altötting in Verbindung bringen sollte, bin ich nicht gekommen. Ich habe die beiden Schlüssel in meine Hosentasche gesteckt und ging in seine privaten Räume nach oben zurück. Ich hatte ja eine Aufgabe aufgebürdet bekommen, ich musste nach dem Testament suchen, was mich ärgerlich stimmte. Ich kam in sein Arbeitszimmer, bin in der Mitte stehen geblieben und schaute mich langsam um. Meine Augen streiften die Regale voller Bücher, die Möbel und die Wände, und auf einem niedrigen Schrank am Kamin, auf dem ein einziger dicker Ordner stand, ist mein Blick hängen geblieben. Ich ging gleich zum Schrank und nahm den Ordner in die Hände. In dem Moment ist ein braunes DIN-A4-Kuvert aus dem Ordner gefallen. Auf den Umschlag hatte Pater Ober die Worte „Mein Testament – P. Aloys M. Ober“ geschrieben. Der Umschlag war offen. Ich setzte mich mit dem Kuvert an den Schreibtisch und fing an zu lesen. Insgesamt waren es elf A4-Blätter mit der Überschrift „Mein Testament“. Jedes war handgeschrieben, das Papier war von der Pater-Ober-Stiftung. Auf dem ersten Blatt äußerte Pater Ober seinen Wunsch, in Salzburg eingeäschert zu werden und dass seine Urne in einer Liturgie in seiner Kapelle vor seinem Haus abgestellt werden sollte. Weiter stand da: „Das ganze Vermögen fällt der ‚Pater-Ober-Stiftung‘ anheim, außer: Mein Auto soll verkauft werden, ebenso die Teppiche im Haus, und der Erlös an „Missio“ in Aachen überwiesen werden.“ Das Blatt war ohne Datum. Die Testamente hatten verschiedene Daten. Die zwei zuletzt geschriebenen Testamente hatte Pater Ober am 02. Mai 2005 verfasst. Ich war Ende Mai 2005 ins Haus gekommen. Pater Ober hatte an alle gedacht, an beide Töchter, an den Bruder, an seine Schwester und an die Tochter seines Bruders. Auch an seinen Neffen, an „Kirche in Not“ und vor allem an das bischöfliche Hilfswerk Misereor in Aachen, das in der Welt verschiedene Projekte für die Ärmsten der Armen realisierte, etwa Gesundheitsprogramme, Schulen oder Brunnen. An das Bischofs-Hilfswerk sollte das ganze Geld von seinen Konten überwiesen werden. Die Verfügung über das Geld in Liechtenstein hatte er sogar an diese Bank adressiert. Das ganze Geld auf seinen Konten ging also an die Ärmsten der Armen in der Welt, und den Goldschatz in seinem Safe vermachte er zu zwei Dritteln seiner Schwester und zu einem Drittel dem Bruder. Das zuletzt geschriebene Testament, das Aktuelle vom November 2007, fehlte jedoch in diesem Umschlag. Dass Pater Ober ein Testament im November geschrieben hatte, wusste ich zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht. Das hat mich auch nicht interessiert. Da ich am Schreibtisch des Paters saß, griff ich nach dem Telefon, das neben seinem Schreibtisch auf einem kleinen Tischlein stand, und rief die Schwägerin an. Sie meldete sich und wunderte sich gar nicht, dass ich das Testament gefunden hatte. Sie wollte gar nicht wissen, wo ich es gefunden hatte, weil sie genau wusste, wo sie es hingesteckt hatte. Sie wollte nur wissen, ob ich es gelesen hatte. „Natürlich“, sagte ich auch ruhig. „Das Kuvert war ja nicht verschlossen.“ Das war unser ganzes Gespräch. Wir hatten beide keine weiteren Fragen. Dass ich das Testament finden sollte, war ein abgekartetes Spiel von den beiden. Sie wollten mir nur klarmachen, dass mich Pater Ober nicht bedacht hatte. Später erst habe ich die doppelte Lauferei in großer Eile in sein Arbeitszimmer begriffen und in Verbindung mit dem Testament gebracht. Diese alten, ungültigen Testamente, die man mir untergeschoben hatte, hatte der Bruder des Paters mit dem zuletzt im November 2007 geschriebenen Testament, dem gültigen Testament, erst am 17. Januar 2008 beim Nachlassgericht in Rosenheim abgegeben, was ich auch nach vielen Monaten erfahren habe. Die einzige Tatsache, die mir nach dem Tod des Paters gleich aufgefallen war, war das veränderte Benehmen der Familie mir gegenüber. Sie kamen nicht mehr zu mir in die Küche, sie haben sich immer nur in der Praxis aufgehalten und vor allem der Bruder ging mir sichtlich aus dem Weg und spielte immer nur Eile vor. Ich bin weiterhin wegen dem Telefon in der Wohnung von Pater Ober geblieben. Am 31. Dezember kam die Familie ins Haus, sie kamen wieder von der Praxisseite in die Wohnung, diesmal alle zusammen. An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass Pater Ober nie eine Tür im Haus abgeschlossen hat. In jeder Tür steckte immer der Schlüssel im Schloss. Auch in Altötting interessierte ihn die Türe am Abend nicht. Darum habe ich mich dann persönlich gekümmert, damit ich ruhig schlafen konnte. „Wenn man immer positiv denkt, dann passiert nichts“, war seine Auffassung. Auch in dem großen Tresor, der sich im Haus in Aschau vor der Waschküche im Subparterre in der Wand befand, steckte immer der Schlüssel im Schloss. Über dem Tresor hing ein dicker Vorhang, der aber zu schmal war, deswegen erkannte ich den Safe an dem sichtbaren, eisernen Rahmen. Ich bin aber nie auf die Idee gekommen reinzuschauen, sonst wäre das passiert, was an diesem Tag der Familie passierte. Wie erwähnt kam die Familie am 31. Dezember in die Wohnung Pater Obers und ging an mir vorbei die drei Treppen zum Tresor hinunter. Ich schaute natürlich gleich neugierig nach, was da los war. Alle drei sind vor dem Safe stehen geblieben. Einer von ihnen schob den dicken Vorhang zur Seite. Der Schlüssel steckte im Schloss, was sie bestimmt erschreckte. Langsam öffneten sie die Türe. Der Safe war nicht abgeschlossen, was sie nicht bemerkten. Ich stand an der Treppe oben und erblickte auch für eine Sekunde das Gold, das schön zu einer Pyramide aufgestellt worden war. Sie machten schleunigst die Türe zu und drehten den Schlüssel gleichzeitig nach links um, so, als hätte ich das Gold mit meinem Blick stehlen können. Diese Tatsache wurde ihnen jetzt zum Verhängnis. Als sie ihn nach einer Weile wieder aufmachen wollten, funktionierte er nicht mehr! Das war wieder ein Trick von Pater Ober, der ein außergewöhnliches Schloss einbauen ließ – wegen eines eventuellen neugierigen Menschen, der reinschauen wollte und das Schloss dann automatisch, wie sie jetzt, wieder schnell zugemacht hätte. Der Mensch hätte dann für seine Neugier bezahlen müssen. Jetzt war aber die Familie dran! Sie war nun dazu gezwungen, den Safe aufbrechen zu lassen, um an das Gold zu kommen. An diesem Tag ging es natürlich nicht mehr. Der Bruder des Paters musste sich erst um einen Fachmann kümmern. Ich verkniff mir ein Lächeln und zog mich in die Küche. zurück. Am 02. Januar 2008 kam die Familie ins Haus und brachte einen Fachmann mit. Er brachte eine große, schwere Bohrmaschine mit und die Arbeit konnte beginnen. Ich machte sofort die Küchentüre zu, die Frauen wollten mir nicht folgen, blieben die ganze Zeit bei der Arbeit und atmeten die „gesunde“ Luft ein. Der Lärm und der Metallgestank waren enorm und es hat sehr lange gedauert, bis die Tür geöffnet werden konnte, weil das Schloss sehr groß war. Als der Fachmann weg war, haben die Frauen die goldenen Stäbchen sehr schnell in den Stoffbeutel gesteckt. Ich musste mir bei dem Anblick wieder ein Lächeln verkneifen, und als ich dann langsam dazukam, hatte die Schwester gerade ein Fotoalbum in der Hand und sagte zu mir: „Du willst bestimmt auch die Fotos sehen.“ „Ja klar“, sagte ich und sie gab mir zwei Alben in die Hände. Ich durfte sie ein paar Tage behalten. In den Alben hatte Pater Ober seine Jugendzeit und Reisen in Bildern festgehalten und alles Sehenswürdige fotografiert und genau beschriftet. Somit konnte ich die wunderschöne, einmalige Architektur der Stadt London bewundern. Jedes Gebäudefoto war beschriftet worden. Da erkannte ich schon den genauen und fleißigen Studenten Aloys Ober, der sein ganzes Leben lang so fleißig geblieben ist. Seine Schrift war damals sehr ordentlich, aber ich erkannte schon die Züge, in die sich seine Schrift mit der Zeit entwickelte. Die zwei Alben waren in ihrer schönen Gestaltung und Sorgfältigkeit bewundernswert und einmalig. In einem Album entdeckte ich seine erste Liebe. Das Bild in der Größe einer Postkarte zeigte eine sehr hübsche junge Frau. Und auf einem anderen Foto saß der sehr junge Aloys, der sehr abgemagert wirkte, mit dem hübschen Mädchen auf einer Wiese und zwischen den beiden saß ein ganz kleines Mädchen. Unter dem Bild standen ein paar Zeilen eines Gedichtes, das aber in gotischer Schrift verfasst war. Den Rest konnte ich mir denken: Die unglückliche Liebe, die schweren Umstände der Nachkriegsjahre, vielleicht war das der Grund dafür, dass sich der junge Schreiner von damals für das Priestertum entschieden hat. Wäre das schöne Mädchen nicht seine erste große Liebe gewesen, hätte Pater Ober die Fotos nicht das ganze Leben lang im Safe aufbewahrt! *** Die beiden neuen Schlüssel trug ich immer noch in der Hosentasche mit mir herum und dachte nach, zu welchem Schloss sie passen könnten und was mir Pater Ober mit dem Zeichen sagen wollte. Dass sie ein Zeichen waren, davon war ich fest überzeugt, und ich wollte das „Geheimnis“ lüften. Mir fiel aber nichts ein, was er mir damit sagen wollte. Ich kam nicht weiter und auf den Altöttinger Safe kam ich auch nicht. Eines Tages habe ich mich dazu entschlossen, Hilfe beim Baumeister, Herrn E. P., zu suchen und besuchte ihn, weil ich dem Bruder die Schlüssel vorerst noch nicht geben wollte. Ich glaube aber, dass er sie gesucht hat. Der Baumeister hat sich den Schlüssel genau angeschaut und gesagt: „Zu einer Haustür gehört er bestimmt nicht. Es könnte ein Schlüssel zu einem Buch-Safe sein. Suchen Sie nach einem Buch mit Verschluss.“ Ich bin auch jetzt nicht auf den Safe in Altötting gekommen! Die Bibliothek von Pater Ober zählte mit allen anderen im Haus vorhandenen Büchern wenigstens 3000 Exemplare. Ich kam verzweifelt nach Hause zurück und gab auf *** Seit Pater Ober nicht mehr im Haus war, machte ich jeden Tag einen Rundgang auf der privaten Seite des Anwesens, um zu prüfen, ob in jedem Raum alles in Ordnung und ob niemand ins Haus eingebrochen war. Eines Tages, als ich in der Früh in die Wohnung des Paters kam, spürte ich sofort an der Luft, dass ein fremder Mensch in der Wohnung gewesen war! Ich prüfte erst die Küche, blieb stehen, da fiel mir auf, dass auf dem kleinem Tisch die große Taschenlampe fehlte, die in der Ecke ihren Platz hatte. Dann ging ich den Korridor entlang weiter, am Telefon vorbei und kam in den winzigen Raum, der sich zwischen dem Korridor und dem Schwimmbad befand. Dieser hatte viele Glastüren, ähnlich riesigen Balkontüren. Mit diesen musste man sich auskennen, um sie öffnen und dann wieder schließen zu können. Hier stand eine Türe offen, die zum Lichttherapieraum führte. Der Fremde, der das Haus inspiziert hatte, war mit der Schließung der Türe aber nicht zurechtgekommen. Das war für mich der zweite Beweis, dass eine fremde Person hier gewesen war. Ich machte jetzt die Türe zu und ging zurück in den Korridor. Die Intuition führte mich in den Keller. Gegenüber der Tür, die zum Weinkeller führte, standen viele alte Koffer an der Wand. Auf dem Stapel fand ich jetzt die Taschenlampe, die in der Küche auf dem Tisch fehlte. Die Tür zum Weinkeller hat der Fremde nicht richtig zumachen können, weil ihm beim Rausgehen die dritte Hand gefehlt hatte. Also hatte er die Lampe auf den Koffern abgelegt. Ich ging hinein. An der rechten Seite befand sich die Wand mit den über dreihundert runden Fächern in denen die Weinflaschen gelagert wurden. Vor der Wand stand eine Kiste, auf die ich eine schwarze Schachtel mit zwei Flaschen Wein vor Weihnachten gelegt hatte. Das war ein Geschenk für Pater Ober von einem Patienten. Diese fehlte jetzt! „Was für eine Frechheit!“, sagte ich laut. Ich war verärgert und eilte in die Praxis, um die Neuigkeit den beiden Helferinnen mitzuteilen. Als ich die drei Tatsachen aufzählte, die mich in der Wohnung auf den fremden Besuch aufmerksam gemacht hatten, erfuhr ich, dass am Abend ein Mitglied der Stiftung in der Wohnung gewesen war. Eines Tages war die Familie wieder da und blieb abermals in der Praxis hängen. Dann kam die Schwägerin in die Küche und fragte mich, ob ich weiß, wo Pater Ober die neue Rezeptur gegen Grippe aufgehoben hatte. „Die suchen wir eben“, sagte sie. Ich wusste natürlich von nichts. Sie ging. Ich fragte mich, ob man überhaupt ein besseres Mittel haben kann, als das, das Pater Ober schon seit Jahren erfolgreich verwendet hatte? War das nicht nur eine Ausrede, um die Anwesenheit im Haus zu erklären? „Was suchen sie eigentlich?“, ging es mir durch den Kopf. So ging es tagelang weiter. Die Beisetzung des Paters sollte am 11. Januar 2008 stattfinden. Ich habe den Bruder des Paters daran erinnert, dass Pater Ober sich den Pfarrer T. für die Trauerzeremonie gewünscht hatte. Er hatte es in den turbulenten Tagen vergessen und war dankbar, dass ich ihn daran erinnerte. Dann kam der schreckliche Tag der Beisetzung. Die Familie hielt sich am Vormittag im Lichttherapieraum auf und ich saß ganz alleine in der Küche. Dann kam der Bruder zu mir und wollte mich holen. Es war Zeit, in die Kirche zu gehen. Ich wollte aber nicht mitgehen und blieb. Der Schmerz saß zu tief und ich wollte mich nicht so vor den Menschen zeigen. Ich habe auf meinem Balkon auf den Leichenzug gewartet und schließlich Aufnahmen gemacht. Aschau, 11. Januar 2008

Aschau, 11. Januar 2008

Aschau, 11. Januar 2008

Nachdem ich die Fotos von meinem Balkon aus geknipst hatte, blieb ich in meiner Wohnung und legte mich hin. Ich war seelisch, psychisch und körperlich am Ende. Kurz danach kam meine Tochter mit ihrem Mann zu mir nach oben. Sie waren auch zur Beisetzung gekommen. Der Besuch war an diesem Tag der einzige Trost für mich. Am späten Nachmittag, als sie nach Hause fahren wollten, habe ich sie nach unten begleitet und kam gleich nach oben zurück. Am Abend klopfte jemand an meine Tür und der Bruder des Paters kam herein. Er bat mich, in die Praxis zu kommen, denn eine Frau wollte das goldene Pendelchen von Pater Ober haben. Sie behauptete, es ihm geschenkt zu haben. Ich wusste nicht, wie ich ihm dabei helfen konnte, aber ich ging trotzdem mit. Ich kam durch das Wartezimmer in die Praxis. Im Wartezimmer wie auch in den Räumen der Praxis standen viele Menschen. Die Türen standen überall offen. Die Frau saß am Schreibtisch von Pater Ober. Ich ging langsam hinein, setzte mich hinter den Schreibtisch und schaute mir die Frau an. Ihre Schönheit überraschte mich sehr, sie war außergewöhnlich! „Passt zu Pater Ober“, dachte ich. „Er mochte ja alles, was schön war.“ Ich schwieg und wartete. Dann hörte ich, dass sie dreißig Jahre lang mit Pater Ober befreundet gewesen war, in Kontakt mit ihm gestanden hatte und gerne das Pendelchen hätte, das sie ihm geschenkt hatte. Daraufhin sagte ich ruhig: „Sie sind jetzt die zweite Person, die behauptet, Pater Ober das goldene Pendelchen geschenkt zu haben.“ Ich schob ihr ein Blatt Papier hin und bat sie, das Pendel zu zeichnen. Ich wollte mich versichern, ob ihre Behauptung wahr war. Sie musste wissen, wie es aussah, wenn sie es ihm tatsächlich geschenkt hatte. Die Frau versuchte es zu zeichnen, doch ich merkte gleich, dass es nicht das Pendelchen war, mit dem Pater Ober gearbeitet hatte. Seines war schon klein und die Frau fing an, ein noch kleineres zu zeichnen, dessen Form nicht an die von seinem erinnerte. Sie unterbrach die Zeichnung kurz danach, stand auf und verließ schnell den Raum. Der Bruder stand mit den anderen für mich unbekannten Menschen an der Wand und wartete. Die Sache endete ohne Streit. Die erste Frau, die behauptet hatte, dass sie Pater Ober ein goldenes Pendel geschenkt hatte, war Nicole. Ich glaubte ihr nicht und sie verlangte es auch nicht zurück. Dass sie es haben wollte, konnte ich gut verstehen. Ich fragte dann den Bruder, ob er es mir schenken würde, ich wollte es so gerne als Erinnerung behalten, vor allem deswegen, weil Pater Ober mit dem Pendel gearbeitet hatte. Er wollte es mir aber auch nicht geben. Ein armer Kerl. Dann fragte ich ihn wenige Tage nach der Beisetzung, ob er mir die Küchenmaschine und die Getreidemühle von Pater Ober nicht verkaufen möchte, und ich war sehr überrascht, dass er mir beides sofort schenkte! Da wurde ich richtig sprachlos. Auch eine Therapieliege bekam ich noch dazu. Dann, als seine Frau in die Küche kam, bat ich sie, mich in das Arbeitszimmer zu begleiten. Ich zeigte ihr einen Stapel der Monatsschriften „Natur & Heilen“, der auf dem Boden lag, und fragte sie, ob ich die Heftchen haben könnte. Daraufhin sagte die Schwägerin gelassen: „Du kannst dir alles nehmen, was du willst.“ Ich hatte ja alles, ich brauchte nichts, ich wollte nur die Monatsheftchen wegen seiner Unterstreichungen haben. Wie ich schon erwähnt habe, hat Pater Ober immer das Wichtigste und das Richtige mit einem Bleistift unterstrichen. Die beiden Sträuße vor der Kapelle, in der jetzt die Urne aufbewahrt wurde, wirkten noch tagelang frisch und schön und erinnerten an den Tag der Beisetzung und des traurigen Abschiedes

ANHANG

In jungen Jahren: Vater von Pater Ober (1896–1964) Die Generation, die zwei Weltkriege erlebt hat

Kennkarte: Pater Ober

Ausweis: Inskription an der medizinischen Fakultät der Universität Innsbruck. Pater Ober in jungen Jahren

In der Blüte seines Lebens

Sein berufliches Credo. Zeitaufnahme: Audienz bei Papst Johannes Paul II

Erteilung des Segens durch Johannes Paul II

Praxisschild Pater Obers als Symbol seiner ästhetischen Zeitlinie. Pater Ober bei der Sonntagsmesse in der eigenen Hauskapelle

Aktivitäten der Pater-Ober-Stiftung, gegründet 1995

Sterbebild Pater Ober

Seine Urne

Ruhestätte und Andachtskapelle von Pater Ober

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